Der Schmerz, der Sehnsucht heißt

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Ausgerechnet Angus! Seit Jahren hat die Ärztin Beth keinen Kontakt zu ihrem Exmann. Bis eine unbekannte Infektion in ihrem Kindercamp ausbricht - und er als Spezialist gefragt ist. Kaum arbeitet sie mit ihm zusammen, verzehrt sie sich gegen jede Vernunft wieder nach ihm …


  • Erscheinungstag 20.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505697
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es war wirklich der beste Job der Welt, entschied Beth, als sie den ehrenamtlichen Mitarbeitern des Camps half, die Kinder für die Nachtwanderung zusammenzurufen. Ja, sie verpasste den Gala-Abend, der auf die offizielle Eröffnung des Wallaby Island Medical Center folgen sollte. Aber die Freude, die ihr eine Nachtwanderung durch den Regenwald bereitete, war so viel mehr wert als ein Abendkleid und ein paar Tänze.

Das medizinische Versorgungszentrum auf Wallaby Island war kürzlich renoviert worden, und auch das Crocodile Creek Kids’ Camp hatte in diesem Rahmen eine Erweiterung bekommen. Es konnte nun zwanzig Kinder gleichzeitig aufnehmen, sodass eine Ärztin vor Ort erforderlich wurde. Die Wahl war auf Beth gefallen. Die Kinder sollten auf der Insel einen schönen Urlaub verleben und Dinge kennenlernen, die ihnen normalerweise verwehrt blieben. Diese Woche waren Kinder mit Atemproblemen zu Gast und eine Gruppe Krebskranke, die sich gerade in der Remissionsphase befanden.

„Nein, Sam, heute fahre ich mit Ally vorne mit. Du kümmerst dich hinten um Danny. Denk daran, dass es ihm nicht so gut geht, also ärgere ihn bitte nicht.“

Sie setzte die drei Kinder, für die sie heute Abend verantwortlich war, in einen der kleinen elektrischen Golfwagen, die auf der Insel die einzige Transportmöglichkeit darstellten. Dann steuerte sie ihn hinter den etwas größeren Wagen, den Pat, einer der Ranger, fahren würde. Er hatte sieben Kinder und eine weitere Helferin an Bord. Er trug auch den großen Strahler.

Pat überprüfte seine Passagiere und kam dann zu Beths Wagen. „Du lässt dich wohl gern quälen, oder?“, fragte er. „Ich habe gehört, du hast eigentlich frei. Trotzdem hast du dich für den Ausflug gemeldet. Du solltest auf der Party sein.“

Er machte nur Small Talk, aber Beth mochte ihn und wollte ihm eine ehrliche Antwort geben. „Ich bin viel lieber hier draußen mit den Kindern als auf so einer Feier“, sagte sie. „Für mich ist es doch auch ein Abenteuer. Ich war noch nie bei Nacht im Regenwald.“

„Hast du deine Taschenlampe?“

Beth hielt die schwere Lampe hoch, die er ihr vorhin gegeben hatte.

„Du musst sie auf die Tiere richten, damit die Kinder sie auch richtig sehen. Durch mein Licht werden die Tiere so paralysiert, dass sie stillhalten.“

„Das kriege ich hin“, sagte Beth, obwohl Sam sie bereits fragte, ob er die Taschenlampe halten dürfe. Es würde noch einige Kämpfe darum geben, bevor der Abend vorbei war. Sam war für seine acht Jahre relativ klein, aber er hatte einen eisernen Willen.

Pat kehrte zu seinem Golfwagen zurück und fuhr los. Er nahm den Pfad, der durch den Regenwald zum Hotel am anderen Ende der Insel führte. Nach fünf Minuten lenkte er in Richtung des zerklüfteten Bergs, der über den Wald wachte.

Die kleinen Wagen rollten leise vor sich hin, nur das Summen der Räder war zu hören. Pat hielt an und machte die Scheinwerfer aus, während Beth hinter ihm zum Stehen kam.

„Denkt daran, dass wir ganz still sein müssen, damit die Tiere nicht wegrennen“, flüsterte Beth ihren Kindern zu, als Pat den Strahler einschaltete und das Licht über die Palmen und Farne am Wegesrand streifen ließ.

„Da“, sagte er leise, und die Kinder riefen „Oooh“, als im Licht plötzlich große gelbgrüne Augen blinkten. Beth leuchtete mit ihrer Lampe auf eine Stelle neben den Augen und ließ die Lampe fast fallen. Es war eine Schlange. Zugegeben, eine wunderschöne Schlange, aber eben doch eine Schlange. Das Tier hatte ein Diamantenmuster, und obwohl es sich um einen Baumstamm gewickelt hatte, schätzte Beth es auf mindestens zweieinhalb Meter Länge.

Sie mochte Schlangen nicht unbedingt, und der Strahl der Taschenlampe zitterte, während sie unwillkürlich die Beine hochzog. Ally, die vielleicht diegleiche primitive Angst verspürte, kroch auf ihren Schoß.

Glücklicherweise ließ Pat seinen Strahler weiterwandern, und auf der anderen Seite des Weges sahen sie einen winzigen pelzigen Gleitbeutler mit riesigen Augen, der im Licht erstarrt war.

„Aaaah“, sagten die Kinder und: „Sieh mal“.

Wie konnten sie auch ruhig bleiben, wenn solch ein putziges Tier plötzlich die Beine bewegte und die flügelartige Membran dazwischen entfaltete, sodass es wie ein Vogel von einem Ast zum nächsten gleiten konnte?

Das nächste Tier saß auf dem Boden und hielt in den Vorderpfoten eine Nuss, auf der es gemächlich herumkaute.

„Eine Buschratte“, flüsterte Pat, während Beths Licht erst den Körper und dann den weißen Schwanz des Tieres beleuchtete.

Die Stimmen der Kinder erschreckten das Tierchen, sodass es schnell im Unterholz verschwand. Pat entschied sich nun für eine Ultraviolettlampe, mit der er schließlich einen riesigen untertassenförmigen Pilz entdeckte, der geisterhaft phosphoreszierte und den Kindern erneut Laute des Staunens entlockte.

Sie fuhren weiter. Sam zählte an den Fingern ab, wie viele Tiere sie sahen, und schon bald brauchte er Dannys Finger zur Unterstützung. Beth sah jedoch, dass Danny müde wurde, und da bereits einige der Kinder mit einer rätselhaften Krankheit auf der Krankenstation des medizinischen Zentrums lagen, entschied sie sich, ihn zurück zum Camp zu bringen. Ally hatte bestimmt auch schon genug.

„Wie wäre es, wenn du zu Pat in den Wagen steigst, Sam? Dann kann ich Ally und Danny zurückbringen“, schlug sie vor.

„Nein, ich bin Dannys Freund. Ich bleibe bei ihm.“

„Ich will zu Pat“, sagte Ally. Beth erkannte wieder einmal, dass Kinder immer für eine Überraschung gut waren. Also setzte sie das Mädchen in den größeren Wagen und hielt kurz inne, als sie im Busch ein Rascheln hörte. Sam durfte vorn sitzen und die Taschenlampe halten, um nach dem Tier Ausschau zu halten.

„Da drüben. Ich kann etwas hören. Leuchte nach da, Sam“, flüsterte Danny, als sie dem Hauptweg wieder näher kamen.

Beth fuhr langsamer, und Sam schaltete die Lampe ein. Doch sie sahen weder ein Säugetier noch ein Reptil, sondern einen Menschen.

Einen sehr großen Menschen.

Einen sehr vertrauten Menschen!

„A…A…Angus?“

Fragend stotterte sie seinen Namen und starrte ins Dunkel. Mit einem Aufschrei hatte Sam nämlich die Taschenlampe fallen lassen und war davongerannt, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.

Danny begann zu weinen, Beth rief Sam zu, er solle stehen bleiben und warten, doch es war Angus, der zuerst reagierte und dem verängstigten Kind folgte.

Beth nahm Danny auf den Schoß und beruhigte ihn. Es war schwer, mit dem Kind auf den Beinen zu steuern, doch sie folgte Angus in der Hoffnung, dass Sam auf dem Pfad bleiben würde.

„Er hat sich erschreckt, das ist alles“, sagte sie zu Danny. „Wir finden ihn bestimmt gleich.“

Glücklicherweise dauerte es wirklich nicht lang, bis sie ihn sahen – auf Angus’ Schultern sitzend, mit Angus’ Taschenlampe in der Hand. Danny beruhigte sich sichtlich.

„Er ist ja doch kein Yowie“, verkündete Sam, als der Golfwagen vor ihnen zum Stehen kann. „Ich habe echt gedacht, er ist ein Yowie. Du auch, Danny?“

Danny gab zu, dass auch er gedacht hatte, dass Angus dieses mythische Wesen aus dem Busch war. Beth bezweifelte, dass Danny schon jemals davon gehört hatte.

Beth selbst hatte mehr Angst gehabt, dass Angus ein Geist war – eine Fantasievorstellung, die in der Dunkelheit des Regenwalds zum Leben erweckt worden war. Yowies waren sicherlich grässliche Kreaturen, genauso wie Geister, aber nicht groß, stark und unwiderstehlich …

Was sie wieder in die Realität zurückbrachte.

„Du kannst nicht einfach weglaufen, Sam“, schimpfte sie milde, während Angus das Kind in den Wagen setzte, wo er sich an Beth und Danny schmiegte. „Du hättest dich im Wald verlaufen können.“

„Neee“, sagte Sam und schüttelte heftig den Kopf. „Ich bin auf dem Pfad geblieben – in die Büsche würd ich nicht gehen. Da gibt’s doch Schlangen.“

„Und Yowies“, sagte Danny. Beth hörte, wie müde er war, und wollte ihn schnell ins Camp zurückbringen.

Und sie musste etwas zu Angus sagen. Aber was? All ihre Gelassenheit war dahin, und sie zitterte noch von der Aufregung, sodass Wut die Oberhand gewann.

„Und was dir einfällt, einfach so aus dem Wald aufzutauchen“, griff sie ihn an. „Du hast uns alle zu Tode erschreckt.“

„Beth? Bist du das wirklich?“ Er beugte sich herunter und blickte sie an Sam vorbei an. Er hörte sich so überrascht an, wie er aussah.

„Wer ist das?“, fragte Sam, bevor sie Angus versichern konnte, dass sie es wirklich war. „Und was macht er im Wald?“

Das würde ich auch gern wissen, dachte Beth, aber irgendwie schienen ihre Lippen oder Stimmbänder nicht so richtig zu funktionieren.

Zum Glück schien das für Angus kein Problem zu sein. „Ich bin Angus und bin im Hotel zu Gast. Gerade mache ich genau das Gleiche wie ihr: mir die Tiere bei Nacht ansehen. Deswegen habe ich auch eine Taschenlampe dabei.“

Er hielt sie hoch, und Sam griff erneut danach. Er leuchtete Danny und Beth an.

„Mach das aus“, sagte Beth. Sie hatte ihre Stimme wiedergefunden. „Wir müssen zurück zum Camp.“

Sie wusste nicht, ob sie es zu den Kindern oder zu Angus sagte, aber sie wusste, dass sie nicht nur wegen ihrer eigenen Verwirrung zurückmussten, sondern vor allem, weil Danny ins Bett gehörte.

Sie nickte Angus zu – das schien eine angemessene Reaktion, wenn man seinem Exmann mitten in der Nacht im Regenwald begegnete – und trat aufs Gaspedal.

Doch es war der Rückwärtsgang. Sam lachte laut auf, und sogar Danny kicherte.

„Kleiner Rabauke“, brummte Beth und drückte den Knopf, den Sam gedrückt haben musste. Erneut beschleunigte sie und fuhr wie gewünscht vorwärts, an Angus vorbei, der immer noch dort stand.

Wenn der Schock, den er fühlte, genauso stark war wie jener, der Beth durch den ganzen Körper gefahren war, würde er vielleicht noch am Morgen dort stehen.

Im Camp übergab sie die zwei Kinder ihren Pflegern und berichtete, dass Ally bei der anderen Gruppe geblieben war. Dann machte sie sich auf den Weg zum medizinischen Zentrum – vielleicht, um nicht weiter über Angus nachdenken zu müssen? Nein, der wirkliche Grund war der kleine Robbie Henderson, der geschlafen hatte, als ihre Schicht vorbei gewesen war. Und obwohl Grace Blake eine erstklassige Krankenschwester war und Beth eine Nachricht auf ihren Pager gesendet hätte, falls etwas geschehen wäre, wollte sie doch selbst nachsehen, ob mit ihm alles in Ordnung war.

Auch die anderen Patienten brauchten sie.

Aber ja, es würde ihr auch dabei helfen, nicht mehr über Angus nachzudenken.

Sie parkte den Wagen vor dem Zentrum und sah, wie sich am Rande des Parkplatzes ein dunkler Schatten bewegte. Ein Sturmtaucher auf dem Weg in seine Mulde? Sie beobachtete den Vogel eine Minute lang, aber er rührte sich nicht mehr.

Hatte Lily nicht neulich erst einen toten Vogel gefunden?

Und Ben, einer der Ranger, der sich gerade krankgemeldet hatte, hatte doch auch tote Vögel gesammelt.

„Ich wollte dich gerade anpiepsen“, sagte Grace, als Beth in die Klinik kam. „Er hat eine Stunde lang gut geschlafen, ist dann aber unruhig aufgewacht. Wobei ich nicht sicher bin, ob er wirklich ganz wach ist. Luke ist hier, aber er ist bei Mr. Woods, dem Mann, den du heute Nachmittag mit Verdacht auf Herzinfarkt aufgenommen hast.“

Luke Bresciano war einer der Ärzte des Crocodile Creek und seines Notfallteams. Wie alle Mitarbeiter übernahm auch er Schichten im medizinischen Zentrum. Er war heute Abend der zuständige Arzt, aber es war Beth gewesen, die Robbie hergebracht hatte. Während der Untersuchung hatte sie mit ihm über seine Familie zu Hause gesprochen, und er hatte sich langsam entspannt. Wenn er jetzt wieder unruhig war, würde er vielleicht besser auf sie als auf einen anderen Arzt reagieren, den er nicht kannte.

Sie ging in sein Zimmer, wo er sich fiebrig im Bett hin und her wälzte. Er war ein schmaler Junge, und Arm und Bein auf der linken Seite waren von der zerebralen Kinderlähmung verrenkt, die auch seine Lunge in Mitleidenschaft gezogen hatte. Schon eine leichte Infektion konnte bei ihm zu Atemproblemen führen.

„Hallo, Robbie“, sagte sie leise, setzte sich zu ihm ans Bett und nahm seine Hand. Sie strich ihm die wilden dunklen Haare aus der Stirn und sprach ruhig mit ihm.

Er öffnete die Augen und blickte sie an, aber sie wusste, dass er sie nicht sah – er war in einer fremden Welt, die seine Krankheit heraufbeschworen hatte.

„Schlaf nur ein“, sagte sie und strich ihm mit der Hand über die Augen. „Ich bleibe bei dir, kleiner Mann.“

Mit seiner Hand in ihrer sang sie ganz leise ein kleines lustiges Lied, das sie von früher kannte und in dem es um ein Echo ging.

Hatte sich dieses Lied wegen Angus aus ihrem Unterbewusstsein gegraben? Ein Echo aus der Vergangenheit?

Es hatte sie definitiv aufgewühlt, ihn zu sehen. So sang sie nicht nur für Robbie, sondern auch für sich selbst und wählte ein albernes Lied nach dem anderen, bis das Gefühl der Panik in ihrer Brust sich legte und die Ruhe, die sie auf dieser friedlichen Insel gefunden hatte, zurückkehrte.

Angus war also hier – und wenn schon! Sie hatte ihn längst überwunden. Nun ja, vielleicht nicht überwunden, aber sie hatte es geschafft, ihn in eine der hintersten Ecken ihrer Erinnerungen zu verbannen, wie alte Andenken, die man auf dem Dachboden aufbewahrte. Konnten Erinnerungen mit so vielen Spinnweben überzogen werden, dass sie unsichtbar wurden?

Dass sie sie vergessen konnte?

Nicht, wenn sie ihr immer noch Herzschmerz bereiteten.

„Verfluchter Kerl“, murmelte sie und verstummte schnell wieder, um Robbie nicht zu stören.

Er schlief ruhig weiter, aber Beth war wütend, dass der Frieden, den sie in so kurzer Zeit an diesem Ort gefunden hatte, doch noch so fragil war, dass er in Gefahr war, sobald sie Angus begegnete.

Hier, wo sie im medizinischen Zentrum mit dem angeschlossenen Kindercamp arbeitete, hatte sie eigentlich den perfekten Job gefunden. Sie kümmerte sich um die Kids, spielte mit ihnen, teilte ihre Erlebnisse und konnte endlich den Verlust ihres eigenen Kindes bewältigen – ihres und Angus’. In den drei Jahren, seit Bobby gestorben und Angus und sie sich getrennt hatten, war sie hier fast wieder glücklich. Und es war eine Art Glück, das länger als einen Moment oder ein paar Tage zu halten schien.

Zuerst hatte sie sich gefragt, wie sie zurechtkommen würde, insbesondere, weil viele Kinder im Camp an Kinderlähmung erkrankt waren, an der auch Bobby gelitten hatte. Doch schon am Tag ihrer Ankunft merkte sie, dass es für sie in Ordnung war. Genau wie Bobby, der trotz seines zarten Alters von drei Jahren gegen die Beschränkungen seiner Krankheit, seine schwere Lähmung, angekämpft hatte, lebten auch diese Kinder mit ihrem Asthma oder ihrer Diabetes, mit einer Krebserkrankung in der Remissionsphase oder eben mit der Kinderlähmung. Dabei waren sie fröhlich und stark und erfreuten sich so sehr an jedem Moment des Camplebens, dass die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen davon angesteckt wurden.

Ja, es war der perfekte Job an einem perfekten Ort – in einem tropischen Inselparadies. Was mehr konnte man sich wünschen?

Das Wort mit L kam ihr in den Sinn. Aber das war doch albern! War es Angus’ Schuld, dass sie daran dachte?

Angus hatte alle möglichen Geister wieder zum Leben erweckt, was umso verrückter war, weil er sie niemals geliebt hatte. Von Anfang an hatte sie das gewusst, und dennoch hatte sie gewagt zu träumen …

Doch damit war es vorbei!

Sie drängte ihre Gedanken zurück in den mit Spinnweben überzogenen Dachboden. Dann war er eben im Hotel, na und? Das lag auf der anderen Seite der Insel, also gab es wirklich keinen Grund, warum sie sich noch einmal über den Weg laufen sollten.

Doch in den frühen Morgenstunden, als Robbie schlief, musste sie zugeben, dass die Insel kein sicherer Hafen mehr war. Sie konnte ihre Sorgen nicht mehr zurückdrängen, und die Müdigkeit machte es nur noch schlimmer.

Sie versuchte sich zu sagen, dass es der Vorfall mit Angus gewesen war, der sie beunruhigte, doch es war noch einiges mehr, was sie beschäftigte und ihr Angst machte.

Mit Angus waren die Erinnerungen an Bobbys Tod zurückgekommen. Er war an einer massiven Brustinfektion gestorben, die sie zuerst für eine simple Grippe gehalten hatten. Doch gab es das bei so empfindlichen Kindern überhaupt: eine simple Grippe?

Und dann waren da auch noch die Vögel.

Ihr Inselparadies war zu einem Ort der kranken Kinder und der toten Vögel geworden.

Das ging Beth wieder und wieder im Kopf herum wie ein Echo, bis vor dem Fenster grau und müde der Tag anbrach. Erschöpft, wie sie war, versuchte sie, ihre Gefühle beiseitezuschieben und sich nur an die Tatsachen zu halten.

Die Stimmung auf der Eröffnungsfeier gestern war äußerst bedrückt gewesen. Kein Wunder, immerhin war die Hälfte des Krankenhauses mit seinen zehn Betten belegt. Lily, Jack und Robbie lagen hier im medizinischen Zentrum, und auch Danny hatte sich gestern nicht gut gefühlt. Eine Erkältung war für diese Kinder gefährlich genug. Eine Grippe noch viel mehr.

Die Vogelgrippe? Sie war keine Tatsache, aber ein Gedanke, der sich aufdrängte. Noch hatte niemand dieses gefürchtete Wort ausgesprochen, aber Beth konnte es fast in dem warmen tropischen Wind hören, der über die Insel strich und in den raschelnden Palmblättern flüsterte. Beth sorgte sich besonders, weil offensichtlich niemand versuchte herauszufinden, ob dies der Anfang einer Pandemie sein könnte.

Normalerweise hätte Charles Wetherby, der Leiter des Crocodile Creek, der die Erweiterung des medizinischen Zentrums auf Wallaby Island initiiert hatte, auch hier aktiv werden müssen, aber er war von den offiziellen Veranstaltungen und den dafür angereisten Ehrengästen voll in Anspruch genommen. Außerdem gehörte seine Pflegetochter Lily zu den erkrankten Kindern.

Er schien generell abgelenkt, aber Beth kannte ihn nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob das einfach Teil seiner Persönlichkeit war.

Was die mysteriöse Krankheit anging, so waren Blutproben auf das Festland gesendet worden – noch eine hilfreiche Tatsache –, doch es gab so viele verschiedene Grippearten, und das Pathologielabor würde die Vogelgrippe möglicherweise nicht in Erwägung ziehen. Vielleicht hatte es auch gar nicht die Ausrüstung, die man für solche Tests brauchte.

Beth seufzte im blassen Morgenlicht und wusste, dass sie ihre Entscheidung umsetzen musste, die sie bereits gegen Mitternacht gefällt hatte, als sie bei Robbie am Bett saß und nicht diesen Jungen sah, sondern ein kleineres und jüngeres Kind: ihren Bobby. „Später nennen wir ihn Bob“, hatte Angus gesagt. „Das ist männlicher als Bobby.“

Aber Bobby hatte das Mannesalter niemals erreicht. Und Angus? Sie seufzte erneut. Angus war nur eine kurze Fahrt mit dem elektrischen Golfwagen entfernt, im Luxushotel am Südende der Insel.

Angus war Pathologe mit Spezialisierung auf Epidemiologie.

Angus würde sich mit der Vogelgrippe auskennen.

Sie musste zu ihm fahren und ihn fragen.

Bevor noch ein Kind krank wurde und starb …

Beth ließ den Golfwagen auf dem Parkplatz am Rande des Hotels stehen.

„Bleib“, sagte sie streng zu Garf, dem Labradoodle des Camps, dessen absolute Lieblingsbeschäftigung ein Ausflug im Golfwagen war und der in letzter Sekunde neben ihr auf den Sitz gesprungen war.

Zufrieden legte Garf sich quer auf den Sitz.

Bewachen würde er den Wagen nicht. Viel wahrscheinlicher war, dass er jemanden auffordern würde, ihn zu stehlen, damit er noch eine Runde über die Insel fahren konnte.

Lächelnd ging Beth den Weg durch die üppigen grünen Büsche, die den Parkplatz vom Hotel trennten. Sie fand sich neben dem Pool wieder. Er schien unendlich lang zu sein, und sie erkannte, dass er so angelegt worden war, dass er direkt in den Ozean überzugehen schien. Daneben standen Stühle und Tische unter großen Sonnenschirmen sowie gemütliche Liegestühle, in denen trotz des frühen Morgens bereits die ersten Gäste den Sonnenschein genossen.

Rechts von ihr erhob sich das Hotel mit seinen Terrassenetagen, mit denen es die Form des zerklüfteten Berges hinter sich nachahmte.

„Wow!“ Das Wort entschlüpfte ihr, noch bevor ihr einfiel, dass sie sich von der Großartigkeit der neuen Anlage nicht hatte beeindrucken lassen wollen.

Wahrscheinlich war sie so nervös, Angus zu treffen, dass sie sich auf ihre Umgebung konzentrierte, um nicht an ihn zu denken. Ein Selbstgespräch half dabei.

Doch dann dachte sie wieder an Robbie Henderson – und an Jack und Lily und die anderen Patienten – und an den Grund, aus dem sie hergekommen war. Mit festem Schritt und wild klopfendem Herzen ging sie auf das Gebäude zu.

Du bist nicht mehr das naive 25-jährige Mädchen, das sich in den ersten braunäugigen Facharzt verliebt, der sie mit einem Blick beehrt – beeindruckt von seiner Position, in der er sich nicht um kleine Praktikantinnen kümmert, sprach sie sich selbst gut zu. Du bist eine reife, erfahrene Frau, eine qualifizierte Notfallmedizinerin und Leiterin des Wallaby Island Medical Center. Außerdem machst du nur, was jede vernünftige Ärztin tun würde: sich Rat von einem Spezialisten holen.

Der zufällig die Liebe ihres Lebens war, sagte eine innere Stimme.

War! Vergangenheit!“, murmelte sie, trotzdem verlangsamte sie ihre Schritte und musste sich weiter gut zusprechen.

Er wird dich schon nicht beißen. Und er will helfen. Wenn er wüsste, dass die Kinder krank sind, hätte er bestimmt schon selbst seine Hilfe angeboten. Er ist ein guter Mensch, besessen von seiner Arbeit, aber wenn man ihn einmal davon ablenken kann, ist er ein guter Mensch.

All dies hatte sie sich schon die ganze Nacht gesagt, und auf dem fünfzehnminütigen Weg zum Hotel hatte sie auch Garf noch einmal erzählt, was für ein guter Mensch Angus war. Dennoch war sie so aufgeregt, dass ihr Magen sich zusammenzog und ihr richtiggehend schlecht wurde.

„Auf seinem Zimmer scheint er nicht zu sein“, sagte der höfliche Rezeptionist und legte den Hörer auf. Nachdem Beth ihm erklärt hatte, wer sie war und was sie von Angus wollte, hatte er auf seinem Zimmer angerufen. „Aber wenn Sie durch das Rainforest Retreat gehen, finden Sie ihn vielleicht beim Frühstück.“

Er zeigte ihr, wie sie in das riesige Gewächshaus kam, das sich an der Rückseite des Gebäudes gleich an den Regenwald anschloss. Durch die Palmen und Farne in großen Blumentöpfen erkannte man schwer, wo der echte Wald aufhörte und der Menschen gemachte begann.

Auf der Schwelle hielt Beth inne, erst vor Bewunderung und dann, um sich umzublicken und zwischen den Palmen hindurch einen großen dunkelhaarigen Mann zu finden, der, das wusste sie aus der Vergangenheit, vollständig auf sein Frühstück konzentriert sein würde.

Was immer Angus tat, das tat er mit vollem Einsatz. Und ja, da war er: Er löste vorsichtig, eins nach dem anderen, die Fruchtfleischsegmente einer halben Grapefruit heraus und kaute sorgfältig, während er das nächste angriff.

„Im Hotel werden sie nie richtig bis unten hin geschnitten“, hatte er sich während ihres kurzen Flitterwochenendes in einem Hotel in der Stadt beschwert. Und seitdem war es ihre Mission – vielmehr eine ihrer Missionen – gewesen sicherzustellen, dass seine Grapefruits immer richtig bis unten hin geschnitten waren.

Doch seit drei Jahren war Angus’ Frühstück nicht mehr ihre Verantwortung, seit drei langen Jahren …

Sie wusste nicht, ob sie das traurig machte oder sie sich erleichtert fühlte, als sie plötzlich sah, wie seine Konzentration schwand – ein Stück Grapefruit auf der Gabel zwischen Teller und Mund. Da erst sah sie, dass er in Begleitung war, was Beth durch ein großes Palmenblatt bislang verborgen gewesen war. Eine sehr attraktive Frau mit langen blonden Haaren. Wie ein Vorhang verdeckte die Haarpracht ihr Gesicht, bevor sie sie zurückstrich und perfekte Gesichtszüge offenbarte. Dann fielen die Haare wieder zurück, und der Moment der Intimität, die sie zwischen den beiden gesehen hatte, ließ Beths Mut endgültig schwinden. Angus war zu seiner Grapefruit zurückgekehrt.

Sie hätte sich am liebsten auch hinter einem großen Palmenblatt versteckt, sodass niemand sah, wie unfähig sie war, sich zu bewegen. Aber sie war keine kleine Praktikantin mehr, die in Gegenwart des bewunderten Facharztes sprachlos dastand – sie war selbst eine kompetente Ärztin, und Robbie und die anderen brauchten Hilfe. Sofort!

Ihre Beine verweigerten ihr den Dienst, doch sie kämpfte dagegen an und ging langsam und etwas unbeholfen vorwärts, bis sie den Tisch erreicht hatte.

Die Blonde sah zuerst auf. Sie war mehr als nur attraktiv, sie war atemberaubend schön.

Beth schluckte und straffte sich. „Entschuldigen Sie die Unterbrechung“, sagte sie ruhig, und Angus blickte von seinem Frühstück auf. Er sah genauso überrascht aus, wie sie nervös war.

„Beth?“

Das Wort klang eher wie ein Krächzen, aber sie wusste nicht, welche Art Gefühl es war, das seine Stimme versagen ließ.

Autor

Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
Aber all das genügte ihr nicht, und sie suchte nach einer neuen Herausforderung, die sie...
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