Der Silberbaron

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Mit seinen Silberminen hat der elegante Richard Du Quesne ein Vermögen gemacht, und da er außerdem noch charmant und gut aussehend ist, verwundert es nicht, dass er von jungen Damen umschwärmt wird. Nur die temperamentvolle Emma Worthington will anscheinend gar nichts von ihm wissen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie ihn für einen Herzensbrecher hält und nicht die Absicht hat, sich in die lange Schlange seiner Verehrerinnen einzureihen! Doch gerade ihren Trotzkopf findet der Silberbaron entzückend! Da er Emma für eine Dame mit Erfahrung hält, bietet er ihr an, seine Mätresse zu werden und küsst sie leidenschaftlich. Natürlich lehnt Emma empört ab. Eine Einladung auf seinen Landsitz Silverdale nimmt sie jedoch an - nicht ahnend, dass Richard sie dort erobern will…


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764715
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Image

1. KAPITEL

“Dumme Gans! Selbstverständlich wirst du mit Mr. Dashwood sprechen, und seinen Antrag wirst du mit der gebührenden Artigkeit dankend annehmen!” Margaret Worthingtons dünne Finger gruben sich mit überraschender Kraft in den Ellbogen ihrer Tochter.

“Du verschwendest nur deine Zeit, Mama, und die Zeit unseres … Gastes.” Das letzte Wort wurde durch zusammengebissene Zähne gezischt. “Ich werde ihn nicht heiraten, ich werde mich nicht einmal dazu herbeilassen, mit diesem widerwärtigen Wüstling in einem Raum zu sitzen.” Emma Worthington zerrte an den festgekrallten Fingern ihrer Mutter, die sich jedoch alsbald wieder um ihren Arm schlossen. Sie seufzte matt. “Bitte lass mich los.”

“Gewiss nicht. Wenn du den Salon nicht aus freien Stücken betrittst, werde ich dich dazu zwingen, oder dein Papa … oder vielleicht sogar Mr. Dashwood. Er verlangt eine fügsame und tugendhafte Gattin. Nun, die zweite Bedingung erfüllst du, bei der ersten habe ich die Wahrheit etwas beschönigt. Da muss er vielleicht noch korrigierend eingreifen … und das wird er sicher tun, nachdem er deinem Vater bereits zweitausend Pfund angewiesen hat.”

“Zweitausend Pfund?” In Emmas Stimme lag so viel ungläubiger Zorn, dass die Frage nur als entrüstetes Flüstern herauskam.

“Du hast diesem … diesem Widerling gestattet, mich zu kaufen, mich für zweitausend seiner ekelhaften, blutbesudelten Pfund zu kaufen?”

“Sei doch nicht so melodramatisch, Emma, das ist lächerlich”, zischte Margaret Worthington. “Außerdem werden bei eurer Eheschließung weitere sechzehntausend dieser ekelhaften Pfundnoten folgen, und damit wären die Finanzen deines Papas saniert. Wie kannst du nur so störrisch und selbstsüchtig sein? Du bist einfach unerträglich!”

Die momentane Benommenheit ihrer Tochter geschickt für sich nutzend, gelang es Margaret, mit einer Hand die Tür zum Salon aufzureißen und Emma mit der anderen unsanft in den Raum zu stoßen. Darauf lehnte sie sich anmutig an die Mahagonitäfelung, drückte ihrer Tochter unauffällig die Hand in den Rücken und drängte sie vorwärts.

Emma hob das Kinn, brachte mit einiger Mühe die zusammengebissenen Zähne auseinander und trat entschlossen auf den Herrn zu, der bei ihrem ungraziösen Eintritt auf die elegant beschuhten Füße gekommen war.

Ihr Blick traf auf den seinen, exquisite goldbraune Augen begegneten olivgrünen lauernden Augen. Höflich streckte sie ihre blassen, schmalen Finger aus und knickste. “Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Sie warten ließ, Mr. Dashwood. Bedauerlicherweise scheint es zwischen meinen Eltern und mir zu einem Missverständnis gekommen zu sein, was Ihren Heiratsantrag betrifft. Ich kann mich bei Ihnen nur für die Konfusion entschuldigen und Sie bitten, uns zu verzeihen, dass wir Sie unnötig aufgehalten haben.”

Emma hörte gerade noch, wie ihre Mutter hinter ihr schockiert Luft holte, doch sie hielt ihre Augen auf den Mann vor ihr gerichtet, die schmale Hand auf seinen Fingerkuppen belassend. Er hielt kurz in seiner Verbeugung inne und warf ihr einen taxierenden Seitenblick zu.

Etwas an diesem verhüllten Blick lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle, wo sie sich berührten. Sie unterdrückte einen Schauder, als ihr ein paar drahtige Haare auffielen, die aus seinem kräftigen Handrücken sprossen. Hastig riss sie die Hand zurück und verbarg sie in ihren Rockfalten.

Jarrett Dashwood stieß ein leises, humorloses Lachen aus, als er sich wieder aufrichtete. Stocksteif stand er da und warf einen durchdringenden Blick auf Mrs. Worthingtons leidgeprüfte Miene. “Mir scheint wohl etwas entgangen zu sein, Madam”, begann er, wobei er seiner Stimme einen so überzeugend amüsierten Klang verlieh, dass es fast über das zornige Glühen in seinen Augen hinweggetäuscht hätte. “Als ich mit Ihnen und Ihrem Gatten diese Woche zusammentraf, hätte ich schwören mögen, dass Sie beide mir zu verstehen gaben, Ihre Tochter sei meinem Antrag nicht nur nicht abgeneigt, sondern fühle sich ‘glücklich und geehrt’ – so lauteten doch Ihre Worte, wenn ich mich recht erinnere …? Vielleicht haben Sie ja noch eine Tochter? Eine, die dem Bild der scheuen älteren Jungfer, das Sie für mich entwarfen, etwas mehr gleicht – einer Jungfer von zugänglichem Wesen … ah ja, und mit einer Vorliebe für die frivolen Romanzen aus Jane Austens Feder.” Fast ohne Atem zu holen, fuhr er schleppend fort: “Nun, um mit den weisen Worten dieser guten Frau zu sprechen: ‘Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle, der ein beachtliches Vermögen besitzt, zu seinem Glück nur noch einer Frau bedarf’ … ganz gewiss jedoch, sobald ein Teil dieses beachtlichen Vermögens auf seine mittellosen zukünftigen Schwiegereltern übertragen wurde.” Mit derselben aalglatten Gelassenheit fragte er: “Wo ist Ihr Gatte? Holen Sie ihn, wenn ich bitten darf.”

“Mein Mann fühlt sich nicht wohl, Sir.” Die Worte kamen schwach und heiser heraus. “Ich möchte Sie ersuchen, mich ein paar Minuten mit meiner Tochter allein zu lassen. Anscheinend leidet sie an derselben Krankheit wie ihr Vater: Verwirrtheit … konfuse Gedanken …”

“Bei Ihrem Gatten das übliche Leiden, Mrs. Worthington? Ihre Tochter kommt mir allerdings bemerkenswert nüchtern vor.” Jarret Dashwoods seidenweicher Sarkasmus trieb Margaret die Schamröte ins Gesicht. Während sie sich noch vor Verlegenheit wand, richtete sich sein verächtlicher Blick vielsagend auf ihre hausbackene Erscheinung.

Emma beherrschte sich mühsam, ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte nicht die Absicht, sich einschüchtern zu lassen, auch nicht von einem Mann, dessen Ruf als durch und durch verdorbener Wüstling seinesgleichen suchte. Sollte er sie doch von oben bis unten mustern – bestimmt würde er sich alsbald glücklich schätzen, dass er noch einmal glimpflich davongekommen war.

Sie war nie eine gefeierte Schönheit gewesen, auch nicht in ihrer Jugendblüte vor neun Jahren. Als sie mit achtzehn Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden war, hatte sie die oberflächlichen Freundschaften und die tief gehenden Rivalitäten zwischen den um die männliche Aufmerksamkeit buhlenden Debütantinnen entwürdigend und ermüdend gefunden. Im Gegensatz zu den anderen jungen Damen hatte sie sich nie aufgeputzt und zurechtgemacht, hatte sich nie die Haare gelockt, die Wangen rot angemalt oder über den neuesten Pariser Modejournalen gebrütet.

Mit ihren hellbraunen Haaren und Augen, ihrem zarten Teint und den feinen Gesichtszügen war sie einfach nicht der Typ, der die Gesellschaft im Sturm eroberte. Dazu war ihre Erscheinung nicht außergewöhnlich genug. Wie ihre Mutter ihr oftmals entmutigt erklärt hatte, war sie in jeder Hinsicht durchschnittlich. Wenn sie doch nur, so seufzte ihre Mutter, ein zierlicher Blondschopf mit rosa Wangen wäre, jemand wie Rosalie Travis, die ein ganzes Jahr lang ergebene Anbeter im Schlepptau gehabt hatte, oder wie Jane Sweetman, eine große Rothaarige mit Porzellanteint, die die Beaus anzog wie eine Akazienblüte die Bienen. Emma hingegen pries die vollkommene Schönheit ihrer besten Freundin Victoria, ihr rabenschwarzes Haar und ihre grauen Augen.

Victoria war nun die Viscountess Courtenay, verheiratet mit dem Mann ihrer Wahl, einem Mann, den sie liebte und der sie seinerseits anbetete. Und genau das wollte Emma ebenfalls. Mit weniger wollte sie sich nicht zufrieden geben. Und da der einzige Mann, den sie je hatte bestricken wollen, gänzlich verarmt, gänzlich unpassend und zudem einer anderen verfallen war, hatte sie sich in ihr zurückgezogenes Leben in Kensington geschickt, wo sie sich am Rand der vornehmen Gesellschaft bewegte und mit ein paar ruhigen Freunden verkehrte, deren Vorlieben und Lebensumstände den ihren glichen.

Was romantische Liebe und Zuneigung anging, träumte Emma von den Helden aus Romanen: Bei ihnen konnte man sich wenigstens darauf verlassen, dass sie das obligatorische glückliche Ende herbeiführten.

Als sie nun Jarrett Dashwoods hölzerne Verbeugung wahrnahm, erwiderte sie sie mit einem leichten Knicks. Er schritt an ihr vorbei und sprach dann leise und eindringlich auf ihre Mutter ein, die an der Tür stand. Emma drehte sich um, um die beiden zu beobachten. Ihr wurde übel, als aus dem hochroten Gesicht ihrer Mutter alle Farbe wich. Kreidebleich stand Margaret Worthington da, den Tränen nahe, und machte eine schwache Geste der Entschuldigung. Emma schloss bestürzt die Augen.

Sie durfte sich nicht unter Druck setzen lassen; sie hatte etwas Besseres verdient. Mit einem solchen Mann verheiratet zu sein, das wäre ihr Ende. Die bloße Vorstellung war ihr widerlich, war ihr doch bewusst, dass sie weitaus würdigere Gentlemen für sich hätte einnehmen können, hätte sie sich in ihrer Jugend nur die Mühe gemacht, Aufmerksamkeit zu erregen und zu flirten, wie es die anderen Debütantinnen getan hatten. Sie hatte mehreren passenden Bewerbern einen Korb gegeben, da sie keinen von ihnen lieben konnte. Erfüllt von arrogantem Idealismus, hatte sie entschieden, sich mit nichts weniger zufrieden zu geben als mit absoluter Glückseligkeit.

Emmas goldbraune Augen streiften das Profil vor ihr. Jarrett Dashwood war auf seine Weise durchaus attraktiv, wenn sein Teint auch etwas dunkel war. Sein schwarzes Haar glänzte und war modisch frisiert. Er war mittelgroß und etwas stämmig, doch war seine massige Statur auf Muskelkraft zurückzuführen, nicht auf Korpulenz. Seine Nase war etwas zu scharf, sein Mund eine Spur zu voll und sinnlich, doch insgesamt wirkte er wie ein ehrenwerter Gentleman in den Dreißigern. Jemand, der ihn nicht kannte, wäre nie darauf verfallen, dass sein Vermögen auf Plantagenwirtschaft gründete, auf brutaler Sklaverei, oder dass er als unersättlicher Wüstling galt, von dem man sich erzählte, dass er seine Geliebten schlug, wenn sie sich unbeholfen zeigten. Selbst innerhalb des kleinen gesellschaftlichen Kreises, in dem Emma sich bewegte, sprach man mit verstörter Neugier und Missbilligung von Dashwoods Niedertracht, seiner Rücksichtslosigkeit – und seinem Reichtum.

In ihrer Kindheit und Jugend war sie ständig mit den Folgen der alkoholseligen Eskapaden ihres Vaters konfrontiert gewesen, ebenso mit den Schimpftiraden ihrer Mutter, wenn wieder einmal ein Stapel Rechnungen unbezahlt blieb. Doch sie waren immer irgendwie durchgekommen. Ein Geschäftsabschluss trug Früchte, eine Wette erwies sich als siegreich, ein mitfühlender Freund lieh Geld zu einem niedrigen Zinssatz. Am Rand der Katastrophe entlangbalancierend, war es ihnen immer gelungen, den Abgrund zu umgehen und wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass auch sie ihr Schicksal einfach hingenommen hatte. Als die Streitigkeiten ihrer Eltern in letzter Zeit außergewöhnlich hitzig wurden, hatte sie sich einfach in ihr Zimmer zurückgezogen und bei einem Buch Trost gesucht, als die Mahlzeiten spärlicher wurden, hatte sie eben weniger gegessen, und als ihre Zofe Rosie letzten Monat entlassen wurde, hatte sie ihr zum Abschied traurig ein Geschenk überreicht und sich hinfort selbst um ihre Kleidung gekümmert. Sie hatte die neuerliche Katastrophe durchaus kommen sehen, hatte jedoch unbewusst darauf vertraut, dass es das Schicksal wieder einmal richten werde.

Vor zwei Abenden hatten ihre Eltern sie zu sich in den Salon zitiert, und da war ihr klar geworden, dass Fortuna sie endgültig im Stich gelassen hatte. Ihr Papa war ihrem Blick ausgewichen, ihre Mutter war pausenlos auf der Stuhlkante herumgerutscht. Das Unbehagen ihrer Eltern hatte ihr einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Nie hätte sie sich jedoch träumen lassen, dass sie sie so herzlos opfern könnten, nur damit ihr extravaganter Vater eine weitere Gnadenfrist bekam.

Sie müsse heiraten, hatte ihre Mutter entschlossen verkündet, während ihr Papa eine wirre Zustimmung murmelte und sich das Gesicht mit einem Taschentuch abtupfte. Emmas Einwände stießen allesamt auf taube Ohren. Nun wusste sie auch, warum: Der Ehekontrakt war längst besiegelt, das Geld hatte bereits den Besitzer gewechselt.

Das knarrende Geräusch, mit dem die Tür hinter Jarrett Dashwood ins Schloss fiel, weckte Emma aus ihren traurigen Erinnerungen.

“Nun, Miss, das hast du ja sauber hinbekommen!”, wurde ihr schrill vorgeworfen. “Weißt du eigentlich, was uns jetzt allen blüht? Dein abgewiesener Bewerber hat deinem Vater soeben einen Aufenthalt im Schuldgefängnis in Aussicht gestellt, und zwar auf unbestimmte Zeit … und uns ein Leben in der nächsten Gosse. Wir sind ruiniert … am Ende!”

“Mama, wie konntest du nur daran denken, mich einem solchen Ungeheuer zu überantworten?”, gab Emma gebrochen und leise zurück. “Mit der Ehe wäre ich einverstanden gewesen, aber ihr müsst mir gestatten, einen Mann meiner Wahl zu heiraten: jemanden, den ich zumindest respektieren kann, wenn ich ihn schon nicht liebe. Ihr kennt Dashwoods Ruf doch! Man schmäht ihn als Sklaventreiber … und Lüstling. Und trotzdem wollt ihr mich dazu zwingen, mit ihm mein Leben zu verbringen?”

“Einige der vornehmsten und reichsten Familien dieses Landes haben ihr Vermögen in Jamaika gemacht, und ihr Oberhaupt ist nicht selten ein Frauenheld. Hast du an ihnen allen auch etwas auszusetzen?”, antwortete ihre Mutter bissig. Dann wurde ihr Tonfall schmeichelnd. “Als seine Frau würdest du ein Leben im Luxus führen. Er würde dich gut behandeln, schließlich wissen wir doch alle, wie sehr ihm daran gelegen ist, den Schein zu wahren. Warum, glaubst du wohl, wählt ein solcher Mann ein spätes Mädchen? Er will ihre Tugend, ihr vornehmes Blut und die Gewissheit, dass sie ihn kaum demütigen wird, indem sie schamlos ihrem Vergnügen nachjagt. Wenn du ihm die erforderlichen ein oder zwei Erben erst einmal geschenkt hast, wozu sollte er dich dann wohl noch brauchen? Ein Mann, der so reich ist wie er, hat unter allen Kurtisanen freie Auswahl, um seine Lust zu stillen.” Und mit einem abschließenden spöttischen Blick: “Du kannst dich glücklich preisen, dass du überhaupt einen Antrag bekommst.”

“Ach Mama, vielleicht ist unsere Zukunft ja doch nicht ganz so trostlos”, hielt Emma dagegen. “Es stimmt, was du sagst, Mr. Dashwood legt großen Wert auf Ansehen und Ehrbarkeit. Er würde Papa nie und nimmer wegen Betrugs vor Gericht bringen, wo sein schlechter Gesundheitszustand allgemein bekannt ist. Dashwood wäre es sehr unangenehm, wenn man ihn für so rachsüchtig hielte, einen kranken Mann zu bedrängen. Er wird uns etwas Zeit gewähren, in der wir das Geld zurückzahlen können … du wirst schon sehen.” Allmählich erwärmte sie sich für ihr Thema und fuhr begeistert fort: “Ich kann arbeiten. Ich bin gebildet genug, um eine Stelle als Gouvernante anzunehmen … oder als Gesellschafterin einer reichen Dame … als Haushälterin …”

“Als Haushälterin?”, keuchte ihre Mutter außer sich. “Du bist zur Dame erzogen worden! Der Ball zu deinem vierundzwanzigsten Geburtstag war ein rauschender Erfolg! Wenn du dich den anwesenden Herren gegenüber etwas … entgegenkommender verhalten hättest, wärst du jetzt schon seit mindestens drei Jahren verheiratet und würdest nicht länger von unserer Börse zehren.”

Margarets Lippen und Augen wurden schmal vor Ärger, als könnte sie ihren Zorn oder ihre Bitterkeit nicht länger im Zaum halten. Steifbeinig näherte sie sich ihrer Tochter; sie sah aus wie ein wackeliges mechanisches Spielzeug. Als sie an einem Beistelltischchen vorbeikam, fiel ihr etwas ins zornig starrende Auge. Sie packte den Lederband und betrachtete ihn mit heftigem Abscheu. “All deine lächerlichen Tagträume von Liebe und Helden und einem glücklichen Ende … das ist ein Laster, dem du dich schamlos hingibst. Es ist unerträglich, Emma.” Ihr entfuhr ein säuerliches Lachen. “Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit”, parodierte sie mit zitternder Stimme, “dass eine eigensinnige, selbstsüchtige Tochter von siebenundzwanzig Jahren sich für ihre Eltern als traurige Last erweisen wird. Ihre Anwesenheit sollte nicht länger geduldet werden.” Jane Austens Roman wurde abrupt auf Emma zugeschleudert und traf sie schmerzhaft an der Schulter.

Emma stöhnte, als ihr diese Szene wieder einfiel. Sie richtete sich im Bett auf. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, und sie tastete nach dem blauen Fleck unterhalb ihres Schlüsselbeins. Sie ließ den Kopf nach vorn sinken, so dass ihr dichtes hellbraunes Haar ihr Gesicht zu beiden Seiten bedeckte, und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag beruhigte und ihr der Traum nicht mehr ganz so lebhaft vor Augen stand.

Tastend streckte sie die Hand nach der Kerze aus, die auf dem fremden Tisch neben dem ungewohnten Bett stand. Sie zog sie heran, um etwas Licht von der schwachen, flackernden Flamme abzubekommen, und hielt sie zitternd hoch. Dann schüttelte sie sich die Locken aus dem bleichen Gesicht, während ihre Blicke über die mondlichtgefleckte Kammer des Gasthauses huschten und jede düstere Ecke nach Geistern und Eindringlingen absuchten. Dabei wusste sie genau, dass es nur ihre eigenen Gespenster waren, die sie aus dem Schlaf gerissen hatten.

Der Traum hatte die zwei Tage zurückliegenden Ereignisse so scharf, so akkurat nachgezeichnet, dass sie sich fast wieder im Salon von Rosemary House wähnte, konfrontiert mit der Gehässigkeit ihrer Mutter und Jarrett Dashwoods bedrohlicher Gegenwart.

Unruhig verließ sie das harte Bett und tappte über den kalten Holzboden zu dem kleinen Fenster. Durch einen schimmernden Wolkenschleier war ein samtener Nachthimmel zu erkennen. Ihre Augen suchten den Hof unter ihr ab. Sofort fuhr sie zurück. Zufällig hatte sie bei einem der Nebengebäude die eng aneinander geschmiegten Leiber eines Paares beim Liebesspiel entdeckt. Angezogen von einer schier unüberwindlichen Faszination, sah Emma noch einmal hinaus, suchte den schattenhaften Umriss des großen, kräftigen Mannes und der Frau, die zwischen ihn und die Ziegelmauer des Stalles gedrückt war. Gleich darauf wandte sie sich heftig ab. Ihr Gesicht brannte vor Abscheu vor sich selbst, und sie kroch ins Bett zurück.

Sie drehte sich auf die Seite und starrte auf den vollen Mond, der gerade hinter einer Wolke hervorkam. Sie dachte an Matthew und lächelte sehnsüchtig, als sie sich fragte, wie er auf ihre unerwartete Ankunft reagieren würde; schließlich hatten sie sich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, und sie hatte immer noch keine Antwort auf den Brief bekommen, den sie ihm vor etwa einem halben Jahr geschrieben hatte.

Vielleicht war er gar nicht angekommen … “Lieber Gott, bitte mach, dass er nicht weggezogen ist”, flüsterte sie dem silbernen Herbstmond am Nachthimmel zu. Zweifel und Schuldgefühle durchströmten sie, als sie an ihre Eltern dachte. Ob sie sich wohl Sorgen machten? Zornig waren? Tat es ihnen leid? Sie hätte einen richtigen Brief zurücklassen sollen, nicht nur ein paar Zeilen, in denen sie sie bat, sich keine Sorgen zu machen – und auch nicht zu versuchen, sie zu finden.

Rastlos wälzte sie sich auf dem harten Lager, sah finster zu den Schatten an der Decke empor, während sie über unerwiderte Liebe nachgrübelte, über einen Mann, der sein Herz mit seiner ersten Frau zu Grabe getragen hatte, und ob sie Stiefkinder wohl je lieb gewinnen könnte.

“Hoffentlich hatten Se keinen Ärger nich’ mit die Wanzen”, sagte der junge Mann. “Hab schon Leute gesehn, wo die ganzen Beine geschwollen waren und knallrot wegen dem elendigen Kriechzeug …”

“Nein, ich fühle mich recht wohl, vielen Dank. Nur ein bisschen müde bin ich”, antwortete Emma auf die Nachfrage, ob sie gut geschlafen habe. “Bei Ihnen ist heute anscheinend viel Betrieb.” Mit einem Blick wies sie auf das geschäftige Treiben im Hof.

Der junge Schankbursche senkte verschwörerisch den Kopf und verriet: “Spät gestern Abend sind noch ‘n paar feine Pinkel mit ‘nem seltsamen Namen aufgetaucht. Der Gentleman, hab ich gehört, fährt mit seiner Familie in aller Früh weiter nach Bath.” Nachdem er Emmas Teller und Tasse säuberlich aufeinandergestapelt hatte, marschierte er davon, wobei er einem Mädchen, das Krüge ausspülte, einen anzüglichen Blick zuwarf. Erst da erkannte die errötende Emma, dass es sich bei den beiden um das Liebespaar handelte, das sie durch ihr Fenster gesehen hatte.

Als die Sonne morgens golden am Horizont erschienen war, hatte sie jede Hoffnung auf Schlaf aufgegeben und sich die Treppe hinunter in einen kleinen Schankraum begeben. Die heitere Wirtin hatte ihr Tee und Gebäck serviert und jede Bezahlung dafür zurückgewiesen. Stattdessen hatte sie Emmas Hand auf eine so verständnisvolle, mitfühlende Weise getätschelt, dass diese ihre Einwände hinuntergeschluckt und die Münzen wieder eingesteckt hatte. Sie hatte das köstliche Frühstück genossen, dabei durch die schmutzigen Fenster auf die fremde, sonnenbetupfte Landschaft draußen geblickt und über die ungewöhnliche Großzügigkeit der Wirtin nachgedacht. War ihre missliche Lage denn so offensichtlich? Hatte ihr Auftreten irgendetwas an sich, das in ihr sogleich die mittellose allein stehende Frau vermuten ließ, die vor ihren geldgierigen Eltern und einem abscheulichen Bräutigam floh? Oder war ihre Wirtin ganz einfach eine gute Seele und sie selbst ein wenig zynisch geworden, weil sie in letzter Zeit selten einen guten Menschen zu Gesicht bekommen hatte?

Sie holte ihre Reisetasche unter dem Tisch hervor und trat hinaus in den frischen Septembermorgen, um auf die Ankunft der Kutsche zu warten. Mittlerweile war sie begierig, die Reise fortzusetzen. Selbst wenn ihre Mutter ihre Abwesenheit bei den Mahlzeiten zuerst als einen Anfall von Trotz interpretiert hatte, hätte sie jetzt doch gewiss die kurze Nachricht entdeckt, die sie auf der Frisierkommode hinterlassen hatte.

Emma bezweifelte, dass sie nach ihr suchen würden. Sie verfügten weder über das nötige Geld, noch, so dachte sie, wären sie geneigt, Ermittler auf ihre Spur anzusetzen. Schließlich war sie eine Frau von siebenundzwanzig Jahren und kein schutzbedürftiges Kind. Außerdem hatte ihre Mutter gesagt, ihre Anwesenheit sei unerträglich. Vielleicht waren ihre Eltern ja erleichtert, dass sie Rosemary House verlassen hatte. Wie sie mit dem widerlichen Mr. Dashwood und seiner Entschädigung fertig wurden, war ihre Sache. Sie würde nicht weiter darüber nachdenken … oder Schuldgefühle hegen! Schließlich war sie für diese Zwangslage nicht verantwortlich!

Der herbstliche Morgendunst zog um die niedrigen Ziegelgebäude und die Ställe der Poststation “Fallow Buck”. Emma hielt inne und betrachtete mit stiller Freude eine Spinne, die am Rand ihres taubeperlten feinen Netzes lauerte.

Sie schlenderte bis zum Rand des kiesbestreuten Hofes und ließ den Blick über die kürzlich abgeernteten Stoppelfelder schweifen. Das Landleben war ihr als Londonerin fremd, und so strahlten für sie selbst die kahlen Flächen eine strenge Schönheit aus. Sie trank die kühle Morgenluft in tiefen Zügen, in die sich nun der von der Küche herüberwehende Duft von frisch gebackenem Brot mischte, und fühlte sich auf einmal seltsam wohl gestimmt und zuversichtlich. Mit einem zufriedenen Seufzer wandte sie sich von dem frischen, sonnengesprenkelten Anblick ab und kehrte zum Gasthof zurück.

Da strauchelte ihr Schritt, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Blick ließ den Mann keine Sekunde los. Etwas an seiner großen Gestalt, seinen breiten Schultern und seiner selbstbewussten Haltung kam ihr entmutigend bekannt vor, und doch, sosehr sie sich auch bemühte, konnte sie sich in diesen wenigen, atemlosen Sekunden nicht besinnen, woher. Woher diese Erinnerung auch kam, sie ließ in ihr eine Art verstörte Hochstimmung aufsteigen, bei der ihr Herz wie wild zu pochen begann.

Ihr Blick huschte über die makellose dunkle Kleidung hinauf zu einem silberblonden Haarschopf – eine so ungewöhnliche Farbe, dass sich das Geheimnis dadurch eigentlich sofort hätte aufklären müssen.

Es handelte sich um einen wohlhabenden, einflussreichen Gentleman, das verrieten schon seine Kleidung und seine Haltung. Sie beobachtete ihn so unverwandt, dass sie das näher kommende Kind zuerst gar nicht wahrnahm. Der Junge umklammerte die langen Beine, worauf der Mann ihn sofort hoch in die Luft wirbelte. Nun konnte sie sein Profil erkennen. Seine Wangenknochen und sein Kinn waren kantig und tief gebräunt … ein exotischer Kontrast zu seinem silberblonden Haar. Er lachte den Jungen in seinen Armen an, wandte sich mit ihm zu ihr um …

Rasch senkte Emma den Kopf und schob sich den Schutenhut vor das Gesicht, bevor sie sich zu den Feldern umdrehte, die sie vorhin bewundert hatte.

Sei doch nicht närrisch! schalt sie sich, während sie sich bemühte, ihr bis zum Hals pochendes Herz zu beruhigen. Er war ein Fremder … wahrscheinlich ein Ausländer, seiner sonnenverbrannten Erscheinung nach zu urteilen. Sofort fiel ihr ein, was ihr der Schankbursche von einem Gentleman mit seltsamem Namen berichtet hatte.

Ein französischer Graf, entschied sie träumerisch. Und der Umstand, dass er ihr so bekannt vorkam, war zweifellos darauf zurückzuführen, dass er aussah wie eine romantische Gestalt aus einem ihrer Romane. Sie legte den Kopf schief, verschränkte die Arme vor der Brust und rief sich auf der Suche nach einem großen, überwältigend gut aussehenden blonden Helden Geschichten und Figuren in Erinnerung. Vielleicht ist er ja auch der Schurke, überlegte sie nachdenklich, da ihr einfiel, wie seltsam ängstlich sein Anblick sie gestimmt hatte.

Lange, ovale Fingernägel rissen tiefe Kratzer in die gebräunte Haut, kreuz und quer, und mit einem ungeduldigen Knurren rollte der Mann sich mit ihr herum, stieß hart und schnell zu und löste dabei gleichzeitig die seidigen Beine, die seine muskulösen Oberschenkel umklammerten.

Er ignorierte ihren frustrierten Schrei, als sie seine Hüften mit den Unterschenkeln wieder zu sich heranzuziehen versuchte, damit er sich in ihr verströmte. Mit einem leichten Stoß schubste er sie weg, so dass sie auf dem Rücken zu liegen kam, und im nächsten Augenblick saß er am Rand des zerwühlten Bettes. Er fuhr sich über die Schulter, und als er seine Finger zurückzog, waren sie rot und klebrig. Leidenschaftslos blickte er auf das Blut. “Stutz dir die Krallen, meine Süße …”, ordnete er mit fast ausdrucksloser Stimme an, doch bei den ruhigen, beiläufig geäußerten Worten hob die blonde Frau den Kopf vom Kissen und biss sich auf die volle Unterlippe.

Yvette Dubois kniff die blauen Augen zusammen und betrachtete die roten Striemen auf seiner Haut, die aussah wie aus kalter Bronze, sich jedoch anfühlte wie warmer Samt. “Ich kann nichts dafür, chérie”, schnurrte sie atemlos. “Du weckst die Wildkatze in mir, das weißt du doch. Wie kann ich in einem solchen Moment nachdenklich und vernünftig sein?” Sie zog hinter ihm einen Schmollmund und fuhr die Striemen wie zur Entschuldigung mit feuchten Lippen nach. Als sie daraufhin immer noch ignoriert wurde, ließ sie sich beleidigt auf das Laken fallen.

Er ergriff ein Glas und leerte den Rest Cognac in einem Zug. “Eine Wildkatze mit eingezogenen Krallen wäre mir durchaus genehm”, kommentierte er trocken und hob im Aufstehen in einer einzigen geschmeidigen Bewegung die Pantalons vom Boden auf.

“Warum schenkst du dich mir nicht ganz?”, fragte sie heiser, während sie das Laken verführerisch und wie nebenbei von ihren Brüsten gleiten ließ, nachdem er sich endlich zu ihr umgedreht hatte. Unter ihren dunklen Wimpern hervor warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Als sie in die kühlen silbergrauen Augen sah, war ihr klar, dass er sie durchschaute.

“Was, du willst einen dicken Bauch und schlaffe Brüste?”, überlegte er mit ironischer Bedächtigkeit. “Ich glaube, so wie jetzt ziehe ich dich vor, Yvette.” Sein Blick schweifte an ihrer kurvenreichen Gestalt hinab bis dahin, wo das Laken eine verführerische rosa Brustspitze freigab.

Sie war sich dieses Blickes bewusst und räkelte sich geschmeidig, die Arme über den Kopf erhoben. Ihre schmalen Finger schlossen sich um das Betthaupt, so dass die Makellosigkeit ihrer kecken, festen Brüste unmöglich zu übersehen war. Sie bot sie ihm offen dar.

Er streckte eine Hand aus, streichelte erst die eine, dann die andere Brust, bis sie stöhnend den Rücken durchdrückte, die Hände an die Messingbettstatt geklammert. Er unterdrückte ein Lachen, stieg in seine Pantalons und trat ans Fenster.

“Richard!”, kreischte Yvette außer sich aus dem Bett. “Wie kannst du gerade jetzt weggehen? Ich will, dass du …”

“Schneid dir die Nägel …”, erwiderte er seelenruhig, zog eine Zigarre aus der Tasche, zündete sie an und starrte abwesend in die Dämmerung. Er merkte, dass er irgendwie gereizt war, und dies reizte ihn noch mehr, da er keinerlei Grund dafür hatte.

Es hatte nichts mit Yvette Dubois, ihrer wilden Leidenschaft oder ihrem offensichtlich von finanziellen Erwägungen diktierten Wunsch zu tun, von ihm geschwängert zu werden, damit sie in seinem Leben auf Dauer eine Rolle spielte. Da verschwendete sie nur ihre Zeit: Er wünschte weder eine dauerhafte Liaison noch Kinder. Er warf ihr einen Seitenblick zu, und als er sah, dass sie angesichts dieser Zuwendung sofort wieder munter wurde, zuckte ein Lächeln um seinen fein gezeichneten, schmalen Mund.

Langsam schlang sie sich eine lange blonde Locke um den Finger, rollte sich dann auf den Rücken und zog die zerknüllten Laken von ihren wohlgeformten Beinen, so dass die dunkelblonden Locken zwischen ihren Oberschenkeln zum Vorschein kamen.

Sie war sehr gut, sehr geschickt: In seinen Lenden pulsierte es bereits wieder schneller, genau wie sie es vorausberechnet hatte. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarre und griff nach seinem Hemd, das auf dem Stuhl lag. Wenn er nicht versprochen hätte, rechtzeitig nach Silverdale zurückzukehren, um mit seinen Verwandten, die auf Besuch waren, zu Abend zu essen, wäre er wahrscheinlich noch eine Weile geblieben und hätte sie für ihren Unterhalt noch ein bisschen arbeiten lassen.

Die bohrende Unruhe, die ihn quälte, wurde bei diesem herzlosen Gedanken noch stärker. Abwesend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte silberblonde Haar, nicht willens, sich einzugestehen, dass ihn etwas derart Unbedeutendes … derart Unsinniges so aus der Fassung bringen konnte.

In Gedanken kehrte er zurück zur Poststation “Fallow Buck” und zu der reizlos gekleideten Frau, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Sie hatte absolut nichts an sich, was sein Interesse hätte wecken können. Auf den ersten Blick hätte er sie vielleicht für eine höhere Dienstbotin gehalten – eine Gouvernante oder Haushälterin, die auf irgendeinem Botengang unterwegs war. Ihn verdross, dass er das Gefühl nicht loswurde, sie zu kennen, obwohl er außer der wenig kleidsamen Schute und der trübseligen braunen Reisepelerine nichts von ihr gesehen hatte.

Er war sich sicher, dass sie ihr Gesicht verborgen hatte, gerade als er sich zu ihr umdrehte, und genau darin lag das Geheimnis. Doch er hatte mit den Schultern gezuckt, war weggegangen und hatte die Sache vergessen … bis vor kurzem. Aus irgendeinem verrückten Grund empfand er es jetzt als großes Ärgernis, dass er nicht über den Hof gegangen war, um sie zu betrachten, und die Absurdität des Ganzen machte ihn beinahe wahnsinnig.

“Ich will nicht, dass du jetzt schon weggehst. Du verlässt mich viel zu oft … viel zu bald. Das ist nicht gerecht …”, rief Yvette leise hinter ihm, ihn aus seiner Gedankenverlorenheit reißend.

Er biss auf die Zigarre und zog beständig daran, doch er wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um. “Und was gedenkst du dagegen zu unternehmen?”

Yvette schwang die langen Beine aus dem Bett und warf sich am Bettrand in eine wohlüberlegt aufreizende Pose. Sie bog den Hals zurück, legte den blonden Kopf schief und betrachtete ihn zwischen fast geschlossenen cremeweißen Lidern. Dann erhob sie sich langsam und ging mit wiegenden Hüften auf ihn zu, und bei jedem geschmeidigen Schritt tanzten ihre vollen Brüste. “Ich glaube schon, dass ich dich dazu bringen kann, es dir anders zu überlegen … das Weggehen und eine Menge andere Dinge …”, schnurrte sie, als sie vor ihm stehen blieb und den nackten Bauch an ihm rieb. Mit ihrem langen Fingernagel strich sie an seinem Oberschenkel entlang, grub ihn in das feine Tuch, als sie sich seinem Schritt näherte.

Kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, packte er ihre Hand, führte die Handfläche an die Lippen und drückte einen Kuss darauf. Dann drehte er sie von sich weg und stieß sie sanft in Richtung Bett. “Ich muss gehen.”

“Geschäfte … Geschäfte … immer nur Geschäfte”, warf sie ihm heftig vor. “Ich habe diese ständigen Geschäfte allmählich ganz schön satt! Ich bin zu viel allein. Ich brauche Gesellschaft … Ich brauche dich …”

“Mich bekommst du nicht, Yvette, lass dir das ein für alle Mal gesagt sein”, erklärte er langsam und bedächtig, damit sie ihn wirklich vollkommen verstand, und besiegelte es mit einem Lächeln, das nicht bis zu seinen metallischen Augen vordrang. “Wenn du einsam bist, so besorge dir eine Gesellschafterin”, fügte er lässig hinzu, während er an ihr vorbei und zur Tür ging.

“Was?”, kreischte sie. “Wie denn? Fallen Freundinnen etwa vom Himmel?”

“Gib eine Anzeige im ‘Herald’ auf …”, schlug er mit einem aufreizenden Lächeln vor und schloss die Tür hinter sich.

2. KAPITEL

Emma atmete tief durch und blickte ein weiteres Mal um die Hecke.

Beim Anblick der verwitterten Bretter und der verrutschten Dachziegel geriet ihr Optimismus ins Wanken. Das Cottage wirkte verlassen. Vielleicht war er ja wirklich weggezogen. Bitte nicht! flehte sie im Stillen. Die Schatten wurden bereits länger, und die Londoner Kutsche war längst aus ihrem Blickfeld verschwunden und auf dem Weg nach Bath.

Sie war im Dorf Oakdene ausgestiegen, wo sie sich unter den neugierigen Blicken der Dorfbewohner auf die Suche nach Nonsuch Cottage gemacht hatte. Eine Brombeerranke, die sich in ihren Röcken verhakte, hatte sie vorhin im wahrsten Sinn des Wortes über ihr Ziel stolpern lassen: Ihr Blick wanderte von dem Schild am Tor über wuchernden Fingerhut, scharlachrote Rosen, Gräser und Wiesenkerbel zu der schiefen Tür.

Aufgewachsen in einem eleganten Backsteinhaus im Londoner Stadtteil Kensington, hatte sie gar nicht gewusst, dass es derart baufällige Behausungen überhaupt gab. Bei näherer Betrachtung wirkte das Cottage jedoch durchaus stabil und strahlte zudem großen ländlichen Charme aus. Womöglich war es im Inneren sauber und gepflegt; man konnte von einem verwitweten Gentleman schließlich nicht erwarten, dass er sich mit Unkraut aufhielt, wenn es kleine Kinder zu versorgen galt.

Fast wie zur Bestätigung der Überlegungen kreischte eine Frauenstimme etwas Unverständliches, worauf sich helles Kindergeheul erhob. Das Haus war also bewohnt, und zwar von einem keifenden Marktweib, wie es den Anschein hatte. Ihr kam ein so fürchterlicher Verdacht, dass ihr fast das Herz stehen blieb, und sie fragte sich, wieso sie eigentlich nicht früher auf die Idee gekommen war: War Matthews Brief deswegen seit einem halben Jahr überfällig, weil er wieder geheiratet hatte? Plötzlich flog die Brettertür auf. Ein kleiner Mischlingshund kam winselnd herausgeschossen, streifte Emmas Röcke und sprang dann auf den Feldweg.

“Verfluchter Köter!”, zeterte eine junge Frau. Sie wollte die Tür schon wieder hinter sich zuwerfen, als ihr Blick auf Emma fiel. Ihr Blick wurde hart. “Wir brauchen nix. Fort mit Ihnen.”

Emma wusste nicht, ob sie Erheiterung oder Empörung darüber zeigen sollte, dass diese junge Frau, anscheinend Matthews Haushälterin, sie für eine Hausiererin hielt.

Nachdem die Frau sie immer noch wütend anstarrte, befreite Emma sich mit einem Ruck von der Brombeerranke, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und erklärte kühl: “Ich komme aus London und möchte Mr. Cavendish sprechen. Ist er hier?”

Angesichts des unerwartet kultivierten Akzents blieb der Frau der Mund offen stehen. Scharf musterte sie Emma von der praktischen braunen Schute bis hinunter zu den staubigen festen Schuhen.

“Mach die Tür zu, Maisie, verdammt noch mal. Es zieht ja dermaßen, dass es mir die ganzen Papiere durcheinander weht!”, bellte jemand im Inneren des Cottages.

“Matthew …”, flüsterte Emma, als sie nun die wohlmodulierte, wenn auch sehr zornige Stimme hörte. “Ich möchte Mr. Cavendish sprechen”, wiederholte sie bestimmt.

“Moment”, gab die Frau unhöflich zurück und schlug ihr die Tür vor der Nase zu, doch wenig später trat ein großer Mann heraus. Er fuhr sich über das stoppelige Kinn und die Augen, als wäre er erschöpft.

“Emma …?”, murmelte Matthew Cavendish ungläubig, während er sich eine Strähne braunen Haares aus der Stirn strich. Er lächelte über das ganze Gesicht, und nachdem er sich Manschetten und Weste zurechtgezupft hatte, eilte er auf sie zu.

“Emma! Wie wunderbar, dich wiederzusehen!” Er packte sie bei den Schultern und lächelte in ihr unsicher blickendes Gesicht hinab. “Warum hast du dich denn nicht angekündigt? Oh, entschuldige … komm doch bitte herein. Du musst mich ja für einen rechten Lümmel halten, dass ich dich hier draußen in all dem Unkraut einfach stehen lasse. Wie du sehen kannst”, fügte er mit einer Geste auf die wild wuchernden Pflanzen reuig hinzu, “gehört die Rosenzucht nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.” Er hakte sie unter und führte sie aus der milden Herbstsonne in das kühle, dunkle Cottage hinein.

“Maisie wird uns den Tee servieren”, wies er die Frau an, während er Emma aus ihrer Pelerine half.

Emma warf der kleinen Brünetten einen Blick zu und bemerkte, dass die Dienerin ihren Herrn seltsam aufsässig anstarrte. Dann machte Maisie auf dem Absatz kehrt und verschwand.

Es trat eine kurze Pause ein, während der sie einander nur höflich anlächelten, und dann sagten beide gleichzeitig: “Bitte entschuldige …”

“Bitte lass mich erklären …”

Sie lachten verlegen. Dann sagte Matthew: “Du zuerst” und schob sie zu einem gemütlichen Chintzsessel am Feuer. Als er sich zu ihr hinüberlehnte, ihre Hände ergriff und ihr zu verstehen gab, wie sehr er sich über ihren Besuch freue, drang ihr ein wohl bekanntes süßliches Aroma in die Nase. Sie hatte ihren Vater viel zu oft in trunkenem Zustand erlebt, um nun den Geruch nach starken alkoholischen Getränken zu verkennen. Ihr fiel auf, dass seine Augen leicht gerötet waren, und sein Gesicht, auf dem sich nun ein zögerliches Lächeln ausbreitete, war zweifellos verkatert.

“Ich muss mich dafür entschuldigen, Matthew, dass ich dich so ohne Vorankündigung überfalle. Aber ich hatte keine Zeit, zu schreiben oder deine Antwort abzuwarten.”

In der schwankenden, unangenehm stickigen Kutsche hatte sie die ganze Zeit nur ein Gedanke beherrscht: Wie sie sich danach sehnte, Matthew ihr Herz auszuschütten und ihn zu bitten, den Heiratsantrag zu erneuern, den er ihr vor fünf Jahren gemacht hatte. Dieser verzweifelte Wunsch hatte sich nun merkwürdigerweise verflüchtigt. Was blieb, war die Erleichterung, sich aus Jarrett Dashwoods Nähe entfernt zu haben.

“Du solltest dich erst mal ein bisschen ausruhen und dann mit uns zu Abend essen”, sagte Matthew und drückte ihre Hand.

Emma dankte ihm mit einem Lächeln; sie war hungrig, war aber auch erleichtert, dass Matthew sich taktvoll zurückhielt. Sie brauchte einen Augenblick Ruhe, um sich zu fassen, bevor sie enthüllen konnte, welche Katastrophe sie dazu veranlasst hatte, sämtliche Regeln der Etikette zu brechen und sich unbegleitet ins Haus eines unverheirateten Herrn zu begeben. Nachdem sie sich über diese Ungehörigkeit klar geworden war, stieß sie gleich auf die nächste: Über Nacht bei Matthew zu bleiben war völlig ausgeschlossen. Sie musste sich eine Unterkunft suchen.

Während sie sich in der unaufgeräumten Wohnstube umsah, warf sie Matthew einige unauffällige Blicke zu. Ja, er gefiel ihr immer noch. Er war nicht gealtert. Doch sein widerspenstiges Haar war zerzaust, sein Teint wirkte ungesund und seine Kleidung unordentlich.

“Entschuldige mein Aussehen.” Scharfsinnig nahm er ihre Frage vorweg, als er ihren Blick auf seinem unrasierten Kinn ruhen sah. Mit einem verlegenen Lächeln sagte er: “Ich nahm gestern Abend an einer Debatte in der Dorfhalle teil und kam erst nach Mitternacht ins Bett.” Mit zitternden Händen versuchte er, sein Haar und seine Kleider zu ordnen.

“An einer literarischen Debatte?”, fragte Emma sehr interessiert.

“Äh … nein.” Matthew lachte. “Nicht ganz so kultiviert, fürchte ich, mein lieber Blaustrumpf. Es ging um die Installation einer neuen Pumpe für den Dorfbrunnen und wie man die Kosten aufteilen soll. Nachdem wir uns geeinigt hatten, musste das natürlich begossen werden …”

“Natürlich”, sagte Emma lächelnd, froh und erleichtert, dass sein Kater auf ein so alltägliches Ereignis zurückzuführen war. “Und weil die Pumpe noch nicht installiert ist, wart ihr ja förmlich gezwungen, statt Wasser Whisky zu trinken …”

Matthew lachte. “So kenne ich meine Emma”, meinte er und berührte sanft ihr Gesicht. “Tatsächlich haben wir mit geschmuggeltem Genever angestoßen”, erklärte er, ihre Lippen mit dem Finger verschließend.

Emmas Herz schlug schneller, als sie sich in die Augen sahen. Sie lächelte unter der leichten Liebkosung, fragte dann aber eilig: “Und wie geht es deinen Kindern? Mit deinem Hund hatte ich, glaube ich, schon einen kleinen Zusammenstoß.”

“Ach ja, Trixie …”, murmelte Matthew und lachte.

Maisie brachte den Tee, goss ein und bediente sie, wobei sie sie die ganze Zeit mit finsteren Blicken bedachte. In Matthews haselnussbraunen Augen zeigte sich Tadel, ja fast eine Warnung, als ihre Blicke sich begegneten, bevor die Dienerin die Stube verließ.

“Ich muss mich für Maisie entschuldigen, weil sie dich draußen vor der Tür stehen ließ”, sagte Matthew ruhig. “Fremden gegenüber ist sie ein bisschen misstrauisch, aber sie ist ein braves Mädchen …”

Emma drehte den Kopf, da sie aus dem Korridor ein gedämpftes Geräusch vernahm, ein belustigtes oder zorniges Schnauben … Matthew verriet mit keiner Miene, ob er es auch gehört hatte, ging jedoch wie zufällig an der Tür vorbei und drückte sie fest zu.

Autor

Mary Brendan
Mary Brendan wurde in Norden Londons als drittes Kind von sechs Kindern geboren. Ihr Vater hatte eine Klempnerfirma, und ihre Mutter, die sie zum Lesen und lernen anregte, arbeitete als Schulsekretärin.
Mary Brendan heiratete mit 19 Jahren und arbeitete in einer internationalen Ölfirma als Büroangestellte und später dann als Sekretärin in...
Mehr erfahren