Der unvergessliche Viscount Bromley

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Über sechs Jahre war Nicholas, Viscount Bromley, verschwunden. Keine Nacht ist vergangen, in der Lady Eleanor nicht sehnsüchtig an ihn gedacht, sich um ihn gesorgt hat! Jetzt ist er wieder in London, und Eleanor will Antworten. Warum schaut er sie an, als hätte es niemals die brennende Leidenschaft zwischen ihnen gegeben?


  • Erscheinungstag 20.02.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536875
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

James River, Virginia 1818

Er war am Ende seiner Kräfte und schon seit geraumer Zeit völlig durchgefroren.

Mit jedem Atemzug spürte er in sich den Zorn, der noch größer war als die Schmerzen und die Angst und gut zu dem wütenden Brausen des Flusses passte.

Er wusste, dass er einmal anders gewesen war, und diese unbestimmte Gewissheit, für die er selbst keine Gründe nennen konnte, verursachte ihm einen unbeschreiblichen Schmerz.

Innerlich fluchend ließ er den Körper in das eisige Wasser gleiten und schloss angesichts der stechenden Kälte die Augen. Mit der linken Hand, die noch nicht gänzlich gefühlstaub war, hielt er sich am Schilf fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Der Mann, der ihn aus dem Hinterhalt angegriffen hatte, lauerte noch irgendwo in der Nähe mit seinem Messer. Er spürte dessen Gegenwart, auch wenn in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war. Außer seinem Verstand hatte er keine Waffe, um sich gegen den anderen zu verteidigen. War er in seinem Leben jemals in Sicherheit gewesen? Er konnte sich nicht mehr entsinnen.

„Nicholas Bartlett! Geben Sie auf! Mir entkommen Sie nicht!“ Die kehlige Stimme des Unbekannten kam ganz aus der Nähe.

Er drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Der Name, den der Mann gerufen hatte, kam ihm vertraut vor, und mit einem Mal ergab alles einen schrecklichen Sinn.

Vergeblich wehrte er sich gegen den plötzlichen Ansturm der Erinnerungen. Jede Bedrohung mündete in die nächste. Immer neue Bilder und Worte füllten die Leere seines Lebens und verankerten ihn wieder in einer Wahrheit, die ihm so lange verschlossen geblieben war.

Sein Verfolger, der sich im Schilf vor ihm bewegte, stieß Drohungen aus und hob eine stählerne Klinge, die kurz im trüben Licht des Sichelmondes aufschimmerte.

„Vitium et Virtus!“

War das ein Gebet oder eine Prophezeiung? Eine Vorhersage für Künftiges oder eine Beschreibung des Vergangenen?

„Nein.“ Seine Stimme klang entschieden, als er wutentbrannt aus dem Wasser schoss, um sich seinem Schicksal zu stellen. Er spürte kaum, als das Messer des Gegners sein Gesicht traf. Der Wille zu überleben machte ihn furchtlos, und als er den Hals des Angreifers zu fassen bekam, bemerkte er plötzlich eine Kraft in sich, die jeden Zweifel beseitigte. Wenn er überleben wollte, gab es keine andere Möglichkeit. Er hörte, wie ein Knochen brach, und sah im Mondlicht das entsetzte Erstaunen in den hervortretenden Augäpfeln seines Gegners. Der heiße Atem des Fremden, den er noch eben auf dem rechten Unterarm gespürt hatte, erlosch, und der letzte Widerstand des Mannes versiegte. Leben verwandelte sich erschreckend rasch in Tod. Es war nur noch ein plätscherndes Geräusch zu vernehmen, als der Körper schlaff in das Wasser fiel und von den schwarzen Fluten des James River erfasst wurde.

Nass bis auf die Knochen setzte er sich in das feuchte Gras am Ufer und ließ den Kopf mit den schmerzenden Schläfen zwischen die Knie sinken.

Vitium et Virtus.

Nicholas Bartlett.

Er erkannte die Bedeutung der Worte, wusste plötzlich wieder, wer er war.

Nicholas Henry Stewart Bartlett. Viscount Bromley. Ein Wappen mit einem Drachen auf der rechten Seite und einem Pferd auf der linken – beide in Gold.

Ein Landsitz in Essex. Stammsitz der Familie.

Oliver. Fred. Jake.

Der Club: das Vitium et Virtus.

„Zum Teufel!“ Erinnerungen fluteten sein Gehirn, da auf einmal alle Dämme gebrochen waren: Augenblicke der Ehre, der Scham und des Exzesses nach so vielen Jahren, in denen er als ein Niemand im Nichts vegetiert hatte.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Es fühlte sich an, als ob die Tränen aus Blut wären, während ihm bewusst wurde, was er mit dem Vergessen alles verloren hatte und welche Existenz er nun führte.

Der junge und zügellose Londoner Lord, dem die Welt zu Füßen lag, war durch den geschundenen Mann ausgetauscht worden, der er durch jahrelange Entbehrungen geworden war und der nur durch Willenskraft und Ausdauer überlebt hatte.

„Nicholas Bartlett. Nick.“

Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und murmelte ihn leise in die Nacht, um ihn wirklich zu erfassen. Die Vokale hatten die Färbung des amerikanischen Kontinents angenommen, nur dass ihm erst jetzt auffiel, wie weit er sich von den englischen Wurzeln und der Sprechweise der feinen Gesellschaft in London entfernt hatte. Als er seinen Namen wieder und wieder aussprach, hörte es sich wie ein seltsames Klagelied an.

Sosehr er sich auch bemühte, die Lücken zu füllen, das Letzte, woran er sich in England erinnern konnte, war eine Begegnung mit seinem Onkel in Bromworth Manor in Essex. Wie so oft hatte er sich mit ihm heftig gestritten. Danach lag alles im Dunklen. Er konnte sich nicht daran erinnern, nach London zurückgekehrt, geschweige denn an Bord eines Schiffes nach Amerika gegangen zu sein. Schmerzen und Wasser waren das Einzige, dessen er sich entsann. Weshalb hatte er sein Gedächtnis verloren, und wie war er auf ein Schiff nach Übersee gelangt? Hatte man ihn – einen herumirrenden Menschen ohne Erinnerung – schanghait?

Er wusste, dass er auf keinen Fall freiwillig nach Amerika aufgebrochen war, auch wenn er wegen seiner wachsenden Spielschulden in immer größere Schwierigkeiten geraten war. Damals hatte er sich nicht gescheut, in den übelsten Spielhöllen Londons zu verkehren, wo Betrug an der Tagesordnung war. Er hatte Drohungen erhalten, falls er nicht zahlte, hatte seinen Kopf aber immer irgendwie retten können. Seine Freunde waren für ihn da gewesen und hatten ihm wiederholt geholfen, einem Teil der Forderungen nachzukommen. Außerdem war der Club in Mayfair für ihn wie ein Zuhause gewesen. Das Vitium et Virtus hatte ihm die Familie ersetzt. Jacob Huntingdon, Frederick Challenger und Oliver Gregory, mit denen er gemeinsam den Club gegründet hatte, liebte er wie die Brüder, die er nie gehabt hatte.

Mit zitternden Fingern berührte er die große schmerzende Wunde auf der rechten Wange, die vom Auge bis zum Mundwinkel verlief, und aus der unaufhörlich klebriges Blut hervorsickerte.

Das rechte Auge fühlte sich seltsam an. Es war eine so dunkle Nacht, dass er sich fragte, ob er auf diesem Auge erblindet war. Ein letztes Geschenk seines Verfolgers, der nun tot im Fluss schwamm? Er schloss das andere Auge und war erleichtert, im fahlen Mondlicht verschwommene Umrisse zu erkennen.

Nick holte tief Luft. Noch fühlte er sich nicht dazu imstande, den Rückweg auf dem Uferpfad anzutreten, der von Pappeln gesäumt war, die schwärzer als die Nacht in den Himmel ragten. Er wollte nicht, dass jemand ihn in diesem Zustand sah, und musste sichergehen, dass nicht noch weitere Männer unterwegs waren, die ihm nach dem Leben trachteten. Eine Weile blieb er wie erstarrt sitzen. Eine grenzenlose Erschöpfung hatte seinen nassen und blutenden Körper erfasst, und Trauer befiel ihn, weil durch seine Hände ein anderer Mensch das Leben verloren hatte. Er hatte nie zuvor jemanden getötet, und obgleich er es nur getan hatte, um sein eigenes Leben zu retten, ergriff ein lähmendes Schuldgefühl von ihm Besitz.

Wie konnte er je wieder Teil der Gesellschaft sein? Wie konnte er nach dem, was eben geschehen war, wieder ein Leben als Lord führen? Hatte sein Angreifer eine Familie? Wer hatte ihn beauftragt? In Amerika hatten schon zwei andere Männer versucht, Nick zu töten. Es musste einen Feind geben, der sie bezahlt hatte, einen Auftraggeber, der die ganze Zeit im Verborgenen blieb und die Fäden zog.

Nick hatte viele verschiedene Namen benutzt, seit er sich auf der Flucht vor seinen Verfolgern befand und weder wusste, wer er war, noch wie er in diese fatale Lage hatte geraten können. Beziehungen zu Menschen zu entwickeln, hatte er schon bald vermieden. Letztendlich brachte er die Leute, die er mochte, nur in Gefahr.

Emily. Die junge Tochter des freundlichen Reverends und seiner Frau, die ihn bei sich aufgenommen hatten, war von einer Klippe gestoßen worden. Das Mädchen hatte nur überlebt, weil es sich am Gestrüpp festgehalten hatte. Nach diesem Vorfall hatte er verstanden, dass er sich von allen anständigen Menschen fernhalten musste.

Er hatte sich von Ort zu Ort begeben und die verschiedensten Arbeiten angenommen. Es war ein elendes Leben, ein Getriebensein ohne Ziel und ohne Lichtblicke.

Peter Kingston. So nannte er sich hier in dem Städtchen Richmond, der Hauptstadt von Virginia. Er konnte von heute auf morgen verschwinden. Den schweigsamen Mann mit den vernarbten Händen, der in der Taverne von Shockoe Bottom arbeitete und nie lächelte, würde niemand vermissen. Ein Fremder. Ein Einzelgänger. Ein Außenseiter. Und jetzt auch noch ein Mörder. Bis heute Abend war er nichts als ein Schatten gewesen, der durch Amerika wanderte und dabei kaum eine Spur hinterließ. Das hatte sich nun geändert, nachdem er einem Mann das Genick gebrochen hatte.

Er wischte sich mit dem ausgefransten Ärmel seines Gehrocks über den Mund, zuckte vor Schmerz zusammen und stand auf. Er musste zurück in seine Unterkunft, trockene Kleidung anziehen und sich um die Wunde kümmern. Dann würde er seine wenigen Habseligkeiten einpacken und sich auf den Weg zum Hafen machen. Er musste ein Schiff finden, das ihn nach England brachte. Dort angekommen würden Fred, Oliver und Jake ihm helfen. Gewiss konnten sie ihm erzählen, was geschehen war. Sobald er sich Klarheit verschafft hatte, würde er London den Rücken kehren und sich aufs Land zurückziehen. Allein. Ein anderer Ausweg erschien ihm undenkbar.

Als er sich umblickte, waberten dichte Nebelschwaden über den schwarzen James River, an dem sein Schicksal eine neue Wendung genommen hatte.

1. KAPITEL

London, 26. Dezember 1818

Heute ist der Zweite Weihnachtstag.

Dieser Gedanke brachte Nick zum Lächeln. In Amerika hatte er keine Feste gefeiert, und der Anblick des weihnachtlich geschmückten London hatte für ihn etwas Nostalgisches und Tröstliches. Aber galt das Versprechen von Hoffnung und Erlösung, das mit dem Weihnachtsfest verbunden war, auch für solche wie ihn? Er konnte sich keinen Kirchenmann vorstellen, der ihn von seinen Sünden freisprach, sollte er jemals töricht genug sein, sie einem Geistlichen zu beichten.

Aus der Ferne vernahm er die Klänge eines uralten Weihnachtsliedes, während er die Allee hinter dem Club verließ und auf die Eingangstür des Vitium et Virtus zuschritt. Im Club würde es wahrscheinlich alles andere als besinnlich zugehen. Er erinnerte sich gut an die laute Musik, die ausgelassenen Tänze, das frivole Gelächter und an die Rufe der Croupiers, die aus dem Spielzimmer drangen. Gewiss wurde im Club gerade um hohe Einsätze gespielt. Mit den paar Münzen, die er noch in der Tasche hatte, fühlte er sich armselig, und zum hundertsten Mal fragte er sich, ob er überhaupt hätte herkommen sollen.

Es war schon dunkel, und er konnte sich noch immer unbemerkt abwenden und sich auf den Weg gen Norden machen. An einem Feiertag wie diesem war kaum jemand auf der Straße, und er würde niemandem auffallen.

Er schluckte und zog eine Silbermünze aus der Tasche.

„Kopf, und ich bleibe, Zahl, und ich gehe.“ Er warf die Münze, und als sie in seine geöffnete Handfläche fiel, war das Gesicht George III. sichtbar. Ihm kam der Gedanke, dass er drei Würfe gemacht hätte, wenn er stattdessen eine Zahl erblickt hätte.

Schon hatte er die Finger auf den Griff der polierten schwarzen Lacktür gelegt.

Als er eintrat, stand ein hünenhafter Mann in der Kleidung eines Lakaien vor ihm, den er nicht kannte.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

Nick spürte die herablassende Haltung des Mannes. Seine Kleidung war nach der langen Reise verdreckt und auch sonst in schlechtem Zustand. Er trug einen Vollbart, und sein Haar war nicht geschnitten. Er war froh, dass im Eingangsbereich kein Spiegel hing, der ihm seinen Anblick zeigte.

„Ist einer der Gentlemen, denen dieser Club gehört, heute Abend zugegen?“ Er versuchte, seinen amerikanischen Tonfall zu unterdrücken und so selbstsicher wie möglich zu klingen. Wenn er nicht ebenso höflich wie entschlossen auftrat, würde der Mann ihn bestimmt hinauswerfen.

„Die Eigentümer sind alle da, Sir.“

„Könnten Sie mich bitte zu ihnen führen?“

„Ja, Sir. Darf ich Ihnen aber zunächst Hut und Umhang abnehmen, und würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?“

„Bromley. Die Gentlemen kennen mich.“

„Bitte warten Sie einen Augenblick hier, Sir.“ Der Lakai hängte Nicks Kleidung an Haken in Form von Phalli. Was Nick früher nur zum Schmunzeln gebracht hatte, stieß ihn jetzt ab.

Wieder etwas, das ihn durcheinanderbrachte, und ihm bewies, wie sehr er sich verändert hatte. Er schluckte, und sein Mund fühlte sich so trocken an, dass er wünschte, er hätte einen Flachmann mit Brandy dabei.

Dann hörte er eilige Schritte auf der Treppe und sah die drei Gesichter, die ihm so vertraut waren wie sein eigenes. Erstaunt und ungläubig.

„Nick?“ Es war Jake, der als Erster die Sprache wiederfand.

„Wo bist du, verdammt noch einmal, in den letzten sechs Jahren gewesen?“ Oliver starrte ihn fassungslos an.

„Da bist du nun plötzlich, ohne jede Ankündigung. Warum hast du uns nicht wissen lassen, wo du warst oder zumindest, dass du noch lebst?“ Freds Stimme überschlug sich, als er einen Blick auf Nicks rechte Wange warf und die Narbe sah, die bis zum Auge reichte.

„Gott sei Dank bist du wieder da.“ Oliver trat auf ihn zu und umarmte ihn. Es war so lange her, dass jemand Nick auf diese Weise berührt hatte, dass er wie erstarrt reagierte. Dann waren auch Fred und Jake bei ihm und drückten ihn gleichzeitig so fest an sich, dass er kaum mehr wusste, wo der Körper des einen aufhörte und der des anderen begann.

Hier bin ich für einen Augenblick in Sicherheit. Zum ersten Mal seit Jahren atmete Nick erleichtert auf.

Dennoch erwiderte er die Umarmungen nicht. Noch nicht. Nicht, bevor es vorbei war, und er niemanden mehr in Gefahr brachte. Die drei Freunde vor Schaden zu bewahren, war seine Pflicht.

Er hätte nicht herkommen dürfen. Er hätte nicht so selbstsüchtig sein dürfen. Er hätte auf seine innere Stimme hören und sich von ihnen fernhalten sollen, bis er wusste, von wo und von wem die Bedrohung ausging. Doch ihre Freundschaft war wie ein Leuchtturm. Sie hatte ihm Hoffnung verliehen und ihn zurück über die Meere geführt.

„Dieses unerwartete Wiedersehen verlangt wahrlich nach einer Feier“, erklärte Fred, während er Nick einen Arm um die Schulter legte, mit ihm die Treppe hochging und ihn in die private Suite schob. Oliver und Jake folgten ihnen auf den Fersen. Auf dem Tisch lagen die Spuren einer eilig abgebrochenen Partie Poker – fallen gelassene Spielkarten und verstreute Jetons. Bei diesem Anblick wurde Nick wohler zumute, und als Oliver einen besonders guten Cognac aus dem Eckschrank auswählte und ihnen einschenkte, nahm Nick dankbar ein Glas entgegen.

Er wartete ab, bis alle ihr Getränk in den Händen hielten und hob sein Glas.

„Auf die Freundschaft“, sagte er nur.

„Auf die Zukunft“, fügte Jake hinzu.

„Möge das, was dir widerfahren ist, uns noch enger zusammenschweißen, Nick“, sagte Fred ernst.

Oliver nickte und lächelte Nick an, aber es lag etwas Fragendes in den freundlichen grünen Augen des Freundes, die durch seinen dunklen Teint so besonders hell und strahlend zur Geltung kamen.

Der Cognac schmeckte geschmeidig, cremig und stark. Ganz anders als die zahllosen hausgebrannten Liköre, die Nick bei seinen Aushilfstätigkeiten in den billigen Kaschemmen der Ostküste Amerikas ausgeschenkt hatte. Der Geschmack meiner Jugend, dachte er. Damals habe ich viel davon getrunken, ohne dass ich es zu würdigen gewusst hätte. Heute ließ er sich die edle Flüssigkeit genüsslich auf der Zunge zergehen.

Als Jake den Freunden bedeutete, Platz zu nehmen, setzte sich Nick auf den Stuhl am Kopf des Tisches, auf dem er früher immer gesessen hatte und in den seine GT-stumpfn eingeritzt waren.

„Wir haben nie etwas von dir weggeräumt, Nick. Wir haben immer daran geglaubt, dass du zurückkommen würdest. Aber weshalb, um alles in der Welt, warst du so viele Jahre verschwunden?“ Jake sprach aus, was den beiden anderen vermutlich ebenso auf den Lippen brannte.

„Ich litt unter Amnesie. Ich konnte mich weder daran erinnern, wer ich war, noch wo ich mich zuvor befunden hatte. Erst vor fünf Wochen in Amerika kehrte ein Großteil der Erinnerung zurück – nach der Begegnung mit einem Mann, der mich töten wollte.“

„So wie es aussieht, wäre es ihm fast gelungen“, murmelte Jake.

„Beinahe, aber nicht ganz. Er ist nicht so glimpflich davongekommen.“

„Du hast ihn getötet?“ Der Soldat in Fred stellte ihm diese Frage, auf die es nur eine ehrliche Antwort geben konnte.

„Ja.“

„Wir haben Blut in der Allee hinter dem Vitium et Virtus entdeckt, an dem Morgen, nachdem du verschwunden warst.“ Bei diesen Worten stand Jake auf und ging zum Kamin, um eine Schatulle vom Sims zu nehmen. „Das haben wir auch dort gefunden.“

Der Siegelring überraschte Nick. Er hatte ihn früher immer getragen, aber bis zu diesem Augenblick hatte er das vollkommen vergessen. Das polierte goldene Wappen leuchtete ihm entgegen. Servire Populo. Im Dienste des Volkes. Angesichts seiner jugendlichen Ausschweifungen, die nur im eigenen Dienste gestanden hatten, hatte ihn das Motto früher belustigt. Er nahm den Ring zwischen die Fingerspitzen und zuckte zusammen, als er den Dreck unter seinen Nägeln sah und sich bewusst wurde, wie schrecklich seine mit Narben überzogenen Fingerknöchel auf die anderen wirken mussten. Er schluckte den Kloß hinunter, der ihm im Halse steckte.

„Ich weiß nicht mehr, was in der Allee passiert ist.“

„Was ist denn das Letzte, woran du dich erinnern kannst, bevor du verschwunden bist?“

„An einen Streit in Bromworth Manor mit meinem Onkel. Es war heiß, und ich war reichlich betrunken. Das war an meinem Geburtstag, dem fünfzehnten August.“

„Du bist am darauffolgenden Samstagabend verschwunden – also eine Woche später“, sagte Fred.

„Ist dir bekannt, dass dein Onkel begonnen hat, sich mit deinem Titel zu schmücken?“, fragte Oliver empört die Stirn runzelnd. „Er will, dass du offiziell für tot erklärt wirst, weil man dich nun schon seit so vielen Jahren vermisst hat. Er hat das Verfahren bereits in die Wege geleitet.“

„Dieser miese Kerl besitzt auch noch die Frechheit, sich als Bewahrer deines Erbes auszugeben“, ergänzte Jake wütend, „obgleich er nichts anderes will, als an dein Vermögen und deine Ländereien zu gelangen.“

Nick nahm diese Neuigkeit mit stummer Gleichgültigkeit hin. Aaron Bartlett war nie ein angenehmer Zeitgenosse gewesen, doch als einziger Bruder von Nicks verstorbenem Vater hatte er die Vormundschaft über den damals achtjährigen Waisen bekommen. Nur zu gut erinnerte sich Nick daran, wie sein Onkel eine Woche nach dem Tod von Nicks Eltern mit habgierigem Blick durch Bromworth Manor stolziert war.

„Er ist ein Scharlatan, und jeder weiß es. Ich wäre gern dabei, wenn du ihn in hohem Bogen aus deinem Elternhaus wirfst“, sagte Oliver, und die anderen nickten zustimmend. „Meinst du, er hat bei deinem Verschwinden die Finger im Spiel gehabt?“

Nick hatte sich diese Frage schon selbst gestellt, doch ohne Erinnerung an das Geschehene oder sonstige Beweise, blieb es eine Vermutung. Er zuckte mit den Schultern, leerte sein Glas und war froh, als Jake ihm nachschenkte.

Er hielt den Siegelring fest in der rechten Hand und wagte nicht, ihn sich jetzt schon über den Ringfinger zu streifen. Ihn zu tragen, bedeutete, eine andere Rolle einzunehmen – eine, der er sich nicht gewachsen fühlte.

Jake und Fred trugen beide einen Ehering. Diese Erkenntnis riss ihn aus der Beschäftigung mit sich selbst.

„Ihr seid verheiratet?“

Beide zeigten ein strahlendes Lächeln. Jake ergriff als Erster das Wort.

„Du warst lange fort, Nick, und die Zügellosigkeit verliert irgendwann ihren Reiz. Es kommt der Tag, an dem man sich nach wahrem Glück umsieht, und jeder von uns hat dieses Glück gefunden. Auch Oliver wird bald heiraten.“

„Das freut mich für euch. Wann lerne ich eure Frauen kennen?“

„Morgen Abend“, entgegnete Fred. „Wir geben in meinem Stadthaus ein Fest mit allem Drum und Dran. Es kommen etwa achtzig Gäste. Ich denke diese Anzahl ist überschaubar, und gibt dir Gelegenheit, dich wieder an die Londoner Kreise zu gewöhnen, Nick.“

„Allerdings solltest du einen Barbier und einen Arzt aufsuchen, bevor dich andere zu Gesicht bekommen. Fred hat ungefähr deine Größe. Wenn ein Schneider die Unterschiede ausbügelt, kannst du dich ohne Weiteres mit Freds Kleidung blicken lassen.“ Jake musterte ihn aufmerksam mit seinen durchdringenden blauen Augen.

Nick strich sich mit einer Hand über die grässliche Narbe auf der Wange, als ob er sie dadurch verbergen könnte. „Falls mich noch immer jemand töten will, wäre es vielleicht besser, euch nicht mit hineinzuziehen. Ich will nicht, dass …“

Fred schüttelte den Kopf. „Wir sind deine Freunde. Du kannst uns nicht daran hindern, dich zu unterstützen.“

Oliver legte seine rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch, und die anderen beiden legten ihre Hände darauf, wie sie es seit Schulzeiten getan hatten. Nick zögerte nur einen kurzen Moment, bevor auch er auf das Ritual einging und in den gemeinsamen Schwur einstimmte.

„In Vitium et Virtus.“ In Laster und Tugend. Sie sprachen die Worte, mit denen sie sich seit so vielen Jahren ewige Freundschaft schworen.

„Du kannst, solange du willst, bei mir wohnen, Nick“, sagte Jake. „Ich lasse sofort ein Zimmer für dich herrichten.“

Jakes Einladung klang verlockend. „Vielen Dank für das großzügige Angebot, aber ich bin in Sorge, dich und deinen Haushalt in Gefahr zu bringen.“

„Ich glaube, ich bin in der Lage, auf meine Familie und mich aufzupassen. Lasst uns lieber überlegen, wie wir dieser üblen Geschichte auf den Grund gehen und dir dabei helfen können, wieder alle Erinnerungslücken zu füllen. Sobald du dich an die Gesichter deiner Angreifer auf der Allee erinnern kannst, führt uns das vielleicht zu demjenigen, der dahintersteckt.“

„Wie verhält es sich überhaupt mit Amnesie? Wie passiert das, und was kann man dagegen machen?“, fragte Oliver.

Fred ergriff das Wort. „Bei der Armee haben viele Männer für kurze Zeit das Gedächtnis verloren. Meistens verursacht durch besonders schlimme Erlebnisse während einer Schlacht. Allerdings bin ich auch ein paar Soldaten begegnet, die sich nie wieder davon erholt haben.“

„Über die will Nick sicher nichts Genaueres wissen, Fred“, mischte sich Jake ein, und brachte damit alle zum Lachen. „Immerhin erinnert er sich an uns und an den Club.“

„Die Freundschaft zu euch ist meine stärkste Erinnerung.“ Nicks Stimme wurde brüchig bei diesen Worten, und er schluckte. Er wusste, dass er nicht im Entferntesten dem Mann glich, der er gewesen war, als er England unfreiwillig verlassen hatte. Mit all seinen Narben und Verwundungen kam er sich unansehnlich und schmutzig vor. Doch es waren vor allem die verborgenen Verletzungen, die sein Verhalten prägten und ihm Sorgen bereiteten. Konnte er je wieder jemandem trauen, sich je wieder ganz auf andere Menschen einlassen?

Er las seinen Freunden an den Augen ab, dass sie seine Veränderung – seine Zerrissenheit und Verwundbarkeit – bemerkten. Ahnten sie, dass er kaum noch Ähnlichkeiten mit dem jungen Lord hatte, der sich nicht um gesellschaftliche Konventionen geschert hatte? Sich unverantwortlichen Ausschweifungen hinzugeben und maßlos Geld beim Spielen zu verprassen, war ihm völlig fremd geworden. Würde er jetzt seinem jüngeren Selbst begegnen, er würde ihm wenig Sympathie entgegenbringen.

Seine Verunsicherung wuchs. Er konnte nicht mit Stolz auf seine Vergangenheit oder die Gegenwart blicken, und seine Zukunft sah alles andere als rosig aus. Jeder seiner Freunde hatte jetzt eine Frau, eine Familie und einen festen Ort, um das Leben zu gestalten. Angesichts der Wege, die sie beschritten hatten, kam ihm seine Einsamkeit noch beklemmender vor. Er hatte jedes Ziel aus dem Blick verloren, und selbst die Konfrontation mit seinem ehemaligen Vormund in den großen staubigen Gemächern von Bromworth Manor übte nicht länger den Reiz auf ihn aus, den er sich bei der Überfahrt ausgemalt hatte.

Wollte er all das zurück? Wollte er wirklich die Pflichten eines Viscounts übernehmen? Der Titel würde ihn dazu zwingen, sich an die Verhaltensregeln einer Gesellschaft zu halten, von der er sich weit entfernt hatte.

Selbst der Club erschien ihm jetzt vollkommen glanzlos. Das zweideutige Spiel mit Moral und Laster kam ihm geschmacklos und belanglos vor.

„Du bist ja so schweigsam, Nick. Geht es dir nicht gut?“ Jake hatte sich zu ihm vorgebeugt und ihm eine Hand auf den rechten Arm gelegt. Die unerwartete Berührung ließ Nick zusammenzucken, und er zog seinen Arm weg.

Es war alles falsch. Er hätte nicht in der Erwartung zurückkehren dürfen, dass alles so wie früher war. Die Kopfschmerzen, die ihn verfolgten, seit sich sein Erinnerungsvermögen langsam erholte, steigerten sich zu einer Migräne mit Sehstörungen, die den Anblick der Freunde verzerrte.

Am liebsten hätte er sich einfach hier auf den Boden geworfen und die Augen geschlossen. Dunkelheit und Stille waren alles, wonach er sich in diesem Moment sehnte. Er begann heftig zu zittern und verfluchte sich dafür. Oliver durchquerte das Zimmer und holte eine Wolldecke, die er ihm behutsam um die Schulter legte.

2. KAPITEL

Lady Eleanor Huntingdon gab ihrer schlafenden fünfjährigen Tochter einen Kuss auf die Stirn, bevor sie auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer schlich.

Lucy war der Mittelpunkt ihres Lebens, der schimmernde Stern, der ihren steinigen Weg erhellte. Das Kind war das Ergebnis einer Liebe und eines kurzen Glücks, von dem sie jetzt nur noch träumen konnte …

„Nein“, ermahnte sie sich streng. Sie würde nicht an ihn denken. Nicht an einem Abend wie diesem, an dem sie es warm und bequem hatte und ein neues Buch über englische Blumen in Händen hielt. An diesem Abend würde sie sich einfach entspannen und die Lektüre genießen.

Ihr Bruder Jacob redete gerade mit jemandem in der Bibliothek. Eleanor hörte den Klang seiner Stimme, auch wenn seine Worte nicht verständlich waren. Vermutlich hatte er Besuch, denn seine Frau Rose war heute schon früh müde gewesen und hatte sich bereits vor einer halben Stunde zu Bett begeben.

Auch Eleanor fühlte sich nach den Weihnachtsfeierlichkeiten erschöpft. Unablässig hatte sie daran denken müssen, dass wieder ein Weihnachtsfest verging, ohne dass es ein Lebenszeichen von Lucys Vater gab.

„Nein.“ Sie sprach das Wort diesmal noch entschiedener aus. Sie würde nicht wieder an Vergangenes denken. Das führte immer nur zu einer Verzweiflung, die ihr Kopfschmerzen bereitete. Sie würde heute Nacht wieder von ihm träumen, das wusste sie, denn sein Antlitz hatte sich im Gesicht ihrer Tochter gespiegelt. An diesem Abend war Eleanor die Ähnlichkeit sogar noch größer als sonst vorgekommen.

Sie setzte sich auf das mit Damast bezogene Sofa in dem kleinen Salon, der an ihr Schlafzimmer grenzte, und klappte das Buch auf. Sie hatte sich bereits ein Glas Wein eingeschenkt, und auf einem Teller daneben lag ein Stück von dem Apfelkuchen, den die Köchin heute frisch gebacken hatte. Alles was sie brauchte, war in greifbarer Nähe. Draußen war es kalt, und auf den Straßen lag Schnee. Sie lauschte dem Knistern des Kaminfeuers, und das Geräusch hatte eine beruhigende und tröstliche Wirkung auf sie.

Sie kam nicht oft in die Stadt, aber jetzt war es ihr ratsam erschienen, Weihnachten bei der Familie zu verbringen. Sie hatte das Gefühl, dass Lucy das geschmückte Haus, die Festlichkeit und die Gesellschaft ihrer Urgroßmutter, ihres Onkels und dessen Frau guttat. Morgen würde sie mit ihrer Tochter nach Millbrook House zurückkehren, dem Familiensitz der Westmoors in Middlesex. Dort fühlte sie sich zu Hause, und es gab keinen anderen Ort auf der Welt, dem sie den Vorzug gegeben hätte.

Sie begann ein Kapitel über die Züchtung neuer Rosensorten zu lesen. Im geschützten Hof von Millbrook House hatte sie bereits vor Jahren prachtvolle Rosenstöcke anpflanzen lassen, die sie mit viel Liebe hegte und pflegte. Jetzt konnte sie die Stimme ihres Bruders deutlicher vernehmen. Er musste die Tür zum Gang geöffnet haben.

Sie hörte auf zu lesen und hob den Kopf. Die andere Männerstimme kam ihr bekannt vor, auch wenn sie den Klang nicht zuordnen konnte. Es war weder Frederick Challenger noch Oliver Gregory, so viel stand fest. Aber wer war es dann? Die Stimme war ihr überraschend vertraut. Eine Tür wurde geschlossen, und jetzt konnte sie kaum mehr etwas hören. Sie fühlte sich unruhig.

Das Buch auf den kleinen Tisch legend stand sie auf, nahm ihr Weinglas und ging damit ans Fenster. Sie schob die Vorhänge beiseite, um auf die Straße zu blicken.

Es stand keine fremde Kutsche vor dem Haus. Vielleicht war der Neuankömmling gemeinsam mit ihrem Bruder mit dessen Kutsche aus Mayfair gekommen. Sie wusste, dass Jake wieder in seinem Club gewesen war.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach Zehn. Eine ungewöhnlich späte Uhrzeit für einen Besucher an einem kalten und verschneiten Abend wie diesem.

Ihre Unruhe wuchs, auch wenn sie es sich selbst nicht recht erklären konnte. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, und die letzten sechs schwierigen Jahre hatten ihr eine Stärke verliehen, die keinen Raum für schüchterne Zurückhaltung ließ. Wenn sie so beunruhigt war, musste sie eben nach unten gehen und herausfinden, ob alles in Ordnung war.

Doch noch immer rührte sie sich nicht vom Fleck, sondern trank das Glas Wein aus. Sie stellte das leere Glas auf dem Kaminsims ab und starrte in das prasselnde Feuer. Rote Funken stoben auf, erglühten und erloschen. Sie musste daran denken, wie schnell ein Leben zu Ende sein konnte. Noch immer fiel es ihr schwer, gegen die Trauer anzukämpfen, wenn sie an ihren ältesten Bruder Ralph und an ihren Vater dachte. Der Kutschenunfall, der zum Tod der beiden geführt hatte, war ein weiterer Schicksalsschlag gewesen. Und wenn sie an den schrecklichen Verlust dachte, kam ihr auch immer wieder der Mann in den Sinn, den sie über alles geliebt hatte und der dann verschwunden war.

Sie hatte mit niemandem über ihn gesprochen. Lucys Vater. Nie hatte sie jemandem anvertraut, was geschehen war, denn sie konnte es sich manchmal selbst nicht erklären.

Sie atmete tief ein, um die Tränen zu unterdrücken, die ihr in die Augen traten. Sie würde heute Abend nicht weinen – nicht in einem Zimmer mit einem guten Buch, einem Stück Apfelkuchen, französischem Wein und einem wärmenden Kamin.

Inzwischen hatte sie ihr Leben in geordnete Bahnen gebracht, und nichts spielte darin eine größere Rolle als ihre kleine Tochter, die sie von ganzem Herzen liebte.

Erneut war unten die Tür geöffnet worden, und die Stimmen waren nun viel deutlicher zu hören als zuvor. Ihr Bruder klang aufgewühlt, geradezu ärgerlich. Sie öffnete die Tür zum Gang einen Spalt breit und blieb still stehen, um zu lauschen.

„Du denkst doch nicht allen Ernstes, dass wir dir nicht helfen werden! Wir sind deine besten Freunde. Niemals werde ich zulassen, dass du dich deinen unbekannten Gegnern allein stellst.“

„Aber es ist gefährlich, Jake. Wenn dir oder deiner Familie etwas zustößt …“

Das Zimmer begann sich in beängstigender Weise um Eleanor herum zu drehen, und ihr Herz pochte wie wild.

Nicholas Bartlett. Es war seine Stimme. Die Stimme, die sie all die Jahre nicht vernommen hatte. Der Mann, der nicht für sie und Lucy da gewesen war. Warum war er hier?

Offenbar war er nicht gekommen, um sie zu sehen. Er hatte nicht stürmisch gegen ihre Tür geklopft, um sich so schnell wie möglich wieder mit ihr zu vereinigen. Er hatte nicht schon am Fuß der Treppe nach ihr gerufen, war nicht die Stufen hochgeeilt, um sie in die Arme zu schließen und leidenschaftlich zu küssen, wie er es einst getan hatte.

Stattdessen hatte er sich zu ihrem Bruder gesetzt, um mit ihm eigene Angelegenheiten zu besprechen.

Vielleicht wusste er nicht, dass sie hier war. Doch selbst das bedeutete, dass er sich nicht einmal nach ihr erkundigt hatte. Der Mann, den sie in Erinnerung hatte, hätte ihren Bruder umgehend nach ihrem Aufenthaltsort gefragt und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um so schnell wie möglich zu ihr zu gelangen.

Sie nickte, als ob sie sich die schwer zu ertragende Wahrheit bestätigen müsste. Der Schreck war so groß, dass sie sich fragte, ob sie daran zugrunde gehen würde.

Sie setzte sich in den nächsten Sessel, holte tief Luft, legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.

Sie musste sich beruhigen. Dies war der Moment, von dem sie jahrelang geträumt hatte, und alles war vollkommen anders als in ihrer Vorstellung. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, die Stufen hinunterzuhasten und mit grenzenloser Freude seinen Namen zu rufen!

Stattdessen stand sie auf und wickelte sich die weiße Stola um ihr blaues Wollkleid. Ob sie es nun wahrhaben wollte oder nicht, schon in der letzten Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, hatte etwas nicht gestimmt.

Selbstverständlich hatte er sie noch rechtzeitig zur Kutsche gebracht, damit sie vor dem Morgengrauen wieder zu Hause war. Aber er hatte sich nicht mehr wie ein Mann verhalten, dem ihre Gesellschaft wichtiger war als alles andere auf der Welt.

„Ich danke dir, Eleanor“, hatte er nur gesagt und den Blick zu Boden gesenkt, als ob er verhindern wollte, dass sie ihm einen Kuss gab.

Er war nicht einmal stehen geblieben, bis der Kutscher die Pferde angetrieben hatte und sich die Räder in Bewegung gesetzt hatten.

Das hatte sie damals schwer verletzt. Dann war er verschwunden. Was würde ein Wiedersehen jetzt, nach sechs Jahren, bei ihr auslösen? Würde es ihr erneut das Herz brechen?

Dennoch musste sie ihn sehen. Sie musste ihm in die samtbraunen Augen blicken und herausfinden, was er in Wahrheit für sie empfand. Es musste irgendeine Erklärung für sein Verhalten geben, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie die lauten konnte.

Eilig verließ sie das Zimmer, stieg die Treppe hinunter und schritt auf die Bibliothek zu. Ohne zu zögern riss sie die Tür auf und betrat das Zimmer.

Nicholas Bartlett, Viscount Bromley, saß in dem Ohrensessel neben dem Kaminfeuer und sah ganz anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Seine Kleidung war dreckig und das Haar ungepflegt, aber vor allem fiel ihr Blick auf die lange Narbe, die von einem Auge bis fast hinunter zum Mund reichte.

Sein attraktives Gesicht war beinahe in zwei Hälften geschnitten worden.

„Eleanor.“ Ihr Bruder war aufgestanden und lächelte sie freudig an. „Gut, dass du noch wach bist. Nick ist endlich heil zu uns zurückgekehrt, nach all den Jahren im fernen Amerika. Er wird für eine Weile bei uns im Stadthaus wohnen.“

„In Amerika …?“ Sie stand fassungslos da und starrte ihn an. Er war zwar ebenfalls aufgestanden, machte aber keinerlei Anstalten, auf sie zuzugehen. Er stand nur da, hielt sein Glas mit Brandy in der rechten Hand, deren Rücken von Narben übersät war, und nickte ihr zu.

Eine Begrüßung, wie man sie einem entfernten Bekannten oder gar Fremden zuteilwerden ließ. Seine Wangen waren gerötet, und der Blick seiner Augen war härter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Haltung hatte etwas Zerbrechliches, und alle Sicherheit schien daraus verschwunden zu sein.

Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

„Es ist lange her.“ Törichte Worte. Doch welche Worte waren in dieser Situation schon die richtigen?

Er nickte, und sie sah ihm eine ungeheure Müdigkeit an. Eine Hand zum Herzen hebend, blieb sie reglos stehen.

„Sechs Jahre“, erwiderte er, als ob sie nicht jeden Tag, seit er verschwunden war, mitgezählt hätte.

Sechs Jahre, siebzehn Wochen und sechs Tage. Sie hätte die vergangene Zeit beinahe auf die Sekunde genau benennen können.

„In der Tat, Mylord.“ Sie schluckte und sah, dass ihr Bruder sie verwundert anstarrte, denn die Wut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„So kühl heißt du meinen besten Freund willkommen, obwohl dich sein Verschwinden damals auch so bestürzt hat, Eleanor?“

Du liebe Güte! Nun war sie gezwungen, ihn zu berühren. Sie würde die Arme um ihn legen und so tun müssen, als ob er nur ein guter alter Freund ihres Bruders wäre. Allein bei diesem Gedanken musste sie wieder schwer schlucken.

Nick hatte sich weder von seiner Stelle neben dem Kamin gerührt noch sein Glas abgestellt. Bleib mir fern, schien ihr das zu bedeuten. Bleib in deiner Hälfte des Zimmers, und ich bleibe in meiner.

„Ich bin erfreut, Sie zu sehen, Lord Bromley. Ich bin froh, dass Sie heil wieder hier sind.“

Sein Lächeln mit dem vertrauten tiefen Grübchen auf der unversehrten Wangenseite überwältigte sie.

„Vielen Dank, Lady Eleanor.“ Er hob eine Hand. „Von den letzten Jahren gezeichnet, aber immerhin noch unter den Lebenden.“

Ihr wurde ganz schwindelig, während er mit ihr sprach. Vermutlich wäre sie in Ohnmacht gefallen, wenn sie sich nicht auf das nahe Sofa hätte sinken lassen. Sein dunkelbraunes Haar hing ihm strähnig und lang bis zu den Schultern herab, und der Glanz, an den sie sich erinnerte, war fort.

„Ich habe gehört, dass Sie mit einem Lord in Schottland verheiratet waren und jetzt ein Kind haben. Ihr Bruder hat es mir erzählt. Wie alt ist Ihre Tochter?“

Eleanor erschrak und zögerte, ihm eine Antwort zu geben.

Sie beugte sich vor und stieß das gefüllte Weinglas ihres Bruders um, das auf einem Tischchen in der Nähe gestanden hatte. Die Flüssigkeit breitete sich wie Blut auf dem hellen Wollteppich darunter aus, und das Glas zerschellte in tausend Splittern auf dem Parkettboden.

Angesichts dieses Missgeschicks dachte niemand mehr an Nicks Frage. Eleanors Bruder sprang sofort auf. „Ellie, bleib wo du bist, sonst schneidest du dich noch!“

Ellie? Der Kosename war Nick plötzlich so vertraut und in seinem Geiste gegenwärtig wie eine unauslöschliche Flamme. Aber wie konnte das sein?

Er schüttelte den Kopf und blickte zur Seite. Er kannte Jakes Schwester nur oberflächlich und war ihr nur selten begegnet. Allerdings hatte er die junge Frau schon als Mädchen attraktiv gefunden.

Jetzt war sie eine echte Schönheit. Durch das streng hochgebundene dunkle Haar kamen ihre zarten Züge und die lebhaften blauen Augen besonders zur Geltung. Mit diesen Augen blickte sie ihn durchdringend und verletzt an. Es war ihm nicht entgangen, dass sie das Weinglas absichtlich umgestoßen hatte.

Aber warum? Weil er sie nach dem Alter ihrer Tochter gefragt hatte? War etwas mit dem Kind nicht in Ordnung? Gab es ein Problem, das die Beantwortung der Frage so schwierig machte?

Jake wirkte ähnlich erstaunt, während der Wein den Teppich durchtränkte, den man vermutlich nie wieder würde ganz sauber kriegen können.

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