Der verborgene Stern

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Das Feuer des funkelnden Diamanten verrät Bailey sofort: Das sind mindestens 100 Karat! Aber wie ist der wertvolle Stein in ihren Besitz gekommen, noch dazu mit einer Waffe und über einer Million Dollar? Bailey kann sich an nichts erinnern. In ihrer Panik beauftragt sie den Privatdetektiv Cade Parris. Eine lupenreine Entscheidung: Cade bringt Licht in das Dunkel von Baileys Vergangenheit und mit viel Charme die Sonne in ihr Herz. Und er zeigt ihr auf unwiderstehliche Weise, was stärker ist als jede Angst: seine Liebe. Doch die will Bailey erst erwidern, wenn das gefährliche Rätsel um den blauen Stern von Mithra gelüftet ist …


  • Erscheinungstag 22.05.2019
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750973
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Cade Parris hatte nicht gerade seinen besten Tag, als seine Traumfrau in sein Büro spaziert kam. Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte seine Sekretärin gekündigt. Die Dame war zwar nicht sonderlich tüchtig gewesen und hatte sich mehr für ihre Fingernägel als für das klingelnde Telefon interessiert, aber sie hatte zumindest Ordnung in sein Chaos gebracht. Selbst die Gehaltserhöhung, die er ihr aus blanker Verzweiflung angeboten hatte, hatte sie nicht dazu bewogen, ihren Entschluss, Countrysängerin zu werden, noch einmal zu überdenken.

Die treulose Seele war jetzt also in einem gebrauchten Pick-up auf dem Weg nach Nashville, während Cades Büro den schlaglöchrigen Straßenverhältnissen ähnelte, mit denen sie sich hoffentlich herumschlagen musste. In den letzten ein bis zwei Monaten hatte sie sich offenbar überhaupt nicht mehr um ihre Arbeit gekümmert. Das wurde ihm spätestens klar, als er ein altes Wurst-Sandwich aus dem Aktenschrank fischte. Zumindest vermutete er, dass es sich bei dem fettigen Klecks in der Papiertüte um Wurst handelte. Er entdeckte die Tüte unter dem Buchstaben L einsortiert – L für Lunch?

Er fluchte nicht einmal, und er nahm auch das Telefon nicht ab, das ununterbrochen aus dem Empfangsbereich herüberklingelte. Er musste seine Berichte jetzt selbst abtippen, und nachdem das Tippen nicht gerade zu seinen Stärken zählte, wollte er es einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Parris Investigations konnte man nicht gerade als florierendes Unternehmen bezeichnen. Aber Cade reichte es, und er fühlte sich wohl, selbst in dem winzigen Zwei-Raum-Büro im Dachgeschoss eines abgewrackten Gebäudes mit schlechten sanitären Anlagen im Nordwesten von Washington D.C.

Er brauchte keine vornehmen Teppiche oder eleganten Möbel. Mit all diesem Pomp war er aufgewachsen. Jetzt, mit dreißig, nach einer gescheiterten Ehe und einer Familie, die sich immer noch darüber ärgerte, welchen Weg er eingeschlagen hatte, war er im Großen und Ganzen zufrieden.

Inzwischen hatte er sich einen recht anständigen Ruf als Privatermittler aufgebaut. Er verdiente genug Geld, um den Laden über Wasser zu halten. Gut, momentan stellte sein Verdienst ein kleines Problem dar. Er durchlebte eine – wie er es nannte – vorübergehende Flaute. Außerdem handelte es sich bei den meisten seiner Aufträge lediglich um Versicherungsfälle, die mit Unmengen an Schreibkram verbunden waren. Nicht ganz so aufregend wie das, was er sich vorgestellt hatte, als er entschied, Detektiv zu werden.

Bis auf zwei belanglose Fälle von Versicherungsbetrug gab es zurzeit keine neuen Aufträge. Dafür hatte der Blutsauger von Vermieter schon wieder die Miete erhöht, der Motor des Wagens gab in letzter Zeit merkwürdige Geräusche von sich, und die Klimaanlage war im Eimer. Außerdem schien das Dach mal wieder undicht zu sein. Cade nahm den spindeldürren gelbblättrigen Philodendron, den seine Sekretärin zurückgelassen hatte, und stellte ihn auf den nackten Fußboden unter das Tröpfeln, in der Hoffnung, dass die Pflanze ersaufen möge.

Plötzlich ertönte eine ungeduldige Stimme aus dem Anrufbeantworter. Die Stimme seiner Mutter. Guter Gott, dachte er gereizt. Konnte ein Mann seiner Mutter denn wirklich niemals entfliehen?

„Cade, mein Lieber, ich hoffe, du hast den Botschafts-Ball nicht vergessen. Du weißt doch, dass du Pamela Lovett begleiten sollst. Ich habe heute mit ihrer Tante zu Mittag gegessen, und die sagte mir, dass Pamela nach ihrem kleinen Ausflug nach Monaco einfach großartig aussieht.“

„Ja, ja, ja“, murrte er, dann starrte er düster auf seinen Computer. Er unterhielt zu elektronischen Geräten keine besonders harmonische Beziehung. Während seine Mutter weiterplapperte, setzte er sich widerwillig an den Schreibtisch. „Hast du den Smoking in die Reinigung gebracht? Und nimm dir die Zeit, zum Friseur zu gehen. Letztes Mal hast du so ungepflegt ausgesehen.“

Und vergiss auch nicht, dich hinter den Ohren zu waschen! Seine Mutter würde niemals akzeptieren, dass er mit dem Lebensstil der Familie nichts anfangen konnte. Dass er einfach keine Lust hatte, im Klub zu Mittag zu essen oder gelangweilte ehemalige Debütantinnen in Washington herumzuführen, und dass sich daran auch niemals etwas ändern würde.

Er wollte Abenteuer, und wenn er auch nicht gerade in die Fußstapfen eines Sam Spade trat, indem er Berichte über erfundene Schleudertraumata verfasste, so arbeitete er doch zumindest im gleichen Job.

Meistens fühlte er sich gut. Er kam sich nicht nutzlos oder gelangweilt oder fehl am Platz vor. Er mochte den Verkehrslärm vor seinem Fenster, auch wenn er das Fenster nur öffnete, weil sein Vermieter nichts von einer zentralen Klimaanlage hielt. Der Smog war fast unerträglich, außerdem regnete es herein, aber bei geschlossenem Fenster wäre es im Büro viel zu stickig gewesen.

Winzige Schweißperlen liefen ihm den Rücken hinunter. Er trug nur ein weißes T-Shirt und Jeans, und er musste sich während des Tippens immer wieder das Haar aus dem Gesicht streichen, was ihn wahnsinnig machte. Seine Mutter hatte recht. Er musste zum Friseur.

Als ihm zum wiederholten Mal eine Strähne vor die Augen fiel, ignorierte er diese Tatsache genauso wie den Schweiß, die Hitze, den Verkehrslärm und das stete Tröpfeln von der Decke. Da saß er nun, ein bemerkenswert gut aussehender, düster dreinblickender Mann, der mechanisch auf die Tastatur seines Computers einhieb.

Er hatte das gute Aussehen der Familie Parris geerbt – die klaren grünen Augen, die je nach Gemütslage scharf wie Glasscherben oder sanft wie Meeresdunst wirken konnten. Sein Haar, das so dringend geschnitten werden musste, war dunkelbraun und tendierte dazu, bei Feuchtigkeit in Locken zu fallen. Zumindest lockte es sich in diesem Moment. Er hatte eine gerade, markante Nase und sinnlich geschwungene Lippen, die sich zu einem Lächeln verziehen konnten, wenn er sich amüsierte. Oder zu einem höhnischen Grinsen, wenn er es nicht tat.

Obwohl sein Gesicht nach der peinlichen engelhaften Periode seiner Kindheit und frühen Jugend schmaler geworden war, zierten es noch immer zwei kleine Grübchen. Er freute sich bereits auf sein mittleres Lebensalter, wenn aus ihnen mit etwas Glück männliche Falten wurden.

Er hätte gerne verwegen ausgesehen, stattdessen musste er sich mit dem aalglatten Aussehen eines GQ-Models abfinden. Für dieses Magazin hatte er zu seiner Schande mit Mitte zwanzig tatsächlich einmal posiert, allerdings nur unter Protest und auf den fast unerträglichen Druck seiner Familie hin.

Das Telefon läutete erneut. Diesmal erklang die Stimme seiner Schwester, die ihm eine Strafpredigt hielt, weil er irgendeine langweilige Cocktailparty zu Ehren eines dickbäuchigen Senators verpasst hatte.

Cade überlegte, den verdammten Anrufbeantworter einfach aus der Wand zu reißen und ihn mitsamt der nörgelnden Stimme seiner Schwester aus dem Fenster zu werfen, direkt hinunter auf die Wisconsin Avenue.

Und dann begann der Regen zu allem Übel auch noch, ihm auf den Kopf zu tropfen. Der Computer schaltete sich aus keinem ihm ersichtlichen Grund – von reiner Niedertracht einmal abgesehen – aus, und der Kaffee, den er völlig vergessen hatte, kochte mit einem boshaften Zischen über.

Er hechtete zum Herd, verbrannte sich die Hand und fluchte laut, als die Kanne auf dem Boden zersplitterte und der heiße Kaffee in sämtliche Richtungen spritzte. Hektisch riss er eine Schublade auf, griff nach einem Stapel Servietten und schnitt sich dabei den Daumen an der Nagelschere seiner ehemaligen Sekretärin auf.

In dem Moment, in dem sie eintrat, hatte er gerade – immer noch fluchend und blutend – den Philodendron umgestoßen, den er zuvor in die Mitte des Raumes gestellt hatte. Somit war es kaum verwunderlich, dass sie einfach nur dastand, regennass, mit totenbleichem Gesicht und mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen.

„Entschuldigen Sie.“ Ihre Stimme klang rau, so, als ob sie seit Tagen nicht gesprochen hätte. „Ich muss mich in der Tür geirrt haben.“ Sie ging einen Schritt zurück und starrte mit ihren großen runden Augen auf das Namensschild. Sie zögerte, dann blickte sie ihn wieder an. „Sind Sie Mr. Parris?“

Einen Moment lang, einen betäubenden Moment lang, konnte er nicht sprechen. Er wusste, dass er sie anstarrte, konnte aber nicht anders. Sein Herz blieb einfach stehen. Seine Knie wurden weich. Und der einzige Gedanke, den er fassen konnte, lautete: Da bist du ja endlich. Wo zum Teufel hast du so lange gesteckt?

Und weil das so lächerlich war, zwang er sich zu einem desinteressierten, beinahe zynischen Gesichtsausdruck.

„Ja.“ Ihm fiel ein, dass er ein Taschentuch bei sich hatte, und wickelte es um seinen blutenden Daumen. „Ich hatte hier nur eben einen kleinen Unfall.“

„Verstehe.“ Was ganz offensichtlich nicht stimmte, so wie sie ihn weiterhin anblickte. „Ich bin wohl zu einem schlechten Zeitpunkt gekommen. Ich habe keinen Termin. Ich dachte nur, vielleicht …“

„Sieht so aus, als ob ich Zeit hätte.“

Er wollte, dass sie ganz ins Zimmer kam. Von seiner ersten völlig absurden und noch nie da gewesenen Reaktion abgesehen, handelte es sich schließlich um eine potenzielle Klientin. Und eines war sicher: Keine Frau, die jemals Sam Spades heilige Räume betreten hatte, war perfekter gewesen als diese.

Sie war blond und schön und verwirrt. Das nasse Haar fiel ihr glatt und fließend über die Schultern. Ihre Augen waren whiskeybraun, ihr Gesicht – obwohl ihm etwas mehr Farbe nicht geschadet hätte – war zart wie das einer Elfe, herzförmig, die Wangenknochen sanft geschwungen und die Lippen voll, ernst und nur dezent geschminkt.

Sie hatte sich ihr Kostüm und die Schuhe im Regen ruiniert, beides von hoher Qualität. Er erkannte die schlichte Eleganz, die nur in Designerläden zu finden war. Neben der nassen blauen Seide ihres Kostüms wirkte die große Stofftasche, die sie fest mit beiden Händen umklammert hielt, merkwürdig fehl am Platz.

Eine Jungfrau in Not, überlegte er, und seine Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. Genau das, was er jetzt brauchte.

„Warum kommen Sie nicht herein und schließen die Tür, Miss …?“

Sie verstärkte den Griff um ihre Tasche. „Sind Sie Privatdetektiv?“

„So steht es zumindest auf dem Türschild.“ Cade lächelte erneut und stellte dabei skrupellos seine Grübchen zur Schau, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Auf der er am liebsten selbst gekaut hätte, verdammt.

Diese Reaktion, dachte er mit einiger Erleichterung, sah ihm schon ähnlicher. Pure Lust war ein Gefühl, das er problemlos begreifen konnte.

„Lassen Sie uns nach nebenan in mein Büro gehen.“ Er betrachtete den Schaden, den er angerichtet hatte – zersplittertes Glas, verstreute Erde und verschütteten Kaffee. „Ich denke, ich bin hier erst mal fertig.“

„Na gut.“ Sie holte tief Luft, trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Dann folgte sie ihm zögernd in das angrenzende Zimmer, in dem sich nicht viel mehr als ein Tisch und ein paar billige Stühle befanden. Nun, sie konnte im Moment nicht wählerisch sein. Geduldig wartete sie, bis er sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte und ihr erneut dieses schnelle, um Vertrauen heischende Lächeln zuwarf.

„Haben Sie – könnte ich …“ Sie schloss die Augen, versuchte, sich zu sammeln. „Haben Sie irgendeinen Berechtigungsschein, den ich mir ansehen könnte?“

Nachdem er ihr den Besucherstuhl angeboten hatte, kramte er wortlos seine Lizenz aus der Schublade und reicht sie ihr. Sie trug zwei sehr hübsche Ringe, einen an jeder Hand. Ihre Ohrringe passten zu dem an ihrer Linken, einem schmalen, mit drei Steinen besetzten Goldring. Cade bemerkte es, als sie sich das Haar hinters Ohr strich und das Papier studierte, als wollte sie sich jedes einzelne Wort einprägen.

„Würden Sie mir verraten, was Sie zu mir führt, Miss …?“

„Ich glaube …“ Sie reichte ihm die Lizenz zurück und umklammerte erneut die Tasche, die sie jetzt auf ihren Schoß gelegt hatte. „Ich glaube, ich würde Sie gern engagieren.“ Jetzt waren ihre Augen auf sein Gesicht gerichtet, genauso prüfend wie zuvor auf die Lizenz. „Kümmern Sie sich auch um Vermisstenfälle?“

Wen hast du verloren, Kleines? Er hoffte um ihretwillen und um der hübschen kleinen Fantasie willen, die sich in seinem Kopf formte, dass es sich nicht um einen Ehemann handelte. „Ja, ich nehme auch Vermisstenfälle an.“

„Und, ähm, der Preis?“

„Zweihundertfünfzig pro Tag. Plus Ausgaben.“ Als sie nickte, zog er einen Block hervor und schnappte sich einen Kugelschreiber. „Wen wollen Sie finden?“

Sie nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug. „Mich. Sie müssen mich finden.“

Ohne sie aus den Augen zu lassen, klopfte er mit dem Kugelschreiber auf den Block. „Wie mir scheint, habe ich das bereits getan. Soll ich Ihnen eine Rechnung ausstellen, oder wollen Sie gleich bar zahlen?“

„Nein.“ Sie spürte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. Sie hatte sich so lange zusammengerissen, aber jetzt wusste sie, dass der Strohhalm, an den sie sich geklammert hatte, seit sie den Boden unter den Füßen verloren hatte, langsam nachgab. „Ich kann mich nicht erinnern. An nichts. Ich weiß nicht …“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie ließ die Tasche los und hielt die Hände vors Gesicht. „Ich weiß nicht, wer ich bin! Ich weiß nicht, wer ich bin …“ Und dann weinte sie die Worte in ihre Hände. „Ich weiß einfach nicht, wer ich bin!“

Cade hatte eine Menge Erfahrung mit hysterischen Frauen. Er war mit Frauen aufgewachsen, die mit Tränen und ersticktem Schluchzen auf so ziemlich alles reagierten – von einem abgebrochenen Nagel bis hin zu einer zerbrochenen Ehe. Also stand er auf, bewaffnete sich mit einer Schachtel Papiertaschentücher und ging vor ihr in die Knie.

„Sehen Sie mich an. Alles wird gut.“ Mit behutsamen und geübten Bewegungen strich er ihr die schwarz verlaufene Wimperntusche von den Wangen, tätschelte ihre Hand, streichelte ihr übers Haar, blickte in ihre vor Tränen schimmernden Augen.

„Es tut mir leid. Ich kann nicht …“

„Kein Problem. Weinen Sie ruhig“, murmelte er. „Danach werden Sie sich besser fühlen.“ Er erhob sich, ging in das winzige Badezimmer und füllte einen Pappbecher mit Wasser.

Nachdem sie einen Berg Taschentücher auf ihrem Schoß zerknüllt und drei Pappbecher zerdrückt hatte, stieß sie einen kleinen, bebenden Seufzer aus. „Entschuldigen Sie. Vielen Dank. Jetzt fühle ich mich tatsächlich besser.“ Ihre Wangen röteten sich ein wenig, als sie die Taschentücher und Pappbecher zusammensammelte. Cade nahm ihr das Ganze aus den Händen, warf es in den Papierkorb, lehnte sich an eine Ecke seines Schreibtisches und sah sie ruhig an.

„Wollen Sie mir jetzt erzählen, was los ist?“

Sie nickte, verschränkte dabei aber die Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Ich … da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kann mich nur einfach an nichts erinnern. Weder daran, wer ich bin, noch was ich tue oder wo ich herkomme. Freunde, Familie: Nichts.“ Ihr stockte wieder der Atem, sie stieß ihn langsam aus. „Gar nichts“, wiederholte sie.

Sollte das ein Traum sein? Eine atemberaubend schöne Frau ohne Vergangenheit spazierte einfach so in sein Büro? Er warf einen Blick auf die Tasche in ihrem Schoß. Darauf würde er gleich zu sprechen kommen. „Warum erzählen Sie mir nicht alles der Reihe nach. Was ist das Erste, an das Sie sich erinnern können?“

„Ich bin in einem Zimmer aufgewacht – in einem kleinen Hotelzimmer in der Sechzehnten Straße.“ Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. „Aber selbst das ist irgendwie unklar. Ich lag zusammengerollt auf dem Bett, und ein Stuhl war unter die Türklinke geklemmt. Es regnete. Ich konnte den Regen hören. Ich war müde und verwirrt, aber mein Herz klopfte so schnell, als wäre ich aus einem Albtraum aufgewacht. Ich hatte noch meine Schuhe an. Ich kann mich erinnern, wie ich mich fragte, warum ich mit meinen Schuhen ins Bett gegangen bin. Im Zimmer war es dunkel und stickig. Alle Fenster waren verschlossen. Ich war so müde und fertig, dass ich ins Badezimmer ging, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen.“

Jetzt öffnete sie die Augen und blickte ihn an. „Ich sah mein Gesicht im Spiegel. In diesem hässlichen kleinen Spiegel mit den schwarzen Klecksen. Und es sagte mir überhaupt nichts, dieses Gesicht.“ Sie hob eine Hand, fuhr sich über die Wange, dann über das Kinn. „Mein Gesicht war das einer Fremden. Ich konnte mich an keinen Namen erinnern oder an Gedanken oder Pläne aus meiner Vergangenheit. Ich wusste nicht, wie ich in dieses schreckliche Zimmer gekommen bin. Ich habe die Schubladen durchsucht, aber da war nichts. Keine Kleider. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht dort bleiben, aber ich wusste auch nicht, wohin ich gehen sollte.“

„Die Tasche? Das war alles, was Sie bei sich hatten?“

„Ja. Keine Geldbörse, keine Brieftasche, keine Schlüssel. Nur das war darin.“ Sie langte in ihre Jackentasche und zog eine Notiz hervor.

Cade musterte die hingekritzelten Worte.

Bailey, Samstag um sieben, richtig? M.J.

„Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe vorhin eine Zeitung gesehen. Heute ist Freitag.“

„Hmm. Schreiben Sie das auf.“ Er reichte ihr Block und Stift.

„Was?“

„Schreiben Sie auf, was auf dem Zettel steht.“

„Oh.“ Sie gehorchte.

Obwohl es eigentlich nicht nötig war, legte er die beiden Schriftproben nebeneinander. „Nun, Sie sind nicht M.J., also vermute ich, dass Sie Bailey sind.“

Sie schluckte. „Wie bitte?“

„Die Handschrift von M.J. sieht aus, als ob es sich um einen Linkshänder oder eine Linkshänderin handelt. Sie hingegen sind Rechtshänderin. Sie schreiben ordentlich und schlicht, M.J. hingegen kritzelt eher. Die Notiz war in Ihrer Tasche. Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich bei Ihnen um Bailey handelt.“

„Bailey.“ Sie versuchte, den Namen in sich aufzunehmen, in der Hoffnung, etwas Vertrautes dabei zu empfinden. Aber der Klang war ihr vollkommen fremd. „Das bedeutet mir nichts.“

„Es bedeutet, dass wir zumindest einen Namen haben, den wir Ihnen geben können. Das ist ein Anfang. Erzählen Sie mir, was Sie als Nächstes getan haben.“

Verwirrt blinzelte sie ihn an. „Oh, ich … in dem Zimmer lag ein Telefonbuch. Also habe ich nach einer Privatdetektei gesucht.“

„Und warum haben Sie mich ausgewählt?“

„Das lag am Namen. Er klang irgendwie so … kraftvoll.“ Sie schenkte ihm ihr erstes Lächeln, es war zwar schwach, aber es war da. „Ich wollte schon anrufen, aber dann dachte ich, dass Sie mir vielleicht keinen Termin geben würden. Wenn ich aber einfach vorbeikäme … Also wartete ich in meinem Zimmer, bis die Geschäfte öffneten, dann lief ich eine Weile herum und nahm mir schließlich ein Taxi. Und hier bin ich.“

„Warum sind Sie nicht in ein Krankenhaus gefahren? Oder haben einen Arzt gerufen?“

„Das habe ich überlegt.“ Sie blickte auf ihre Hände hinab. „Habe es dann aber lieber doch nicht getan.“

Sie ließ ziemlich viel aus, das war offensichtlich. Cade nahm einen Schokoladenriegel aus der Schublade. „Sie haben nicht gesagt, dass Sie irgendwo frühstücken waren.“ Er sah, wie sie den Schokoriegel mit einer Mischung aus Verwunderung und Dankbarkeit betrachtete. „Das sollte erst mal reichen, bis wir etwas Besseres für Sie finden.“

„Dankeschön.“ Mit akkuraten Bewegungen wickelte sie den Riegel aus seinem Papier. Vielleicht rührte ja zumindest ein Teil des seltsamen Gefühls in ihrem Magen vom Hunger? „Mr. Parris, vielleicht gibt es Menschen, die sich Sorgen um mich machen. Familie, Freunde. Ich könnte doch ein Kind haben, nicht wahr? Ich weiß es nicht.“ Ihre Augen wurden dunkel, sie fixierte einen Punkt hinter ihm. „Allerdings glaube ich das nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sein eigenes Kind vergessen könnte. Aber irgendjemand macht sich womöglich Sorgen um mich, fragt sich, was mit mir geschehen ist und warum ich letzte Nacht nicht nach Hause gekommen bin.“

„Sie hätten zur Polizei gehen können.“

„Ich wollte nicht zur Polizei.“ Diesmal klang ihre Stimme überraschend streng. „Nicht bis … Nein, ich will nicht zur Polizei.“ Sie zog ein weiteres Taschentuch aus der Pappschachtel und begann, es in kleine Streifen zu reißen. „Vielleicht sucht jemand nach mir, der nicht gerade mein Freund ist. Dem es nicht um mein Wohlergehen geht. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber ich weiß, dass ich Angst davor habe. Es geht um mehr als nur darum, dass ich mich nicht erinnere. Aber das alles kann ich erst begreifen, wenn ich weiß, wer ich bin.“

Vielleicht lag es an diesen großen feuchten Augen, die ihn anstarrten, oder an der Art, wie sie nervös und hilflos an dem Taschentuch herumnestelte – jedenfalls konnte Cade dem Bedürfnis, ein wenig anzugeben, einfach nicht widerstehen.

„Ein paar Dinge kann ich Ihnen schon jetzt sagen. Sie sind eine intelligente Frau, Anfang oder Mitte zwanzig. Sie haben einen guten Blick für Farben und Stil und genug Geld auf dem Konto, um italienische Schuhe und Seidenanzüge zu kaufen. Sie sind gepflegt und wahrscheinlich ziemlich ordentlich. Sie ziehen Understatement vor. Und ich vermute, dass Sie eine schlechte Lügnerin sind. Sie haben einen klugen Kopf, denken gründlich über alles nach. Sie werden nicht schnell panisch. Und Sie essen gern Schokolade.“

Sie zerknüllte das glänzende Schokoladenpapier, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Wie kommen Sie auf all das?“

„Sie können sich gut ausdrücken, selbst wenn Sie Angst haben. Sie haben genau überlegt, wie Sie mit Ihrer Situation umgehen sollen, und haben jeden einzelnen Schritt logisch ausgeführt. Sie ziehen sich gut an – Qualität geht Ihnen über modischen Schnickschnack. Sie haben gepflegte Fingernägel, aber tragen keinen auffälligen Nagellack. Ihr Schmuck ist sehr besonders, interessant, aber nicht überladen. Und Sie halten Informationen zurück, seit sie dieses Büro betreten haben, weil Sie noch nicht genau wissen, wie sehr Sie mir vertrauen können.“

„Wie sehr kann ich Ihnen denn vertrauen?“

„Sie sind zu mir gekommen.“

Langsam stand sie auf, ging zum Fenster hinüber und lauschte dem Trommeln des Regens, der ihre hinter den Augen liegenden Kopfschmerzen verstärkte. „Ich erkenne diese Stadt nicht wieder“, murmelte sie. „Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich sie kennen muss. Ich weiß, wo ich bin, weil ich diese Zeitung sah, die Washington Post. Ich weiß, wie das Weiße Haus aussieht und das Kapitol. Ich kenne all die Denkmäler – aber die könnte ich auch im Fernsehen oder in einem Buch gesehen haben.“

Sie legte ihre Hände auf das vom Regen feuchte Fensterbrett. „Ich komme mir vor, als ob ich aus dem Nichts direkt in dieses hässliche Hotelzimmer gefallen wäre. Und doch kann ich schreiben und lesen und laufen und sprechen. Der Taxifahrer hatte das Radio an, und ich erkannte die Musik. Ich erkannte Bäume. Ich war nicht überrascht, dass der Regen nass war. Ich habe Kaffee gerochen, als ich hier ins Büro kam, und der Geruch war mir vertraut. Ich weiß, dass Ihre Augen ein sehr seltenes Grün haben. Und wenn der Regen einmal aufhört, weiß ich, dass der Himmel blau sein wird.“

Sie seufzte tief. „Also bin ich nicht aus dem Nichts gefallen. Es gibt Dinge, die ich weiß, Dinge, derer ich mir sicher bin. Aber mein eigenes Gesicht sagt mir nichts, und was sich hinter diesem Gesicht abspielt, ist mir vollkommen schleierhaft. Vielleicht habe ich jemanden verletzt – oder Schlimmeres. Vielleicht bin ich egoistisch und berechnend, sogar brutal. Ich könnte einen Ehemann haben, den ich betrüge, oder Nachbarn, mit denen ich im Streit bin.“

Jetzt drehte sie sich wieder zu ihm um. Ihr Gesicht war angespannt und bildete einen merkwürdigen Kontrast zu den großen, unter dichten Wimpern liegenden Augen, die noch immer feucht von Tränen waren. „Ich weiß nicht, ob mir gefallen wird, was Sie über mich herausfinden, Mr. Parris. Aber ich muss es wissen.“ Sie stellte die Tasche auf seinem Schreibtisch ab und öffnete sie. „Ich denke, ich habe genug, um Sie bezahlen zu können.“

Cade kam aus einem sehr reichen Elternhaus, doch selbst er hatte noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Die Tasche war prall gefüllt mit gebündelten Hundert-Dollar-Scheinen – jeder einzelne glatt, sauber und neu. Fasziniert nahm er ein Bündel heraus und blätterte es durch. Ja, tatsächlich. Jeder Schein trug Ben Franklins schlichtes, würdevolles Gesicht.

„Ich vermute, das ist ungefähr eine Million“, murmelte er.

„Eine Million zweihunderttausend.“ Bailey erschauerte, als sie in die Tasche blickte. „Ich habe die Bündel gezählt. Ich weiß nicht, wo das Geld herkommt und warum ich es bei mir habe. Vielleicht hab ich es gestohlen.“

Erneut stiegen Tränen in ihre Augen, und sie wandte sich ab. „Es könnte sich um Lösegeld handeln. Ich könnte in eine Entführung verwickelt sein. Womöglich wird irgendwo ein Kind festgehalten, und ich habe das Lösegeld an mich genommen. Ich könnte …“

„Fügen wir zu Ihren Eigenschaften noch eine blühende Fantasie hinzu.“

Es lag an seiner kühlen und sachlichen Stimme, dass sie tief durchatmete und ihn wieder ansah. „In dieser Tasche steckt ein Vermögen.“

„Eine Million zweihunderttausend ist heutzutage kein großes Vermögen mehr.“ Er ließ das Geldbündel zurück in die Tasche fallen. „Und es tut mir leid, Bailey, aber Sie sind einfach nicht der Typ ‘eiskalte Entführerin’.“

„Aber Sie könnten das überprüfen. Sie könnten diskret herausfinden, ob es eine Entführung gegeben hat.“

„Natürlich. Wenn die Polizei eingeschaltet wurde, kann ich das herausfinden.“

„Und falls es einen Mord gegeben hat?“ Sie versuchte, ruhig zu bleiben, während sie erneut in die Tasche griff. Diesmal zog sie eine 38er hervor.

Cade zog scharf die Luft ein. Vorsichtig schob er den Lauf zur Seite, dann nahm er ihr die Pistole aus der Hand. Es handelte sich um eine Smith and Wesson, die, wie er nach kurzer Prüfung feststellte, voll geladen war. „Wie fühlt sie sich in Ihrer Hand an?“

„Ich verstehe nicht.“

„Wie hat es sich angefühlt, als Sie sie in die Hand genommen haben? Das Gewicht, die Form?“

Obwohl sie verblüfft über die Frage war, tat sie ihr Bestes, so präzise wie möglich zu antworten. „Sie ist nicht so schwer, wie ich dachte. Etwas mit so viel Kraft sollte mehr wiegen, mehr Substanz haben. Ich würde sagen, es fühlte sich komisch an.“

„Der Kugelschreiber hingegen nicht.“

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich habe Ihnen gerade über eine Million Dollar und eine Pistole gezeigt. Und Sie reden über Kugelschreiber.“

„Als ich Ihnen den Kugelschreiber gegeben habe, hat er sich in Ihrer Hand nicht komisch angefühlt. Sie mussten gar nicht darüber nachdenken. Sie nahmen ihn einfach und benutzten ihn.“ Er lächelte leicht und steckte die Pistole vorsichtshalber in seine Tasche. „Ich denke, dass Sie es weitaus mehr gewohnt sind, einen Kugelschreiber in der Hand zu halten, als eine 38er.“

Diese Tatsache, die simple Logik dahinter, schien sie zwar zu erleichtern, die düsteren Wolken aber vertrieb sie nicht. „Vielleicht haben Sie recht. Das heißt aber nicht, dass ich sie nicht benutzt habe.“

„Nein, das ist wahr. Und nachdem sie jetzt voll von Ihren Fingerabdrücken ist, können wir das auch nicht mehr beweisen. Ich kann aber überprüfen lassen, ob sie registriert ist. Und auf wen.“

In ihren Augen flackerte ein Funken Hoffnung auf. „Wenn sie mir gehört …“ Sie nahm seine Hand und drückte sie. „Wenn sie mir gehört, dann hätten wir einen Namen. Ich würde meinen Namen wissen. Mir war gar nicht klar, wie einfach das ist.“

„Einfach sein könnte.“

„Stimmt.“ Sie ließ seine Hand los und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihre Schritte waren ruhig und kontrolliert. „Das war vorschnell. Aber es tut so gut, mit jemandem zu reden, verstehen Sie? Mit jemandem, der sich auskennt. Ich weiß nicht, ob ich gut darin bin, Rätsel zu lösen. Mr. Parris …“

„Cade“, sagte er, fasziniert von der Tatsache, dass er ihre sparsamen Bewegungen so sexy finden konnte. „Machen wir’s nicht unnötig kompliziert.“

„Cade.“ Sie atmete tief durch. „Es ist schön, jemanden beim Namen nennen zu können. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, und der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er mich kennt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie seltsam das ist. Und wie tröstlich.“

„Warum machen wir aus mir nicht den ersten Menschen, mit dem Sie gemeinsam etwas essen? Einen Schokoriegel kann man kaum als vernünftiges Frühstück bezeichnen. Sie sehen erschöpft aus, Bailey.“

Es war so sonderbar, wenn er sie mit diesem Namen ansprach. „Ja, ich bin müde“, gab sie zu. „Es fühlt sich nicht so an, als ob ich viel geschlafen hätte. Und ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal gegessen habe.“

„Was halten Sie von Rührei?“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

„Nun, dann sollten wir es herausfinden.“ Er wollte ihre Tasche nehmen, doch sie hielt seine Hand fest.

„Da ist noch etwas.“ Sie schwieg einen Moment, sah ihn aber weiterhin an, so wie vorhin, als sie hereingekommen war. Fragend, abwägend, unentschlossen. Aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. „Sie müssen mir etwas versprechen.“

„Sie haben mich engagiert, Bailey. Ich arbeite für Sie.“

„Ich weiß nicht, ob meine Bitte in Ihrem Geschäft üblich ist, aber Sie müssen mir einfach Ihr Wort geben. Falls Sie bei den Ermittlungen feststellen, dass ich ein Verbrechen begangen habe, dann müssen Sie erst alles herausfinden, was Ihnen möglich ist, alle Umstände, alle Fakten, bevor Sie mich der Polizei melden.“

Er neigte den Kopf und sah sie ungläubig an. „Sie denken, ich werde Sie verraten?“

„Wenn ich das Gesetz gebrochen habe, dann erwarte ich sogar, dass Sie es tun. Aber ich muss erst alle Hintergründe kennen. Ich muss alles verstehen können. Versprechen Sie mir das?“

„Natürlich.“ Er ergriff ihre ausgestreckte Hand. Sie war so zerbrechlich wie dünnes Porzellan, aber ihr Händedruck war überraschend fest. Diese Frau, wer immer sie auch war, war eine faszinierende Mischung aus Kraft und Zerbrechlichkeit. „Keine Polizei, bevor wir nicht alles wissen. Sie können mir vertrauen, Bailey.“

„Sie versuchen, mich an den Namen zu gewöhnen.“ Unvermittelt gab sie ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. „Sie sind so nett.“

Nett genug, dachte sie, dass er sie bestimmt in seine Arme genommen hätte, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Und sie sehnte sich danach, gehalten zu werden! Danach, dass sie jemand tröstete und ihr versprach, dass alles wieder gut würde. Aber sie musste das jetzt allein schaffen. Blieb nur zu hoffen, dass sie zu den Frauen gehörte, die es gewohnt waren, auf eigenen Füßen zu stehen.

„Noch etwas.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tasche, steckte die Hand hinein, tastete nach dem dicken, schweren Samtbeutel. „Ich vermute, das ist überhaupt das Wichtigste.“

Sie zog den Beutel sehr vorsichtig heraus, beinahe ehrfürchtig, öffnete den Knoten und ließ den Inhalt auf ihre Handfläche gleiten.

Das Geld hatte ihn überrascht, die Waffe hatte ihn beunruhigt. Aber das hier flößte ihm Ehrfurcht ein! Das Glitzern, dieses selbst in dem regendüsteren Zimmer hoheitsvolle Glitzern, besaß eine atemberaubende Anziehungskraft. Der Edelstein füllte ihre Handfläche gänzlich aus, die Kanten waren sauber und scharf genug geschliffen, um noch das schwächste Licht einzufangen und in gleißenden Strahlen in den Raum zurückzuwerfen. Dieser Stein gehörte in die Krone einer Königin oder zwischen die Brüste einer uralten antiken Göttin.

„Ich habe noch nie einen so großen Saphir gesehen.“

„Das ist kein Saphir.“ Sie nahm seine Hand und legte den funkelnden Stein hinein. „Das ist ein blauer Diamant, ungefähr einhundert Karat. Brillantschliff, vermutlich von Asia Minor. Mit bloßem Auge sind keine Einschlüsse erkennbar, und sowohl die Farbe als auch die Größe sind außerordentlich selten. Ich schätze, er ist locker dreimal so viel Wert wie das Geld in der Tasche.“

Cade sah nun nicht mehr den Stein an, sondern sie. Als sie den Blick zu ihm hob, schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Aber ich weiß es. Genauso wie ich weiß, dass das nicht alles ist … dass es nicht komplett ist.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich wünschte, ich wüsste es. Aber es ist ein sehr starkes Gefühl, fast so, als würde ich mich erinnern. Ich weiß, dass dieser Stein ein Teil der Geschichte ist. Genauso wie ich weiß, dass er keinesfalls mir gehören kann. Er gehört eigentlich niemandem. Niemandem“, wiederholte sie. „Ich muss ihn gestohlen haben.“

Sie presste die Lippen zusammen, hob das Kinn und straffte die Schultern. „Und dafür habe ich womöglich getötet.“

2. KAPITEL

Cade nahm Bailey mit zu sich nach Hause. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Außerdem wollte er die Stofftasche samt Inhalt so schnell wie möglich in seinem Safe verstauen.

Sie hatte nicht protestiert, als er sie aus dem Gebäude geführt hatte, und sie hatte auch keinen Kommentar abgegeben, als er sie auf den Beifahrersitz seines Jaguars gesetzt hatte. Normalerweise zog er es vor, mit seinem alten, ziemlich verbeulten Sedan zur Arbeit zu fahren, aber nachdem der gerade in Reparatur war, war ihm nur der auffällige Jaguar geblieben.

Die ganze Zeit über sagte sie nichts, auch nicht, als er in eine wunderschöne Wohngegend mit einer Allee schattenspendender Bäume einbog und vor einem würdevollen, im typischen Südstaatenstil errichteten Gebäude hielt. Er wollte ihr schon erklären, dass er das Haus von einer Großtante geerbt hatte, die eine Schwäche für ihn hatte – was ja auch stimmte. Und dass er hier wohnte, weil ihm die Ruhe und der Komfort der Wohngegend gefielen.

Aber sie fragte gar nicht erst.

Cade hatte den Eindruck, dass sie vollkommen erschöpft war. Die Energie, die sie gebraucht hatte, um durch den Regen zu laufen, sein Büro zu finden und ihre Geschichte zu erzählen, war endgültig aufgebraucht. Sie wirkte beinahe teilnahmslos.

Und wieder so zerbrechlich. Er musste sich zwingen, sie nicht einfach auf seine Arme zu heben und ins Haus zu tragen. Dabei hatte er das Bild schon genau vor Augen: Er, der tapfere Ritter, der die Jungfrau in die Sicherheit seiner Burg brachte. Weg von all den bösen Drachen, die hinter ihr her waren.

Er musste wirklich aufhören, solchen Blödsinn zu denken.

Also schulterte er die Stofftasche, nahm Bailey an der Hand und zog sie mit sich zum Eingangsbereich, dann den Flur hinunter und direkt in die geräumige Wohnküche.

„Rührei“, sagte er, schob ihr einen Stuhl zurecht und drückte sie sanft darauf.

„Ja. Gut. Danke.“

Sie fühlte sich steif und desorientiert, gleichzeitig war sie ihm unendlich dankbar. Er löcherte sie nicht mit Fragen, er schien auch nicht besonders schockiert oder abgestoßen von ihrer Geschichte zu sein. Vielleicht lag es an seinem Beruf, dass er das alles so gelassen hinnahm. Egal, woran es lag, sie war einfach nur froh, dass er ihr Zeit gab, sich zu erholen.

Geschickt schlug er ein paar braune Eier in eine Schüssel, dann steckte er Brotscheiben in den Toaster. Ich sollte ihm meine Hilfe anbieten, dachte sie. Das wäre das Mindeste. Aber sie war so schrecklich müde, und es war so angenehm, einfach nur in dieser großen Küche zu sitzen, während der Regen aufs Dach prasselte, und ihm beim Bereiten des Frühstücks zuzusehen.

Autor

Nora Roberts
<p>Die preisgekrönte Schriftstellerin sitzt jeden Tag acht Stunden am Schreibtisch. Inzwischen sind fast 250 Romane geschrieben, die weltweit regelmäßig auf den Bestsellerlisten landen. Vom <em>New Yorker</em> wurde sie zu »Amerikas Lieblingsautorin« ernannt. Auch in Deutschland erfreut sich Nora Roberts einer großen Fangemeinde. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.</p>
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