Der vergessene Garten

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Lovelace Cottage muss unbedingt renoviert werden. Aber seit dem Tod seiner Frau fühlt sich Joel allein gelassen. Sein kleiner Sohn, der Job - da bleibt kaum Zeit sich noch um Haus und Garten zu kümmern.

Obwohl der Vater ihrer Töchter sie damals verließ, ist Laurel glücklich. Doch plötzlich ist er wieder da und mit ihm die Gefühle, die sie all die Jahre unterdrückt hat.

Und dann kommt Kezzie aus London nach Heartsease. Mit ihrem Enthusiasmus und ihren Ideen bringt sie neuen Schwung in den Ort das Leben ihrer neuen Nachbarn. Doch auch Kezzie hat etwas, wovor sie davonläuft. Aber es ist ja Sommer, eine Zeit des Neubeginns, und vielleicht ist es genau das, was die drei am meisten brauchen - Sommer in ihren Herzen.

"Julia schreibt wunderschön, detail- und farbenreich - man muss es einfach lieben. Ein weiteres Buch, was man einfach nicht aus der Hand legen kann. Ich habe jede einzelne Seite genossen. Eine wirklich zauberhafte und charmante Geschichte."
(Leserstimme auf blogspot)


  • Erscheinungstag 10.05.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495458
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia Williams

Der vergessene Garten

Roman

Aus dem Englischen von

Sonja Sajlo-Lucich

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

The Summer Season

Copyright © 2011 by Julia Williams

erschienen bei: Avon Books, New York

Published by arrangement with

Harper Collins Publishers, New York

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Christiane Branscheid

Titelabbildung: Shutterstock

ISBN eBook 978-3-95649-545-8

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

ERSTER TEIL

EIN COTTAGE FÜR EINEN SOMMER

1. KAPITEL

Kommt schon, Mädels, Zeit zum Aufstehen. Heute ist ein wichtiger Tag.“ Leise betrat Lauren das Zimmer ihrer Zwillingstöchter. Zwei zerzauste Schöpfe drehten sich in den Betten, sahen sich verschlafen um. Zwei funkelnagelneue Schuluniformen hingen über den Fußenden der identischen Betten aus Pinienholz, und langsam krochen ihre Töchter auch unter den mit pinker Bettwäsche bezogenen Bettdecken hervor. Lauren zog die geblümten Vorhänge an den Fenstern auf und sah hinaus in den kleinen Garten, der zu dem gemieteten Cottage gehörte. Nur ein kleiner Flecken Grün, aber die Lobelien, Geranien, die Fleißigen Lieschen und das Steinkraut ergossen sich noch immer mit opulenter Blütenpracht über den Rand der Tontöpfe. Es wirkte heimelig und adrett, genau so, wie Lauren es mochte. Die warme Morgensonne verhieß schon jetzt einen heißen Tag, auch wenn es bereits September war.

Lauren drehte sich zu ihren Töchtern um. Ihr Herz zog sich vor lauter Liebe zusammen. Schon waren sie vier Jahre alt, und heute war für die Zwillinge ihr allererster Tag in der Vorschule. Wo war nur die Zeit geblieben? Ihr schien es wie gestern, dass die beiden auf die Welt gekommen waren, drei Wochen zu früh, an einem brütend heißen Augusttag. Hätten sie das Licht der Welt am ursprünglich berechneten Termin erblickt, dann bliebe Lauren jetzt noch ein volles Jahr mit ihnen. So jedoch würden die beiden wohl die Jüngsten in ihrer Klasse sein.

„Los, Mädels, beeilt euch.“ Lauren setzte sich zu Izzie aufs Bett, schob die Hand unter die Bettdecke und kitzelte ihre Tochter. Izzie war die etwas Langsamere der beiden Schwestern (mit ihrem Asthma war sie es, die Lauren meist einige Sorgen bereitete), aber jetzt lockte ihr Gekicher auch Immie unter der Decke hervor. Die Kleine kam herübergerannt und warf sich auf das Bett, um den Spaß nicht zu verpassen, und so tobten die drei eine Weile lachend zusammen, bevor Lauren sich räusperte und gespielt streng meinte: „Zeit für die Schule.“

Bis sie den beiden beim Anziehen geholfen hatte und sie schließlich alle unten in der gemütlichen Bauernküche mit den bunten Kaffeebechern am Pinienholzbrett mit Haken und dem großen Holztisch angekommen waren, kam auch Joel mit Sam zur Hintertür herein – ausnahmsweise sogar einmal pünktlich.

„Heute ist der große Tag, nicht wahr, Mädels?“, meinte er, als Izzie und Immie ihm ihre neuen Schuluniformen vorführten. Sie sahen so goldig aus in den grauen Trägerröcken (eine Nummer zu groß, damit sie noch hineinwachsen konnten), den weißen Blusen und grünen Strickjacken. Die blütenweißen Strümpfe waren bis unter die Knie hochgezogen, die schwarzen Lackschuhe – Mary Janes – auf Hochglanz poliert. Das hellblonde Haar der beiden hatte Lauren zu identischen Pferdeschwänzen zusammengebunden, obwohl ihr klar war, dass diese sich noch vor Ende des Tages längst aufgelöst haben würden.

Schüchtern lächelten die Mädchen Joel an, der jetzt Sam in den Hochstuhl setzte und dabei die neuen grünen Schulranzen gebührend bewunderte, die die Mädchen ihm stolz präsentierten.

„Es macht dir doch nichts aus, ein paar Fotos von uns dreien zu schießen, oder?“, bat Lauren. „Das wird ein schönes Andenken für später.“

„Natürlich, kein Problem.“ Und schon holte Joel die Kamera hervor und drückte mehrere Male den Auslöser. „Und? Freut ihr euch schon, Mädels? Aufgeregt?“

„Ja“, kam es von beiden gleichzeitig als Antwort.

„Das kann man wohl sagen“, fügte Lauren auch noch an. „Ich glaube, sie haben die ganze Nacht kein Auge zugetan.“

„Hoppla.“ Joel schnitt eine Grimasse, als er auf seine Armbanduhr sah. „Schon so spät? Da muss ich mich jetzt aber wirklich sputen.“

„Oh ja, sicher.“ Erst jetzt bemerkte Lauren seinen korrekten dunklen Anzug, und still schalt sie sich. Sie hatte vergessen, was für ein Tag heute war. „Viel Glück. Hoffentlich wird es nicht zu schlimm.“ Zögernd legte sie ihm die Hand auf den Arm. Sie war nicht sicher, wie er die tröstende Geste aufnehmen würde. Nach Claires Tod hatte die Trauer sie beide zusammengebracht, manchmal zu eng für Laurens Geschmack. Dann fühlte es sich einfach zu intensiv an, daher achtete sie in letzter Zeit ein wenig mehr auf Abstand.

Joel lächelte ihr gezwungen zu, ein grüblerischer, trauriger Ausdruck stand in seinen Augen. „Aber es muss erledigt werden.“ Er küsste Sam auf die Wange, winkte dann den Mädchen zu. „Einen ganz tollen Tag wünsche ich euch.“

Der arme Joel. Fünfunddreißig war viel zu jung, um schon Witwer zu werden. Lauren wusste, wie schwer es für ihn war, mit Sam allein zu sein. Deshalb sagte sie auch nichts, wenn er es, wie so oft, als selbstverständlich hinnahm, dass sie da war. Lauren hatte das Gefühl, dass sie es Claire schuldete, sich um Joel zu kümmern, er konnte wirklich jede Hilfe und Unterstützung gebrauchen. Und die würde sie ihm geben, selbst wenn er es ihr manchmal nicht leicht machte. Sie merkte, wie die Trauer um Claire auch in ihr wieder aufstieg. Schon ein Jahr war vergangen, und noch immer erwartete ein Teil von ihr manchmal, dass Claire mit Sam auf dem Arm zur Tür hereinkam, so wie sie es vor ihrem völlig unerwarteten, schockierenden Tod getan hatte.

Lauren schickte die Zwillinge zum Zähneputzen, während sie den Frühstückstisch abräumte. Sie stellte die Prinzessinnen-Teller der Mädchen zusammen mit den geblümten Tassen und den Schüsselchen (ein Geschenk von ihrer Mum, sie selbst hätte sich das Geschirr niemals leisten können) in die Geschirrspülmaschine. Sie liebte ihre Küche, hatte sogar noch umgebaut, um mehr Platz zu schaffen, damit ein Esstisch hineingestellt werden konnte. Vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams, war die Küche urgemütlich. Die Spielzeuge der Kinder – eine Magnettafel auf einer Staffelei, ein Bobbycar und ein kleiner Tisch mit Kinderstühlen aus Plastik – wetteiferten um Platz mit dem Fichtenholztisch, der Waschmaschine und der großen Kühl- und Gefrierkombination. Zwar gab es nicht so viel Arbeitsfläche, wie Lauren sich gewünscht hätte, und auf der, die es gab, stapelten sich Laurens schwere Kochbücher, aber die Küche war definitiv ihr Lieblingsraum in diesem Haus, der Mittelpunkt und das Herz ihres Zuhauses.

Lauren hob Sam aus dem Hochstuhl und setzte ihn in den Buggy, der hier immer für ihn stand. Es war albern, aber wahrscheinlich war sie nervöser als die Mädchen. Die beiden gingen ja schon fast ein ganzes Jahr in die Kinderkrippe des Städtchens. Dennoch … richtige Schule. Natürlich würde es vorerst nur halbtags sein, schließlich waren sie die Jüngsten. Aber bevor sie noch wusste, wie ihr geschah, würden die beiden den ganzen Tag von zu Hause weg sein, dann würden die Nachmittage mit ihnen wegfallen. Wäre da nicht Sam, auf den sie aufpasste, würden ihre Tage lang und einsam werden. Genau wie ihre Nächte …

Melancholie drohte sie zu überwältigen, als Lauren den kleinen Pfad durch den Vorgarten auf den weißen Lattenzaun mit dem kleinen Törchen zulief. Die Zwillinge hielten sich an den Seiten des Buggys fest und plapperten aufgeregt über den großen Tag, der ihnen bevorstand, malten sich bereits voller Vorfreude aus, was sie alles erleben würden. Nervös schienen sie überhaupt nicht zu sein, im Gegenteil. Nein, es war Lauren, die mit diesem Gefühl von Verlust zu kämpfen hatte, mit der Gewissheit, dass von heute an nichts mehr so sein würde wie früher. Sie schob den Buggy die Straße hinunter und winkte ihrer Nachbarin Eileen zu, die mit ihrem Hund spazieren ging, dann bog sie nach rechts um die Ecke auf die Hauptstraße, die den Hügel hinunter bis ins Zentrum von Heartsease führte. Dort stand die Schule, in der für die Mädchen heute der Ernst des Lebens begann.

Die Septembersonne strahlte warm vom Himmel herab. Es würde einer von diesen trägen goldenen Spätsommertagen werden, die man ausnutzen musste, bevor der Herbst Einzug hielt. Die ersten Anzeichen waren bereits zu erahnen. Das Laub der Bäume begann sich zu verfärben, die Kastanien reiften, und der Wind trieb die ersten gefallenen Blätter vor sich her über den Bürgersteig. Tage wie dieser erinnerten sie an die erste Zeit, nachdem Troy sie verlassen hatte, und seither brachten sie die bittersüßen Erinnerungen immer wieder zurück. Kaum hatte Lauren damals den Schock, dass sie Mutter wurde, verwunden gehabt, war der nächste, noch größere Schock gefolgt. Sie würde ihre Kinder allein aufziehen müssen. Und jetzt, während sie ihre wunderschönen Töchter zum ersten Mal zur Schule brachte, wünschte sie sich mehr denn je, es hätte nicht so sein müssen.

Mit schwerem Herzen glitt Joel hinters Steuer und lenkte seinen Wagen den Hügel hinauf, vorbei an seinem Haus und aus Heartsease heraus. Er fuhr durch die Downs in die Nachbarstadt, nach Chiverton. Die Landstraße wand sich unter hohen alten Bäumen dahin, die sich langsam mit ihrem Herbstkleid schmückten. Er liebte die Landschaft hier, einer der vielen Gründe, weshalb er dem Vorschlag seiner Mutter gerne zugestimmt hatte, ihr Lovelace Cottage abzukaufen, als sie es erbte. Selbst Claire war der Meinung gewesen, dass, wenn man auf einem der vielen Hügelkämme stand und nach Sussex hinuntersah, der Blick einfach fantastisch war. Dabei hatte sie London eigentlich nicht verlassen wollen, um dann „mitten in der Pampa“ zu leben, wie sie es immer genannt hatte.

Claire. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Heute vor genau einem Jahr. War es wirklich erst ein Jahr her? Vor einem Jahr und einem Tag war er glücklich und zufrieden gewesen. Erfüllt, reich. Er hatte alles gehabt, was er sich je für sein Leben gewünscht hatte, alles, was er je im Leben gebraucht hätte. Damals war er sich dessen überhaupt nicht bewusst gewesen, hatte es nicht zu schätzen gewusst, ja sogar manchmal nicht gewollt. Erst nachdem er Claire verloren hatte und die Welt um ihn herum eingestürzt war, hatte er zu spät erkannt, welches Glück er in Händen gehalten hatte.

Der Tag heute würde schwierig und anstrengend werden. Joel hatte zugesagt, Claires Eltern zum Friedhof auf der anderen Seite von Chiverton zu begleiten. Anschließend wollten sie zusammen etwas essen gehen. Er war nicht sicher, ob er diesen traurigen Tag mit ihnen durchstehen konnte. Nicht, dass Marion und Colin unsympathisch oder nicht hilfsbereit wären, im Gegenteil. Obwohl sie über eine Stunde Fahrt weit entfernt lebten, waren sie immer sofort bereit, wenn er Hilfe mit Sam brauchte. In der schweren Zeit am Anfang hatten sie ihm so viel Kraft gegeben, hatten ihn unterstützt, wo sie nur konnten, obwohl sie doch selbst auch trauerten. Nein, es lag nicht an Marion und Colin, dass der Tag anstrengend werden würde, sondern an Joels Schuldgefühl. Was er getan hatte … und wie er Claire im Stich gelassen hatte.

Jeden einzelnen Tag des letzten Jahres hatte er sich in Gedanken bei ihr entschuldigt. Und heute würde er Freesien auf ihr Grab legen. Es waren ihre Lieblingsblumen, für die er ein kleines Vermögen ausgegeben hatte, und wieder würde er sich bei ihr entschuldigen. Aber es würde nicht reichen. Niemals.

Joel blinzelte Tränen fort, als er beim Friedhof ankam. Heute war ein sonniger, warmer Septembertag, ganz anders als am Tag von Claires Beerdigung. Damals war es ein trüber und verregneter Herbsttag gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, noch nie einen düstereren erlebt zu haben. Die Kirche war voll gewesen, so viele Menschen hatten ihm ihr Beileid und Mitgefühl bekundet. Er jedoch war kaum in der Lage gewesen, sich für das entgegengebrachte Mitgefühl zu bedanken, hatte reagiert wie ein Roboter, war wie betäubt gewesen. Inzwischen wusste er, dass er unter Schock gestanden hatte. Selbst heute, ein Jahr später, erschütterte ihn Claires jäher Tod noch immer. Wie konnte ein Mensch, der so heiter gewesen war und so voller Lebensfreude gesteckt hatte, an einem Tag noch hier sein und am nächsten schon für immer verschwunden? Bis zu seinem letzten Atemzug würde er sich diese Frage stellen und vergeblich versuchen, einen Sinn darin zu finden.

Joel war froh, dass er früher bei Claires Grab ankam als ihre Eltern, so konnte er eine Weile allein stille Zwiesprache mit ihr halten. Er ging zu ihrem Grab, und erneut konnte er nicht begreifen, dass es tatsächlich ihr Name sein sollte, der da in den Stein eingraviert stand.

Das alles schien ihm so surreal, er konnte sich auch nicht vorstellen, dass er je darüber hinwegkommen würde. Claire sollte jetzt bei ihm sein, sollte miterleben, wie Sam die ersten Schritte tat, die ersten Worte sprach, sollte Joel dabei helfen, das Haus und die Gärten zu restaurieren, so wie sie es gemeinsam geplant hatten. Sie sollte nicht hier liegen, metertief in der Erde in den Hügeln von Sussex. Der Schmerz fuhr wie ein Messer mitten durch sein Herz, so scharf, dass ihm die Luft wegblieb. Claire war nicht mehr da, und jetzt hatte es keinen Sinn, sich noch zu entschuldigen.

Kezzie saß inmitten von halb gepackten Kartons in ihrem kleinen Wohnzimmer und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Sie hatte das Gefühl, als säße sie schon seit Ewigkeiten heulend hier, seit dem Moment, in dem sie die Entscheidung getroffen hatte, dass es Zeit war, weiterzuziehen. Es war nur wenige Wochen her, im Hochsommer, dass sie voller Aufregung mit dem Packen begonnen hatte, um ihr kleines Apartment in Finsbury Park aufzugeben und zu Richard zu ziehen. Den Landschaftsgärtnerkurs hatte sie abgeschlossen, hatte ihre Kündigung als Webdesigner akzeptiert. Sie hatte diesen Job gehasst. Es hatte ein völlig neues Leben vor ihnen gelegen. Sie wollte das Design der Gärten übernehmen, Richard die Gebäude, und zusammen würden sie Chelsea und Hampton Court im Sturm erobern. Nichts davon würde jetzt noch passieren. Der letzte Monat war der schrecklichste, schmerzhafteste und lächerlichste ihres ganzen Lebens gewesen.

Ob sie Richard noch einmal anrufen sollte? Kezzie ließ sich auf die Fersen zurücksinken und sah sich in dem Chaos um, das in ihrem Wohnzimmer herrschte. Sie war ernsthaft versucht. Fast eine Woche war seit diesem unmöglich peinlichen Gespräch vergangen, und noch immer klammerte sie sich an die Hoffnung, dass er es irgendwie über sich bringen und ihr für das, was sie getan hatte, vergeben könnte. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sein Gesicht wieder vor ihrem geistigen Auge auftauchte und sie die kalte Verachtung sah, die bei ihrem letzten Treffen in seinem Blick gelegen hatte. „Du hast mich enttäuscht, Kezzie. Ich kann dir nicht mehr vertrauen.“ Die Szene lief immer und immer wieder in ihrem Kopf ab, wie in einer Endlosschleife, egal, wie sehr sie sich auch bemühte, sie zu vergessen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, begann es wieder von vorn. Die mahnende Erinnerung an das, was sie getan und was sie verloren hatte.

Aber all ihre vergeblichen Anrufe und unbeantworteten Nachrichten ließen sie allmählich unsicher werden. Selbst Flick, die liebste und verständnisvollste Freundin der Welt, hatte ihr bereits sanft, aber bestimmt mitgeteilt, dass es unter ihrer Würde war, ihn anzubetteln, sie zurückzunehmen.

„Lass ihm Zeit, Kez“, hatte sie gesagt. „Wenn du so weitermachst, verlierst du ihn auf jeden Fall.“

Natürlich hatte Flick recht, das war Kezzie auch klar. Aber die Versuchung, ihm spätabends nach einem Glas Rotwein eine E-Mail zu schreiben oder am Telefon seine Stimme zu hören, war immer wieder zu stark gewesen, als dass sie ihr hätte widerstehen können. Beim letzten Mal allerdings wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. „Kezzie, meine Eltern sind zu Besuch bei mir. Bitte, mach jetzt keine Szene.“ Sie hatte sofort die Verbindung unterbrochen. Und in diesem Moment auch endlich erkannt, dass sie sich nur immer tiefer reinritt. Sie brauchte einen Tapetenwechsel, musste weg aus London, damit gar nicht erst die Chance bestand, Richard zufällig zu begegnen, damit sie nicht an jeder Straßenecke Dinge sah, die sie unweigerlich an ihn erinnerten.

Und an diesem Punkt war Tante Jo auf den Plan getreten. Unangemeldet war sie auf der Durchreise durch London bei Kezzie vorbeigeschneit. Ein Blick auf ihre geliebte Nichte, und Jo hatte entschieden verkündet, dass Kezzie dringend ein Schlupfloch brauchte. „Und wie das Schicksal es gerade so will, habe ich den perfekten Ort für dich, Liebes. Ich kann dir mein Haus anbieten.“

„Wie meinst du das?“, hatte Kezzie verwirrt nachgefragt.

„Na ja, ich werde das ganze Jahr mit Mickey“ – das war ihr aktueller Lover – „auf Weltreise gehen. Du erinnerst dich doch noch an ihn, oder? Wir wollen uns selbst finden, und vielleicht heiraten wir ja sogar in Thailand.“ Sie kicherte aufgeregt. „Du kannst in meinem Cottage bleiben, solange du willst. Falls nötig, das ganze Jahr.“

„Wirklich?“ Kezzie schluckte die Tränen hinunter. Das klang besser als jede Lösung, die ihr bisher eingefallen war. Sie musste aus London raus, weg von dem ganzen Chaos, das sie angerichtet hatte und das zu diesem schrecklichen Ende ihrer Beziehung geführt hatte. Sie brauchte Zeit und Abstand, um sich wieder zu sammeln und einen klaren Kopf zu bekommen. Hierzubleiben und im Elend zu versinken, tat ihr gewiss nicht gut. Richard würde nicht zu ihr zurückkommen, und wenn sie sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrte, zog sie den Prozess nur unnötig in die Länge.

Und deshalb saß sie jetzt hier und hatte ihre Habseligkeiten in Kisten und Kartons verstaut. Jedes einzelne kleine Ding erinnerte sie an die letzten beiden wunderbaren Jahre mit Richard, angefangen von der gerahmten Urkunde, die bestätigte, dass sie den Landschaftsgärtnerkurs, für den sie sich auf Richards Vorschlag hin eingeschrieben hatte, erfolgreich beendet hatte, bis hin zu dem Foto, das sie beide auf der Wanderung durch den Lake District zu Beginn des Jahres zeigte, wo er sie gebeten hatte, zu ihm zu ziehen. Dann waren da die Gartenhandschuhe, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und die silbernen Ohrringe, die ein Geburtstagsgeschenk von ihm gewesen waren. In London würde sie ständig an Richard denken müssen. Die Stadt zu verlassen war die einzige Chance, die sie hatte, wenn sie je über ihn hinwegkommen wollte.

Sie nahm das Telefon und wählte Richards Nummer. Das war das letzte Mal – das wirklich allerletzte Mal, dass sie das tun würde.

Der Anrufbeantworter sprang an. „Hi, Richard hier. Im Moment bin ich nicht zu Hause, aber hinterlassen Sie Namen und Nachricht, und ich rufe Sie so bald wie möglich zurück.“

Sie legte auf, wählte die Nummer erneut, nur um seine Stimme zu hören. Sie konnte einfach nicht anders. Irgendwann wurde ihr schließlich klar, dass sie sich damit keinen Gefallen tat. Es wurde höchste Zeit, dass sie mit diesem Unsinn aufhörte und den nächsten Schritt tat.

Sie holte tief Luft und ignorierte das verräterische Zittern in ihrer Stimme. „Hi, Richard, Kezzie hier. Ich verlasse jetzt die Stadt, du wirst also nichts mehr von mir hören.“

Sie bebte wie Espenlaub, als sie das Telefon ablegte, Tränen strömten ihr über die Wangen. Es war vollbracht. Kezzie sah sich in dem chaotischen Zimmer um, dann begann sie, die Kartons vernünftig umzupacken. Es gab keine andere Option. Der Sommer war vorbei, der Herbst hatte Einzug gehalten.

2. KAPITEL

Es war eine völlig andere Geräuschkulisse.

Kezzie kam zu dem Schluss, dass das der größte Unterschied war, wenn man auf dem Land lebte. Es war hier keineswegs totenstill, so wie sie sich das eigentlich vorgestellt hatte. Gestern Abend zum Beispiel hatten die Vögel in der Abenddämmerung einen Höllenlärm in der Hecke veranstaltet, und als dann das letzte Licht geschwunden war, hatte sie das Fiepen der Fledermäuse hören können. Heute war sie zu dem Tschilp-Konzert der Vögel im Morgengrauen aufgewacht. Auch wenn es schon September war, war es trotzdem ein strahlend heller Morgen gewesen. Aus dem herbstlich trüben London herauszukommen und den pinken Sonnenaufgang hier zu beobachten, hatte ihre Laune definitiv schon mal ein ganzes Stück gehoben.

Es hatte sie einen ganzen Tag gekostet, ihre Sachen zusammenzupacken, in den gemieteten Transporter zu laden und damit zu Jos Cottage in dem hübschen Städtchen Heartsease an der Grenze zwischen Surrey und Sussex zu fahren und sich einzurichten. Schon bei ihren früheren Besuchen hatte sie sich in die Gegend hier verliebt. Natürlich hätte sie Flick und die anderen bitten können, ihr zu helfen, doch das hatte ihr der Stolz verboten. Klar wusste Flick von ihr, dass sie und Richard sich getrennt hatten, aber den wahren Grund hatte sie ihr nicht genannt. Sie brachte es nicht über sich, nicht einmal gegenüber der besten Freundin, zuzugeben, was passiert war. Zum Teil stammte das Bedürfnis nach Flucht auch daher, dass sie sich ihr Leben noch einmal ganz genau ansehen musste. Alkohol, Drogen … das Gefühl, immer am Rand des Abgrunds zu stehen. Bis sie Richard getroffen hatte, war das alles gewesen, was sie gewollt hatte. Außerdem hatte sie es genossen, ihn zu schockieren, ihn, der so seriös und überkorrekt war. Doch seit ihrer Trennung war sie sich nicht mehr so sicher, was ihren Lebensstil anbelangte. Inzwischen fragte sie sich, ob es wirklich so gut war, immer spontan, immer auf dem Sprung zu sein. Früher einmal hatte es Spaß gemacht, aber inzwischen … Leider gehörten auch Flick und ihre anderen Freunde mit zu diesem Leben. Vielleicht würde sie ja hier Ruhe und Muße haben, um herauszufinden, wer sie wirklich war, und dann könnte sie ihr Leben neu planen. Vielleicht.

Aber immer schön einen Schritt nach dem anderen. Gestern Abend, erst kurz bevor sie ins Bett gefallen war, war Kezzie eingefallen, dass sie weder Tee noch Milch mitgebracht hatte. Und Tante Jo, so lieb und fürsorglich sie auch war, hatte den Kühlschrank vor der großen Reise geleert und nicht daran gedacht, ihn für die Nichte wieder zu füllen. Angesichts der Tatsache, dass Jo nur mit einem Rucksack und dem Nötigsten zu ihrer Selbstfindungsreise aufgebrochen war, war das wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich.

Kezzie streckte sich genüsslich in dem großen Bett ihrer Tante. Jo hatte sich von einem Beduinenzelt inspirieren lassen. Dafür hatte sie einen Rahmen unter die Decke gehängt, von dem aus Vorhänge um das Bett herum hinabfielen. Kezzie hatte das Gefühl, aus einem Kokon zu schlüpfen, auf jeden Fall war dieses Bett das perfekte Versteck. Sie zog ihren Morgenmantel über und tappte nach unten. Um ins Bad zu kommen, musste sie erst die Küche durchqueren. Selbst an einem warmen Tag wie heute war es hier kühl und wenig einladend, mit den Steinfliesen und der Tür aus Holzplanken, die nicht ganz bis auf den Boden reichten. Im Winter würde es so richtig ungemütlich und zugig werden. Das Bad war der einzige Raum, den Tante Jo noch nicht modernisiert hatte, und die Dusche erwies sich als mehr als unzuverlässig. Sie spuckte abwechselnd kochend heißes und eiskaltes Wasser aus. Kezzie beeilte sich mit Duschen und Anziehen, dann verließ sie das Cottage. Auf der engen Straße begegnete sie einer Frau mittleren Alters, die mit ihrem Border Collie Gassi ging.

„Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tee und Milch kaufen kann?“, sprach sie die Frau an.

„Am Ende der Straße rechts und dann weiter bergab. An der Kreuzung der Madans Avenue und der High Street, keine fünf Minuten von hier. Oder wenn Sie mehr Zeit haben, dann gehen Sie bis zum Ende der High Street und biegen nach rechts, und dann sehen Sie schon unseren kleinen Supermarkt. Bei Macey’s müssten Sie eigentlich alles finden, was Sie brauchen.“

„Vielen Dank.“

„Sie sind bestimmt Jos Nichte“, sagte die Frau. „Ich heiße Eileen Jones und wohne direkt gegenüber.“

„Oh, hi, ich bin Kezzie Andrews. Nett, Sie kennenzulernen.“ Damit ging sie weiter, folgte der gewundenen, von mächtigen Eichen und hohen Birken gesäumten Straße hügelabwärts durch das hübsche Städtchen. Genau wie Eileen beschrieben hatte, stand sie nach nur fünf Minuten am Ende der Straße vor „Alis Kaufhaus“, wie das Schild hochtrabend verkündete. Allerdings handelte es sich eher um einen Tante-Emma-Laden. Nichtsdestotrotz, hier gab es Tee – wenn auch keine große Auswahl – und Milch.

„Sie müssen Jos Nichte sein“, meinte der Mann hinter dem Tresen, vermutlich Ali. „Nett, Sie kennenzulernen.“

„Ja, bin ich“, erwiderte Kezzie. „Äh … gleichfalls.“

Auf dem Rückweg schüttelte sie vor sich hin lächelnd den Kopf. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden in diesem Städtchen, aber schon hatte sie mehr Leute begrüßt als jemals in ihrer Nachbarschaft in London.

Nach einer belebenden Tasse Tee beschloss Kezzie, zu einem Spaziergang durch die Downs aufzubrechen. Von ihren früheren Besuchen hier erinnerte sie sich an eine wunderbare Wanderung mit Jo, aber das war schon ewig her. Ein langer Spaziergang würde ihr auf jeden Fall helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Danach würde sie sich an die Pflichten machen – auspacken und sich überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Eine Weile konnte sie gut von ihrer Abfindung leben, aber sie wusste schon jetzt, dass sie vor Langeweile eingehen würde, wenn sie nicht irgendetwas Nützliches zu tun fand, und zwar bald. Auch wenn ihr die Arbeit nicht gefiel … sie hatte noch genügend Kontakte in der Branche, dass sie ein paar freiberufliche Webdesign-Aufträge annehmen konnte, wenn das mit dem Landschaftsbau nicht auf Anhieb etwas wurde.

Vom Cottage aus ging sie nach rechts, den Hügel weiter hinauf, bis die Straße sich gabelte. Vor ihr lag ein Bauernhof, und der Weg zu ihrer Linken führte wohl wieder ins Städtchen zurück. Also hielt sie sich weiterhin rechts und hoffte, dass sie damit die richtige Richtung einschlug. Ungefähr fünf Minuten war Kezzie den von Bäumen gesäumten Weg entlanggegangen, als sie auf eine hohe Mauer aus rotem Backstein traf. Durch die mächtigen gelb und rot leuchtenden Laubkronen schimmerte sanft das Sonnenlicht und ließ die Farben strahlen. Sie fragte sich vage, was hinter dieser Mauer liegen mochte, und folgte dem Weg schließlich daran entlang, bis er um die Ecke herum auf die Hauptstraße führte. Jetzt sah sie die alte Eiche. Ihre Wurzeln waren am Fuß der Mauer bereits durch die Steine gebrochen und hier hing auch ein Ast tief, sodass sich Kezzie daran hochziehen und über die Mauer lugen konnte.

„Wow!“, entfuhr es ihr perplex. Sie war davon ausgegangen, dass sich dahinter ein einfacher Garten verbarg, aber was sie hier sah, überwältigte sie. Es war ein versunkener Garten. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite führten steinerne Stufen von einem schmiedeeisernen Tor hinab zu dem Geviert in die Mitte, das von schmalen Kieswegen umgeben war. Ganz in Kezzies Nähe, an der Mauer, stand eine rostige alte Bank. Irgendwann einmal musste dieser Garten liebevoll gehegt und gepflegt worden sein. Obwohl Efeu, Rosmarin und Buchsbaum jetzt über die Wege wuchsen, konnte man noch immer erkennen, dass sie einst ein Muster gebildet hatten. Allerdings war durch das hoch stehende Unkraut unmöglich zu erkennen, um welches Muster genau es sich handelte. Vorsichtig kletterte Kezzie wieder auf den Boden. Was für ein wunderbarer Ort – ein vergessener Garten. Sie stieg weiter den Hügel aufwärts, entlang der Mauer. Als sie am Ende um die nächste Ecke bog, bot sich ihr der Anblick eines großen, aber verfallenen Backsteinhauses. Die hohen Fenster wirkten dunkel und seelenlos, die Farbe blätterte von den Rahmen, die Vorhänge, die noch hingen, wirkten alt und zerschlissen. Die große Haustür war dunkelgrün gestrichen, und in ihrem oberen Bereich waren hübsche bunte Bleiglasfenster eingelassen, doch auch hier waren einige der Glaseinsätze gesprungen, und die Ligusterhecken und der Blauregen, die vor den beiden großen Erkerfenstern gepflanzt worden waren, hatten sowohl den verwitterten Weg als auch die Eingangstür überwuchert. Das Haus schien genauso vernachlässigt und verwahrlost zu sein wie der Garten.

„So eine Schande“, murmelte Kezzie in sich hinein. „Da sollte wirklich jemand etwas unternehmen.“ Jemand? Plötzlich kamen Kezzie ihre frühen Guerilla-Gärtnertage in den Sinn, als sie, Flick und Gavin, Flicks Freund, sich die drei Musketiere genannt und es sich zur Aufgabe gemacht hatten, verwahrloste Gärten wieder in Schuss zu bringen. Hatte sie nicht nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht? Vielleicht hatte sie hier soeben genau das Richtige für sich gefunden.

Montagmorgen, und wie üblich war Joel spät dran. Seit dem schmerzlichen Besuch auf dem Friedhof zusammen mit Claires Eltern war jetzt über eine Woche vergangen. Wie immer war er sich bei ihrer mitfühlenden Herzlichkeit wie der größte Betrüger aller Zeiten vorgekommen, und weil er sich so schuldig fühlte, hatte er auch Marions Angebot, am Wochenende auf Sam aufzupassen, dankend abgelehnt. Stattdessen hatte er Eileen Jones gefragt – um dann gleich darauf ein noch schlechteres Gewissen zu haben, weil er den Großeltern den Enkel vorenthielt. Sein Abend im Pub des Städtchens, dem Labourer’s Legs, war dann recht bizarr verlaufen. In einem Augenblick geistiger Umnachtung hatte er sich mit Suzanne Cawston, einer der Kassiererinnen im Macey’s, verabredet. Die Frau hatte eindeutig ein Auge auf ihn geworfen, und außerdem bemitleidete sie ihn. Warum er sich darauf eingelassen hatte, war ihm noch heute unklar, trotzdem hatte er an diesem Abend also mit ihr zusammen im Pub gesessen und sich von Lauren nicht nur einen vorwurfsvollen Blick eingefangen, während sie ihnen die Getränke servierte. Natürlich hatte sie keinen Ton gesagt, aber er hatte das Gefühl, Lauren war der einzige Mensch im Städtchen, der etwas dagegen hatte, dass er mit anderen Frauen ausging. Oder lag es einfach nur daran, dass sie ihn immer an Claire erinnerte, sobald er sie anblickte?

Joel hatte schnell herausgefunden, dass er mit Suzanne absolut nichts gemeinsam hatte. Mit zweiundzwanzig Jahren war sie viel zu jung für ihn. Um nicht gelangweilt und unhöflich zu erscheinen, hatte er mehr getrunken, als gut für ihn war. Als er sich schließlich in einer peinlichen Fummelei im Dunkeln vor dem Pub wiederfand und Suzanne ihm zuflüsterte, zu ihr könnten sie nicht gehen, weil ihre Eltern zu Hause seien, hatte er sich daran erinnert, dass er das hier wirklich nicht tun sollte. Er hatte eine Entschuldigung gemurmelt und war geflohen. Auf ihr enttäuschtes „Wir sehen uns aber doch wieder oder?“ hatte er gar nicht mehr reagiert, sondern war eiligst den Hügel hinaufmarschiert.

Den Sonntag hatte er mit seiner Mutter verbracht. Über die Frauen in seinem Leben sprach er mit ihr nie. Vermutlich dachte sie sich ihren Teil, aber sie stellte keine Fragen, es sei denn, er brachte das Thema von sich aus auf. Zum Mittagessen hatte er sie und Sam in ein nettes, gemütliches Lokal in Chiverton ausgeführt, wo seine Mutter in einer betreuten Seniorenwohnung lebte. Wie immer war sie ganz hingerissen von ihrem Enkel, und erst gegen Ende des Essens fragte sie ihren Sohn behutsam: „Joel, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still. Ich weiß, die letzte Woche muss schwer für dich gewesen sein.“

„Mir geht’s gut, ehrlich. Sicher ist es schwer, aber wir schaffen das schon, was, Sammy?“ Damit kitzelte er Sam unterm Kinn und ignorierte die Hand, die seine Mutter ihm hinhielt. Während des restlichen Abends vermied er das Thema, und erst als er seine Mum zu Hause absetzte und sich mit einem Kuss verabschiedete, sagte er ihr noch, dass sie sich zu viele Sorgen mache.

Später, als er selbst wieder zu Hause war und Sam bereits in seinem Bettchen lag und schlief, hatte er genügend Zeit zum Grübeln. Während er allein mit seinem Drink auf dem Sofa in dem halb renovierten Wohnzimmer saß und durch die Fernsehkanäle zappte, wusste er, dass seine Mum sich zu Recht Sorgen um ihn machte.

Dieses Haus hing ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Was einst als aufregendes Projekt für ein ganzes Leben gedacht war, war zur Last geworden. Ohne Claire, mit der er die Arbeit teilen konnte, ohne ein Ziel, das sie ihm immer wieder gegeben hatte, war es sinnlos, diesen alten, verwahrlosten Kasten wieder herzurichten. Sein Enthusiasmus war zusammen mit Claire gestorben. Und was den geheimen Garten anging, der ihn so fasziniert hatte, als Claire und er das erste Mal hier gewesen waren … seit Monaten schon war er nicht mehr dort gewesen. Selbst der alte Schreibtisch seines Ur-Urgroßvaters, den er mit dem Haus übernommen hatte, stand unbeachtet in dem kleinen Arbeitszimmer. Eigentlich hatte er ihn liebevoll restaurieren wollen und bereits mit dem Abschleifen begonnen. Jetzt hing Joel in der Luft, konnte weder vor noch zurück. Nein, es ging ihm ganz und gar nicht gut.

Am folgenden Morgen wurde es auch nicht besser. Sam war schlecht gelaunt, und so landete der Frühstücksbrei überall, nur nicht in seinem Mund. Joel waren die Nerven durchgegangen, er war laut geworden, und natürlich hatte Sam sofort zu weinen begonnen. Joel fühlte sich miserabel. Was für ein Rabenvater war er, wenn er seinen siebzehn Monate alten Sohn anbrüllte? Und wie immer in solchen Situationen schoss ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Was würde Claire jetzt tun? Er seufzte schwer, wusch Sam und zog ihn um, und dann fiel ihm auf, dass er selbst auch mit Babybrei beschmiert war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er darauf keine Rücksicht nehmen konnte. Er rannte zum Auto, schnallte Sam im Kindersitz an und fuhr dann wie der Teufel den Hügel hinab zu Laurens Haus.

Er verstand sich gut mit Lauren. Nach Claires Tod hatte sie ihm so viel Kraft gegeben. In der ersten Zeit ohne Claire war sie einer der wenigen Menschen gewesen, die er um sich herum hatte ertragen können. Sie verlangte nichts von ihm, bombardierte ihn nicht mit Fragen, wie es ihm ging und wie er sich fühlte, sondern bot stummen Trost und Hilfe an. Sie konnten zusammen um Claire trauern.

Er war froh, dass sie tagsüber auf Sam aufpasste. Zum Glück hatte dieses Arrangement schon vor Claires Tod bestanden, trotzdem hatte er Lauren gegenüber oft ein schlechtes Gewissen. Es war eine Sache, ständig zu spät zu seiner Ehefrau nach Hause zu kommen, die sich nie beschwerte, doch es war etwas ganz anderes, Laurens Ärger zu spüren, wenn er wieder einmal viel zu spät aus dem Büro weggekommen war. Er tat wirklich sein Bestes, aber mittlerweile fühlte es sich an, als ob er in jedem Bereich seines Lebens nur noch ein Besucher war. Er scherzte schon, dass er die „Hausfrau und Mutter“ im Büro war, die wegen der Kinder früher nach Hause musste. Erst jetzt begann er zu begreifen, wie schwer Claire es gehabt haben musste, als sie wieder angefangen hatte zu arbeiten.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte er, als er Sam in Laurens ausgestreckte Arme übergab. Die Zwillinge lugten hinter ihrem Rücken hervor, beide steckten bereits in ihren Schuluniformen. Wie schaffte Lauren das nur, fragte Joel sich. Sie hatte zwei Kinder, es war nicht einmal acht Uhr morgens, aber die beiden waren gestriegelt und gespornt und bereit für den Tag. Selbst nach einem ganzen Jahr fühlte er sich noch immer unzulänglich, kam noch immer kaum mit den häuslichen Pflichten zurecht.

„Nicht schlimm“, sagte Lauren leichthin, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie verärgert war. Obwohl sie immer mitfühlend und nett zu ihm war, war sie sich nicht zu schade, ihm von Zeit zu Zeit mal den Kopf zurechtzurücken. Bei mehr als nur einer Gelegenheit hatte sie ihn deutlich wissen lassen, dass sie nicht seine Sklavin sei und er endlich mehr Verantwortungsbewusstsein zeigen müsse. „Nur weil Claire es mit dir ausgehalten hat, muss ich mir das noch lange nicht von dir gefallen lassen.“ Nun, gesagt hatte sie das so nie, aber Joel konnte sich bestens vorstellen, wie oft es ihr auf der Zunge lag. Ihm war auch klar, dass er es verdient hätte. Er wusste, um Laurens willen sollte er sich mehr bemühen. Sie ging großartig mit Sam um und füllte die Leere, die Claire hinterlassen hatte, so gut sie konnte. Joel wollte das alles nicht als selbstverständlich ansehen, aber manchmal überwältigte ihn das Leben einfach, und dann lehnte er sich stärker an Laurens Schulter, verließ sich mehr auf sie, als er eigentlich durfte. Lauren liebte Sam fast genauso sehr wie ihre eigenen Kinder. Ja, Joel konnte von Glück sagen, dass er sie hatte.

Mit einem Seufzer drückte Lauren hinter Joel die Tür ins Schloss. Manchmal war dieser Mann so frustrierend, dass es sie halb in den Wahnsinn trieb. Er schien überhaupt kein Zeitgefühl zu haben, das Konzept von Pünktlichkeit war ihm offenbar komplett fremd. Genauso wenig war ihm offensichtlich klar, dass ihr Leben sich keineswegs nur um Sam und ihn drehte. Die meiste Zeit hatte sie größtes Verständnis für ihn, es war schwer, ein Kind alleine großzuziehen. Sie wusste, wovon sie sprach. Aber in letzter Zeit fing es an, sie zu nerven. Ihr war auch nichts geschenkt worden, sie hatte mit zwei kleinen Babys im Arm dagestanden und gar keine andere Wahl gehabt, als zurechtzukommen. Jeder in Heartsease bewunderte Joel dafür, was für ein großartiger Dad er doch sei, und natürlich war er das auch. Aber Lauren wusste von Claire, dass er sie nach Sams Geburt nicht so sehr unterstützt hatte, wie sie es gebraucht hatte. Egal, wie viel Verständnis sie auch für Joel aufbrachte, manchmal konnte sie den Ärger über ihn nicht gänzlich unterdrücken.

„Es ist schwer für ihn“, hatte Claire ihn immer wieder in Schutz genommen. Sosehr Lauren ihre Freundin auch liebte, es regte sie maßlos auf, dass Claire Joel alles nachsah, obwohl Lauren deutlich sehen konnte, dass er Claire nicht genügend unterstützte. Claire. Sie fehlte Lauren so sehr. Noch immer überwältigte sie die Trauer um ihre Freundin ab und zu, es traf sie dann wie ein Schlag in den Magen. Claire hatte sich mit Joels Launen arrangiert, weil sie den Mann geliebt hatte. Vielleicht sollte Lauren versuchen, sich einfach daran zu gewöhnen.

Nur fiel es Lauren extrem schwer, sich damit abzufinden, wie schnell Joel sich nach Claires Tod wieder mit anderen Frauen verabredete. Es kam ihr so vor, als wäre Claire noch nicht einmal unter der Erde gewesen, als sie Joel das erste Mal mit einer anderen Frau im Labourer’s Legs gesehen hatte. Einige Abende in der Woche kellnerte sie dort. Zugegeben, es war Jenny Hunter, die Dorfschlampe, gewesen, und sie hatte sich an ihn herangemacht. Sie war bekannt dafür, dass sie sich jedem an den Hals warf, also traf Joel wohl nicht allein die Schuld. Aber auf Jenny war gleich darauf Mary Stevens gefolgt, die Grundschullehrerin, und dann Kerry Adams, die Apothekerin.

Wüsste Lauren es nicht besser – schließlich hatte Joel sich in der ersten Zeit nach Claires Tod mehr als nur einmal an ihrer Schulter ausgeweint –, würde sie behaupten, dass Claire ihm völlig egal gewesen war. Erst am Samstag hatte sie ihn mit Suzanne Cawston knutschen sehen. Sein Verhalten zerrte wirklich an ihrer Geduld. Claire hätte sich niemals so benommen, wäre die Situation andersherum gewesen. Lauren war wütend, dass Joel so leicht Ersatz für Claire gefunden hatte. Trotzdem war das kein Grund, es zum Bruch mit Joel kommen zu lassen. Sie passte gerne auf Sam auf, und wenn sie ehrlich war, brauchte sie auch das Geld.

Für Joel zu arbeiten lohnte sich also in vieler Hinsicht. Er zahlte ihr einen Aufschlag, wenn er zu spät kam, trotzdem ärgerte es sie, dass er dadurch die Zeit beschnitt, die ihr mit ihren eigenen Mädchen blieb. Außerdem hasste sie den Stress, wenn die Minuten vergingen und sie von vornherein wusste, dass sie (mal wieder!) zu spät zu ihrer Schicht im Pub kommen würde. Es war beinahe so, als müsste man sich mit all den Problemen in einer Ehe herumschlagen, und das ohne den Sex!

„Na komm, Sammy, ein Mal schmusen, bevor wir die Mädchen zur Schule bringen.“ Sam liebte es, gekitzelt zu werden und wenn man schon am frühen Morgen mit ihm spielte. Vielleicht lag es daran, dass Joel nicht wirklich wusste, wie so etwas ging … Aber trotz aller Kritik, die Lauren vorzubringen hatte, konnte sie gleichzeitig auch sehen, wie sehr Joel Sam liebte. Er hatte einfach nur keine Erfahrung damit, sich um ein Kleinkind zu kümmern.

„Vielleicht sollten wir es ihm beibringen, was meinst du?“, sagte Lauren und wurde mit einem breiten Lachen belohnt, als sie den Jungen am Kinn kitzelte. „Zeigen wir deinem dummen Daddy, was er alles verpasst, hm?“

3. KAPITEL

Es war dunkel, genau wie sie es mochte. Kezzie hatte schon vergessen, wie aufregend und berauschend Guerilla-Gärtnern sein konnte. Ein altvertrautes Prickeln lief ihr den Rücken hinunter, während sie hier mitten im Nichts stand. Das Mondlicht war ihre einzige Lichtquelle. Seit sie den geheimen Garten letzte Woche zufällig entdeckt hatte, stand ihr Entschluss fest: Sie wollte dem Besitzer, wer immer das sein mochte, eine Lektion erteilen. Wie konnte man einen so wunderbaren Ort einfach verkommen lassen? Derjenige, dem dieser Garten gehörte, wusste offensichtlich nicht zu schätzen, was er hier hatte.

Sie fand die Eiche, von der sie letztens über die Mauer gesehen hatte. Mit klopfendem Herzen zog sie sich auf den tief hängenden Ast. Kurz hielt sie inne, bevor sie ihre Beine über die Mauer schwang und so leise wie möglich auf die andere Seite der Mauer sprang. In ihrem Rucksack kramte sie nach ihrer Taschenlampe, entschied dann aber, dass sie sie nicht brauchte. Der Mond schien so hell, dass sie die Ränder der einst gepflegten Rabatten deutlich sehen konnte. Jetzt mochte der Garten ja voller Unkraut stehen und überwachsen sein, aber noch immer ließ sich erkennen, dass hier jemand vor langer Zeit viel Liebe und Mühe hineingesteckt hatte.

Auf der gegenüberliegenden Seite war das kunstvoll verzierte Törchen zu sehen und die Stufen, die in den Garten hinabführten. Der Rand der Anlage war ebenfalls zu sehen, auch wenn das Unkraut längst bis auf die Wege gewachsen war. Das Rechteck in der Mitte bestand aus völlig miteinander verwachsenen Efeu und Rosmarin- und Buchspflanzen. Nahe der Stelle, wo sie über die Mauer gesprungen war, stand eine verrostete schmiedeeiserne Bank. Kezzie stellte ihren Rucksack darauf ab und sah sich um. Eine Eule stieß ihren nächtlichen Jagdschrei aus, und irgendwo in der Nähe hörte Kezzie das Heulen von Füchsen. Die Geräusche der Nacht verstärkten den Nervenkitzel, den Kezzie empfand. Fast kam sie sich vor wie Rapunzels Vater, der in der Nacht den Salat für seine Frau stahl. Jeden Moment würde die böse Hexe sie ertappen …

Sie holte ihre Gartenschere, die kleine Handschaufel und das Stechmesser aus ihrem Rucksack. Der Garten war wirklich schrecklich überwachsen, aber es sah so aus, als hätte um die Beete früher einmal eine Begrenzung aus Buchsbaum bestanden, die jetzt halb erstickt wurde. Entschlossen schritt sie mit der Gartenschere zur Tat, schnitt Brombeerranken und Ackerwinden zurück, um dem Buchs wieder Luft und Raum zu verschaffen. Während sie arbeitete, bemühte sie sich, nicht an jene Nacht zu denken, in der sie das Gleiche in London getan hatte – die Nacht, in der sie Richard begegnet war und in der sich ihr Leben von Grund auf geändert hatte. Wäre sie damals nicht durch die eleganten Wohngegenden in Clapham gestreift und hätte in spartanisch-nüchternen Vorgärten Narzissenzwiebeln eingesetzt, dann hätte sie ihn nie getroffen. Er kam gerade von wo auch immer nach Hause und hatte sie des Vandalismus beschuldigt, bis sie ihm verdeutlicht hatte, dass man es wohl kaum Vandalismus nennen konnte, wenn jemand versuchte, etwas zu verschönern.

Wenige Monate später, als die Narzissen blühten, war er wieder auf sie gestoßen. Sie war zurückgekommen, um ihr Werk zu bewundern, und er hatte – wenn auch nur widerwillig – zugeben müssen, dass sie ein karges Stück Boden tatsächlich in eine kleine grüne Insel in der Stadt verwandelt hatte.

„Sie sollten das zu Ihrem Beruf machen“, hatte er gesagt. „Sie scheinen den berühmten grünen Daumen zu haben.“

„Ich habe bereits einen Job“, hatte sie abweisend erwidert. Dass das Entwerfen von Logos für eine Internetfirma ihr absolut keinen Spaß machte, hatte sie vorsichtshalber verschwiegen. Wie sich später herausstellte, war Richard Landschaftsbau- und Gartenarchitekt mit dem Spezialgebiet Gartendesign. Er ermutigte sie dazu, in ihrer Freizeit eine Ausbildung zu machen. So hatte schließlich eines zum anderen geführt, und schon bald hatte sie zugestimmt, mit ihm zusammenzuziehen und ihren Job zu kündigen, sobald sie den Landschaftsbaukurs abgeschlossen hätte. Aber natürlich war nichts planmäßig gelaufen. Ihr wurde gekündigt, bevor sie überhaupt ihr Kündigungsschreiben aufgesetzt hatte, und dann hatte sie auch noch Richard verloren, bevor sie bei ihm einziehen konnte. Dinge waren passiert, die sie nicht erwartet und erst recht nicht geplant hatte …

Richard hatte ihr auf jeden Fall die Augen geöffnet. Er war so ganz anders als ihre bisherigen Freunde. Seit ihrer Teenagerzeit war Kezzie immer wieder an die falschen Typen geraten. Nach einer ebenso kurzen wie desaströsen Episode mit einem kleinen Drogendealer hatte sie den Männern abgeschworen, bis sie dann kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag Richard getroffen hatte.

Es war höchst ungewöhnlich für Kezzie, dass sie mit jemandem ausging, der einen festen Job hatte, noch dazu einen so guten wie Richard mit Ende dreißig. Und als wäre das nicht schon außergewöhnlich genug, hatte Richard nicht nur schon eine zerbrochene Ehe hinter sich („Sie hat mich verlassen. Leider“, hatte er Kezzie irgendwann erklärt und angefügt, dass er alles getan habe, damit die Ehe funktioniert, seine Ex aber entschlossen gewesen sei, weiterzuziehen), sondern auch eine vierzehnjährige Tochter, Emily. Kezzie kannte nicht einmal Leute mit einem Baby, geschweige denn jemanden, dessen Kinder bereits im Teenageralter waren. Die Voraussetzungen waren nicht ideal gewesen. Ihr Desinteresse aneinander beruhte auf Gegenseitigkeit. Dafür jedoch war Kezzie absolut begeistert gewesen von Richards riesigem Loft in der Nähe der Clapham Junction. Es war ihr regelrecht peinlich, Richard in ihre kleine Mietwohnung in Finsbury Park mitzunehmen. Doch ihn schienen ihre unterschiedlichen Lebensumstände nicht im Geringsten zu stören – zumindest hatte es anfangs so ausgesehen. Mit der Zeit wurde jedoch überdeutlich, wie wenig er wirklich von Drogen und übermäßigem Alkoholkonsum auf feuchtfröhlichen Partys hielt. Anfangs hatte er immer nur gesagt: „Weißt du, wir beide, du und ich, wir sind gar nicht so verschieden.“

„Wirklich nicht?“ Sie war skeptisch gewesen, hatte ihn verdutzt angestarrt mit dem blonden, perfekt geschnittenen Haar, dem Armani-Anzug und dem blütenweißen Hemd. „Wir leben in verschiedenen Welten, könnten von verschiedenen Planeten stammen.“

„Inzwischen vielleicht“, sagte er. „Aber ich habe ja nicht immer gutes Geld verdient. Ich mag eine Privatschule besucht haben, aber mein Dad hat sich krumm gearbeitet, um mich dorthin schicken zu können. Er besaß einen Pub. Während meiner ganzen Schulzeit habe ich gelogen und behauptet, er besäße eine Hotelkette.“

Kezzie musste lachen. „Und ich habe jeden angelogen und immer behauptet, ich wäre auf einem hochherrschaftlichen Anwesen aufgewachsen.“

„Siehst du, was ich meine – gar nicht so verschieden.“ Und dann verzog er die Lippen zu diesem jungenhaften schiefen Grinsen, bei dem sie jedes Mal dahinschmolz. „Ich lege keinen Wert auf Statussymbole, sie bedeuten nichts. Wichtig ist nur der Mensch, der du in deinem Inneren bist.“

Tja, und von da an war wohl alles bergab gegangen. Sie hatte sich als vollkommen anderer Mensch entpuppt als der, für den er sie gehalten hatte.

„Nun, das war damals, jetzt ist jetzt“, knurrte Kezzie vor sich hin und setzte ihre Arbeit fort. Dabei bemühte sie sich angestrengt, alle trübsinnigen Gedanken an Richard und das, was hätte sein können, aus ihrem Kopf zu verdrängen.

Je mehr Brombeergestrüpp sie entfernte, desto deutlicher waren die Buchsbäumchen zu erkennen. Allerdings wurde dadurch auch sichtbar, dass sie wirklich völlig aus der Form geraten waren und zerfranst aussahen. Und doch mussten sie einst ein akkurates Muster ergeben haben, das durchflochten wurde von Rosmarin und irgendeiner Efeuart, die sie momentan nicht genau bestimmen konnte.

Was sich wohl noch alles in diesem wunderbaren verwunschenen Garten versteckte? Gleich vom ersten Moment an, als sie auf die alte Eiche geklettert war und einen Blick über die Mauer geworfen hatte, hatte sie sich in den geheimen Garten verliebt. Und so, wie es aussah, würde er ihr schon bald ein paar seiner Geheimnisse verraten.

Je mehr sie das Beet von Unkraut befreite, desto aufgeregter wurde sie. Ja, Buchs, Efeu und Rosmarin bildeten definitiv ein zusammenhängendes Muster. Endlich hatte sie genug freigelegt, dass sie die Form eines Herzens erkennen konnte.

Jäh wurde ihr bewusst, was hier vor ihr lag. Sie hatten dieses Design im Kurs durchgenommen … „Das ist ein Knotengarten“, entfuhr es ihr überrascht. „Das ist ja fantastisch!“

Ein Scheinwerfer flammte auf, Lichtstrahlen fielen durch das schmiedeeiserne Tor. Kezzie wandte sich zum Haus um und sah verblüfft, dass hinter den Fenstern Licht brannte, in dem Haus, das sie letzte Woche noch für unbewohnt gehalten hatte. Der Strahl einer Taschenlampe kam den Hügel herunter in ihre Richtung. Mist. Natürlich war ihr klar gewesen, dass dieses Haus irgendjemandem gehören musste, nur hatte es einen so verfallenen Eindruck gemacht, dass sie davon ausgegangen war, es würde leer stehen. Das war wohl ein Irrtum gewesen. Eilig sammelte sie ihre Werkzeuge ein, verstaute sie hektisch im Rucksack und warf ihn über die Mauer. Sie griff gerade nach dem Ast, um selbst über die Mauer zu klettern, als …

„Was, zum Teufel, treiben Sie in meinem Garten?“, ließ eine männliche und höchst attraktive Stimme sie innehalten.

„Äh …“ Plötzlich kam Kezzie sich schrecklich dumm vor. Vermutlich hatte man hier in dieser abgelegenen Ecke von Sussex keinen Schimmer, dass es so etwas wie Guerilla-Gärtnern überhaupt gab.

Joel hielt den Strahl seiner Taschenlampe direkt auf das Gesicht der zierlichen Frau gerichtet – einer sehr hübschen Frau, wie er sich unwillig eingestand. Sie hatte kurzes dunkles Haar und ein regelrechtes Elfengesicht, und sie trug viel zu große dunkle Tarnkleidung, was sie wie eine kleine Lumpenpuppe aussehen ließ. Als er sie mit der Taschenlampe anleuchtete, ließ sie den Ast los und sprang wieder auf die Füße zurück.

„Ich wusste nicht, dass der Garten zu Ihrem Haus gehört“, hob sie zu einer Erklärung an. „Ich kam an der Mauer vorbei und wurde neugierig, was dahinter lag, also bin ich auf die Eiche geklettert und habe Ihren Garten hier entdeckt. Ich fand, er sah vernachlässigt aus.“

„Aha. Also dachten Sie sich, Sie bringen das in Ordnung?“, erwiderte Joel beißend. „Was, wenn er mir genau so gefällt, wie er ist?“

„Wie kann er Ihnen so gefallen? All die wunderschönen Pflanzen werden von Ackerwinden und Brombeeren erstickt. So etwas ist kriminelle Vernachlässigung. Dieser Garten hat es verdient, wieder zu neuem Leben erweckt zu werden. Wäre es meiner, würde ich es auf jeden Fall tun.“

„Nun, es ist aber nicht Ihr Garten, oder?“ Joel mochte es nicht, dass diese Fremde ihm sagte, wie er mit seinem Garten umzugehen hatte. „Und somit geht es Sie auch überhaupt nichts an. Ich werde Sie jetzt wohl bitten müssen, zu gehen.“

„Sie haben recht, es ist nicht mein Garten.“ Die Fremde sah zerknirscht drein. „Entschuldigen Sie, aber manchmal geht es mit mir durch. Ich sah Ihren Garten und dachte, dass niemand in dem alten Haus lebt. Der Garten sah so traurig und verwahrlost aus, ich wollte einfach nur helfen.“

Traurig und verwahrlost – ja, da hatte sie recht. „Nun, ich arbeite daran.“

„Sieht mir nicht danach aus, als wären hier große Fortschritte gemacht worden“, lautete das Urteil der Fremden.

„Ich habe viel zu tun“, verteidigte sich Joel. „Habe einen Vollzeitjob und muss meinen kleinen Sohn allein aufziehen. Ein Tag hat eben nur vierundzwanzig Stunden. Auch, wenn Sie das eigentlich nichts angeht.“

Was, zum Teufel, tat er hier? Plauderte locker mit diesem Mädchen! Eigentlich sollte er die Polizei verständigen.

„Oh.“ Zum ersten Mal, seit er sie gesehen hatte, schien er die fremde Frau tatsächlich aus dem Konzept gebracht zu haben. „Tut mir leid, das wusste ich nicht.“

„Nein, natürlich nicht, woher auch?“, meinte Joel. „Und es geht Sie auch wirklich nichts an, was ich mit meinem Garten mache oder nicht. Ich werde jetzt die Polizei rufen.“

„Nein, bitte nicht“, warf sie hastig ein. „Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich etwas zerstört. Ich wollte das Beet und die Wege wirklich nur in Ordnung bringen. Kommen Sie, sehen Sie sich an, was ich bisher schon geschafft habe.“

Joel gab sich alle Mühe, streng auszusehen – vergeblich. Was sollte er der Polizei auch schon sagen? „Jemand ist unerlaubterweise auf mein Grundstück gestiegen, um Unkraut zu jäten und meinen Garten zu verschönern“? Gegen seinen Willen faszinierte ihn die fremde nächtliche Gärtnerin, die urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. „Na gut“, stimmte er zu. „Dann zeigen Sie es mir.“

Aus irgendeiner Tasche holte sie eine Taschenlampe hervor und leuchtete mit dem Lichtstrahl in die äußerste Ecke. „Sehen Sie, ich habe das Brombeergestrüpp geschnitten und Unkraut gerupft. Schauen Sie nur, was ich bis jetzt freigelegt habe.“

Sie ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über das Quadrat voll wuchernder Pflanzen gleiten. „Ich denke, das hier ist ein Teil eines Knotengartens.“ Die Augen der jungen Frau leuchteten begeistert. „Wussten Sie, dass hier so etwas liegt?“

„Ja“, antwortete Joel prompt. „Dieses Haus gehörte meinem Ur-Urgroßvater, Edward Handford. Im neunzehnten Jahrhundert war er ein nicht ganz unbekannter Gartenarchitekt. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat er seiner Frau Lily einen Knotengarten zur Hochzeit geschenkt.“

„Edward Handford? Von dem habe ich schon gehört“, sagte Kezzie. „War er nicht von Gertrude Jekyll beeinflusst? In einem Artikel, den ich kürzlich gelesen habe, wird sein Name im Zusammenhang mit elisabethanischen Knotengärten erwähnt. Ist das hier etwa der besagte Garten?“

„Ich denke, schon.“ Joel war verdattert, dass eine komplett fremde Frau seinen Ur-Urgroßvater kennen sollte. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Er hatte vorgehabt, seine Mum nach der Familiengeschichte zu befragen, wenn er erst hier lebte. Als Junge hatte die Geschichte von dem geheimen Garten ihn fasziniert, für ihn war es immer ein „verwunschener Garten“ gewesen. Aber dann war Sam geboren worden und Claire gestorben, und wie so viele Dinge in seinem Leben hatte auch das an Bedeutung verloren. Jetzt hatte diese bizarre nächtliche Besucherin erneut sein Interesse dafür geweckt. Das nächste Mal, wenn er seine Mum sah, würde er sie nach Edward fragen.

„Oh, was für eine wunderschöne und rührende Geschichte“, sagte die Frau jetzt. „Und wie tragisch, dass der Garten nicht mehr gepflegt wird. Wäre es nicht toll, ihn wieder in Ordnung zu bringen?“

„Und haben Sie einen Vorschlag, wie das zu bewerkstelligen ist?“ Joel ließ sich ein wenig von ihrem Enthusiasmus mitreißen. „Verstehen Sie etwas davon?“

„Ich mache mich gerade als Landschaftsgärtner selbstständig“, erwiderte sie.

„Hat Ihnen eigentlich niemand gesagt, dass Landschaftsgärtner normalerweise tagsüber arbeiten? Und übrigens … sie reden auch mit den Eigentümern und erkundigen sich nach den Wünschen der potenziellen Auftraggeber, bevor sie mit der Arbeit beginnen.“

„Nun … ja, natürlich, aber das hier … das ist sozusagen eine kleine Nebentätigkeit“, rechtfertigte sich die Frau. „In London hatte ich mit dem Guerilla-Gärtnern angefangen, und dann schlug jemand vor, ich könnte mit Gartenarbeit und Landschaftsbau meinen Lebensunterhalt verdienen.“

„Was bringt Sie dann hierher?“ Joels Neugier gewann die Oberhand.

„Das ist eine lange und vor allem langweilige Geschichte“, tat sie ab. „Aber Ihr Garten hier … der ist wirklich etwas ganz Besonderes. Ernsthaft, Sie sollten etwas unternehmen.“

„Ich weiß“, stimmte Joel zu. „Es ist schade, dass der Garten so verwahrlost ist. Eigentlich wollte ich mich schon seit meinem Einzug darum kümmern.“

„Was hält Sie dann noch auf?“, fragte seine seltsame Gärtnerin.

„Zeit und Geld.“ Er ignorierte bewusst die Stimme in seinem Kopf, die sagte: Du wolltest es so unbedingt, weißt du nicht mehr? „Beides fehlt mir.“

„Haben Sie schon mal daran gedacht, ob Sie nicht staatliche Förderung beantragen wollen? Organisationen für Denkmal- und Naturschutz, wie der National Trust oder die Royal Horticultural Society, sponsern so etwas doch bestimmt.“

„Die Idee hatte ich tatsächlich noch nicht“, gab Joel zu. Weil ich seit Claires Tod nicht mehr weiter als bis zu meiner Nasenspitze gesehen habe, schoss es ihm durch den Kopf. Alle Träume und Hoffnungen, die er für die Zukunft dieses Hauses und der Gärten gehabt hatte, waren mit ihr zusammen gestorben.

„Wieso nicht?“

„Um Ihre Worte zu nutzen … eine lange und langweilige Geschichte.“ Verdutzt stellte Joel fest, dass das Interesse an diesem Garten tatsächlich wieder in ihm aufflammte. „Das Einzige, was mich davon abhält, hier etwas zu unternehmen, bin ich selbst. Vielleicht haben Sie recht … Es wird höchste Zeit, weiterzumachen.“

Lauren hatte die Kinder zu Bett gebracht, jetzt stand sie in der Küche und backte Muffins, als es an die Hintertür klopfte.

„Oh, hi, Eileen. Komm doch herein.“

„Irgendwas duftet hier ganz wunderbar.“ Eileen schnupperte, als sie eintrat.

„Muffins“, antwortete Lauren als Erklärung. „Ich backe doch so gern, es entspannt mich immer. Und wenn die Kinder im Bett sind, dann tue ich mir eben etwas Gutes. Bitte, setz dich doch.“ Eilig schaffte sie Platz, räumte die Teigschüssel weg und wischte die Krümel von dem alten Holztisch, an dem sie so gern kochte. Die Küche war gemütlich, aber der Tisch war praktisch die einzige Arbeitsfläche hier. „Ich setze frischen Kaffee für uns auf.“

Lauren holte die kleine Kaffeemaschine und ihren kenianischen Lieblingskaffee aus dem Schrank, während Eileen es sich bequem machte.

„Ich weiß, bis dahin ist es noch eine ganze Weile“, begann Eileen, „aber vielleicht hast du bereits gehört, dass ich vom Gemeinderat gewählt wurde, mich um die Organisation unseres nächsten Sommerfestes zu kümmern.“

„Erzähl weiter.“ Sofort wurde Lauren misstrauisch. Während der Kindergartenjahre der Mädchen hatte sie das Komitee praktisch allein gemanagt, und als die beiden schließlich alt genug für die Schule waren, hatte sie sich knietief in der Organisation von Weihnachtsbasaren, Kochwettbewerben und Ähnlichem wiedergefunden. Und jetzt … Izzie und Immie waren kaum ein paar Tage in der Schule, und schon wollte man wieder den kleinen Finger von ihr haben, um ihr dann den ganzen Arm auszureißen. Scheinbar schien jeder hier zu denken, dass sie, nur weil sie mit zwei kleinen Mädchen zu Hause blieb und nicht jeden Tag von morgens bis abends in irgendein Büro ging, sonst nichts zu tun und genug Zeit hatte, um irgendwelche Gemeinde- oder Wohltätigkeitsveranstaltungen zu organisieren.

„Ich weiß, du bist beschäftigt“, fuhr Eileen fort, „aber ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen. Nächstes Jahr steht Edward Handfords einhundertvierzigster Geburtstag bevor, und den wollen wir auf jeden Fall richtig groß feiern. Er hat so viel für den Ort getan, hat uns den Gedenkgarten gestiftet und das Schulgebäude … und es gibt auch so noch viele Projekte, die wir unterstützen wollen. Ehrlich gesagt war unser letztes Sommerfest ja eine ziemliche Katastrophe, und der Gemeinderat möchte unter allen Umständen vermeiden, dass das noch einmal passiert.“

„Oh, du meinst, es ist also doch aufgefallen, dass Andy mehr von seinen Fruchtcocktails getrunken als serviert hat?“ Lauren grinste. Es hatte für allgemeine Belustigung gesorgt, als ihr Boss, der Pubbesitzer, vor den Augen des halben Städtchens wie eine gefällte Eiche umgekippt war.

„Das ist ja nur ein Teil der Geschichte“, meinte Eileen. „Dank Cynthia Green, die uns diesen Langweiler von Radio Chiverton beschafft hatte, wurde es die längste und trockenste Eröffnungsrede, die wohl jemals irgendwo gehalten wurde. Außerdem boten die Stände absolut nichts Interessantes, und das Wetter war so miserabel, dass wir kaum etwas eingenommen haben. Das Problem ist eben, dass niemand sich etwas traut. Wir müssen klotzen, nicht kleckern, wenn wir wirklich Geld einnehmen wollen. Deshalb hat Tony Symonds, der dieses Jahr den Vorsitz übernommen hat, auch vorgeschlagen, dass wir alle uns etwas überlegen sollten, um das Ganze aufzupeppen. Er hat mich um meine Hilfe gebeten.“

„Und wo komme ich ins Spiel?“, fragte Lauren. „Ich habe wirklich nicht viel Zeit.“

„Das weiß ich“, beschwichtigte Eileen. „Aber wir könnten frischen Wind gebrauchen, und da eines der Restaurierungsprojekte, die wir ins Auge gefasst haben, der Gedenkgarten mit seinem Kinderspielplatz ist, dachte ich mir, dass eine Mutter wie du genau die richtigen Ideen hat, was alles gebraucht wird.“

„Das ist ja Erpressung!“ Dennoch lachte Lauren.

„Ist mir klar, aber … könntest du vielleicht trotzdem helfen? Bitte, das wäre toll.“

„Schon gut, schon gut“, meinte Lauren. „Ich werde sehen, ob ich Joel Lyle nicht auch dafür gewinnen kann. Du weißt doch, dass Edward Handford sein Ur-Urgroßvater war, nicht wahr? Joel hatte so oder so vor, den Garten auf Lovelace Cottage wieder instand zu setzen, als Claire und er dort einzogen, aber bisher ist er wohl noch nicht dazu gekommen.“

„Wie dumm von mir, natürlich!“, rief Eileen aus. „Da habe ich in der Vergangenheit gestöbert und mich ein wenig über die Geschichte des Städtchens schlaugemacht, aber auf die Verbindung bin ich nicht gekommen. Edwards Geschichte hat mich fasziniert … Er hat den Garten für seine Frau entworfen, als sie heirateten. Ich würde mir das zu gern mal ansehen.“

„Einmal habe ich einen Blick darauf werfen können, aber eigentlich war nur Unkraut zu sehen“, erzählte Lauren. „Ich denke, es wird eine ganze Menge Arbeit nötig werden.“

„Hm …“ Eileen wurde nachdenklich. „Ich überlege gerade, was Joel wohl von dem Vorschlag halten würde, dass wir ihm helfen, den Garten wieder in Schuss zu bringen.“

„Joel ist nicht gerade ein Vereinsmensch“, gab Lauren zu bedenken, „und seit Claire nicht mehr lebt, scheint er den Ansporn für die Arbeiten an Haus und Gärten verloren zu haben. Ich bin mir nicht sicher, ob er Hilfe akzeptieren wird, aber es kann ja nichts schaden, ihn zu fragen.“

4. KAPITEL

Kezzie steckte den Kopf zum Schlafzimmerfenster hinaus. Erneut war sie vom Konzert des Morgenchors aufgeweckt worden. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, dass sie das Gezwitscher der Vögel hören konnte, in London wäre das Getschilpe in der betriebsamen Hektik der Stadt untergegangen. Abgesehen von dem Lärm der Tierwelt da draußen war es hier auf dem Land natürlich viel ruhiger, so ruhig, dass es sie manchmal verrückt machte. Aber sie liebte das Cottage hier, das den Charakter ihrer lebenslustigen und leicht exzentrischen Tante widerspiegelte. Überall standen die teils recht skurrilen Souvenirs, die Tante Jo von ihren vielen Reisen um die Welt mitgebracht hatte. Ja, Kezzie war Jo für deren spontane Großzügigkeit sehr dankbar. Ihr war es gar nicht in den Sinn gekommen, jemanden um Hilfe zu bitten, schließlich war ihr klar, dass sie von ihren Eltern keine zu erwarten hatte. Die beiden saßen in ihrem geliebten Altersruhesitz in Spanien.

Nur dank Jo fand Kezzie sich jetzt also im grabesstillen ländlichen Sussex wieder. Das Positive daran war, dass sie die Ruhe als tröstlich empfand, sie genoss es, so naturverbunden zu leben. Der Nachteil war, dass sie hier niemanden kannte. Sie hatte in London bereits einige Kontakte geknüpft, um sich mit dem Garten- und Landschaftsbau selbstständig zu machen. Die waren jetzt meilenweit weg, in einer anderen Welt. Wie gesagt, mit der Abfindung der Website-Firma nach der Kündigung konnte sie sich einige Zeit über Wasser halten, und sie hatte auch schon einen Auftrag für Webdesign ergattert, so dass es nicht wirklich dringend war, eine Beschäftigung als Gärtnerin zu finden. Trotzdem sollte sie sich damit besser nicht zu viel Zeit lassen. Und so hatte sie für heute geplant, sich an die Arbeit zu machen und die nächsten Schritte für ihre Zukunft zu planen.

Sie zog sich an, frühstückte in Jos Küche und blickte dabei in den Garten hinaus. Sie liebte diesen Raum, in dem als Prunkstück ein riesiger alter Aga-Herd stand. Blasses Gelb und warmes Orange schufen eine gemütliche und fröhliche Atmosphäre, die Küche schien Dreh- und Angelpunkt in dem Cottage zu sein, und hier hielt Kezzie sich auch am liebsten auf.

Es war ein wunderschöner goldener Oktobermorgen, und in dem Weißdornbusch auf dem Nachbargrundstück schienen die Vögel eine wilde Party zu feiern, bei dem Lärm, den sie in den Zweigen veranstalteten. Bisher hatte Kezzie noch nicht länger mit ihrer Nachbarin gesprochen, hatte immer nur ein freundliches Hallo über die Hecke in Richtung der jungen Frau mit dem blonden Haar hinübergerufen. Sie sah immer abgehetzt aus, wenn sie morgens mit dem Buggy loszog, in dem ein kleiner Junge saß und an dem sich rechts und links je ein Zwillingsmädchen festhielt. Du meine Güte. Drei kleine Kinder, und die Gute sah aus, als hätte sie gerade erst die Schule beendet. Kezzie schickte ein Dankgebet zum Himmel. Diesen Fehler hatte sie zumindest nicht begangen. Ihr hatte es schon gereicht, als sie hörte, dass Richard eine Tochter hatte. Sie hatte eigentlich nie vorgehabt, die Stiefmutter für Emily zu spielen, was Richard offensichtlich sehr enttäuscht hatte.

„Früher oder später musst du erwachsen werden, Kez“, hatte er gesagt, aber sie hatte nur gelacht und erwidert: „Ich sehe keinen Grund, weshalb ich das müsste.“ Inzwischen war sie sich da nicht mehr so sicher.

Sie hatte zu Ende gefrühstückt und zog die Hintertür auf, um die Krümel ihres Toasts auf der Handfläche zu dem Futterhäuschen neben der Hecke zu tragen. Die munteren Flieger, die sie heute Morgen aufgeweckt hatten, tummelten sich darin. Anschließend ging sie wieder ins Haus und setzte sich an ihren Laptop. Sie hatte so viel zu erledigen – neue Aufträge suchen, ihrer Website den richtigen Feinschliff verpassen, einen Anzeigentext für die Annonce aufsetzen, die sie in der Lokalzeitung schalten wollte … und doch fand sie dafür nicht die Disziplin in sich. Dieser Garten, in den sie gestern Nacht eingedrungen war, hatte sie so fasziniert und beschäftigte ihre Gedanken derart, dass sie erst einmal mehr darüber herausfinden wollte.

Sie gab „Lovelace Cottage“ in die Suchmaschine ein, und ein paar Ergebnisse erschienen auf dem Bildschirm, doch es war nichts wirklich Konkretes dabei. Also versuchte sie es mit einem anderen Suchbegriff und tippte „Edward Handford“ ein. Prompt erschien der Wikipedia-Artikel auf dem Monitor.

Edward Handford (1871-1955). Wenig bekannter spätviktorianischer Botaniker und Gartendesigner. Stark beeinflusst durch die Arbeiten von Gertrude Jekyll und Edward Lutyens, entwickelte er dennoch seinen eigenen Stil.

Seine bekannteste Arbeit ist die Gestaltung des Parks von Hillcrest Manor, des herrschaftlichen Anwesens der de-Lacey-Familie in Nottinghamshire. Des Weiteren wird er für seinen Knotengarten gerühmt, den er 1892 als Hochzeitsgeschenk für seine Frau Lily entwarf. Viel mehr ist darüber leider nicht bekannt …

Es gab noch ein paar spärliche Informationen über sein weiteres Wirken und die Erwähnung, dass er in jungen Jahren Expeditionen nach Indien unternommen hatte, um neue exotische Pflanzen zu entdecken, aber kein weiteres Wort mehr über Joels Garten. Kezzie hatte gehofft, vielleicht eine Zeichnung des ursprünglichen Plans zu finden, aber sie wurde enttäuscht. Vielleicht wusste Joel ja mehr über diesen Garten. Wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, würde sie ihn fragen.

„Hast du eigentlich schon unsere neue Nachbarin getroffen?“, grüßte Lauren ohne Einleitung, als Joel am Morgen herüberkam, um Sam bei ihr abzusetzen.

„Welche neue Nachbarin?“ Er gähnte erst einmal ausgiebig. Nach der nächtlichen Begegnung im Mondlicht hatte er seltsamerweise kaum noch Schlaf finden können.

„Sie ist Jo Knights Nichte. Sie ist gerade erst in Jos Cottage angekommen“, berichtete Lauren. „Sehr hübsch. Wohnt nur ein Stückchen die Straße hinunter, gleich in deiner Nähe.“

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