Des Königs bester Mann

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Obwohl er ihr Ärgster Feind ist, handelt Rosalind Barlow ausgesprochen ehrenhaft. Sie rettet Lord Nicholas Spencer, dessen Schiff vor der Küste ihres Dorfes kenterte, und nimmt den engen Vertrauten von Heinrich VIII. in ihrem Haus auf. Liebevoll pflegt sie den schwarzgelockten Adligen gesund, obwohl sie weiß, wie gefährlich er ihr werden kann. Rosalind hat ihr Herz an den Mann, der sie gefangen nehmen soll, verloren ...


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765040
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

22. September 1539, in der Küstenstadt Deal, England

Ruhe jetzt, alle!" flüsterte die zierliche Person. "Percy ist heute Abend in der Stadt, und ich möchte nicht, dass wir ihm in die Falle gehen! Bringt schnell die Waren in Sicherheit!"

Sieben stämmige Männer, die Schultern tief gebeugt unter ihren Lasten, beeilten sich, dem Befehl zu gehorchen. Innerhalb einer Viertelstunde waren Kisten, Fässer und Bündel vom Strand verschwunden und in dem dunklen, verborgenen Geheimgang verstaut. Selbst bei Tageslicht war sein Eingang hinter dem Gestrüpp in der kleinen Senke, die sich am Ende des Gartens des einzigen Gasthofes der Stadt erstreckte, nicht zu entdecken. Im Innern des Tunnels entzündete der Anführer eine Laterne und wies die Stellen an, wo die Waren gestapelt werden sollten. Bald darauf erschien ein hagerer Mann mit der Nachhut und bahnte sich einen Weg durch die Enge.

"Sacre bleu! Du bist die einzige Frau mit dem Mut eines Löwen, die ich kenne, Rosalind!" Er ging zum Französischen über, da er wusste, dass seine Gesprächspartnerin die Einzige aus der Schar war, die ein wenig seine Muttersprache beherrschte. "So zart und charmant, und doch ein so vorzüglicher Feldherr für unser kühnes Unternehmen! Wer anders als du würde es wagen, direkt unter der Nase des Zolleinnehmers ein ganzes Lager französischer Waren zu verstecken! Oh, ich bewundere dich!"

"Nun, mein Freund Pierre", erwiderte Rosalind mit strengem Ton, "ich habe dir doch gesagt, dass wir Freunde sind, und nicht mehr." Sie schüttelte warnend den Kopf, der unter einer Kapuze verborgen war.

"Was will der denn?" Ein groß gewachsener Mann mit hängenden Schultern trat näher. "Etwa mehr Wolle oder bessere Bezahlung für seine Sachen hier?"

"Nein, nein, Wat, alles ist in Ordnung. Er machte uns nur Komplimente, dass wir es wagen, vor den Augen von Master Putnam unseren Handel zu treiben."

Wat schnaubte verächtlich. "Haben keine andere Wahl, Pierre. Außerdem, wir fürchten uns nicht vor Putnam, diesem Wichtigtuer. Nur die große Burg unten am Strand, die König Heinrich bauen lässt für den Fall, dass ihr Franzosen uns überfallen wollt, die stört uns. Man sagt, Seine hohe und mächtige Majestät werden vielleicht einen Lord Lieutenant herschicken, um uns zu überwachen. Das fehlte uns noch, dass der hier herumschnüffelt."

"Wir werden schon fertig werden damit, wenn es so weit ist, nicht wahr, meine Liebe?"

Rosalind wandte sich lächelnd den Männern zu. Dabei glitt die Kapuze herab und enthüllte ihr blondes Haar, das im Licht der Laterne glänzte wie pures Gold.

Mit dem Versprechen, dem König selbst und jedem seiner Vasallen ein Schnippchen zu schlagen, verabschiedete sich die Schar und kroch vorsichtig aus dem Versteck. Doch als Rosalind ihren Leuten folgen wollte, packte der Franzose sie am Handgelenk.

"Sei auf der Hut, Rosalind." Kaum hörbar kamen die Worte von seinen Lippen. "Wenn in den vergangenen drei Jahren auch alles vortrefflich für uns gelaufen ist, könnte ein gerissener Gefolgsmann des Königs das Ende für uns bedeuten."

"Ich versichere dir, Pierre, dass ich dem zu begegnen wüsste. Kein hochmütiger Lord Lieutenant, den König Heinrich, der Schreckliche, uns schickt, wird je den Sieg über mich davontragen!"

Im Übrigen wusste sie nur zu gut, dass sie den Handel ohnehin nicht aufgeben konnten. Dieser heimliche Warenaustausch bedeutete Leben oder Tod für den kleinen Fischerort Deal. Manche nannten es Schmuggel, aber der Gewinn daraus füllte ihnen weder Truhen noch Beutel. Voll gestopfte Truhen und fette Geldkatzen kannte man in Deal nicht. Ohne Marktrecht war der verbotene Handel in diesen schweren Zeiten eine Frage des Überlebens für den geplagten kleinen Ort. Aber aus sehr schmerzlichen persönlichen Gründen war der Schmuggel gleichzeitig Rosalinds Auflehnung gegen den habgierigen, verhassten Monarchen Heinrich VIII. Sie, Rosalind Barlow, die Wirtin des Gasthofes "Rose und Anker", war die treibende Kraft hinter den geheimnisvollen Aktivitäten der Schmugglerbande.

Seit dem Tode ihres Vaters und ihres Ehemannes waren die Lebensumstände sehr schwierig für sie geworden. Zwar mühte sie sich redlich ab, um alles im Griff zu behalten, bei Tag den Gasthof und in so mancher Nacht die heimlichen Handelsgeschäfte. Der Besuch von Percy Putnam, dem königlichen Steuerund Schankkonzessionseintreiber, hatte sie zu größerer Vorsicht gezwungen, wie freundlich er auch immer zu ihr war. So holten sie ihre Waren jetzt nicht mehr von dem weit entfernten Hafen Le Havre, sondern aus der nahe gelegenen Stadt Boulogne-sur-Mer, nur 30 Meilen über den Ärmelkanal. Auf diese Weise konnten sie die Ladung bei einem kurzen Besuch in Frankreich beschaffen und waren dabei nicht länger unterwegs, als sich im Allgemeinen Fischer auf See befanden. Doch wenn Pierre, ihr Mittelsmann auf beiden Seiten, die Güter selbst anlieferte, war es natürlich noch einfacher. Das bedeutete aber nicht, dass Rosalind bereit gewesen wäre, mehr in ihm zu sehen als einen guten Freund – weder in ihm noch in irgendeinem anderen Mann, seitdem sie ihren geliebten Murray verloren hatte.

"Dann werde ich mich also auf den Weg machen." Pierre beugte sich über ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Er sah ein, dass jeder weitere Versuch selbst in dieser abgeschiedenen, lichtlosen Umgebung aussichtslos sein würde. "Ich bleibe … in Verbindung mit dir, liebe Rosalind", sagte er lächelnd und wandte sich zum Gehen. Zum Abschied rief er ihr das Losungswort, einen alten törichten Kinderreim, über die Schulter zu. "Ring-a-ring of rosies."

"Pocket full of posies", erwiderte Rosalind. Sein leises Lachen erreichte sie, noch ehe er am Ende des geheimen Ganges in pechschwarzer Nacht untertauchte.

Rosalind schaute noch einmal zurück, um sicher zu sein, dass die Männer das Buschwerk vor dem Eingang wieder geschlossen hatten. Sie wusste, dass Wat und Alf im Tal und am Strand alle Spuren sorgfältig verwischen würden, sobald Pierre und seine Leute das Land verlassen hatten. Dann ging Rosalind wieder tiefer hinein in den Höhlengang, die verhängte kleine Laterne in der Hand. Die junge Frau war erschöpft, aber dennoch sehr befriedigt über den reibungslosen Ablauf. Das half ihr, all ihre Sehnsüchte zu vergessen, die Gedanken an Rache und ungezählte schlaflose Nächte.

Beim Umschauen bemerkte sie, dass sich die Leinwandhülle um einen Ballen von scharlachrotem Seidenstoff gelöst hatte. Sorgfältig stopfte sie ihn wieder in den Ballen, so gut es ging. Nichts durfte beschädigt werden, bevor in der nächsten Nacht ein Packzug Maultiere mit umwickelten Hufen all die Dinge zum Verkauf fortbrachte.

Vorsichtig strich Rosalind über ein noch hervorlugendes Stück des feinen Stoffes. Wie aufregend musste es sein, ein Gewand aus solch kostbarem Material zu tragen! Sie stellte sich vor, es zu einem Ball anzulegen oder einem Festmahl, bei dem sich die Tafel unter der Last der Speisen bog. Sie wünschte sich, damit zu Hofe zu fahren, um dem schrecklichen König Heinrich zu sagen, was sie von ihm dachte und von dem Unglück, das er über sie alle gebracht hatte.

Mit einem heftigen Kopfschütteln befreite sie sich von diesen törichten Fantastereien. Mistress Rosalind Barlow führte ihren Krieg in Deal und nicht bei Hofe. Sie stieß den Ballen mit dem Fuß beiseite, als wäre er der König selbst. Verflucht sei Heinrich VIII. von England für das, was er ihr angetan hatte und ganz Deal! Und verflucht sei jeder gemeine, niederträchtige, widerwärtige Vasall des Königs, der ihm diente.

Mit Tränen in den Augen wandte sich Rosalind zu der Leiter, die zu einer in ihrem Schlafzimmer verborgenen Falltür führte, löschte das Licht der Laterne und begann emporzuklettern.

1. KAPITEL

Nicholas Spencer liebte sanfte Frauen, die lieblich, wohlgestaltet und vor allem fügsam waren. Just in diesem Augenblick hielten drei angehende Hofdamen nach ihm Ausschau. Man konnte nicht sagen, dass sie sich besonders zurückhaltend benahmen, aber sie erregten sein Wohlgefallen in hohem Maße.

"Lord Spencer!" riefen sie ihm von dem Uferweg entlang der Themse zu. Nicholas nickte ihnen galant zu, als er unter dem schattigen Sonnensegel der königlichen Barke hervortrat und geschmeidig ans Ufer sprang.

"Wir haben Euch schmerzlich vermisst! Wo hattet Ihr Euch versteckt, Ihr böser Bube!" rief eine von ihnen und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Sie winkten ihm zu, und die hellen Schleier, die von ihren eng anliegenden, reich bestickten Hauben im italienischen Stil herabhingen, bewegten sich in der leichten Brise, die vom Fluss herüberwehte.

Nick erinnerte sich nicht an ihre Namen, erkannte in ihnen jedoch die jüngst eingetroffenen Neuankömmlinge. Die Blonde hatte für kurze Zeit das Lager des rastlosen Königs geteilt. Einmal, so erinnerte sich Nick, hatte er die Einladung der Damen, sie zu begleiten, nicht abschlagen können. Heute aber hatte er anderes im Sinn, hing doch seine Zukunft gleichsam in der Schwebe, und so winkte er lediglich zurück, während er den Kiesweg hinauf zu dem weitläufigen Backsteinbau des Palastes von Whitehall schritt.

Wenn Seine Majestät König Heinrich VIII. befahl, war Nick sofort zur Stelle. Seit seinem neunten Lebensjahr, als der Monarch ihn in seine Obhut genommen hatte, hatte sich Nicholas Spencer ausschließlich den Anliegen des betriebsamen Tudor-Herrschers geweiht.

Aus diesem Grunde verbrachte Nick nur wenig Zeit in seinem eigenen Hause flussaufwärts in Greenwich. Diesmal hatte ihn der König bereits nach zwei Tagen wieder zurückbeordert. Dabei war Nick erst vor einem Monat von einer Mission aus der französischen Hafenstadt Calais zurückgekehrt, die von den Engländern besetzt und daher von größter Wichtigkeit war. Von Frankreich und Spanien drohten derzeit tief greifende Gefahren, und er hatte geahnt, dass seines Bleibens nicht lange sein würde und der König wieder seiner bedurfte.

Nicholas verlängerte die Schritte, als er die großen Gärten des Königs durchmaß und die Wache am Flusstor des Palastes passierte. Dann eilte er die halbdunklen Korridore entlang zum Empfangssaal, wo Höflinge auf eine Audienz warteten, obwohl zweifellos die wenigsten den König selbst zu Gesicht bekommen würden, sondern den mächtigen Großkämmerer Thomas Cromwell.

Schließlich betrat Nick den holzgetäfelten Audienzsaal und nickte den farbenprächtig gekleideten Hauptleuten, die dort Wache hielten, freundlich zu. In diesem Augenblick erschien Cromwell höchstpersönlich. Bei seinem Anblick musste Nick immer an einen schwarzen Raben denken, der am liebsten alles und jeden in seinen Krallen gehalten hätte. Cromwells scharfe dunkle Augen musterten Nick. Er hob leicht den Kopf. Eine Schar von Gehilfen und Lakaien hinter sich, eilte er durch den Raum und rief Nick zu: "Spencer! Sein Bein bereitet ihm Schmerzen. Er ist angestrengt und überlastet, beschimpft alle. Behandelt ihn mit Vorsicht!"

Nick wollte noch eine Frage stellen, aber Cromwell war bereits verschwunden. Was die Warnung anbetraf – er, Nicholas, ließ ohnehin immer die gebotene Achtsamkeit beim Umgang mit dem König walten. In diesen letzten fünf Jahren, in denen sowohl das Alter als auch der Umfang des Königs zugenommen hatten, war Nick immer darauf bedacht gewesen, den König nicht in solchen männlichen Beschäftigungen wie Kegeln, Bogenschießen oder Ballspielen zu schlagen, selbst wenn das für ihn ein Leichtes gewesen wäre.

Die letzte Reihe der Wachen hielt ihre Hellebarden zur Seite und öffnete das Portal zu dem prächtigen, wenn auch nicht allzu großen Kabinett, in dem der König alle nicht offiziellen Besucher empfing. Nick nahm sein flaches Samtbarett ab und verneigte sich tief vor dem Monarchen, den er nicht nur als seinen Herrscher verehrte, sondern ebenso als seinen Lehrer und Pflegevater.

"Nick, mein guter Mann!" Henry Tudor war überaus kostbar gewandet und neigte zur Begrüßung leicht das Haupt.

Es war noch nicht lange her, dass der König bei solchen Gelegenheiten "mein Junge" oder "mein Bursche" gerufen hatte, aber inzwischen war Nick dreißig Jahre alt geworden. Dennoch erschien es ihm immer wieder genauso wie in den ersten herrlichen Tagen. Damals hatte hier in Whitehall der stämmige rothaarige Monarch den hoch aufgeschossenen, schmalen schwarzhaarigen Jungen ausgewählt, weil er in bewundernswerter Weise mit der Lanze immer wieder die hölzerne Stechpuppe getroffen hatte, an der beim Turnierkampf geübt wurde. Zwar war die Zeit vorbei, da Ritter diese Kampfweise noch in der Schlacht gebrauchten, doch als höfische Vergnügung wurden Turniere immer beliebter. Damals hatte sich Nick so verlassen gefühlt am Hofe, denn seine verwitwete Mutter war wieder eine Ehe eingegangen und nach York gezogen. Er war nur einer unter vielen in der Schar der Pagen gewesen, bis er die Gunst des Königs erworben hatte.

Aber die Erinnerung verblasste, und auch das Bild jenes Königs war dahingeschwunden. Jetzt mischten sich graue Haare in den roten Schopf, und das berüchtigte Temperament der Tudors hatte sich bei dem Monarchen gefährlich gesteigert. Dennoch verehrte Nick diesen Mann nach wie vor.

Ein paar Schritte ging Nicholas auf den König zu, ehe er sich nochmals verneigte. Henry Tudor saß an einem Tisch und signierte Dokumente. Sein krankes Bein lag auf einem mit Kissen ausgepolsterten Schemel. Er schob die Papiere beiseite und winkte die beiden Schreiber, die ihm diensteifrig zur Seite standen, hinweg und richtete wie üblich in vertrauter Weise das Wort an Nick, als sei niemand weiter anwesend.

"Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dich von deinem kleinen Besitztum in Greenwich zurückgeholt zu haben", begann er und hob seine mit kostbaren Ringen geschmückte Hand. "Ich brauche dich nämlich wieder."

"Und ich bin bereit, Majestät."

"Um genauer zu sein, die Festungen, die ich an der Küste von Kent gegen einen Überfall der Franzosen bauen lasse, brauchen dich, insbesondere die in Deal. Ich habe den Obermeister meiner Steinmetze, Franklin Stanway, dort mit ungefähr fünfhundert Bauleuten, aber sie schaffen es mir nicht schnell genug, mit dem Bau voranzukommen."

Nick schlug das Herz schneller. Er war noch nie in Deal gewesen. Es sollte ein ziemlich schäbiges Dorf sein. Bei Hofe war man verwundert darüber gewesen, dass der König eine neue, stark befestigte Burg an einem Ort errichten ließ, den er noch nicht einmal des Marktrechtes für würdig erachtete. Doch Nick wusste, dass Deal an einem langen, steinigen, ungeschützten Strand lag, der des Schutzes gegen die Franzosen jenseits des Ärmelkanals bedurfte.

"So wünscht Ihr also, dass ich mich dorthin begebe, um etwas Feuer dahinter zu machen, Majestät?"

"Viel mehr als das. Nick, mein guter Mann, du hast endlich ein eigenes Kommando verdient. Ich ernenne dich hiermit zum Lord Lieutenant der Veste Deal mit unbegrenzten Vollmachten für die ganze Grafschaft, um unsere Küste dort zu schützen."

Stolz richtete sich Nick auf. Der König ächzte, als er sein bandagiertes Bein vom Schemel hob, und scheuchte die Bediensteten, die ihm beim Aufstehen helfen wollten, wie lästige Fliegen weg. Mit beiden Armen zog er sich an der Tischkante hoch und schlurfte auf Nick zu, um ihm die Hände auf die Schultern zu legen. Er überragte Nicholas um mehr als eine Handbreit, obwohl dieser größer war als die anderen Edlen bei Hofe.

"Du hast mir immer Anlass gegeben, stolz auf dich zu sein, mein Junge", hob der König an. "Ich brauche in Deal eine starke Hand, einen Mann voll Treue und Ergebenheit, wie du einer bist. Aber es gibt noch mehr für dich zu tun. Cromwell hat mir berichtet, dass eine Bande von Schmugglern dort mit den Franzosen schachert. Sieh dich um, wenn du am Ort bist. Schon in Friedenszeiten missfällt mir der Schmuggel, aber bei den jetzigen Feindseligkeiten können solche Verbindungen nach Frankreich sehr leicht für Verrat ausgenutzt werden. Die Franzosen werden es sich etwas kosten lassen, Näheres über die neuen Burganlagen zu erfahren. Entdecke die Schuldigen und mache sie unschädlich." Der König hob die schweren Schultern. "Es ist keine großartige Aufgabe, verglichen mit anderen. Du musst einfach nach den stämmigsten und skrupellosesten Burschen Ausschau halten. Als Schmuggler muss man kräftig rudern und viel schleppen können."

"Gewiss, Majestät." Nicks Stimme war klar, obwohl er die Ehre, die ihm der König hatte zuteil werden lassen, noch nicht fassen konnte.

Lord Lieutenant der Veste Deal! Der König hatte seinen besten Steinmetzmeister ausgesandt, um sie zu erbauen. Nun schickte er Nicholas Spencer, um das Kommando zu übernehmen! Und man gab ihm uneingeschränkte Macht zum Schutz seines geliebten Vaterlandes und seines Königs. Und nebenbei – in seinen freien Stunden – sollte er auch noch eine Schmugglerbande zerschlagen, ein Auftrag, der gewiss recht schnell zu erfüllen war. Der König würde bald merken, dass er den rechten Mann ausgeschickt hatte und keine Rede mehr sein konnte von geheimen Verbindungen der Untertanen in Deal zu den Franzosen.

Die königlichen Sekretäre kamen herbeigeeilt und überreichten Nick eine schriftliche Bevollmächtigung mit dem Siegel des Monarchen. Nicholas sicherte Heinrich zu, bereits am nächsten Tag mit einem königlichen Kriegsschiff in See zu stechen. Dann besprachen sie noch ein paar allgemeine Angelegenheiten und brachten schließlich gemeinsam einen Toast aus mit dem Lieblingswein Seiner Majestät, dem Malvasier.

"Auf deinen schnellen Erfolg und Englands ewigen Ruhm!"

"Auf Euern endgültigen Sieg, mein König! Nieder mit Euren Feinden und mit allen Schurken, die es wagen, heimlich Handel mit ihnen zu treiben!"

Heinrich wischte sich den Mund mit dem Rücken seiner großen Hand. Seine blauen Augen schauten Nick eindringlich an, der den Blick des Königs fest erwiderte. "Aber um ehrlich zu sein, Nick, ich würde am liebsten den Handel mit den verwünschten Franzosen wieder aufleben lassen. Dieser Wein hier und auch die anderen gallischen Importe fangen an, verdammt knapp zu werden. Ich kann es indes nicht zulassen, dass solches Schmugglergesindel den königlichen Zollanordnungen trotzt und das Zeug insgeheim heranschleppt, noch dazu, wenn das wenigste davon bis zu mir gelangt, außer dem, was meinen Zolleinnehmern in die Hände fällt."

Der König brach in lautes Gelächter aus und schlug derb auf Nicks Lederwams.

Zumindest, so dachte Nick, ist die gute Laune Henry Tudors nicht ebenso dahingeschwunden wie seine Gesundheit und die Frauen, die er geheiratet hat. Er verbeugte sich vor dem König. "Ich werde Euch nicht enttäuschen."

"Das hast du nie getan. Oh, mir fällt ein, du wirst nun wohl deine Hochzeit mit Lady Penelope etwas länger aufschieben müssen. Ein verrufenes kleines Nest mit fünfhundert Bauleuten und dreckigen Schmugglern, die nachts die Gegend unsicher machen, ist nichts für eine Frau."

Nick verneigte sich erneut und verließ rückwärts das Gemach. So schnell wie er gekommen war, entfernte er sich auch wieder von dem Schwarm der flüsternden Höflinge. Er gehörte nicht zu denjenigen, die es verstanden, durch geheime Machenschaften voranzukommen, noch konnte er den Geruch heimlicher Verschwörungen ertragen. Er war ein aufrechter Mann und verabscheute Intrigen.

Aber was ihn jetzt bedrückte, war die Tatsache, dass er keinen einzigen Gedanken an seine Braut verschwendet hatte, bis der König selbst sie zur Sprache brachte. Ebenso wie seine erste Ehe hatte der König diese Verbindung anbefohlen, und diesem Wunsch musste gehorcht werden. Weder er noch Penelope hegten dabei romantische Illusionen. Als eine Frau von Stand war vor allem Lady Penelope an dieser Heirat interessiert, denn sie würde auf diese Weise teilhaben an den Vorteilen, die einem Günstling des Königs gewährt wurden.

Nick wünschte insgeheim, Penelope möge ihm mehr bedeuten, dann jedoch würde er sie vermissen, wenn er in Deal war. Er konnte keine Schwierigkeiten mit einer Frau gebrauchen, wenn er die Aufträge des Königs dort erfüllte. Im Augenblick hielt sich Lady Penelope Wentworth bei Verwandten in Suffolk auf, so dass er sich nicht einmal von ihr verabschieden konnte. Er würde ihr einen Brief hinterlassen. In den wenigen Tagen, die sie seit seiner Rückkehr von Calais beisammen gewesen waren, hatte er ein gewisses Gefallen an ihr gefunden. Sie stammte aus guter Familie, war elegant und – Gott sei's gedankt! – fügsam.

Seit Nick hatte mit ansehen müssen, wie sein König von der schlauen, hinterhältigen Anne Boleyn hereingelegt worden war, hatte er sich in Liebesdingen sehr zurückgehalten. Nun konnte er es sich einfach nicht mehr erklären, wie es diesem Weibsbild gelungen war, den König zu ködern und all die Jahre zu umgarnen. Während der Werbung Heinrichs VIII. um sie, hatte sie ihn nach allen Regeln der Kunst zappeln lassen, erinnerte sich Nick, als er zur Anlegestelle der Barke schritt. Und da sie schließlich nachgegeben hatte, war alles noch verworrener geworden. Hölle und Teufel! schwor sich Nick, eher werde ich zum Verräter, als dass mir je so etwas passiert.

Schließlich, nachdem sich Anne selbst ins Verderben gestürzt hatte, schloss König Heinrich die Ehe mit der zarten Jane Seymour, die ihm nun endlich auch einen legalen männlichen Thronfolger schenkte, Prinz Edward. Doch Königin Jane war im Kindbett gestorben, und der König hielt nun mit Unterstützung seines Großkämmerers Cromwell Ausschau nach seiner vierten Frau. Zweifellos kam dafür nur eine von den protestantischen deutschen Fürstenhöfen infrage, da sich die Feindseligkeiten mit den katholischen Ländern Frankreich und Spanien weiter zugespitzt hatten. Diese Heirat sollte nun endlich eine politische Entscheidung werden, ohne Liebe und Leidenschaft, und dafür gebührte dem Allmächtigen Dank.

Nick vertrat die Überzeugung, dass Liebe bei Eheverbindungen eine große Gefahr bedeutete. In seinem Leben gab es keinen Platz für andere Leidenschaften als den Dienst für den König und damit die Treue zu seinem Land. Die kurzen Techtelmechtel mit Hofdamen waren kaum dazu geeignet gewesen, in ihm große Emotionen auszulösen.

Als er in das wartende Boot sprang, atmete er tief die frische Luft über dem Wasser ein. Eine leichte Brise streifte seine Stirn. Der Fluss schien aus Glas zu sein, so ruhig war er heute, ruhig wie Nicks Leben. Niemand würde jemals über ihn befehlen, außer dem König. So sollte es auf ewig bleiben.

"Die Königin war in ihrer Schatzkammer und zählte all ihr Geld …" Tante Bess summte dieses alte Kinderlied vor sich hin, als sie einen Krug mit dem in Deal gebrauten Bier und einen Teller mit Brot und Käse für Rosalind hereinbrachte.

Rosalind jedoch hob kaum den Kopf von dem Wirrwarr auf ihrem Tisch, an dem sie gerade Münzen zählte. "Es sollte besser heißen, der König zählte all sein Geld, und die Königin isst hartes Brot, Tante Bess. Wenn man diesen schurkischen König kennt, der über uns herrscht, weiß man, dass er den Gewinn seiner überhöhten Steuern zusammenrechnet und außerdem überlegt, ob er seine nächste Frau hinrichten oder im Kindbett sterben lässt."

"Meine Güte, die arme süße Königin Jane! Mit einem Mann wie König Heinrich verheiratet zu sein!" Tante Bess schüttelte mitleidig den Kopf, auf dem eine schwere leinene Haube thronte. "Aber Franklin Stanway ist nur der königliche Steinmetzmeister und aus gutem Holz geschnitzt. Weißt du übrigens, Rosalind, dass er Margaret gefällt?"

Rosalind wurde hellhörig. Seitdem ihre Mutter kurz nach der Geburt ihrer Schwester Margaret gestorben war, fühlte sie sich für die Jüngere verantwortlich. Aus ihren dicht bewimperten graugrünen Augen, die hell aus dem zart getönten ovalen Gesicht leuchteten, schickte sie einen aufmerksamen Blick zu ihrer Muhme.

"Allerdings, liebe Tante, weiß ich nur zu genau, dass Margaret ein Auge auf den königlichen Steinmetzen geworfen hat. Und ich vermute, dass sie dich vorgeschickt hat, damit ich seine Werbung gutheiße. Wenn sie diesen Handlanger des Königs unbedingt will, mag sie mit ihm zur Hölle gehen!"

Tante Bess faltete die plumpen Hände. "Du hast das Temperament deines Vaters, wenn ihm das Blut zu Kopfe stieg. Das ist nicht gut für eine Frau, wenn es auch ein hartes Leben für dich war, seit wir ihn und Murray verloren haben."

Trotz dieses sanften Vorwurfs erhob sich Rosalind und schloss ihre Tante in die Arme. "Ich wollte nicht unmäßig sein, liebe Muhme. Es ist nur alles so schwierig geworden, seitdem der König hier diese bedrohliche Festung bauen lässt …", sagte sie.

"Die wir indes brauchen werden, wenn die Franzosen, mit denen du glaubst, ganz vergnügt Handel treiben zu können, eines Tages unsere Küste überfallen!"

"Ja, natürlich", räumte Rosalind ein. "Aber, Sakrament, wir pfeifen darauf, dass des Königs Männer ihre Zelte auf unserm Strand aufschlagen, so willkommen uns ihre Münzen in unseren Schatullen sind."

Tante Bess schob Rosalind auf Armeslänge von sich weg und betrachtete sie eindringlich. "Ich muss dir sagen, dass die Seemannsflüche, die du aufgeschnappt hast, mir sehr missfallen. Du verschaffst unserem Gasthof und auch den Männern das tägliche Brot. Doch solltest du dein Temperament zügeln und deine Zunge hüten. Der Lord Lieutenant Seiner Majestät wird niemandem wohlgesonnen sein, der unsern Herrn König verflucht."

"Dieser König ist nicht mein Herr und wird es nie sein, ebenso wenig wie sein Lord Lieutenant oder ein anderer seiner Vasallen."

"Oder besser gesagt, irgendein Mann überhaupt. Und du selbst schuftest viel zu viel", brummte die Muhme leise vor sich hin, während sie kopfschüttelnd die Kammer verließ. Beim Öffnen der Tür drang das Gewirr männlicher Stimmen aus der überfüllten Schankstube herüber.

Rosalind stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr fort mit ihrer Tätigkeit.

Schon zu den Zeiten von König Heinrichs Vater hatten Rosalinds Vater und seine Freunde den Schmuggel begonnen, um sich das Leben etwas erträglicher zu machen. Sie schafften solche Dinge herbei wie Wein, Spitze, Seide, Leder und Stahl im Austausch für Wolle und bare Münzen. Die Tudors forderten sehr hohe Zölle für Waren aus fremden Ländern, um ihre gefräßige Privatschatulle zu füllen.

All die Jahre hatte das Haus Tudor in Pracht und Überfluss gelebt, während sich die kleinen Leute im Lande um jeden Bissen raufen mussten. Die Bewohner von Deal hatten immer um ihr Überleben ringen müssen. Die Felder waren steinig und der Fischfang war gefährlich, da oft Stürme und Unwetter tobten. Einen kleinen Gewinn holten die Seeleute von Deal herein, wenn sie ihr Leben aufs Spiel setzten, um die Matrosen zu retten, deren Schiffe an den tückischen Goodwin Sands gescheitert waren, direkt vor der Küste, nahe den Downs. Dort in dem flachen Wasser fanden Wasserfahrzeuge vieler Nationen einen sicheren Ankerplatz, bis ein Südoder Südwestwind aufkam und sie nach Westen trieb.

Bei Ostwind aber bargen die Downs viele Gefahren. Anker wurden aus dem Grund gerissen, Taue gingen in Fetzen, und Schiffe kollidierten oder liefen auf Grund. Dann traten die Seemänner aus Deal auf den Plan, manövrierten gestrandete Schiffe in offenes Wasser oder retteten die Überlebenden, wenn ein Segler zerschellt war. Doch der gefährliche Fischfang und die noch gewagtere Rettungsarbeit boten nur einen kärglichen Lebensunterhalt in einem Ort, dem der König nicht einmal das Marktrecht verliehen hatte. Für die meisten Dinge des täglichen Lebens mussten die Bürger von Deal fünf Meilen bis nach Sandwich laufen, dem nächstgelegenen vom König anerkannten Marktort.

Und so blühte und gedieh all die Jahre der Schmuggel in Deal. Wenn der König nur versucht hätte, dem Einhalt zu gebieten, würde Rosalind Verständnis dafür gehabt und sich damit abgefunden haben. Aber viel Schlimmes geschah.

Vor etwa drei Jahren waren die Kutter von Deal wieder einmal ausgefahren, um ein Schiff in Seenot zu retten. Als stolze Engländer, die sie trotz ihres Schmuggels waren, brachen sie beim Anblick des königlichen Banners und der Tudor-Rose am Heck in Jubelrufe aus, denn sie sahen es als Ehre an, Seeleute eines königlichen Schiffes zu retten. Bei dieser Hilfsaktion verloren sie einen Kutter. Die wagemutigen Männer kannten das Risiko und nahmen es in Kauf. Für Rosalind aber bedeutete es den Verlust des Vaters und ihres Ehegatten Murray Barlow. Wenn es der einzige Verlust gewesen wäre, hätte sie sich ihrer Trauer hingeben und dann ohne Bitterkeit im Herzen ihr Leben weiterführen können. Die niederträchtige Handlungsweise des Königs aber hatte die Lage völlig verändert.

Nicht nur dass der König Lohn und Dank verweigerte, nicht einmal zur Kenntnis nahm, dass Bewohner von Deal ihr Leben hingegeben hatten, um seine Seeleute zu retten; die Männer von Deal hatten auch kein einziges Goldstück dafür bekommen, dass sie die Geretteten in ihren Häusern untergebracht, verpflegt und auf ihre Kosten nach London zurückgeschafft hatten. Nur zwei Wochen später wurde die Lebensgrundlage des Dörfchens, alle Boote bis auf den letzten Kutter, von königlichen Soldaten mit der Begründung vernichtet, Deal sei eine Brutstätte des Schmuggels und raubte der Krone ihre rechtmäßigen und geziemenden Einkünfte.

"Rechtmäßig!" In Erinnerung daran kam das Wort wie ein Zischen durch Rosalinds zusammengebissene Zähne. "Nichts ist rechtmäßig und geziemend an diesem König! Ich schwöre aufs Neue, dass wir alles tun werden, um die Krone um ihre angeblich rechtmäßigen Einkünfte zu bringen! Auch wenn der schreckliche König diese neue Festung mitten in unser Gebiet setzt und seinen verdammten blatternarbigen Lord Lieutenant hierher schickt, um uns zu belauern. Bei allen Heiligen, ich schwöre es!"

Rosalind nahm den kleinen Beutel voller Münzen und ging zu ihrem Bett. Vorsichtig stieg sie auf den Strohsack. Über dem Kopfende, von einem Wandbehang verdeckt, befand sich in der Mauer ein kleines Geheimfach. Dort hinein legte sie den Beutel und schloss dann sorgfältig ab.

Das kleine Gemach im Gasthof war ihr eigenes Reich. Hier hielt sie sich auf, wenn ihre Zeit es erlaubte, und hier schlief sie. Niemandem außer Tante Bess und ihrer Schwester war es gestattet einzutreten. Doch auch sie durften nichts anfassen oder gar aufräumen. Sie sprang von der Bettstatt und ging zur Tür.

Über die Falltür zu dem Geheimgang hatte Rosalind einen dicken Strohteppich gebreitet und darauf einige leere Weinkrüge gestellt. Sie würde diesen Fluchtweg nur in äußerster Not benutzen, auch wenn sie auf ihm viel schneller zu ihrer geliebten See käme. Vom Fenster her konnte sie sonst in der Ferne den eintönigen Wellenschlag hören. Doch heute war es im Hause zu laut dazu. Werkleute auf dem Heimweg vom Festungsbau füllten den Schankraum, und der Wind heulte. Mit ihrem Gespür für das Meer fühlte Rosalind den herannahenden Sturm.

Sie machte die Tür hinter sich zu und begab sich in die lärmerfüllte Gaststube. Dort wimmelte es von Bauleuten, die einen kräftigen Trank forderten. Manchmal hatte Rosalind nicht übel Lust, all diese Knechte des Königs davonzujagen, doch andererseits gab es ihr eine merkwürdige Befriedigung, ihnen das Geld wieder abzunehmen, das sie von Heinrich VIII. als Lohn erhielten.

Aber ihr war auch bewusst, dass ihre Familie wieder einmal einen zu hohen Preis zahlen musste für das aufblühende Geschäft im Gasthof "Rose und Anker". In den ersten Monaten des Festungsbaues, als für die Erbauer nur primitive Unterkünfte am Strand zur Verfügung gestanden hatten, hatte Franklin Stanway, der Obersteinmetz des Königs, im Wirtshaus Quartier bezogen – trotz des enormen Geldes, das Rosalind dafür verlangte. Und hier nun war er der neunzehnjährigen Margaret begegnet und für sie in Liebe entbrannt. Rosalind, die allzu junge Witwe von einundzwanzig Jahren, hatte geschworen, sie würde eher sterben, als zuzulassen, dass eine von König Heinrichs Kreaturen ihre geliebte Meg heiratete und zu ihrer Familie gehören würde. Oder noch schlimmer, wenn er nur, wie die meisten Männer aus London hier, Vergnügen im Bett suchte und Meg unglücklich machte. Rosalind musste sie warnen. Das war ihr klar geworden, da die Muhme ein gutes Wort für Franklin Stanway eingelegt hatte.

Als Rosalind um die Ecke zur Haustreppe bog, stieß sie auf Percival Putnam, den Steuereintreiber aus Sandwich. Obwohl er im Dienste des Königs stand und die Aufgabe hatte, den Schmugglern das Handwerk zu legen, war es ihm dennoch gelungen, die Zuneigung der Bevölkerung zu gewinnen. Wie immer, wenn seine freundlich blinzelnden Augen sie erblickten, verzog er die Lippen zu einem breiten Lächeln. Die blassen Wangen und das strohblonde Haar ließen ihn fade wirken.

Als Percy eines Tages in Deal erschienen war, hatte Rosalind keine andere Möglichkeit gesehen, als ihn und seinen Gehilfen Roger Shanks im Gasthof aufzunehmen. Hier standen die beiden dann ahnungslos Schulter an Schulter mit den Schmugglern, die sie doch aufspüren und unschädlich machen sollten. Aber Percy ritt nie zum Strand hinab, wo er ihnen hätte begegnen können. Dafür brachte er Neuigkeiten mit aus Sandwich, wo Rosalinds ältere Schwester Nan mit ihrer Familie wohnte, und solche aus der großen weiten Welt.

Dennoch ärgerte es Rosalind, wenn sie bemerkte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Zumindest stellt er mir nicht offen nach, dachte sie. Sein linkes Bein war von Kindheit an kürzer als das andere. Doch anstatt ihn voller Unbehagen abzulehnen, schenkten ihm die Männer und auch Rosalind ihr Mitgefühl, obwohl sie ihn nicht besonders mochte. Im Gegensatz zu Megs Möchtegernliebhaber hielt sie Percy Putnam für ziemlich harmlos, sowohl als Steuereinnehmer als auch als Mann.

"Entschuldigt, Percy. Ich suche meine Schwester."

"Sie ist oben und macht großes Aufhebens um die Wäsche, die sie draußen getrocknet hatte", berichtete er in vertraulichem Ton. "Sie sagte, sie habe sie aus dem Gebüsch gerettet. Ein Sturm kommt auf."

"Das stimmt. Ich bin sicher, Alf oder Ned ist hinaus, um die Downs nach Schiffen in Gefahr abzusuchen."

Plötzlich begann sie der eindringliche Blick aus seinen wasserblauen Augen wieder zu stören. Vielleicht war es auch das verstärkte Klappern der Schindeln auf dem Dach, das sie in Aufregung versetzte. Sie musste sich darum kümmern, dass die Bedachung ausgebessert wurde, zu allem anderen, was sonst noch auf ihr lastete.

"Ihr entschuldigt mich." Schnell eilte sie hinter Percys Rücken die Stiegen empor, um ihre Schwester zur Rede zu stellen.

"Aber Franklin und ich lieben uns wirklich", beharrte Meg mit feuchten Augen, als Rosalind ihr Vorwürfe machte. "Er ist die Freundlichkeit in Person und trägt mir so zärtliche Gedichte vor!"

Rosalind rümpfte die Nase. "Ein Mann, dessen Aufgabe es ist, Steine zu zerschlagen, kennt keine zärtlichen Verse! Bei allen Heiligen, Meg, ich traue keinem, der …"

"Du traust überhaupt keinem Mann", murrte die sonst so scheue, fügsame Margaret. Sie war im Gegensatz zu der blonden Rosalind braunhaarig, dazu größer und kräftiger als die zierliche, anmutige Schwester. Aber trotz ihrer Größe und Kraft wusste Meg nur zu genau, wer tonangebend war im Hause.

"Wir sprechen von dir, Meg, nicht von mir. Ich will nicht, dass du dich zusammen mit der Muhme mir widersetzt und über mich herziehst!"

"Wir sprechen nur über dich, weil wir uns Sorgen machen. Wir …"

"Rosalind! Rosalind! Bist du oben?"

Beide Frauen liefen auf die lauten Rufe ihres Vetters Alf zur Tür. Neben seiner Tätigkeit als Hufschmied war Alf Deland Fischer wie die meisten Männer im Ort und mit seinem Bruder Hal, dem Fassmacher, Tante Bess' achtundzwanzigjährige Zwillinge. Jeder besaß sein eigenes Häuschen. Dennoch hatte die Muhme kürzlich Hal, als er krank geworden war, hierher in den Gasthof geholt, damit die Familie nicht angesteckt wurde. Sowohl Alf als auch Hal waren breitschultrige, kraftstrotzende Männer, die nur mit der Kraft der eigenen Arme bis nach Frankreich rudern konnten. So war jedermann sehr betroffen gewesen, als Hal plötzlich erkrankt war.

"Was ist, Alf?" rief Rosalind.

"Es hat ein Schiff erwischt, eine Fregatte. Sie ist auf Grund gelaufen, und die Männer klettern gerade auf die Sandbank. Die ganze Besatzung könnte draufgehen, und wir sollten drei unserer Kutter zu Wasser bringen. Wie geht's Hal?"

"Das Fieber ist vorüber, aber er ist schwach wie ein Säugling." Rosalind sprang die Stiegen hinab und hörte das durchdringende Sturmläuten von der Kirche. "Ich werde den Platz von Hal an den Rudern übernehmen." Ungeachtet der Proteste von Alf und Meg schob sie die beiden beiseite und überhörte auch Percys vorwurfsvolles Murmeln: "Nur weil Euer Vater und Euer Gemahl draußen geblieben sind …"

Mit Nachdruck schlug sie die Tür der Kammer hinter sich zu, in der die Wetterkleidung für die Fischer aufbewahrt wurde. Es stimmte nicht, was Percy gesagt hatte, obwohl sie manchmal selbst das Gefühl hatte, sie tue alles zum Gedenken der Toten. Vor allem jedoch wollte sie helfen. Und irgendwie reizte sie auch die Herausforderung.

Meg war ihrer Schwester gefolgt und begann nun, auf sie einzureden. "Bitte, Meg", unterbrach Rosalind das Geschnatter, "hilf mir in das Zeug." Sie streifte Mieder und Hemd ab, dann Rock und Unterröcke und zog sich eine derbe Männerhose an. Meg half ihr mit den hohen geölten Stiefeln, knotete das grobe Fischerhemd in der Taille der Schwester zusammen, das diese sich übergeworfen hatte, und reichte ihr die Schafslederjacke, die sich wie Pergament anfühlte. Rosalind griff nach ihren Ruderhandschuhen. Die Lederkappe verdeckte ihr Haar, und niemand würde nun noch eine junge Frau in ihr vermutet haben.

"Ich bin immer in Sorge, wenn du auf See gehst, aus welchem Grund auch immer." Meg umschlang die nun ganz unförmig aussehende Gestalt. "Und ich bin traurig, wenn wir uneins sind."

Rosalind gab ihr einen kleinen Klaps auf die Wange. "Ich auch. Aber ich will nur dein Bestes, wirklich! Und ich war schon oft auf See und werde vorsichtig sein. Pass du hier auf."

Behindert von der schweren Kleidung, stapfte Rosalind hinaus zu einem wartenden Ochsenkarren, der sich mit Männern in dem gleichen Aufzug füllte. Es wurden nur wenige Worte gewechselt, während der Karren durch das regenüberströmte Tal ratterte und dann den Strand entlang bis zu den Booten. Einige der Männer gehörten zu den Schmugglern. Sie alle bewunderten Rosalind, und niemand von ihnen sprach ihr das Recht ab, bei solch gefährlichen Unternehmungen mitzumachen, auch wenn das für eine Frau ungewöhnlich war.

Am Strand warteten schon die Helfer, um die Boote zu Wasser zu bringen. In Deal kannte natürlich jeder jeden. Alle waren in irgendeiner Form in den Schmuggel verwickelt und sei es auch nur durch die Lagerung oder den Weitertransport der Ware.

Rosalind hatte die gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um einen der Kutter zu ersetzen, die auf Befehl des Königs zerstört worden waren. Dann hatte sie weiter geknausert und gespart, um zur Anschaffung eines weiteren Bootes beitragen zu können und damit die ärgste Not lindern zu helfen. Als die Leute wieder auf Fischfang gehen und auch die belebten französischen Häfen aufsuchen konnten, um den Handel mit Branntwein, Gewürzen, Leder und anderen Gütern wieder aufzunehmen, konnte ein drittes Boot erworben werden. Den Gasthof hatte Rosalind geerbt, die Achtung der Schmuggler jedoch hatte sie sich verdient, so dass sie die tatkräftige junge Frau zu ihrer Anführerin gemacht hatten.

Alf und Wat Milford halfen ihr ins Boot. Mit festen Händen ergriff sie die Ruderpinne am Heck des Bootes.

"Halt fest!" rief Wat.

Rosalind stemmte ihre Füße auf den schrägen Boden des zwanzig Fuß langen Kutters, der von sechs Männern gerudert wurde. Alle Muskeln gestrafft, erwarteten sie den Befehl zum Wassern. Der stämmige Wat Milford, Braumeister von Deal, schrie: "Los!", und mit einem kräftigen Stoß der Helfer rumpelte das Boot über eingefettete Stämme den Strand hinab. Diese Abfahrt erregte Rosalind immer wieder. Der Kutter ritt über die erste Welle und klatschte auf die zweite. Sie blinzelte und leckte Salzwasser von den Lippen. Eine gute Fahrt! Mit all ihrer Kraft hielt sie die Ruderpinne, während das Boot über die sturmgepeitschte See schlingerte.

"Zur Hölle!" rief Wat, als das schief auf den todbringenden Goodwin Sands liegende Schiff in Sicht kam.

Rosalind verdrehte sich fast den Hals. Wie ein großer grauer Schatten hing ein Schiff über der Stelle, die die Seeleute dieser Gegend den Schiffsschlund getauft hatten. Wasser schlug gegen den geborstenen Rumpf, und der Sturm zerrte an den Segelfetzen. An die Reling geklammert, winkten ein paar Männer von Deck. Die beiden anderen Kutter waren bereits dabei, die Schiffbrüchigen von der Sandbank aufzunehmen. Plötzlich hörte Rosalind, wie Alf einen derben Fluch ausstieß. Die Ruderer hielten ein und erstarrten wie zu Stein. Um ein Haar hätte eine hohe Welle Rosalind das Ruder aus der Hand gerissen.

Vor ihnen, eingelassen in das Heck des gestrandeten Schiffes, leuchtete die goldene Tudor-Rose. Es war das erste königliche Schiff, das wieder auf den Sands leckgeschlagen war, seitdem Rosalinds Unglück begonnen hatte und auch ihr Durst nach Rache.

"Ihr dort drüben!" erklang eine tiefe, dunkle Stimme von Deck. "Ihr Männer dort im Boot, kommt näher! König Heinrichs Leute brauchen eure Hilfe. Rudert heran! Ich bin Nicholas Spencer, der neue Lord Lieutenant der Veste Deal. Tut, was ich sage! Ich werde die Männer zu euch herunterlassen, ehe die Flut das Wrack mitreißt."

Rosalind starrte durch das höllische Toben von Wind und Regen. Sturzbäche von Wasser rannen ihr über Gesicht und Nacken und durchweichten Brust und Rücken. Der harte Klang dieser Stimme ließ sie erbeben. Der Mann sah so groß aus und – trotz der Gefahr, in der er selbst schwebte – bedrohlich, wie er sich über die Reling lehnte und seine Befehle herüberrief. Sein Lederwams glänzte vom Regen. Das ebenholzschwarze Haar klebte an seinem Kopf. In diesem Augenblick gab es nichts auf der Welt, das Rosalind mehr hasste – und fürchtete.

"Wir hatten's uns geschworen – nie wieder! Was sollen wir tun?" Wats Stimme löste ihre Erstarrung.

Rosalind wandte den Blick von dem Mann über ihr auf dem Segler ab. Er hatte drohend die Faust gegen sie erhoben! Die Männer im Boot sahen sie an und hielten inne.

"Holt die Lakaien des Königs herunter!" rief sie. "Dann werden wir weitersehen."

2. KAPITEL

Das Boot arbeitete sich näher an die gestrandete königliche Fregatte heran. Der Sturm heulte unaufhörlich, und die Wellen schleuderten Trümmer des geborstenen Schiffes über die Ruderer, als sie sich mit allen Kräften mühten, ihr Boot in Stellung zu bringen. Obwohl auf ihre Hilfe angewiesen, erlaubte sich der Lord, ihnen noch Befehle zu erteilen! Rosalind hätte am liebsten zurückgeschrien. Glaubte der Mann denn, erfahrene Seeleute wüssten nicht selbst, wie sie die Rettung bewerkstelligen mussten?

Das Ruderboot krachte an den Rumpf des großen Schiffes und wurde mit jeder Woge auf und ab geschleudert. Noch bevor sie Halteseile und Enterhaken auswerfen konnten, ließ der Lord Lieutenant bereits einen Mann an einem Tau herab. Und ehe die Insassen darauf vorbereitet waren, taumelte der Schiffbrüchige ins Boot und riss beinahe Wat von seinem Platz.

"Wir halten mit den Enterhaken!" schrie Wat. "Keine Extravertäuung! Haltet euch bereit, sie zu kappen, wenn das Schiff sinkt!"

Das wird es nicht wagen, dachte Rosalind, während sie Wasser schluckte. Dieser arrogante Höfling wird es nicht untergehen lassen, bis alle nach seinem Willen gerettet sind!

Der teuflische Wettkampf mit der Zeit und dem Unwetter ließ sie erzittern, aber mehr noch taten das ihre wilden Empfindungen. Ihr Rachedurst kämpfte mit dem Gefühl der Pflicht zur Rettung Schiffbrüchiger. Ihre Sorge um diese stritt mit dem Hass auf ihren grausamen König. Wenn die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen würde, dachte Rosalind, dann müssten diese Männer mit ihrem Leben zahlen für die Seeleute aus Deal, die vor drei Jahren zugrunde gegangen waren.

Inmitten des Tobens der Elemente musste sie an Murray denken. Er war ihr Jugendfreund gewesen und ihre Hochzeit ebenso eine Liebesheirat wie ein Freundschaftsbund. Von Kindheit an waren langsam und stetig die Gefühle und Bindungen zwischen ihnen gewachsen und aufgeblüht. Ruhig und zufrieden hatten sie gelebt, selten uneins oder gar im Streit. Der einzige Schatten auf ihrer Ehe war die Tatsache, dass sie keine Kinder hatten. Rosalind liebte ihre Familie von Herzen, aber Murray oder ein Kind von ihm war doch etwas anderes. Sein Bild erstand vor ihren Augen: strohblondes Haar, blaue Augen, ein Lächeln. Stark und doch einfühlsam war er gewesen. Dann versank die Erinnerung wieder in dem Wirbel um sie herum.

Die Stimme des fremden Mannes gellte ihr in den Ohren wie Trompetenstöße. "Der Nächste kommt! Haltet fest!" kam seine Anweisung von oben.

Erneut schlug einer der Seeleute im Boot auf, durchweicht und frostgeschüttelt, und die Leine wurde wieder emporgezogen. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als ihn tun zu lassen, was er sich vorgenommen hatte. Die gefährliche Lage des Schiffes machte es für die verbliebenen Männer unmöglich, sich auf die Sandbank zu retten. Es gab keine Leiter und kein Fangnetz auf dieser Seite, und es wäre Wahnsinn, in das schaukelnde, auf den Wellen tanzende Boot hinabspringen zu wollen. Der nächste Seemann wurde herabgelassen, dann noch einer und noch einer, bis sich nur noch zwei Mann an die Reling klammerten.

In Rosalinds Kopf tobten die Gedanken. Steif vor Kälte und Entsetzen saß sie am Ruder, während der Fremde ihrer aller Leben in die Hand nahm und seines dabei aufs Spiel setzte. Würde er von der untergehenden Fregatte mit in die Tiefe gerissen werden? Und wenn nicht, würden ihre schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit werden? Seine bloße Anwesenheit konnte das Ende der Schmuggler bedeuten, selbst wenn er jetzt noch nichts von ihnen wusste. Percy Putnam und seinen Gehilfen an der Nase herumzuführen war die eine Sache. Dem neuen Lord Lieutenant gegenüber musste sie sehr viel vorsichtiger, so viel schlauer sein.

Rosalind hielt die Hand vor die Augen, um sie einen Moment vor Wind und Regen zu schützen, und blickte dann wieder empor. Der Fremde war groß und kräftig, das konnte man selbst von hier aus sehen. Während er sich mit der einen Hand an die Bordwand klammerte, ließ er den letzten Mann hinab. Wie alle Vasallen des Königs war der Lord zweifellos begierig auf Ruhm. Doch wenn sie ihn und seine ganze Gattung auch noch so sehr verabscheute, konnte sie doch nicht umhin, die eiserne Ruhe zu bewundern, mit der er alle ihm anvertrauten Männer in das rettende Boot verfrachtet hatte.

Mit einem Krachen wie ein Kanonenschuss brach der Hauptmast der Fregatte und knallte unmittelbar neben dem Fremden auf Deck. Das Wrack neigte sich stärker und sank ein weiteres Stück. Er krallte sich an die Reling, die unter seinen Händen zersplitterte. Die Fangleine, die er sicherte, riss, und im selben Augenblick verschlang die See den vorletzten Mann.

"Alf, zieh ihn raus!" brüllte Wat. "Ihr anderen lasst die Enterhaken los! Jetzt!"

Rosalinds Haken ruckte unter ihrem festen Griff, als die anderen losließen. Hatte Wat für sie die Entscheidung getroffen, für die sie zu feige gewesen war? Hatte er das Wrack seinem Schicksal preisgegeben, damit es mitsamt dem Lord Lieutenant unterging? Entsetzt sah sie, wie das Heck im Meer verschwand, die kochende See mittschiffs einbrach.

"Nein!" hörte sie sich schreien. Einer der geretteten Matrosen zu ihren Füßen riss bei dem Klang einer weiblichen Stimme überrascht den Mund auf. Aber ihr Schrei wurde erstickt von dem Stöhnen des Schiffes, das unaufhaltsam in sein nasses Grab sank.

"Mylord Spencer!" Einer der Soldaten fiel auf die Knie, als wolle er dem todgeweihten Kommandanten ein Gebet nachsenden.

Beeindruckt von seiner Tapferkeit schrien die Männer im Boot durch den Sturm: "Springt! Springt!" Alf und Wat hatten inzwischen den letzten Matrosen aus dem Wasser gezogen und auf den Boden des Bootes gelegt.

"Rudert! Rudert mit aller Kraft, sonst reißt uns der Strudel mit!" schrie Wat. Rosalind hielt das Ruder umklammert und sah, wie im letzten Augenblick der Fremde von Bord sprang. Irgendetwas Unförmiges hatte er sich um den Körper geschlungen. Mit einem Satz landete er in dem weißen Gischt, der das sinkende Schiff umgab.

Angestrengt durchforschte Rosalind mit den anderen die tobenden Wellen. Verzweiflung erfasste sie. Was, wenn der rachesüchtige König sie für den Verlust dieses Mannes verantwortlich machte? Sie wollte ihn nicht in Deal haben. Lieber sollte die ganze französische Armee anrücken! Und dennoch musste sie ihn retten.

Rosalind starrte weiter in die windgepeitschten Wogen. Nur wenige Menschen verstanden es zu schwimmen. Wahrscheinlich war der Fremde untergegangen. Da entdeckte sie an der Stelle, wo das Schiff versunken war, einen schwarzen Gegenstand.

"Dort drüben, Wat!" rief sie und wies mit der Hand in die Richtung. "Ein Mensch? Der Mann des Königs?"

Er war es in der Tat. Doch er trieb schlaff dahin, mit dem Gesicht im Wasser. Eine dunkle Welle trug ihn hinweg. Die Rettungsmannschaft ruderte ihm nach. Der Sog um das vom Meer verschlungene Schiff hatte sich gelegt. Alf holte den leblosen Körper des Fremden mit dem Ruder heran, und während die übrige Besatzung das Boot im Gleichgewicht hielt, zog er den treibenden Körper herauf.

"Tot, großer Gott, tot! Der Kopf verletzt, ertrunken", hörte Rosalind ihn murmeln.

Sie fühlte sich leer, obwohl sie so vielen Menschen das Leben gerettet hatte. Die Männer holten den Ertrunkenen an Bord und betteten ihn auf den Boden. Trotz der Erschlaffung des Todesschlafes beeindruckten sie Größe und Ausstrahlung der Persönlichkeit des Fremden. Seine linke Schulter lehnte schwer gegen Rosalinds Stiefel, aber es war kein Raum, um ihr auszuweichen. Sie sah die Blutspuren an seinem Kopf und konnte den Blick nicht von ihm wenden. In ihren Augen mischte sich das Salzwasser des Meeres mit ihren Tränen.

Inmitten des Aufruhrs der Elemente ging etwas Besonderes von dem Mann aus. Wenn er auch voller Dünkel gewesen war, seinen Mut und seine Opferbereitschaft muss man anerkennen, gestand sie sich widerwillig ein. Seine Haut war gebräunt. Also musste er viel im Freien gewesen sein und nicht nur in dem üppigen Palast des Königs. Ein energisches Kinn, dichtes ebenholzfarbenes Haar, rabenschwarze Brauen, ein schmaler, fester Mund – er war eine imponierende Erscheinung! Seine Nase schien irgendwann einmal gebrochen worden zu sein, denn sie sah etwas krumm aus. Seltsamerweise wünschte sich Rosalind, die Farbe seiner Augen feststellen zu können. Sie mussten dunkelbraun sein. Er war groß, hatte breite Schultern und kräftige Hände, die wohl dazu geeignet waren, einen Degen zu führen. Und nun war es vorbei mit ihm.

Rosalind war sich sicher, dass dieser raue Mann kein bleichgesichtiger Höfling gewesen war, sondern ein Kämpfer. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass sie es hätte mit ihm aufnehmen sollen, wenn es auch eine große Herausforderung gewesen wäre. Traurigkeit erfasste sie, dass dieser lebensvolle Mann in seinen besten Jahren die Erde hatte verlassen müssen.

Als sie wie vom Teufel besessen zum Ufer zurückruderten, erschien es Rosalind, als habe der Fremde sich bewegt. Doch es war wohl nur das Schwanken des Bootes gewesen. Bleich wie ein Ertrunkener sieht er eigentlich nicht aus, überlegte sie.

"Fühlt, ob sein Herz noch schlägt!" forderte sie den Soldaten auf, der neben seinem Kommandanten hockte.

Der Mann beeilte sich, der Anweisung zu gehorchen. "Ja!" rief er. "Ja, es schlägt noch, schwach. Käpt'n Delancey, ich glaube, Lord Spencer ist noch am Leben."

Autor

Caryn Cameron
Caryn Cameron ist das Pseudonym von Karen Harper, die Autorin vieler Elizabeth I Romane. Sie lebt in Colymbus, Ohio, Florida und Neapel.
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