Die Debütantin und der Wüstling

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Als begehrteste Debütantin der Saison kann Miss Esther Barrington-Hall unter zahlreichen attraktiven Bewerbern wählen. Doch nach einer unsicheren Kindheit mit einer leichtlebigen Mutter will Esther vor allem eins: einen verantwortungsvollen, vernünftigen Ehemann, der ihr Stabilität im Leben bietet. Aber warum muss sie sich dann ausgerechnet zu Oliver Moreland hingezogen fühlen? Der reiche, umwerfend gut aussehende Sohn eines Earls gilt nicht nur als berüchtigter Wüstling, er ist auch der einzige Mann im ton, der ihr gefährlich werden kann. Denn nur er weiß um das wohlgehütete Geheimnis ihrer Vergangenheit …


  • Erscheinungstag 23.07.2024
  • Bandnummer 406
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526685
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

London, Dezember 1809

Er fand sie im Dunkeln auf der Straße, eine Frau und ein Kind, die unter einem Portico am Türrahmen kauerten. Um ihre Füße sammelte sich schon der Schnee.

Sie sahen nicht wie gewöhnliche Obdachlose aus. Dazu waren sie zum einen zu sauber und zum anderen zu gut gekleidet.

„Kann ich Sie irgendwohin bringen?“, fragte er.

Die Frau begann zu weinen, während das kleine Mädchen hinter ihr aufstand und den Blick zu ihm hob.

„Mama und ich müssen nach Camden Town, Sir.“ Ihre Stimme wies nicht den mindesten Klang der Gosse auf.

Camden Town lag eine gute Stunde entfernt, und es war schon halb zwölf, also mitten in der Nacht, aber die Verzweiflung, die er im Gesicht der Kleinen las, sprach ihre eigene dringende Sprache, und er fand, dass er sie nicht enttäuschen konnte.

„Mein Wagen ist gleich hier.“

„Sie werden uns hinfahren, Sir?“, fragte das Kind sichtlich überrascht.

„Ja.“

Er sah zu, wie das kleine Mädchen seiner Mutter aufhalf, und er sah den Schmerz in den Zügen der älteren Frau, als sie den Wagentritt erklomm und sich niedersetzte.

„Sind Sie verletzt, Ma’am?“

„Ich … es geht mir gut.“

Zum ersten Mal sprach nun auch die Frau. Ihre Oberlippe war aufgeplatzt und blutete, und um ein Auge waren bläuliche Verfärbungen, ein Bluterguss offensichtlich.

„Ich könnte Ihnen einen Arzt besorgen …“, begann er, doch das Mädchen unterbrach ihn.

„Mama will einfach nur nach Hause, Sir. Es ist dort sicherer.“

„Gut denn.“

Er reichte jeder eine Wolldecke aus dem schmalen Fach an der einen Wagenseite und schnallte dann die Lederriemen wieder zu. Das Mädchen schmiegte sich tief in das Plaid, doch die Frau ließ ihres unberührt neben sich auf dem Sitz liegen.

Die Frau war schön, doch matt und erschöpft; die in ihr Gesicht eingegrabenen Linien zeigten ihm, dass das Leben ihr übel mitgespielt hatte und ihr nicht der Sinn nach einer Plauderei stand. Ob er ihr etwas Brandy aus seiner Taschenflasche anbieten sollte? Nein, besser nicht. Sie sah aus wie eine Frau, die die Folgen von Trunkenheit zu spüren bekommen hatte, und er wollte ihr nicht noch mehr Angst machen.

Sein Abend, den er in den eher ausschweifenden Clubs von London verbracht hatte, erschien ihm plötzlich hohl, eine kleine Welt übermäßiger Privilegien grenzte an eine von größerer Not erfüllte. Auch war er bestrebt, die beiden nicht mehr vor Augen haben zu müssen, sie loszuwerden, ihre Probleme anderen zu überlassen. Zweifellos wäre seine eigene Mutter ob seiner Gedanken enttäuscht gewesen, aber sie war nun schon viele Jahre tot, ihre andauernde Schwermut hatte letztendlich darin gegipfelt, dass sie einfach in einen sehr tiefen Teich gegangen war.

Er schüttelte den Kopf und unterbrach den Gedankengang, als das Mädchen sich meldete.

„Mama möchte wissen, ob wir Sie entlohnen können, Sir.“

„Mich entlohnen?“ Also das kam unerwartet.

Das Mädchen zog einen Ring aus seiner Tasche, einen schmalen, goldenen Reif, und streckte ihn ihm hin.

„Nein, ich verlange nichts.“

Die Kleine schaute seine Mutter an, und er sah, dass diese die Stirn runzelte.

Unsicher, was es tun sollte, ließ das Kind die bloße Hand sinken, auf deren Fläche das Schmuckstück ruhte. Eine Gabe, die es nicht fortgeben, doch auch nicht behalten konnte.

Die Mutter hob den Blick nicht, ihre Lider blieben gesenkt, als ob sie die Welt ausschließen wollte, indem sie sie einfach nicht wahrnahm. Keiner sprach mehr ein Wort.

Vierzig Minuten später erreichten sie Camden Town.

„Gleich hier.“ Das Mädchen zeigte auf einen Punkt in einer ganzen Häuserzeile, und er klopfte kräftig gegen das Wagendach.

Als das Gefährt anhielt und der Schlag von außen geöffnet wurde, standen die beiden ohne Umstände auf und kletterten hinaus. Das Wetter war nun schlechter als zuvor in der Stadt, Schnee fiel in dicken Flocken, und die Temperatur sank rapide. Das Mädchen wandte sich ihm zu, um ihm zu danken, sogar seine klaren grünen Augen drückten sichtlich Dankbarkeit aus.

Dann waren sie fort, von der Nacht verschluckt. Nur die Decken blieben auf dem Polster zurück, und ein leichter Duft nach Lavendel hing in der Luft. Er wusste nicht, wer sie waren, und sie hatten keine Ahnung, wer er war. Als sein Lakai fragte, ob sie nun in die Stadt zurückfahren sollten, nickte er und lehnte sich gegen die Rückenpolster, während die Pferde schon schneller wurden.

Er hoffte, sie würden gute Hut finden. Er hoffte, jemand würde ihnen helfen. Er hoffte, dass sie eben jetzt in einem Haus ein Willkommen fanden, wo man ihnen eine warme Mahlzeit und ein bequemes Bett bot.

Als er die Wolldecke vom Sitz nahm, um sie zu falten, fiel ihm der Ring vor die Füße, der bescheidene Schmuck war zurückgelassen worden, obwohl er einen Lohn abgelehnt hatte. Er hob ihn auf. Auf der Innenseite waren Initialen und ein Datum eingraviert.

M.P. 1796

Er schob den Ring in die Tasche und schaute zum Fenster hinaus. Es war Jahre her, dass er die kleine Enklave, die Londons Stadtzentrum war, auch nur kurz verlassen hatte, und das nur, weil der Tod seines Vaters die Heimkehr nach Hampshire notwendig gemacht hatte.

Nach dem Begräbnis war er gerade so lange geblieben, um den Schein zu wahren, denn für ihn gab es dort nichts mehr, nichts, an dem er festhalten wollte, und nichts, an dem er teilhaben wollte.

Er war wohl lange Zeit wild und zügellos gewesen, und wenn er der Wahrheit die Ehre gab, musste er dieses dekadente Leben ändern, weil er sich damit selbst zerstörte. Auch musste er zu Geld kommen, um seine Schuldner zu bezahlen, und er wollte den Frieden finden, an dem es in seinem Leben bisher fehlte. Seine ausschweifenden Gesellschaften gaben den Klatschbasen des ton reichlich Nahrung.

Die heutige Nacht war eine Art Fingerzeig auf die grimmigere Wirklichkeit anderer Menschen, und in dem Gesichtsausdruck des Mädchen waren Empfindungen zu lesen gewesen, die er oft bei sich selbst gesehen hatte.

Furcht und Enttäuschung. Eine anstrengende Mischung.

Er wünschte, er hätte seine Kutsche wenden lassen, nur um sicherzustellen, dass Mutter und Kind ein geschütztes Unterkommen gefunden hatten, aber das ging natürlich nicht. Die beiden wären zweifellos zu Tode erschreckt, wenn sie bemerkten, dass er ihnen folgte, und sie hatten schon deutlich gemacht, dass sie nichts weiter benötigten.

Als er auf seine Uhr schaute, sah er, dass es schon viertel vor eins war. Normalerweise hätte er sich an einem seiner Clubs absetzen lassen, doch heute Nacht stand ihm der Sinn nicht mehr danach.

Herrgott! Die Augen des Mädchens hatten ihn irgendwie angerührt, brachten ihn dazu, seinen Lebensweg neu zu bewerten, und gaben ihm den Gedanken ein, wenn er weiterhin diesem seinem Pfad folgte, könnte er vielleicht selbst eines Tages wohnungslos und betrunken in irgendeinem gottverlassenen Flecken enden, angewiesen auf den guten Willen fremder Menschen.

Außerdem stiegen nun Gram und Schuldgefühle in ihm auf.

Ich führe kein einwandfreies Leben.

Als er sich der Stadt näherte, begann es erneut zu schneien. Er unterdrückte einen alten Gram, der seit Langem immer wieder an ihm nagte.

1. KAPITEL

1815

Miss Esther Barrington-Hall wurde geradezu in das Licht und den Tanz und Wirbel eingesogen; die erste richtige, große Gesellschaft ihrer Saison war genau so, wie ihre Tante es ihr versprochen hatte.

Noch nie hatte sie so viele Leute auf einem Fleck versammelt gesehen, und die Musik eines vortrefflichen Quartettes, das auf einem schmalen Podest nahebei Platz gefunden hatten, erfüllte den Raum. Es spielte gerade eine volkstümliche Melodie – „Calder Fair“ war ein Lieblingslied ihrer Tante, das Esther in Redwood Manor während der letzten Monate auf dem Pianoforte zu spielen gelernt hatte.

Esthers Robe war aus weißer Seide, mit cremefarbenen Stickereien versehen. Es war ihr liebstes Kleid von den vielen, die ihre Tante ihr hatte machen lassen, ein fließendes Fantasiegebilde, das an Elfen und Waldgeister gemahnte. All die Geschichten, die sie als Kind so gerne gelesen hatte, schienen in dem wunderschönen Stoff verborgen zu sein.

Während sie weiterging, spürte sie die neugierige Aufmerksamkeit der Leute auf sich geheftet, doch ihre Tante hieß sie, einfach geradeaus zu schauen.

„Sie werden zu dir kommen, Liebes, wenn es so weit ist, doch vorerst mögen sie sich nur wundern. Lächele nicht zu sehr und sprich mit niemandem, der dir nicht ordnungsgemäß vorgestellt wurde. Geh auch nicht zu schnell. Besser ist es, sich gelassen zu bewegen und korrekt aufzutreten, sodass wir nur von uns genehmen Leuten Notiz nehmen.“

Tu dies nicht, tu das nicht.

Wie viele solcher Mahnungen hatte sie während des letzten Jahres in Vorbereitung auf diesen Abend gehört? Auf diese eine Chance, es zu schaffen, einen günstigen ersten Eindruck zu machen, und dies hier war es nun.

Der Heiratsmarkt.

Sogar der Begriff war Angst einflößend, doch wenn man in dem Spiel versagte, blieb man für den Rest seines Lebens ein Ladenhüter. Oder schlimmer, man landete bei einem Ehemann, den man verabscheute.

Tante Mary trat so hoheitlich auf wie stets, doch Esther spürte ihre Nervosität. Sie war nicht so gleichgültig, wie sie scheinen wollte, und Esther war froh, dass alle ihre fünf Cousinen und Cousins ebenfalls anwesend waren, um sie zu unterstützen und ihr Beistand und Zuversicht zu spenden.

Aiden würde sie zum Tanz bitten, wenn sonst niemand sie aufforderte, und auch Jeremy, wenn auch vermutlich etwas weniger begeistert, bedachte man, dass er dieser Kunst noch nie etwas abgewinnen konnte. Auch Sarah und Charlotte würden in ihrer Nähe bleiben. Als ihr das einfiel, suchte sie Charlottes Blick, und ihre Cousine lächelte ihr zu, Ermutigung in ihren warmen braunen Augen.

Die Familie.

Sehr lange Zeit hatte sie keine gehabt, und nun war sie da im Überfluss. Benjamin, der älteste Cousin, würde ebenfalls irgendwo hier sein und sich gemäß den strengen Befehlen seiner Mutter tadellos betragen.

„Eine vereinte Front, das ist es, was wir brauchen“, hatte Tante Mary ihnen allen eingeprägt, bevor sie das Stadthaus in St. James’ verlassen hatten. „Es wird sich nicht gedrückt, Ben. Verstehst du mich? Jeder von euch muss auf seinem Posten sein, damit dieser Abend für Esther so erfolgreich wird, wie ich es mir vorstelle. Da können wir uns keine Fehler leisten.“

Keinen Klatsch leisten.

Weil unter der Stille ein Abgrund lag, ein Riss im Ablauf der Zeit, ein Spalt, in dem all ihre Pläne untergehen könnten, wenn sie nicht behutsam vorgingen.

Das verstand jedes Mitglied der Familie Barrington-Hall vorbehaltlos, und sie alle taten ihr Bestes, dafür zu sorgen, dass Esther sicher war.

Auch Onkel Thomas hatte sich nun zu ihnen gesellt, seine Haltung trug zu dem harmonischen Bild bei. Er war hochgewachsen und selbstbewusst, sein Titel, sein Reichtum und seine Verbindung gestatteten ihm das unbefangene Auftreten in der Gesellschaft, das Außenstehende so bestrickend fanden.

„Du wirst dich hier gut machen, Esther, und ganz um deiner selbst willen. Sei einfach du selbst. Du bist ein Mädchen mit Vernunft und Verstand.“

Ob der Worte musste sie lächeln, weil sie, bevor er sie in einem Londoner Waisenhaus gefunden und wieder heim nach Kent gebracht hatte, keine Vorstellung davon gehabt hatte, wer das sein mochte – sie selbst. Sie, das Kind einer Mutter, die weit vom Pfad des Anstands abgewichen war, bis hinein in die Unterwelt einer gefährlichen Stadt.

Ihre Tante brauchte ihr nicht zu sagen, wie leicht eine Frau zugrunde gerichtet werden konnte, wenn sie die vielen und ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft nicht beachtete. Nein, sie waren mit Blut tief in ihre Seele geschrieben, und wenn es je ein Mädchen gab, das wenig Geduld für schlechtes Betragen und Regelbrüche aufbrachte, dann war es bestimmt sie.

Ihre Tante verharrte vor einer Frau, die trotz ihres Alters bemerkenswert schön war. An der Seite dieser Dame stand ein junger Mann mit gleichermaßen edel geschnittenen Zügen.

„Lady Beaumont.“

„Lady Duggan.“

Eine winzige Sekunde wurden Robe, Frisur und eventuelle Ziele geprüft, ehe die Frau das Wort nahm.

„Wie schön, Sie hier zu sehen. Ich dachte, Sie seien vielleicht noch auf dem Land, auf Redworth?“

„Nein, wir sind wegen des Debüts unserer jüngsten Nichte in der Stadt. Lady Beaumont, darf ich Ihnen Miss Esther Barrington-Hall vorstellen?“

Esther machte den erwarteten Knicks und lächelte. Nicht zu strahlend und nicht zu selbstbewusst. Sondern mit genau der passenden Bescheidenheit, ohne zimperlich zu wirken. Hatte Tante Mary sie nicht wieder und wieder dahingehend geschult?

Die andere Frau schien erfreut.

„Eine Freude, Sie kennenzulernen, meine Liebe, und dies ist mein Sohn Lord Alberton. Er ist eben erst von einer Reise durch Amerika zurück, und wir sind wirklich sehr glücklich, ihn wieder bei uns zu haben.“

„Miss Barrington-Hall.“ Lord Alberton ergriff ihre Hand und hielt sie einen Augenblick fest. „Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen.“

Er verbreitete mühelosen Charme, das Lächeln, das seine Worte begleitete, war ebenso ehrlich wie freundlich.

„Ob ich Sie wohl um den nächsten Tanz bitten darf, bevor Sie mit Aufforderungen überhäuft werden und ich leer ausgehe?“

Er war einen Schritt zurückgewichen, bedrängte sie nicht. Trat behutsam auf, sowohl mit Worten wie Tun, und das gefiel ihr. Ein Mann, der die Regeln kannte und nicht von dem, was richtig und gehörig war, abweichen würde.

„Gewiss, Mylord.“ Sie nahm ihre Tanzkarte samt Stift zur Hand und trug seinen Namen in der ersten Zeile ein. Ein Walzer. Sie hoffte, ihre Tante werde ihr den erlauben; allerdings schien sie mehr als erfreut zu sein und verfolgte das Gespräch, ohne sich einzumischen.

Ihr erster Tanz in der Gesellschaft und mit einem jungen Lord von ansehnlicher, hoher Gestalt. Der Abend konnte besser nicht sein.

„Ihr Cousin Benjamin gehört zu meinen Freunden, und er bat mich ausdrücklich, heute Abend ihre Nähe zu suchen, Miss Barrington-Hall. Ich gestehe, nachdem ich Sie nun kennengelernt habe, wird mir das nicht schwerfallen, und ich bin mehr als nur gerne dazu bereit.“

„Danke, Mylord. Es ist ziemlich einschüchternd, inmitten so vieler Leute zu sein. Natürlich haben wir auf dem Lande, in Kent, auch Gesellschaften, doch hiermit verglichen sind sie klein.“

„Betrachten Sie es als Übung“, gab er zurück. „Meine Schwester war mehr als überwältigt, als sie zum ersten Mal in der Gesellschaft auftrat, aber nun ist sie mit dem Earl of Thornton verheiratet und mit ihm sehr glücklich.“

Esther nickte. „Woher kennen Sie meinen Cousin Ben?“

„Wir waren gemeinsam in Eton und gingen anschließend auf dieselbe Universität.“

„Nach Cambridge?“

Er nickte. „Zu lernen macht mir Spaß.“

Mir auch, dachte sie, wenn sie auch nicht sicher war, ob sie es unter diesen Umständen aussprechen sollte, da von Frauen nicht erwartet wurde, an höherer Bildung Freude zu haben.

Gerade wollte sie ihm eine weitere Frage stellen, als zu ihrer Überraschung ein Raunen durch den Saal ging, sodass sie umherschaute. Ein hochgewachsener, schwarz gekleideter Mann schritt die Treppe herab, und jedermann reckte den Hals und spähte in seine Richtung. Aus der Entfernung konnte sie seine Züge nicht genau erkennen, doch hatte er etwas an sich, das einschüchternd, zugleich jedoch faszinierend war, deshalb verstand sie die Reaktion der Leute.

„Das ist Mr. Oliver Moreland“, erklärte ihr Gegenüber. „Wieder einmal hier, um eine neue Gefährtin für einen vergnüglichen Abend zu finden“, ergänzte er tadelnd. „Wenn es jemanden gibt, vor dem Ihr Cousin Sie warnen könnte, dann ist es er, denn er bricht ungestraft sämtliche Regeln der Gesellschaft und kommt irgendwie damit durch. Sein Reichtum und seine Abstammung – er ist der zweite Sohn eines Earls – sind wohl hilfreich, aber …“ Er ließ den Satz in der Schwebe.

„Aber …?“, hakte Esther nach.

„Er kommt aus einer Familie, die durchaus ihre Kritiker hatte. Man sagt, seine Mutter ertränkte sich, um sich von ihren Angehörigen zu befreien, und sein Vater, der Earl, folgte ihr ein paar Jahre später im Alkoholrausch.“

Er musste ihr am Gesicht abgelesen haben, dass sie schockiert war, und so mühte er sich schnell, den Schaden auszuräumen.

„Aber ich hätte besser geschwiegen, ich habe zu viel gesagt. In Wahrheit ist Moreland ein Mysterium, und es ist besser, ihm aus dem Weg zu gehen.“

Da die ersten Takte des Walzers durch den Saal klangen, verneigte er sich vor ihr. „Dies ist mein Tanz, glaube ich, Miss Barrington-Hall.“

Als er ihr die Hand reichte, nahm sie sie, erfreut über seinen festen Griff, während er sie aufs Parkett führte.

Ein Walzer. Ein Tanz, der, anders als die anderen Tänze, den Partnern mehr Nähe gestattete. Sie hatte ihn bisher nur mit ihren Cousins daheim in Kent im Blauen Salon geübt.

Den Mann, von dem Lord Alberton gesprochen hatte, entdeckte sie am anderen Ende das Raums; seine herausragende Größe erlaubte ihr, sein Fortkommen zu verfolgen. Sie fragte sich, warum sie angesichts seines Rufs Interesse daran haben sollte, immer wieder in seine Richtung zu schauen, aber irgendetwas an ihm kam ihr bekannt vor, und sie konnte es nicht recht einordnen. Das Rätsel faszinierte sie.

„Wer ist sie? Das Mädchen in Weiß“, fragte Oliver Moreland seinen Freund Frederick Bronson, der mit ihm am Rande des Tanzparketts stand.

„Miss Esther Barrington-Hall. Sie ist die Nichte von Lord und Lady Duggan und ganz neu in der Londoner Gesellschaft.“

Das Mädchen war schön, unzweifelhaft, mit ihrem honigblonden Haar und der schlanken, biegsamen Gestalt, doch in ihrer Haltung lag auch etwas unleugbar Sinnliches. Zum einen war sie eine ausgezeichnete Tänzerin, doch die Art, wie sie ihren Kopf schräg legte …

Kannte er sie von irgendwoher?

„Dies ist ihr erster Londoner Ball, sagte man mir.“ Fredericks Stimme kam von weit weg. „Sie schwört auf Etikette und ist hier, um einen Gemahl zu finden. Ich hörte, Miss Barrington-Hall folge den Regeln aufs Wort und sei nie glücklicher als in Gesellschaft ihrer zahllosen Cousins und Cousinen.“

Oliver lachte. „Dann sollte ich statt ihrer lieber Hetty Palmer suchen und schauen, wie lange es dauert, bis sie mir etwas höchst Empörendes vorschlägt.“

„So empörend, wie mit dir nach Hause zu gehen und in ein warmes Bett zu hüpfen?“

„Oder mich in meine Kutsche zu begeben, die direkt draußen vor der Tür steht. Ihren Gatten stört das nie.“

„Weil er ein Mann mit lockerer Moral ist.“

„Du sagst das, als wäre es etwas Schlechtes.“

„Ich sage das, um Vorsicht zu wecken, Oliver. Eines Tages wird dich ein eifersüchtiger Ehemann erwischen, und du wirst dich einem Duell im Morgengrauen gegenübersehen.“

„Ach, wohl kaum“, meinte Oliver gemächlich, „denn wenn ich etwas nie war, dann ist es vorsichtig. Außerdem bin ich ein exzellenter Schütze.“

Frederick schmunzelte. „Dann sollte ich dir vielleicht stattdessen wünschen, dass du dem Gott Eros in die Finger gerätst und dein Herz ebensolche Qualen leidet, wie du sie so leicht den vielen Frauen deiner Bekanntschaft zufügen kannst.“

Ob dieser Worte zog Oliver die Brauen zusammen. Frederick gehörte zu seinen ältesten Freunden, und dass er etwas derart Niederdrückendes hoffte, versetzte ihm einen Stich.

„Ich habe nie jemandem wehgetan, Freddie, und ich bin immer großzügig, wenn ich dann weggehe. Nebenbei, die Frauen, mit denen ich mich vergnüge, sind kaum neu in der Kunst der Liebe. Mit einer Jungfrau zum Beispiel würde ich mich nie einlassen.“

„Warum beobachtest du dann immer noch Miss Barrington-Hall so scharf?“

Oliver riss sich von dem Anblick los.

„Vermutlich hat der rosige Hauch der Unschuld seinen eigenen Reiz. Schauen, aber nicht anfassen. Sie ist von ihren Cousins und Cousinen umringt, sehe ich, und Lord und Lady Duggan sind Leute, die ihre Pflicht ihr gegenüber kennen, nehme ich an.“

„In der Tat. Duggan ist ein Lord von einzigartigem Ruf und mit der entschiedenen Neigung, seine Familie zu beschützen. Ich glaube, er würde dich am nächsten Galgen aufknüpfen, wenn du dich an seine unbefleckte, behütete Nichte heranmachtest.“

Oliver nickte und nahm sich ein Glas von dem Tablett, das ein Lakai, angetan mit einer Livree von unbeschreiblicher Farbe, anbot. Eine Art Grüngelb. Wie eine besonders intensiv leuchtende Limone. Als er prüfend umherblickte, fand er im Saal noch andere Draperien in ungewöhnlichen Farbtönen.

„Haben unsere Gastgeber einen Hang zu Farben, die sonst niemand kaufen würde?“

Frederick runzelte die Stirn. „Ich vergaß, dass du letztes Jahr nicht hier warst …“ Er beendete den Satz nicht.

Oliver war im letzten Jahr kaum irgendwo gewesen, weil sein Bruder Phillip es endlich aufgegeben hatte, ihn zu rügen und zu kritisieren, und stattdessen eine Pistole genommen und auf ihn geschossen hatte. Wenigstens nur in die Seite, obwohl Oliver sich sicher war, er müsse auf sein Herz gezielt haben.

Zwar hatte er niemandem davon erzählt, doch er wusste, Frederick hatte irgendwie geahnt, dass er in Gefahr war, weil er unangekündigt auf Elmsworth Manor, dem Sitz der Familie in Hampshire, aufgetaucht war. Sein Freund hatte einen Arzt gerufen und ihn zurück in die Stadt gebracht, fort von dem Familiensitz, weit fort von dem Hass. Freddie hatte ihn gedrängt, das Gesetz einzuschalten, doch noch hing dem Namen Moreland einiges an Achtbarkeit an, und Oliver wollte die letzten Reste nicht durch einen Skandal ruiniert sehen. Seinen Bruder hatte er seitdem nicht mehr gesehen.

In diesem Moment trat Josephine Campbell zu ihnen; sie hakte sich bei ihm ein, legte ihm ihre Hand auf den Arm und übermittelte ihm durch den sanften Druck ihrer Finger eine stumme Botschaft.

Vor ein paar Monaten hatte er mit ihr geschlafen, wünschte aber nicht, das Verhältnis wieder zum Leben zu erwecken. Erstens waren ihre Kinder mehr als seltsam und zweitens hatte sie einen Ausdruck in den Augen, der Verzweiflung ahnen ließ.

Also bat er sie lieber zum Tanz – ein Tanz nur, damit würde er wohl seine Pflicht getan haben. Niemand würde von ihm erwarten, ihr mehr zu bieten. Josephines kleine, zierliche Gestalt hatte ihn einmal gereizt, doch nun fand er die Mühe, sich dauernd zu ihr niederbeugen zu müssen, um zu verstehen, was sie sagte, nicht mehr so anziehend. Seine Seite schmerzte immer noch, wenn es regnete, und gerade heute Nacht war das Wetter widerwärtig. In diesem Moment, da er durch die Menge zum Tanzparkett schritt und Josephine sich auf eine Art an ihn klammerte, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte, fragte er sich, was er auf einem Ball tat, der so offensichtlich von Debütantinnen überschwemmt war.

„Ich hoffe, Ihren Kindern geht es gut.“ Seine Worte waren banal, weil ihre Sprösslinge wirklich schwierig gewesen waren und er eigentlich kein sonderliches Interesse an deren Gesundheit oder was auch sonst hatte. Doch schien ihm, der Moment erfordere eine Konversation, da sie ihren Blick so eindringlich auf ihn heftete.

„Ja, sie sind tatsächlich wohlauf, Mr. Moreland. Barbara wurde letzte Woche achtzehn, wenn Sie es denn glauben können. Was ich nicht kann, denn mir ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie geboren wurde, doch sie ist zu einer solchen Schönheit herangewachsen, dass alle Leute …“

Oliver ließ ihre Stimme im Hintergrund verhallen. Das Mädchen in Weiß war nämlich nun neben ihm; er konnte die Stickerei auf ihrer Robe erkennen und sah die goldblonden Strähnen in ihrem Haar. Er wünschte, sie möge sich ihm zuwenden, damit er ihr Gesicht richtig anschauen könnte, doch schon hatte Alberton sie in die andere Richtung gewirbelt, und sie wurde vom Meer der Menschen verschluckt.

Weiter voraus versuchten gerade Lady Susan Drummont und Mrs. Cecilia Furness seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, zwei Frauen, die ebenfalls einmal in seinem Bett gewesen waren. Beide hatten neue Ehegatten gefunden, und dafür war er dankbar. Wenn er doch einfach gehen könnte, um anderswo Unterhaltung zu finden, die eher seinem Stil entsprach, nur hatte er seiner Tante versprochen, diesen Ball zu besuchen, und im Allgemeinen mühte er sich, sein Wort zu halten, soweit sie betroffen war. Sie war die Schwester seiner Mutter und im Temperament so verschieden von ihr wie Feuer von Wasser: Ihr sonniges Gemüt stand in absolutem Gegensatz zur Schwermütigkeit ihrer Schwester. Julia hatte keine Kinder, hing jedoch mit ganzem Herzen an ihm und Phillip.

Josephine sprach immer noch über ihre Tochter, und Oliver rann es vor Schreck kalt über den Rücken. Sprudelte sie diesen Wortschwall heraus, um ihn für das Mädchen zu interessieren? Gott, genau das ist es, dachte er, und sie lächelt ganz genauso. Als der Tanz endete, geleitete er sie jedoch an ihren vorherigen Platz zurück und bat prompt, sich entschuldigen zu dürfen.

Ich muss hier ’raus, dachte er. Die Wärme im Saal und die Erwartungen an ihn waren zu viel und zehrten an ihm. Schon wollten sich weitere Leute hoffnungs- und erwartungsvoll auf ihn stürzen, bemerkte er. Raschen Schrittes begab er sich, ohne jemanden auch nur anzusehen, zu den Fenstertüren am Ende des Salons und ging hinaus.

Dort war es kühler; er stand in einem langen, verglasten, vor dem Wetter schützenden Raum. Eine beträchtliche Anzahl an Kübelpflanzen erzeugten eine Oase der Ruhe. Tief einatmend schloss er die Augen.

„Konnten Sie es auch nicht ertragen?“

Eine Stimme hinter ihm erklang, sodass er sich umwandte. Nahe des Topfs mit dem größten Baum darin stand das Mädchen in Weiß, ein Glas in der Hand, und schaute hinaus in die stürmische Nacht.

In dieser Umgebung wirkte sie unantastbar und von stiller Gelassenheit, die Debütantin aus dem Saal verwandelt in ein Mädchen, das viel selbstsicherer war.

„Ich halte bei solchen Anlässen selten lange durch.“ Er versuchte, seine Antwort nicht zu scharf klingen zu lassen.

„Weil Sie etwas ganz anderes bevorzugen?“

Als sie an ihrem Glas nippte, sah er, wie sich in ihren Wangen Grübchen bildeten.

„Dann kennen Sie meinen beunruhigenden Ruf, Miss Barrington-Hall?“ Warum sollte er um den heißen Brei herumschleichen? Das Mädchen sah aus, als könnte es Offenheit schätzen.

„Kaum. Ich bin gerade erst in London angekommen, aber Sie machen mir nicht den Eindruck eines Mannes, der sich in der vornehmen Gesellschaft sonderlich wohlfühlt.“

„Mit solch gutem Instinkt werden Sie hier prächtig zurechtkommen, denke ich.“

Er sprach amüsiert, wie er selbst hörte, doch sie krauste die Stirn.

„‚Prächtig‘ im Sinne von einen Gemahl mit einem Titel ergattern, der mich den Rest meines Lebens versorgen kann, wie ich es gewöhnt bin?“

Ihre Gereiztheit war unüberhörbar, darum fuhr er erklärend fort: „Mit ‚prächtig‘ meinte ich eher, Sie könnten ein Original werden. Ich dächte mir, es wäre schlicht ihre eigene Wahl.“

„Sie gestehen dem weiblichen Geschlecht zu viel Macht zu, Sir. London ist leider nicht der Ort, wo Frauen viel Macht haben.“

„Dann sind Sie vom Lande?“

„Ja, und das ziehe ich der Stadt um vieles vor.“

Wieder lächelte er. Es geschah nicht oft, dass er mit Frauen wie dieser sprach, und noch dazu mit einer, die überhaupt nicht den Eindruck machte, von ihm irgendwie geartete Intimitäten zu wünschen; dadurch wurde ihre Reserviertheit zu einer Herausforderung und warf Fragen auf.

„Die Familie Barrington-Hall genießt hohe Achtung.“ Wenn er ihre Verbindungen ansprach, mochte sie entgegenkommender werden.

„Das ist richtig.“

„Eine Familie wahrscheinlich, die viel von Regeln und Anstandsformen hält.“

„Was mir nur recht ist, Sir.“

„Ich hörte, Sie finden Gefallen an Regeln.“

„So wie ich hörte, dass Sie keinen Gefallen daran finden.“

„Da sind wir sozusagen an einem toten Punkt. Vielleicht könnte ich Sie überreden, Ihre Ansicht zu ändern?“

„Aber warum sollten Sie das wollen, Mr. Moreland, wenn die Gesellschaft nur bei strikter Beachtung der Umgangsformen Sicherheit bietet?“

Bei den Worten hob sie ihr Glas wie zum Salut und verschwand einfach durch eine zweite Glastür, die er bisher nicht bemerkt hatte. Im einen Moment hier, im nächsten verschwunden, wie ein Gaukelspiel auf einer Dorfkirmes; der Eindruck war verblüffend theatralisch.

Rätselhaft und angenehm prickelnd. War das ihre Absicht gewesen?

Er wollte ihr nicht folgen, denn sie hatte ihn ganz deutlich entlassen, und wenn Oliver sich mit etwas auskannte, dann damit, wie Frauen waren.

Sie war erstaunlich gewesen, dieses mysteriöse Mädchen mit den ungewöhnlich grünen Augen und dem fließenden weißen Kleid, also würde er es genauso halten. Schon formte sich in seinem Hirn ein Plan.

Er war es! Sie hatte es gewusst, als sie ihn auf dem Tanzparkett von Nahem gesehen hatte: Er war der Mann, der all die Jahre zuvor sie und ihre Mama vor einer Nacht auf der Straße bewahrt hatte. Er hatte sich kaum verändert – wirkte vielleicht härter und kräftiger –, aber es waren dieselben dunkelblauen Augen, die sie damals gemustert hatten, sich eine Vorgehensweise überlegt und entschieden hatten, was zu tun war.

Er war größer als in ihrer Erinnerung, und an einer Hand trug er mehrere Ringe. Sie hatte darunter nach dem schmalen Goldreif ihres Vaters gesucht, doch natürlich würde er solch einen unbedeutenden Schmuck nicht tragen, noch würde sein Geschmack zu etwas so Unauffälligem tendieren.

Die Einsamkeit des Wintergartens hatte er nicht grundlos gesucht, das konnte sie an seinen Augen ablesen. Wenn sie den Grund benennen sollte, würde sie sagen, er wollte entkommen, denn bevor er ihre Anwesenheit bemerkte, hatte er mit der Hand über seine linke Seite gestrichen, so als schmerzte dort etwas.

Weil ihre Mutter nicht die Gabe hatte, Anzeichen zu lesen, hatte sie selbst schon immer auf Kleinigkeiten geachtet. Wohl ein häufig eingesetztes Können, das sie vor anderen verbarg.

Was hatte er zu ihr gesagt? Sie könne ein Original sein? Dass es ihre Wahl sei? Dass sie sein könne, wie sie es wolle?

Sie zog die Brauen zusammen, denn wo war die Chance dazu? Ein Küken zog nicht die Aufmerksamkeit des Fuchses auf sich, wenn es längere Zeit überleben wollte, und Esther war vernünftig genug zu wissen, dass es vieles gab, das sie besser verborgen halten sollte. Nein, Mr. Oliver Moreland war ein Mann, dem man um jeden Preis aus dem Wege gehen sollte, jemand, der aus den Konventionen ausbrach, der ein ausschweifendes Privatleben führte und darum gefährlich war.

Kaum dass sie den Saal wieder betreten hatte, fand Lord Alberton sie innerhalb weniger Sekunden und heftete sich, munter plaudernd, an ihre Seite. Mr. Morelands Worte waren kompliziert und verschleiert gewesen. Albertons waren schlicht und anspruchslos und gaben ihr das Gefühl, hierher in diese Räume mit all den anderen Menschen zu gehören – sie, ein einfaches, etwas weltfremdes Mädchen, das noch nicht viel gesehen hatte. Eine Debütantin, die dem engen Begriff der gesellschaftlichen Erwartungen entsprach.

Während sie mit ihrem Begleiter dahinschlenderte, stellte sie ihr Glas auf einem Tablett ab und lehnte ein neues ab. Der Schock, Oliver Moreland erkannt zu haben, hallte immer noch in ihr nach, unter ihrem äußeren Auftreten vibrierte Aufregung; sie schluckte schwer, nur nach und nach konnte sie wieder ruhig atmen.

„Möchten Sie ein wenig frische Luft genießen, Miss Barrington-Hall? Ich weiß einen Raum, wo man Ruhe hat.“ Er schaute zu dem Wintergarten, den sie eben verlassen hatte, und sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin wohl eher hungrig, Lord Alberton, und dort drüben sehe ich Tische mit Erfrischungen.“

„Gewiss.“

Er führte sie zum Buffet, wobei er ihre Hand in seine Armbeuge legte, und sie ließ es zu.

Oliver sah, wie sie Alberton, auf dessen Arm ihre Hand ruhte, ein Lächeln schenkte; schon war das Mädchen, mit dem er gesprochen hatte, zurückverwandelt in die anerkannte Debütantin Miss Esther Barrington-Hall. Der Name passte zu ihr, denn im Hebräischen bedeutet er geheim oder verborgen, und sein Instinkt sagte ihm, dass genau das auf sie zutraf.

Er wünschte, er hätte länger mit ihr reden können, wünschte, er hätte sie um einen Tanz bitten können, doch mit all ihren Verwandten im Saal gab es nicht einmal entfernt die Möglichkeit, das war ihm klar. Ein vorbeikommender Lakai bot ihm Getränke an, doch er lehnte ab und schlenderte hinüber zu Frederick, der seitwärts an einem Pfeiler lehnte und die Tänzer beobachtete.

„Ich fragte mich schon, wo du warst, Oliver. Dachte schon, du hättest dich tatsächlich in die warme Kutsche zurückgezogen, die du erwähntest. Deine Tante Julia war kurz zuvor hier und fragte nach dir.“

„Ich brauchte frische Luft.“ Miss Barrington-Hall erwähnte er nicht, was ihn selbst wunderte, doch aus irgendeinem Grund fand er, sein Freund solle nicht wissen, dass er mit ihr gesprochen hatte.

Nun sah er sie, umringt von Leuten, an den Tischen, auf denen ein Buffet aufgebaut war. Die beiden Cousinen rahmten sie wie Wachen rechts und links ein, darüber hinaus allerdings wurden die drei jungen Damen von einem Kranz hoffnungsvoller junger Kavaliere umgeben, die sich um sie mühten, darunter Alberton. Esthers blondes Haar fing das Licht der Kronleuchter ein und bildete eine Art Glorienschein um ihr Haupt, und das weiße Kleid vervollständigte die Wirkung.

Also erwies sich ihr erster Ausflug in die Gesellschaft als Erfolg; die schöne Nichte zweier der führenden Mitglieder des ton stieg empor wie ein Komet. Gerne hätte er sich zu ihr durchgedrängt, um noch einmal mit ihr zu sprechen, doch konnte sein Ruf ihrem großartigen Debüt nur schaden, und er wusste, er sollte sich fernhalten.

Seine Tante kam zu ihm und zog ihn in einen ruhigeren Winkel des Salons.

„Du siehst so nachdenklich aus.“

„Eher müde, Tante Julia. Ich kam in letzter Zeit öfter spät ins Bett.“

„Sie ist schön, nicht wahr?“

Die Hoffnung, dass seine Blicke seiner Tante entgangen wären, schwand, und er war nicht so ungefällig, ihr vorzuspielen, er wisse nicht, wen sie meinte.

„Ich denke mir, dass Miss Esther Barrington-Hall verheiratet sein wird, ehe sie es noch weiß, da sie von begehrten und interessierten Bewerbern umringt wird.“

„Ich kannte ihre Mutter; Alexandra war beinahe ebenso anziehend wie ihre Tochter.“

„Was geschah mit ihr?“

„Sie starb vor ein paar Jahren. Eine innere Krankheit, sagte man wohl; zwar war auch von anderem die Rede, und ich fragte mich …“ Sie brach ab.

„Fragtest dich was?“

„Ach, nichts. Sie war anders, eine Frau, der die einengenden Regeln der Gesellschaft nicht zusagten, ein Freigeist, und ihr wäre es vielleicht besser ergangen, wenn der Mann, den sie heiratete, anders gewesen wäre.“

„Wen hatte sie denn geheiratet?“

„Lord Duggans jüngeren Bruder. Esthers Vater. Ein prosaischer Kleinigkeitskrämer und dazu dem Wein übermäßig zugetan.“

„Er war ein Trinker?“

„Die Barrington-Halls würden ihn vermutlich nicht so bezeichnen. Er starb vor seiner Frau, und danach verlor ich den Kontakt zu Alexandra. Gerüchteweise hörte man, sie habe die Stadt verlassen und mit ihrer kleinen Tochter einen passenden Wohnsitz auf dem Lande gefunden. Erst Jahre später kehrte die junge Miss Esther in den Schoß der Familie Duggan zurück, ohne ihre Mama jedoch. Sie muss vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere, und ein ziemlich stilles Kind. Gewiss jedoch erschien sie nicht so vielversprechend, wie sie sich heute Abend zeigt. Sie war mager und in sich zurückgezogen. Besonders die Farbe ihrer Augen ist ungewöhnlich, meinst du nicht auch?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie sind von leuchtendem, klarem Grün, wie ich es noch nie gesehen habe. War es denn so schwierig, das dort im Wintergarten zu erkennen?“

Daraufhin lächelte er, weil er schon ein, zwei Sätze vorher hätte merken müssen, worauf sie hinauswollte.

„Mach dir keine Gedanken, es hat euch sonst niemand gesehen. Dafür sorgte ich, indem ich mich vor der ersten Tür aufbaute, die hineinführt, und wartete, bis das Mädchen herauskam.“

„Dann danke ich dir dafür.“

„Sie klang geradezu erschreckend eindrucksvoll, wenn ich meine Meinung äußern darf. Und ganz anders als das Mädchen, das wir nun sehen. Ich frage mich, warum sie es für sicher hielt, dich bemerken zu lassen, wie sie wirklich ist?“

„Julia …?“

„Ja.“

„Komm, tanz mit mir, denn ich habe dich den ganzen Abend noch nicht auf dem Parkett gesehen, und ein wenig Bewegung mag dir helfen, deine Mutmaßungen zu vergessen, die sich auf keinerlei Wahrheit gründen.“

Nun tanzte er mit einer älteren Frau, und sie wirkten beide ganz unbefangen.

Esther fragte sich, wie es wäre, mit einem solchen Mann zu tanzen, in all seiner dunklen Schönheit. Ein bekümmerter Mann. Ein Mann, der nach allem, was man hörte, in seinem Leben nicht immer die besten Entscheidungen getroffen hatte. Ein Mann, der reich an Vorzügen, doch arm an Moral war. Sie wollte wetten, dass er auch reichlich trank, wenn sie ihn auch den ganzen Abend über mit nicht mehr als einem Glas gesehen hatte.

Entsetzen wallte in Esther auf.

Warum eigentlich beobachtete sie ihn? Wurde sie wie ihre Mutter, die sich so unklug mit krankhaften, gefährlichen Männern eingelassen hatte? Sie schüttelte leicht den Kopf. Es liegt nur daran, dass wir ein Stück Vergangenheit teilen, eine ziemlich bittere Vergangenheit – ein Pfad, der zurückführt zu einer schweren Zeit meines Lebens und zu seiner Güte, die ich nie vergessen habe.

Immer war er ihr stattlicher Ritter in schimmernder Rüstung gewesen.

Sie hatte sich gefragt, ob sie ihn je wiedersehen würde; sein Gesicht war unverwechselbar in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie fragte sich, was geschehen wäre, wenn er, als alles so trostlos ausgesehen hatte, nicht damals, mitten in jener eisigen Nacht, angehalten und sie aus London fortgebracht hätte bis nach Camden Town.

Ein Jahr später war Mutter tot.

Die vielen Farben und das Menschengetümmel in diesem Ballsaal waren verwirrend. Mr. Moreland hatte nun das Parkett verlassen und schritt zusammen mit einem anderen Mann zur Tür. Er bewegte sich wie jemand, der sich seiner selbst und seiner Stellung absolut bewusst war.

Wollte er gehen?

Wollte sie, dass er ging?

Lord Alberton neben ihr erzählte ihr von seiner Liebe zu Pferden und zu Pferderennen. Sie zwang sich, Interesse zu zeigen, während sie doch über seine Schulter hinüber zu der sich entfernenden Gestalt Oliver Morelands schaute.

Er würde sie nicht um einen Tanz bitten. Er würde sie nicht noch einmal ansprechen. Wahrscheinlich hatte er ihr seltsames Gespräch schon vergessen. Er hatte sie nicht einmal wiedererkannt.

Vermutlich war ich mit zwölf unscheinbarer und von Kummer gezeichnet. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie und ihre Mutter einmal eine vollständige Mahlzeit zu sich nahmen oder für die Nacht ein Bett hatten, das warm und bequem war und ihnen obendrein Sicherheit bot. Sie war von der Anstrengung, ihre Mutter bis zum nächsten Tag am Leben zu halten, ausgelaugt; der Alkohol, das Laudanum, die nächtlichen Zusammenkünfte mit ordinären, Angst einflößenden Männern.

Jeden Morgen hatte sie ihre Mutter beschworen, zu der Familie in Kent zurückzukehren, die sie oft erwähnte, doch jeden Abend hatte die mit der Abhängigkeit einhergehende Verzweiflung Mamas Seele aufs Neue verdüstert, und Esther konnte nichts tun, als sich in einen Winkel zu verkriechen, um aus dem Weg zu sein, und zu versuchen, über sie zu wachen.

Rückblickend war es ein Glücksfall gewesen, dass sie damals wie neun aussah und nicht wie zwölf. Wäre sie hübscher gewesen oder weiter entwickelt, wäre sie den Männern, die um ihre Mutter herumschwirrten, womöglich aufgefallen, und nur Gott wusste, wozu das hätte führen können.

„Hatten Sie Pferde, als Sie noch ein Mädchen waren, Miss Barrington-Hall? Ich habe das Gefühl, mein Anteil an unserer Unterhaltung nimmt zu viel Raum ein, und es würde mich interessieren, Ihre eigenen besonderen Geschichten zu hören.“

Die Frage riss sie zurück in die Gegenwart. „Ja, es gab Pferde, doch keine so edlen wie die, die Sie beschreiben.“

Manchmal war es so leicht zu lügen, es gehörte zur zweiten Natur eines Kindes, das auf den harten Straßen der Verzweiflung aufgewachsen war.

„Aber ich stelle mir vor, Sie liebten Ihre Pferde. Meine Schwestern auf jeden Fall beteten alles an, was vier Beine hatte.“

Esther nickte. Sie war persönlich besser mit Ratten, Wanzen und Küchenschaben bekannt gewesen als mit Pferden, und dieses Geziefer hatte sie gewiss nicht angebetet.

„Ich würde Ihnen gerne einige besonders feine Tiere in meinen Stallungen zeigen. Benjamin und ihre anderen Cousinen und Cousins würden ebenfalls willkommen sein, und es könnte ein nettes Treffen werden. Grafton Manor liegt direkt hinter Barnet, meine Eltern leben dort. Vielleicht möchten Sie sich uns für ein paar Tage zu einer Hausparty anschließen? Das könnten wir leicht einrichten.“

Seine Miene war heiter und hoffnungsvoll, also nickte Esther. Lord Alberton … er war ein guter Mann, einer, dem die jungen Damen im Raum oft interessierte Blicke schenkten. Ein guter Mann, der eine Braut ohne verborgene Geheimnisse, wie sie sie im Übermaß hütete, verdiente, ein schlichter Mann, dem Komplikationen nicht gefallen würden. Wenn er sprach, war jedes Wort von der Haltung geprägt, dass ihm bestimmte Ansprüche einfach zustanden, wie auch von der Erwartung, jeder, dem er begegnete, sei ihm ebenbürtig und aufgewachsen wie er selbst, mit Pferden in den Stallungen, mit der Leichtigkeit eines Lebens, das nicht durch falsche Entscheidungen und unglücklich getroffene Auswahl verunstaltet war. Bei ihm musste nur sehr wenig unpassend gelaufen sein, und sie konnte sich vorstellen, dass er nicht viel Geduld mit jenen haben mochte, die Probleme hatten.

„Ach, eine Hausparty, das klingt wunderbar, und ich weiß, dass besonders Charlotte große Freude daran hätte. Denn von uns allen ist sie diejenige, die Pferde am meisten liebt.“

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste. Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach....
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