Die entführte Braut

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Ein schwarzhaariger Schurke erstürmt die Kirche und reißt Lilly O’Rourke vom Altar mit sich fort. Kein Bitten und kein Flehen hilft, ihr faszinierend attraktiver Entführer ist Devlin Farrell, der König der Londoner Unterwelt persönlich. Was hat er mit ihr im Sinn? Will er nur ihren kostbaren Saphirschmuck rauben? Oder ist sie Teil seines geheimen Racheplans? Als Devlin sie in die Wälder verschleppt, versucht Lilly noch zu fliehen, doch als er ihr einen ersten leidenschaftlichen Kuss raubt, erkennt sie sich plötzlich selbst nicht wieder. Wieso schmilzt all ihr Widerstand in Devlins starken Armen jäh dahin?


  • Erscheinungstag 15.02.2011
  • Bandnummer 279
  • ISBN / Artikelnummer 9783863496951
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, 27. Juli 1821

Erneut hatte Devlin Farrell sich in den Garten von Rutherford Palace geschlichen, um die Bewohner des Hauses zu beobachten. Inzwischen kannte er ihre Gewohnheiten fast so gut wie seine eigenen. Er wusste, was ihnen gefiel und was sie missbilligten. Er wusste auch, mit wem sie sich trafen und in welchen Clubs sie ihre Zeit verbrachten. Es war ihm sogar mehrfach gelungen, sich bei ihren Festen unter die Gäste zu mischen.

Auch in dieser Nacht wurde in Rutherford Palace gefeiert. Devlin allerdings lag nichts daran, jemandem zu begegnen, daher hatte er sich ins Dunkel einer Trauerweide zurückgezogen. So blieb er unsichtbar für die Paare, die im Garten flanierten. Dass man ihn entdecken könnte, war nicht zu befürchten. Selbst wenn ihn jemand sah, würde er nicht weiter auffallen. Ein Gentleman allein zog kaum neugierige Blicke auf sich, wenn er angemessen gekleidet war und sich benahm, wie man es von einem ehrenwerten Mitglied der Gesellschaft erwartete. Vermutlich hätte er sogar den Ballsaal betreten können, ohne als ungeladener Gast aufzufallen. Wer ihn nicht kannte, würde ihm kaum Beachtung schenken. Und diejenigen, die wussten, wer er war, würden sich ungern anmerken lassen, dass sie mit Devlin Farrell, den sie den König der Unterwelt nannten, bekannt waren.

Es war ein idyllischer, warmer Sommerabend, der Himmel war klar und voller Sterne. Der Garten von Rutherford Palace war für die Gäste geschmückt worden, bunte Lampions beleuchteten die Wege. Aus dem Haus erklang Tanzmusik, manchmal war das Klirren von Gläsern zu hören. Die Luft war erfüllt vom Surren der Stimmen, hin und wieder unterbrochen von einem hellen Lachen.

Farrell schlüpfte aus seinem Rock und hängte ihn über einen Ast. Dann krempelte er die Ärmel seines Hemdes auf. Ihm war warm, und es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie sich ein Gentleman in der Öffentlichkeit zu kleiden hatte. Erstens war er kein Gentleman. Und zweitens würde ihn auch niemand sehen.

„Oh, Lord Olney, Sie sind so amüsant!“, rief eine wohlklingende Frauenstimme.

Edward Manlay, Marquis of Olney, der Sohn des Duke of Rutherford?

Gespannt wandte sich Devlin um. Ja, da kam er tatsächlich, der zukünftige Erbe des Dukes. Neben ihm ging eine schöne junge Frau mit honigblondem Haar, der das Licht des Mondes und der Lampions etwas beinahe Elfenhaftes verlieh. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das mit Vögeln bestickt war – eine passende Robe für eine junge Dame, die selbst so viel Leichtigkeit ausstrahlte.

Leise schlich Farrell um die Weide herum und lehnte sich gegen den Stamm. Was würde Olney als Nächstes tun? Der Bursche war bekannt dafür, unschuldige junge Frauen zu verführen. Und die Bank unter dem Baum bot sich für ein solches Unterfangen geradezu an.

„Bitte sagen Sie, dass Sie mir gehören wollen, Miss Lillian. Dann werde ich für den Rest meines Lebens alles tun, um Sie zu amüsieren!“

„Ist das ein Heiratsantrag, Mylord?“

Er lächelte, ohne seinen Hochmut verbergen zu können. Ein Marquis galt als gute Partie, selbst wenn er charakterliche Mängel hatte. „Ja, ich möchte Sie heiraten. Ich war noch nie von einer jungen Dame so angetan wie von Ihnen! Ich fürchte, Sie haben mein Herz geraubt.“

Die bezaubernde Miss Lillian ließ sich auf die Bank nieder, und ihr Begleiter setzte sich dicht neben sie.

„Ich glaube kaum, dass Ihr Vater mich als Schwiegertochter akzeptieren würde“, sagte sie leise. „Ich bin nicht von Adel, und meine Mitgift ist kaum der Rede wert.“

Olney legte die Stirn in Falten und schaute enttäuscht, sogar ein wenig ärgerlich drein. Diesen Gesichtsausdruck hatte Farrell bei dem jungen Mann bisher noch nicht gesehen. War die Mimik Teil einer privaten Theateraufführung, die der Schurke für seine Angebetete veranstaltete? Oder war er wirklich ärgerlich auf seinen Vater?

„Rutherford möchte, dass ich noch in diesem Jahr eheliche. Ich werde ihn davon überzeugen, dass Sie die Richtige sind.“

Miss Lillian öffnete ihren Fächer und begann, leicht hin und her zu wedeln. Das hatte nichts Affektiertes an sich. Offenbar war ihr warm, also fächelte sie sich kühle Luft zu. Devlin fand die junge Frau einfach hinreißend. Sie war schön, anmutig, stolz und trotz ihrer Jugend – sie mochte kaum zwanzig sein – erstaunlich selbstsicher. Ja, sie war genau die Art von Frau, die Devlin nie bekommen würde, die zu erobern Olney jedoch als sein angestammtes Recht betrachtete.

„Ich bin sicher, dass Seine Gnaden eine Verbindung zwischen uns verhindern möchte.“

Der Marquis nahm ihre Hand. „Sie müssen die Meine werden! Ich kann es nicht ertragen, zu sehen wie Sie von anderen Gentlemen angehimmelt und umworben werden. Es ist mir eine Qual zu beobachten, wie die Männer um Sie herumscharwenzeln wie Rüden um eine …“

Beinahe hätte Farrell laut aufgelacht. Der Satz konnte nur auf eine Weise zu Ende geführt werden. … wie Rüden um eine läufige Hündin. Und das würde der jungen Dame sicher missfallen.

Aber Olney hatte sich gerade noch rechtzeitig unterbrochen.

Und nun fing die bemerkenswerte Miss Lillian an zu lachen. Offenbar wusste sie genau, welche Worte ihr Verehrer unterdrückt hatte. Doch sie war nicht entrüstet, sondern belustigt. War sie womöglich gar nicht so wohlerzogen, wie es schien?

Ein wenig verlegen strich der Marquis seine Rockschöße glatt, holte tief Luft und erklärte: „Ich kann nicht länger warten! Sollte mein Vater mir die Erfüllung meines Wunsches verwehren, so fliehen wir nach Gretna Green und vermählen uns dort. Sind wir einmal verheiratet, wird Rutherford sich damit abfinden.“

Gute Güte, der Dummkopf meinte es ernst! Devlin musste leise grinsen. Olney war also bereit, das Mädchen zu ehelichen, um es ins Bett zu kriegen. Nun, warum auch nicht? Begierde war nicht der schlechteste Grund für eine Heirat. Andere schlossen Ehen, um ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen oder weil sie die Mitgift brauchten. Beides traf auf den zukünftigen Erben des reichen und angesehenen Duke of Rutherford nicht zu. Er war frei in seiner Entscheidung. Die hübsche blonde Frau hatte allen Grund zur Freude!

Aber nein, Miss Lillian schien immer gut für eine weitere Überraschung. „Ich habe Ihnen absolut nichts zu bieten“, wiederholte sie. „Meine Familie ist nicht besonders wohlhabend. Und da wir erst kürzlich nach London gezogen sind, kennen wir hier kaum jemanden. Man kann wirklich nicht sagen, dass wir über gute Beziehungen verfügten.“

„Das ist mir gleichgültig!“ Erregt sprang Olney auf und blickte voller Verlangen auf die Angebetete. „Heiraten Sie mich! Meinem Vater geht es gesundheitlich nicht gut, und bald schon werden Sie eine Duchess sein. Diese Verantwortung brauchen Sie nicht zu fürchten. Ich erwarte von Ihnen nur, dass Sie mein Heim mit Ihrer Anmut zieren, sich in der Öffentlichkeit an meiner Seite zeigen und des Nachts mein Bett teilen. Sie müssen die Meine werden!“

Rutherford war krank? Das hatte Farrell nicht gewusst. Unter diesen Umständen blieb ihm nicht mehr viel Zeit, seine Pläne umzusetzen. Verflixt! Doch zunächst einmal wollte er nichts von dem Gespräch zwischen Olney und dieser faszinierenden jungen Dame verpassen. Gewiss würde sie dem Drängen des Marquis nachgeben. In ihrer Position war eine Heirat mit ihm mehr, als sie sich je erhoffen konnte. Noch zögerte sie. Aber ihr Ja war nur eine Frage der Zeit, das wusste Devlin – obwohl er sich dennoch wünschte, sie würde den überheblichen Spross der Familie Manlay abweisen.

„Ihr Antrag ehrt mich, Mylord. Doch die Vernunft gebietet mir, ihn abzulehnen.“

„Ich werde Sie bekommen, ob mein Vater nun damit einverstanden ist oder nicht!“

Der eingebildete Dummkopf umarmte das Mädchen und zog es eng an sich.

Farrell wäre Miss Lillian am liebsten zu Hilfe geeilt, doch er hatte es sich zum Vorsatz gemacht, sich nirgends einzumischen, solange er sich in Rutherford Palace oder dem Garten aufhielt. Sie würde sich selbst wehren müssen.

Sie versuchte, Olney mit beiden Händen von sich zu stoßen, doch dazu reichten ihre Kräfte nicht aus. Eisern hielt er sie fest, und schließlich gab sie nach. Ja, sie erlaubte dem Marquis sogar einen Kuss. Hatte sie sich ihm so rasch unterworfen? Devlin legte die Stirn in Falten. Er hätte wetten mögen, dass sie eher die Zähne zusammenbiss, als ihren süßen Mund preiszugeben.

Ein kluges Kind, dachte er, so hält sie ihn bei der Stange.

Erfreut über ihre scheinbare Nachgiebigkeit, lockerte Olney seinen Griff, und sogleich trat Miss Lillian einen Schritt zurück. Hatte sie gewusst, dass er sie loslassen würde, sobald er meinte, sich in der stärkeren Position zu befinden? Wahrlich, sie war diesem Dummkopf haushoch überlegen. Klug, listig und überhaupt nicht so unerfahren, wie man meinen sollte! Sie gefiel Farrell immer besser.

„Ich werde gleich jetzt mit meinem Vater sprechen“, sagte der Marquis. „Bitte warten Sie hier auf mich. Wenn ich zurück bin, gibt es etwas zu feiern!“

Devlin konnte sich lebhaft vorstellen, was Olney unter Feiern verstand. Immerhin begehrte er die junge Dame so leidenschaftlich, dass er bereit war, sich deshalb mit dem Duke anzulegen. Wenn es ihm gelang, seinen Kopf durchzusetzen, dann würde Miss Lillian bald sein Bett teilen und ihm einen Nachfolger gebären.

Welch unerwartete Entwicklung! Und was für ein Glück für Farrell, die Unterhaltung dieses Paares mit anzuhören. Bot sich ihm hier doch eine wahrhaft großartige Möglichkeit, die Demütigungen der Vergangenheit zu rächen.

Lillian O’Rourke seufzte, ließ sich wieder auf die Bank unter der Weide sinken und beobachtete, wie Olney im Haus verschwand. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass der Erbsohn eines Dukes um ihre Hand anhalten würde. Aber da sich nun unerwartet die Chance bot, eine richtig gute Partie zu machen, wollte sie die auch nutzen. Ihr Instinkt riet ihr, vorsichtig zu sein. Doch ihr Verstand ermahnte sie, nicht unnötig zu zögern. Bisher hatte Olney sie stets zuvorkommend und freundlich behandelt. Eine Ehe mit ihm hätte viele Vorteile. Ja, sie könnte für die O’Rourkes sogar die Rettung bedeuten!

Seit Lilly mit ihrer Familie nach London gekommen war, hatte das Leben ihnen übel mitgespielt. Ihre Schwester Cora war tot – ermordet. Eugenia wollte aus lauter Angst das Haus nicht mehr verlassen. Isabella, die Älteste, vermählte sich plötzlich und ganz offiziell mit dem berüchtigten Lord Libertine, und zwar noch bevor die Trauerzeit um Cora zu Ende war. Und ihre Mama, die nie besonders lebenstüchtig gewesen war, hatte sich nun in eine Traumwelt zurückgezogen.

Seitdem trug Lady Vandecamp, eine Freundin von Mrs. O’Rourke, beinahe die alleinige Verantwortung für die Schwestern. Sie hatte sich anerboten, die O’Rourke-Töchter in die Gesellschaft einzuführen. Erst neulich hatte sie gemahnt, es müsse dringend etwas geschehen, damit die Saison in London nicht gänzlich zum Misserfolg zu werden drohe. Lilly war die Aufgabe zugefallen, nun dafür zu sorgen, das „das Richtige“ getan wurde.

Eine Verbindung mit dem Erben des Duke of Rutherford war vermutlich genau das, was Lady Vandecamp sich darunter vorstellte. Die Ehe mit Olney würde den Ruf und die Zukunft O’Rourkes retten. Das Misstrauen der Mitglieder der guten Gesellschaft gegenüber der von Schicksalsschlägen gebeutelten Familie aus Belfast würde vielleicht nicht sogleich schwinden, aber zumindest würde niemand es mehr wagen, böse Gerüchte über sie zu verbreiten.

Lilly war nicht in den Marquis verliebt. Doch das beunruhigte sie nicht. Schließlich hatte ihre Mama ihr immer wieder versichert, dass die Liebe mit der Zeit schon kommen würde. Sie war durchaus bereit, sich zu gedulden, zumal sie durch Beobachtungen zum Schluss kam, dass Liebe etwas Gefährliches war. Liebe schien sehr oft mit Verrat einherzugehen. Deshalb hatte Cora sterben müssen. Und deshalb war Bella jetzt mit einem Mann verheiratet, der vielleicht gar nicht zu ihr passte.

„So nachdenklich, Miss?“

Sie zuckte zusammen, fuhr herum und sah einen Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln näher treten. Der Gärtner vielleicht, oder der Stallmeister? Himmel, er hätte sie nicht so erschrecken dürfen! Und überhaupt war er ein Fremder. Wenn sie eines in London gelernt hatte, dann dies: Trau keinem Unbekannten – und insbesondere nicht einem so attraktiven und überaus männlich wirkenden Fremden wie diesem!

Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich von ihm ab.

Hinter sich hörte sie ihn leise lachen. Ein heißer Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

„Miss Lillian, nicht wahr?“

„Miss O’Rourke“, korrigierte sie ihn, ohne sich umzuschauen.

„O’Rourke, tatsächlich … Dann habe ich mich also nicht getäuscht, als ich meinte, einen leichten irischen Akzent herauszuhören. Hat man Ihnen beigebracht, Ihre Herkunft zu verleugnen?“

Wollte er andeuten, sie schämte sich ihres irischen Blutes? Welch ein Unsinn! „Ich bin stolz auf meine Wurzeln, und keiner, an dessen Meinung mir etwas liegt, würde mir raten, sie zu verheimlichen. Meine Mutter ist im Übrigen Engländerin. Mein Vater allerdings … Nun, das geht Sie gar nichts an. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit Ihnen rede.“

Er trat auf sie zu und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr recht dreist vorkam. Und er schaute sie an, als wisse er alles über sie! Unwillkürlich atmete sie rascher. Himmel, er machte sie nervös! Ob er gelauscht hatte? Wahrscheinlich ja. Wie ungezogen von ihm!

„Obere Inselhälfte vermutlich, schottischer Einschlag – Sie kommen aus dem Norden Irlands, nicht wahr. Aus Belfast?“

Woher wusste er das? Sie starrte ihn an. Nein, sie würde nicht zugeben, dass er es erraten hatte.

„Belfast also“, stellte er gelassen fest. „Und jetzt leben Sie in London und verkehren in den besten Kreisen. Offenbar sind Sie auf dem Weg nach oben. Wer den Erben eines Dukes heiratet, gehört über Nacht zur Crème der Gesellschaft. War das von langer Hand geplant? Oder handelt es sich um einen echten Glücksfall?“

Sie straffte die Schultern und versuchte, den Fremden zu ignorieren.

„Sie können unbesorgt mit mir reden, Miss O’Rourke. Ich beiße nicht, ich verspreche es.“

Ihre Neugier war zu groß. Sie musste ihn einfach noch einmal genauer ansehen. Jetzt bemerkte sie, dass er einen teuren, maßgeschneiderten Rock über dem Arm trug. Sein makellos weißes Tuch war zu einem kunstvollen Knoten geschlungen. Kein Gärtner also – was seinen Auftritt noch verwirrender machte. Er war groß und kräftig gebaut. Sein dichtes dunkles Haar war modisch geschnitten, und die graublauen Augen verrieten seinen scharfen Verstand. Aber da war noch etwas anderes. Ärger? Etwas Herauforderndes und gleichzeitig Ablehnendes? Jedenfalls etwas ziemlich Beunruhigendes.

„Wir sind einander nicht vorgestellt worden“, sagte sie.

Er schaute um sich und zuckte mit den Schultern. „Keiner da, der das übernehmen könnte.“

Natürlich hätte er einfach seinen Namen nennen können. Da er das nicht tat, beschloss Lilly, ihn ab sofort wirklich zu ignorieren. Unter anderen Umständen hätte sie ihn vielleicht gefragt, warum … Nein, sie hätte es ganz bestimmt nicht getan! Trotz seiner modischen Kleidung sah er so gar nicht aus wie ein echter Gentleman. Er wirkte irgendwie wild und ungezähmt. Ja, das war wohl die Sorte Mann, die schon ihre beiden Schwestern ins Verderben gestürzt hatte. Er war gefährlich!

Ihr zur Schau gestelltes Desinteresse schien ihn völlig kaltzulassen. „Sie sind also im Begriff, eine Marchioness zu werden“, stellte er fest. „Ein großes Glück für jemanden wie Sie.“

Ihre Selbstbeherrschung reichte nicht aus, um die Beleidigung zu überhören. „Ein großes Glück für den Bräutigam!“

Er begann wieder zu lachen. „Natürlich sollte man über eine gewisse Selbstachtung verfügen. Aber ein übersteigertes Selbstbewusstsein ist auch nicht gesund.“

Nun beleidigte er sie schon wieder! Er dachte wohl, sie sei nicht gut genug für jemanden wie Olney. Ha! „Sind Sie ein Freund des Marquis? Wollen Sie ihn vor meinen ehrgeizigen Plänen bewahren?“

„Wir sind nicht befreundet. Und deshalb werde ich ihn gewiss nicht vor Ihnen warnen.“

Blut stieg ihr in die Wangen, und einen Moment lang bebte sie vor Zorn am ganzen Körper. Wie unverschämt dieser Fremde war! Wahrlich, niemand in London hatte es bisher gewagt, so mit ihr zu sprechen!

„Ihre Taktik scheint jedenfalls erfolgreich zu sein“, überlegte er laut. „Mit Ihrer Zurückhaltung bringen Sie ihn dazu, genau das zu tun, was Sie wollen. Wenn Sie ihm mehr Freiheiten gestattet würden, hätte er Ihnen wohl kaum einen Antrag gemacht.“

„Ich bin keineswegs sicher, dass ich ihm nach der Eheschließung all die Freiheiten zugestehen werde, von denen er träumt.“

Diesmal lachte Farrell so laut, dass Lilly zusammenzuckte. „Für so naiv hätte ich Sie nicht gehalten, Miss O’Rourke. Haben Sie wirklich keine Ahnung, was für ein Typ Mann Olney ist? Er spielt den Gentleman, aber in Wirklichkeit ist er ein Tier. Wenn Sie erst seine Frau sind, wird ihn nichts davon abhalten, sich zu nehmen, was er will.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Er verbeugte sich. „Das verrate ich Ihnen vielleicht beim nächsten Mal. Ich freue mich schon darauf, von Ihnen zu erfahren, was Sie in der Zwischenzeit mit Olney erlebt haben. Es steht zu befürchten, dass er Sie Ihres Optimismus bald beraubt haben wird – aber natürlich werden Sie dadurch an Weisheit gewinnen.“

So ein unverschämter Rüpel! „Soll das eine Drohung sein?“, fragte sie zornig.

„Darüber sollten Sie nachdenken.“ Damit wandte er sich ab und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

Devlin Farrell hatte die Unterhaltung mit Miss O’Rourke rasch abgebrochen, als er sah, wie Olney aus dem Haus trat. Er wollte diesen Schurken nicht treffen. Unwahrscheinlich zwar, dass der Marquis ihn nach zwanzig Jahren wiedererkennen würde, doch er wollte kein Risiko eingehen.

Schade, dachte er, ich hätte gern noch ein bisschen mit ihr geplaudert, sie ist wirklich reizend.

Tatsächlich hätte er nicht genau zu sagen vermocht, was ihn an Lillian O’Rourke so anzog. Vielleicht ihre großen blauen Augen mit dem ungewöhnlichen Grünschimmer. Oder ihre faszinierende Ausstrahlung. Hütete sie ein Geheimnis? Aber nein, Miss O’Rourke war viel zu jung und unschuldig, um eine „Vergangenheit“ zu haben.

Er versteckte sich wieder hinter der Trauerweide. Was mochte Rutherford gesagt haben? Würden bald die Hochzeitsglocken läuten? Würde aus Miss O’Rourke die Marchioness of Olney werden? Und wenig später – sollte der Hinweis auf den schlechten Gesundheitszustand des Vaters stimmen – die Duchess of Rutherford? Das zu erfahren war wichtig. Auch für Farrells Zukunft.

„Ich soll Sie fragen, Miss Lillian, ob Sie sich unter Umständen vorstellen können, ihr Leben mit mir zu teilen, wenn Sie dafür eine Summe in einer Höhe erhalten, die Ihnen und Ihren Angehörigen ein sorgenfreies Leben ermöglicht.“

Sie sollte Olneys Mätresse werden? Devlin grinste. Wie würde die stolze junge Dame darauf reagieren?

Sie schwieg. Und erst nach einer ganzen Weile sagte sie: „Mylord, Sie verwirren mich. Was soll ich aus Ihren Worten schließen? Gewiss glauben Sie nicht wirklich, dass ich …“

„Ich habe meinem Vater gleich gesagt, Sie würden nicht zustimmen. Aber ich musste ihm versprechen, Ihnen den Vorschlag zu unterbreiten.“

Farrell zog die Stirn in Falten. Olney fühlte sich Miss O’Rourke überlegen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er schien aber auch zu wissen, dass sie sich nicht auf eine Affäre mit ihm einlassen würde. Nun, offenbar wollte er mehr von ihr als von den vielen unglücklichen Frauen, die zu seinen kurzlebigen Eroberungen zählten. Sonst hätte er sie vermutlich auch gegen ihren Willen einfach genommen. Wie gut, dass er so vernarrt in die junge Dame war! Denn unter diesen Umständen würde Devlin den Plan, der langsam in ihm reifte, tatsächlich in die Tat umsetzen können.

„Teilen Sie dem Duke mit, dass ich dieses beleidigende Angebot zurückweise. Und nehmen Sie zur Kenntnis, Mylord, dass ich auch Sie abweise.“

„Aber … warum?“

„Weil Sie mir eines bewiesen haben: Trotz der Zuneigung, die Sie mir angeblich entgegenbringen, haben Sie nicht die Wahrung meiner Interessen, sondern einzig und allein Ihren eigenen Vorteil im Sinn.“

„Nein, Miss Lillian, das ist nicht wahr! Rutherford hat mich gezwungen, Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten! Ich selbst habe Ihnen doch mehrfach versichert, dass ich Sie heiraten möchte! Das habe ich auch meinem Vater gesagt.“ Er griff nach der Hand der jungen Dame. „Liebste Lillian, er hat mir gestattet, Sie zur Gemahlin zu nehmen, wenn Sie das seiner Meinung nach ‚passendere‘ Angebot ablehnen.“

„Er war also mit meiner Mitgift nicht zufrieden?“

„Es ging weniger darum als um Ihre … bescheidene Herkunft.“

Obwohl Devlin es im Dunkeln nicht sehen konnte, war er sich sicher, dass Miss O’Rourke errötete. Wie gut konnte er ihre Gefühle verstehen! Schließlich hatte er selbst zeit seines Lebens unter seiner bescheidenen Herkunft zu leiden gehabt.

Die junge Dame rang um Fassung. Gewiss würde sie nicht auf die Ehe mit Olney verzichten, nur weil sein Vater sie ungeeignet fand. Keine Frau, die über ein wenig Verstand und Ehrgeiz verfügte, hätte das getan. Jetzt fragte sie: „Was hat Ihr Vater sonst noch gesagt, Mylord?“

„Nun, da wir verlobt sind, können Sie mich, solange wir allein sind, Edward nennen, meine Liebe“, gab der Marquis ausweichend zurück.

„Sind wir denn verlobt?“

„So gut wie. Sobald ich Rutherford Bescheid gebe, wird er mit Lord und Lady Vandecamp sprechen. Lady Vandecamp hat Sie unter ihre Fittiche genommen, nicht wahr? Ich denke, sie wird sich, wenn alles geregelt ist, mit Ihrer Mama in Verbindung setzen und deren Einwilligung erwirken. Ich wünsche mir eine kurze Verlobungszeit. Liebste Lillian, Sie sind doch damit einverstanden, dass wir uns so bald wie möglich vermählen? Mitte August könnten wir bereits getraut werden.“

„Oh, so bald?“ Ihre Stimme bebte ein wenig.

„Aber ja! Sie haben doch nicht etwa Angst vor der Ehe? Ich weiß natürlich, dass junge Damen manchmal … scheu sind. Aber bedenken Sie doch: In drei Wochen werden Sie Marchioness of Olney sein. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Und um unsere Hochzeitsnacht werden uns selbst die Götter beneiden!“

Eigentlich müsste sie glücklicher aussehen, dachte Farrell.

Lilly starrte zu Boden, was Olney sehr zu enttäuschen schien. Bestimmt hatte er geglaubt, sie würde sich ihm an den Hals werfen und die Verlobung mit einem Kuss besiegeln. War ihre Zurückhaltung nur Taktik? Oder war sie wirklich nicht besonders erfreut über die in Aussicht gestellte Heirat?

„Ja …“, murmelte sie. „Ja … Edward.“

„Drei Wochen sind eine endlos lange Zeit. Wie soll ich sie nur überstehen, Lillian?“

Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, zog er sie an sich und presste seine Lippen auf die ihren. Miss O’Rourke versuchte, sich zu befreien. Aber sie hatte keine Chance gegen einen Mann, der entschlossen war, sich einen richtigen Kuss zu stehlen.

Devlin zuckte es in den Fäusten. Es war ihm sehr unangenehm, zusehen zu müssen, wie eine Frau rücksichtslos behandelt wurde. Am liebsten hätte er den Schurken weggerissen und ihm einen Kinnhaken verpasst. Schon oft hatte er Gerüchte über die Gemeinheiten vernommen, die Olney seinen Mätressen zumutete.

„Kommen Sie, Lillian, habe ich nicht wenigstens einen Kuss verdient? Geben Sie mir einen Vorgeschmack auf das, was ich von Ihnen bekomme, wenn wir offiziell verlobt sind.“

Es gelang ihr, ihn ein Stück weit von sich zu schieben. Doch zu ihrem Entsetzen nutzte er die Gelegenheit, um nach ihrer Brust zu greifen und sie unsanft zu drücken. Lillian schrie auf. Und Devlin war im Begriff, mit geballten Fäusten hinter der Trauerweide hervorzuschießen.

Das erwies sich als unnötig. Denn Miss O’Rourke trat Olney kräftig auf den Fuß. „Lassen Sie mich sofort los! Wie können Sie es wagen, sich derartige Freiheiten herauszunehmen!“

„Wir werden bald verheiratet sein. Was machen da schon ein paar Tage aus? Gewähren Sie mir Ihre Gunst, meine Liebe.“

„Wenn es auf ein paar Tage nicht ankommt, dann können Sie sich sicher noch ein wenig gedulden, Mylord.“

„Und wenn ich nicht dazu bereit bin?“ Er fasste sie um die Taille und zog sie fest an sich, sodass sie seine Erregung spüren konnte. „Was werden Sie dann tun? Die Verlobung lösen?“

Farrell hielt den Atem an. Wie würde sie reagieren? Machte sie dem Marquis nun klar, dass sie niemals einen so rücksichtslosen Mann heiraten würde? Erkannte sie nun, wie es ihr an seiner Seite ergehen würde? Ein wenig hoffte Devlin, sie würde einen Rückzieher machen, auch wenn das hieß, dass er sie nicht für seine Pläne einsetzen konnte. Ihre Antwort enttäuschte ihn.

„Ich … möchte tun, was gut und richtig ist. Solche Intimitäten sind nur Ehegatten gestattet.“

„Also gut. Ich respektiere Ihre Tugendhaftigkeit, deshalb werde ich mich bis zur Hochzeit gedulden. Allerdings erwarte ich, dass Sie sich im Ehebett nicht so prüde zieren.“ Schließlich ließ er sie los. „Gehen wir zurück ins Haus.“

Mit gerunzelter Stirn schaute Farrell dem Paar nach. Drei Wochen bis zur Hochzeit. Das musste reichen, um alle Vorbereitungen zu treffen. Er würde seinen Plan ausführen und endlich Gerechtigkeit schaffen.

2. KAPITEL

London, Whitechapel, 15. August 1821

„Devlin Farrell! Schön, Sie wieder einmal zu treffen.“

Er wandte sich unauffällig um und erspähte James Hunter, der am Nachbartisch Platz genommen hatte. Verflixt, immer wenn einer dieser Hunter-Brüder etwas von ihm wollte, bedeutete das nur Ärger! „Was gibt es, Jamie?“

James trank einen großen Schluck Ale, schaute streitlustig drein und sagte leise: „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“

Farrell erhob sich und ging nach hinten in sein Büro, um dort auf Hunter zu warten. Dieser würde wenig später folgen. Besser, niemand erfuhr von dem Gespräch.

Devlin hatte gerade zwei Gläser mit Whisky gefüllt, als Hunter den Raum betrat. „Es ist nicht einfach, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen“, sagte er, während er die Tür sorgfältig schloss. „Die meisten Leute, mit denen ich zu reden wünsche, treffe ich in ihren Clubs an.“

„Ich glaube kaum, dass man mir den Zutritt zu diesen Clubs gestatten würde – es sei denn, ich würde als Diener verkleidet die Holzscheite im Kamin aufschichten. Wenn Sie mich treffen wollen, Jamie, müssen Sie sich schon unters gemeine Volk mischen.“ Farrell mochte Hunter, obwohl dieser in völlig anderen Kreisen verkehrte als er selbst. Hunter war offen und geradeheraus. Er arbeitete fürs Innenministerium, das sich unter anderem mit den sicherheitspolitischen Angelegenheiten Englands befasste. Doch keiner der Hunter-Brüder hatte sich jemals in Devlins Angelegenheiten eingemischt, und das wusste Devlin durchaus zu schätzen. Da Jamie jedoch der Sohn eines Earls war und das Verkehren in höheren Kreisen hier in Whitechapel einen Ruf ruinieren konnte, war Devil daran gelegen, ihre Bekanntschaft geheim zu halten.

„Wenn Ihre Kneipe nicht in Whitechapel läge, sondern in Mayfair oder Holborn, könnte Ihr Gin-House sogar zum Treffpunkt für die respektable Gesellschaft werden. Die Atmosphäre ist angenehm, und vom Gin, der hier ausgeschenkt wird, wird niemand blind.“

„Soso. Aber wir sind hier nicht in Mayfair, und ich bin und bleibe nun mal eine Gossenratte aus Whitechapel. Haben Sie übrigens bemerkt, dass ich den Namen meines Gin-House ändern und ein neues Schild draußen anbringen ließ? Es heißt nun ‚The Crown and Bear‘.“

„Ich habe es gesehen. Geht mich nichts an.“

Farrell zuckte mit den Schultern. „Was wollen Sie, Hunter?“

„Zunächst einmal möchte ich Ihnen für Ihre Unterstützung danken. Ohne Ihre Hilfe hätten wir noch mehr Probleme gehabt, letzten Monat in der Kapelle des Ballinger Estate gegen die Bruderschaft des Blutdrachen vorzugehen. Und mein Bruder Andrew wäre vermutlich tot, wenn Sie ihm nicht beigestanden hätten.“

Devlin nahm einen Schluck Whisky und ließ seine Gedanken zurück zu jener Nacht wandern. Es war schrecklich gewesen. Eine Horde von perversen Satanisten hatte im Ballinger Estate in Mayfair in blutigem Spiel ein Menschenopfer darbringen wollen. James Hunter und seine Brüder hatten das nur mit großer Mühe und dank Farrells Unterstützung verhindert. „Es war ja kein richtiger Kampf“, sagte Farrell. „Ich habe Ihrem Bruder lediglich meinen Degen geliehen.“

„Sonst hatte ja keiner einen.“

„Ich bin kein Held, Hunter, bauschen Sie die Sache nicht auf.“

Jamie lächelte sarkastisch. „Wie Sie wollen, Dev. Aber Sie hätten nicht dort sein müssen …“

„Ich fühlte mich aber dazu verpflichtet. Denn schließlich hatte ich euch ja gesagt, wo ihr die Kerle findet.“

„Wenn ich mich recht erinnere, gab es aber auch persönliche Gründe für Ihre Anwesenheit.“

Mist! Hätte er bloß nicht so leichtfertig davon erzählt. „Das geht nur mich etwas an, Hunter.“

„Ich will mich auch nicht einmischen. Aber wir sind mit dieser Bruderschaft noch nicht fertig. Einige sind entkommen. Da alle Kutten und Kapuzen trugen, sind wir uns nicht einmal sicher, um wen es sich bei den Flüchtigen wirklich handelt.“

„Sie haben sich verzogen wie die Kakerlaken in die Ritzen. So bald werden die nicht wieder ans Tageslicht kommen.“ Devlin lachte leise.

„Deshalb bin ich hier.“

„Sie erwarten doch nicht, dass ich sie aus ihrem Versteck treibe?“

„Doch – um sie endlich einzubuchten. Wir kennen ein paar von ihnen namentlich, aber sie halten nun still, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Aber es wird kein Gras darüberwachsen. Diese Männer sind Mörder und müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Es heißt, zwei oder drei hätten sich in Thieves’ Kitchen verkrochen. Deshalb brauchen wir Sie, Devlin. Sie kennen sich hier aus, Ihnen kommt das ein oder andere zu Ohren, weil man Ihnen hier vertraut. Bringen Sie was in Erfahrung.“

„Unmöglich.“ Devlin schüttelte den Kopf. „Es würde mir das Genick brechen.“

„Beunruhigt es Sie nicht, dass Henley entkommen ist? Oder dass Lord Elwood und Percy Throckmorton nun so tun, als hätten sie nie von der Bruderschaft gehört? Und all die anderen, die noch nicht erwischt wurden! Dev, Sie waren doch dort, um dem Spuk ein Ende zu setzen. Also helfen Sie uns jetzt, dieses Ziel auch zu erreichen.“

Er war dort gewesen, weil er gehofft hatte, sich an gewissen Leuten rächen zu können. Aber das hatte sich alles in Luft aufgelöst, als er Jamies Bruder den Degen zuwarf. „Mit mir hat das alles nichts zu tun gehabt. Ich war Ihrem Bruder etwas schuldig, und nun ist die Schuld beglichen.“

„Es könnte zwingende Gründe geben, warum Sie sich das noch einmal überlegen sollten, Dev. In Ihrem eigenen Interesse.“

„Wie könnte es in meinem Interesse sein, das Innenministerium zu unterstützen?“

Hunters dunkle Augen wurden zu Schlitzen, und er holte tief Luft, bevor er weitersprach. „Eine Zusammenarbeit könnte dafür sorgen, dass Ihr Gin-House auch weiterhin unbehelligt bleibt. Alles andere wäre doch schlecht fürs Geschäft, nicht wahr?“

Ah, Erpressung! Devlin schäumte innerlich. Hunter musste ziemlich verzweifelt sein, dass er nach diesem letzten Mittel griff. Devlin nahm noch einen Schluck und dachte über seine Alternativen nach. Sich zu weigern brachte nichts. Und auch zuzustimmen würde ihn wenig kosten. Er hasste Drohungen. Und eigentlich war es ihm gleich, ob „The Bear and Crown“ hin und wieder von der Polizei heimgesucht wurde; die Leute, die hier verkehrten, waren immerhin ein bisschen zivilisierter als die üblichen Raufbrüder aus der Gegend. Mit Mick Haddon hatte er Burgfrieden geschlossen, und außerdem interessierten ihn Leute wie Henley und die anderen überhaupt nicht.

Nein. Er wollte nur wissen, ob Olney oder Rutherford an dem Opferritual beteiligt waren, um es gegebenenfalls gegen sie zu verwenden. Wenn er mit Hunter gemeinsam an der Sache dranblieb, ließe sich unter den Mitgliedern der Bruderschaft vielleicht der ein oder andere Duke oder Marquis finden. Das wäre sehr delikat. Und gleichzeitig eröffnete es ihm neue Möglichkeiten, sollte sein ursprünglicher Plan misslingen.

„Ich muss noch dringend einige Angelegenheiten regeln, Hunter. Ich werde ein paar Tage nicht hier sein. Aber danach werde ich sehen, was ich tun kann.“

„Die Zeit drängt“, sagte Hunter. „Es ist schon über einen Monat her, und ich fürchte, die Schwarzkutten sind im Begriff, das Land zu verlassen, bis die Angelegenheit in Vergessenheit gerät.“

Farrell lachte. „Der Meinung bin ich nicht. Vier Wochen reichen gerade, um sie übermütig glauben zu lassen, sie wären auf der sicheren Seite. In einer Woche werden sie unvorsichtiger und hoffen, dass alles vergessen ist. Sie werden nicht mehr mit uns rechnen.“

Hunter hob sein Glas und prostete ihm zu. Devlin tat es ihm gleich. Ja, so fügte sich eins ins andere.

Lilly nippte an ihrem Tee und bemühte sich, trotz ihrer inneren Unruhe unbeschwert zu wirken. Ihre Schwester Bella und deren Gatte redeten sanft auf Mrs. O’Rourke ein. Gina hatte sich mit ihrer Handarbeit in eine Ecke des Raums zurückgezogen und tat, als merkte sie gar nicht, wie aufgeregt alle waren.

„Ich glaube wirklich …“, begann Isabella.

Ihre Mutter hieß sie mit einer Handbewegung Schweigen. „Um Himmels willen, Bella, ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir mit deinem Vorschlag ernst ist. Hast du dir überlegt, wie unpassend und anstrengend es für uns wäre, zu euch zu ziehen, während wir noch um unsere geliebte Cora trauern? Ich möchte hierbleiben. Und ich weiß auch nicht, was dagegenspricht. Schließlich haben wir die Miete bis September bereits bezahlt.“

Andrew Hunter legte seiner Braut beruhigend die Hand auf die Schulter und erklärte Mrs. O’Rourke geduldig: „Wir würden Sie gern bei uns haben, liebe Schwiegermama, und Ihnen den Schutz unseres Heims bieten. Wenn Miss Lillian erst verheiratet ist, möchten Sie doch gewiss die Frischvermählten in Ihrem Glück nicht stören. Dann werden Sie hier mit Miss Gina ganz allein sein.“

Mrs. O’Rourke seufzte. „Ja, wenn Lilly fort ist, wird es hier sehr still und einsam sein.“ Sie senkte die Stimme, ehe sie mit einem kurzen Blick auf Gina fortfuhr: „Ich weiß wirklich nicht, was mit ihr los ist. Früher sprühte sie vor Leben. Aber in letzter Zeit …“

Bella und Lilly schauten sich an, sagten aber nichts. Zum Glück ahnte ihre Mutter nichts von den Ereignissen jener Nacht. Gina war von Mitgliedern einer satanistischen Bruderschaft entführt worden, und beinahe hätten sie Gina auf dem Altar des Teufels geopfert. Wenn Mrs. O’Rourke davon erfuhr, würde sie ihr nie wieder gestatten, einen Fuß vor die Tür zu setzen.

„Lilly und ihr Bräutigam werden fast einen Monat lang auf Hochzeitsreise sein. Wäre es da nicht schön, wenn du mit Gina zu uns kämst? Platz haben wir genug. Und Andrew wäre es sowieso lieber, wenn du nicht zu Olney ziehst.“

„Aber warum?“ Mrs. O’Rourke gab sich heute streitlustig. „Der Marquis würde uns gewiss gern bei sich aufnehmen. Er war sehr zuvorkommend, als wir in der vergangenen Woche bei ihm zum Tee waren.“

Lilly selbst war keineswegs sicher, dass Olney ihre Verwandten willkommen heißen würde. In der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, hatte er ihr eine Menge kostbarer Geschenke gemacht, so als wollte er seine Großzügigkeit unter Beweis stellen. Er hatte ihr Gedichte geschrieben und sie mit großem Eifer umworben. Doch nie hatte er den Wunsch geäußert, dass ihre Mutter und Gina bei ihnen wohnen sollten. Ihre Mutter war zwar sehr stolz, dass Lilly eines nicht so fernen Tages eine Duchess sein würde, aber Olneys Familie hatte nicht vergessen, dass sie aus eher bescheidenen Verhältnissen stammte. Was Lilly immer wieder zu der Frage zurückbrachte – warum hatte der Marquis of Olney um ihre Hand angehalten?

Sie musste oft daran denken, was der merkwürdige Fremde damals im Garten gesagt hatte. Er prophezeite ihr, Olney würde sie nur heiraten, damit sie sich ihm nicht mehr verweigern konnte. Nun, aus ihrer Sicht war das doch ein faires Abkommen. Sie würde ihm ihren Körper überlassen, und im Gegenzug würde er die gesellschaftliche und finanzielle Stellung ihrer Mutter und ihrer Schwester Gina absichern. Vermutlich würden auch Bella und Andrew Hunter von der Verbindung profitieren. Allerdings hatte Letzterer sehr deutlich gemacht, dass er den Marquis nicht mochte.

„Zu Lilly und ihrem Gatten könntest du immer noch ziehen, wenn die beiden erst einmal zur Ruhe gekommen sind, Mama“, schlug Bella vor.

„Du selbst bist doch auch erst seit einem Monat verheiratet“, gab ihre Mutter zu bedenken.

„Andrew ist der Meinung, dass …“

„… dass Sie den Schutz und die Anwesenheit eines Gentleman brauchen, liebe Schwiegermama“, fiel er seiner jungen Gemahlin ins Wort. „Ich kann Ihnen mühsame Verhandlungen mit Kaufleuten und andere unangenehme Alltagspflichten abnehmen. Und denken Sie nur an die Unruhen, zu denen es im Zusammenhang mit dem Begräbnis der in Ungnade gefallenen Königin gekommen ist! Viele Menschen kamen dabei zu Schaden. Meine Diener werden immer für den nötigen Schutz sorgen. Auch Nancy und die Köchin sind uns willkommen.“

„Sie scheinen sich ja alles genau überlegt zu haben, Mr. Hunter.“ Noch kam ihr das Du nicht über die Lippen. Aber nach Bellas Hochzeit gehörte ihr Gatte natürlich zur Familie.

Hunter lächelte. „Allerdings. Bella und ich haben ausführlich über alles gesprochen und meinen, dass es am besten ist, wenn Sie vorerst zu uns ziehen. Wenn die Trauerzeit vorbei ist, werden Sie froh sein, in einem Haus zu leben, in dem Miss Ginas Verehrer empfangen werden können und Sie sich um nichts kümmern müssen. Bedenken Sie nur, welchen Gefahren zwei alleinstehende Damen sonst ausgesetzt sind!“

Mrs. O’Rourke schenkte ihm ein winziges, fast kokettes Lächeln. „Das weiß natürlich ein ehrbarer Gentleman wie Sie nur allzu gut.“

„So ist es.“ Er empfand ihre spitzzüngige Anspielung auf seine Vergangenheit als „Lord Libertine“ keineswegs als Beleidigung.

„Nun, wenn das so ist … Ich denke, wir nehmen das Angebot an. Zu Lilly können wir immer noch ziehen, wenn sie und ihr Gatte sich an das Eheleben gewöhnt haben.“

Hunter warf einen besorgten Blick auf Lilly und sagte: „Miss Lilly ist selbstverständlich ebenfalls stets willkommen.“

Das war eine seltsame Bemerkung, fand Lilly. Warum sollte sie als Frischvermählte in das Haus ihres Schwagers ziehen wollen? Und warum brachte Hunter auf die Art zum Ausdruck, dass er ihren Verlobten nicht in seinem Haus sehen wollte? Bella hatte schon einige Mal versucht, mit ihr über Olney zu reden, aber Lillian hatte stets das Thema gewechselt. Sie wollte ihre eigenen Zweifel zerstreuen und sagte sich immer wieder, dass er ein netter und freundlicher Mann war. Es war vielleicht nicht immer einfach, mit ihm umzugehen. Aber sie würde es am Ende schaffen. Und die Vorteile dieser familiären Verbindung zum Duke of Rutherford würden ihrer Mama und Gina weiterhelfen.

„Sollen wir zu Bella und Mr. Hunter ziehen, Gina?“, fragte Mrs. O’Rourke.

Das Mädchen schaute von seiner Stickarbeit auf und strich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. „Kann man dort die Türen abschließen?“

„Aber ja!“ Bella lächelte ihrer Schwester ermutigend zu. „Du wirst ein wunderschönes eigenes Zimmer haben. Ich habe eines für dich ausgewählt, das besonders hell ist und in dem du in aller Ruhe lesen oder Handarbeiten machen kannst.“

„Dann würde ich gern bei euch leben. Du hast mir gefehlt, Bella.“

„Gut!“ Andrew Hunter nickte zufrieden. „Ich werde meine Bediensteten noch heute hierherschicken, damit sie beim Packen helfen. Dann ist bis zum Tag von Miss Lillys Hochzeit alles geregelt.“

„Aber Lilly hat heute Nachmittag Anprobe für ihr Hochzeitskleid. Und ich wollte gern nach Covent Garden, um in den Geschäften nach hübschen Seidenbändern zu suchen“, wandte Mrs. O’Rourke ein.

„Dazu bleibt Zeit genug. Dieses Haus ist doch möbliert vermietet worden, nicht wahr? Es gibt also gar nicht so viel zu erledigen. Nancy könnte die Arbeiten überwachen.“

„Es kommt nur alles so plötzlich …“

„Mama, so ist es wirklich am besten.“ Lilly legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Ich bin froh, dass ihr nicht allein seid, wenn ich fortgehe, und dass sich jemand um euch kümmert. In der eigenen Familie seid ihr gut aufgehoben.“

Mrs. O’Rourke sah plötzlich sehr traurig aus, und Lilly wusste, dass sie an Cora dachte. Und dass sie dachte, sie könnte noch am Leben sein, wenn sie jemand beschützt hätte. Schließlich holte ihre Mutter tief Luft und sagte: „Danke, lieber Andrew. Wir nehmen Ihre Gastfreundschaft gern an.“

„Miss Lillian, gestatten Sie, dass ich an den Stand dort drüben gehe?“, fragte Nancy. „Ich würde gern eine Kleinigkeit für meine Schwester kaufen.“

Lilly blickte ihr kleines, etwas plumpes Hausmädchen prüfend an. Sie war unruhig, obwohl kein Grund dazu bestand.

Eigentlich hatte sie sich gefreut, als ihre Mama ihr die Aufgabe übertrug, grüne und lavendelfarbene Seidenbänder zu kaufen. Doch nun hatte sie seit geraumer Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. Das war natürlich Unsinn. In Covent Garden sah alles aus wie immer. Es gab keine verdächtigen Gestalten und keine Hinweise auf drohendes Ungemach. Also nickte Lilly. „Ja, aber bleiben Sie in Rufweite.“

„Sehr wohl, Miss.“

Langsam ging Lillian weiter. Es war recht warm, deshalb hatte sie sich nicht gewundert, dass ihre Mutter lieber zu Hause bleiben wollte, um die Umzugsarbeiten zu beaufsichtigen.

Lillian war zuerst mit Nancy zur Schneiderin gefahren, um ihr Hochzeitskleid anzuprobieren. Das hatte einige Zeit in Anspruch genommen, denn offenbar hatte sie Gewicht verloren, was erneut Änderungen an der bereits fertigen Robe erforderlich machte.

Sie hasste das Kleid. Es war so pompös, voller Rüschen, Bändchen und Schleifen. Wahrscheinlich hatten so die Gewänder ausgesehen, die man früher bei Hofe trug. Scheußlich! Sie sah aus wie die Karikatur einer Braut. Olneys Eltern hatten es für sie ausgesucht. Die Duchess hatte entschieden, dass die O’Rourkes noch nicht lange genug in London lebten, um zu wissen, was einer adligen Hochzeit angemessen war. Sie hatte auch die Gästeliste zusammengestellt, die Speisenfolge festgelegt und die Einladungskarten in Auftrag gegeben. Und nebenbei Schnitt und Muster des Hochzeitskleides bestimmt. Ihre Mama war froh gewesen, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Lilly hingegen war der ständigen Einmischungen müde. Sie wollte auch nicht dauernd daran erinnert werden, welche große gesellschaftliche Bedeutung die Familie Manlay hatte und dass man Zweifel hegte, ob sie überhaupt zur Marchioness – geschweige denn Duchess – taugte.

Es war natürlich längst zu spät, sich die Sache noch einmal anders zu überlegen. Ihr Entschluss war gefasst, und ihre zukünftigen Schwiegereltern mussten sich eben an sie gewöhnen. Sie hatte die letzten drei Wochen Aufregung überstanden, weil sie wusste, wie erfreut ihre Mutter über die gute Partie war und dass deshalb Ginas Aussichten auf eine ebensolche enorm gestiegen waren. Das allein zählte.

Selbstverständlich würde sie an Olneys Seite glücklich werden.

Eine Locke fiel ihr ins Gesicht, als sie an einem Stand auf die große Auswahl an Seidenbändern in allen Farbschattierungen blickte. Ja, dieser Lavendelton war genau richtig. Und dort lagen auch grüne Bänder – zwar vom Ton nicht ganz, was Mama im Sinn hatte, aber nahe dran. Sie ließ sich von beiden etwas abmessen.

„Sixpence, wenn ich bitten darf“, sagte der Verkäufer.

Sie öffnete ihr Retikül und begann nach der Pfundnote zu suchen, die sie zu Hause eingesteckt hatte. Merkwürdig, da war kein Geld. „Sir“, wandte sie sich entschuldigend an den Besitzer des Standes, „bitte, legen Sie die Ware für mich zurück. Ich bin gleich wieder da.“

Der Verkäufer kniff die Augen zusammen. „Wollen Sie etwa einen alten Mann betrügen?“, fragte er so laut, dass die Umstehenden aufmerksam wurden.

„Natürlich nicht!“ Lillys Wangen wurden hitzig. „Ich muss nur eben meine Zofe holen. Sie wird mir das Geld leihen. Dann kann ich die Ware bezahlen.“

„Ihre Zofe hat also Geld, aber Sie nicht?“ Der Mann ereiferte sich immer mehr. „Ich habe Ihnen die Bänder bereits abgemessen, und nun sind Sie sich zu fein, um dafür zu bezahlen! Her mit dem Geld, und zwar sofort! Sonst rufe ich die Wache.“

„Ich werde die Summe vorstrecken“, sagte eine männliche Stimme hinter ihr.

Lilly wandte sich um und stellte überrascht fest, dass es niemand anders als der Fremde aus Rutherfords Garten war. „Danke, Mr. …“, begann sie. Doch dann fiel ihr ein, wie ungehörig es war, Geld von jemandem anzunehmen, den man kaum kannte. „Aber es wäre sehr unangebracht, Ihr Angebot zu akzeptieren.“

Er lächelte. „Es geht ja nur um ein Seidenbändchen, Miss O’Rourke. Es wird mich nicht ruinieren, und ich wette, Sie werden die Schuld umgehend begleichen.“

Unterdessen war der Händler auf Farrell zugegangen und streckte fordernd die Hand aus.

„Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen, Sir.“

„Devlin.“ Er hatte dieses unbekümmerte Lachen, das sich seit jener Nacht in ihr Gedächtnis eingegraben hatte.

„Mr. Devlin also. Ich danke Ihnen.“

Er ließ ein paar Münzen in die gierigen Hände des Verkäufers fallen. Lilly verstaute die Bänder eilig im Retikül und entfernte sich rasch vom Ort des peinlichen Geschehens.

„Ich möchte Ihnen noch einmal danken, Mr. Devlin“, sagte sie. „Dieser Mann hätte mich vielleicht wirklich einem Wachtmeister übergeben. Himmel, ich darf mir gar nicht ausmalen, was Mama gesagt hätte! Oder Olney …“

Farrell lachte schallend, und auch sie musste ein wenig schmunzeln. Die Vorstellung, dass die zukünftige Frau des Marquis of Olney wegen Diebstahl verhaftet wurde, war einfach zu absurd. Olney hätte die Hochzeit abgeblasen.

„Wir werden es nie erfahren“, sagte Farrell. „Und ich schwöre, über meine Lippen kommt kein Wort über diesen Vorfall. Doch nun verraten Sie mir, ist Ihre Zofe wirklich hier, und kommt sie für Ihre Schulden bei mir auf?“

„Ja, sicher. Sie wollte nur ein kleines Geschenk für ihre Schwester kaufen. Sie ist jede Minute zurück.“

Devlin beugte sich vor und strich Lilly eine Locke aus der Stirn. Es war eine unschuldige Geste, die allerdings etwas so Intimes hatte, dass der jungen Dame einen Moment lang der Atem stockte und sie verstummte.

„Ich bin nicht in Sorge um mein Geld“, fuhr Farrell fort. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie Ihren Kauf plötzlich bereut haben und ihn rückgängig machen wollten?“

Sie seufzte. „Wenn Mama mich nicht gebeten hätte, Seidenbändchen zu besorgen, wäre ich längst zu Hause.“

„Ah, sie sind für Ihre Mutter? Dabei würde dieses Grün doch vor allem Ihnen hervorragend stehen.“ Er reichte ihr den Arm. „Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stück weitergehen.“

„Gern.“ Ein neuerlicher Seufzer. „Ich muss gestehen, ich bin noch immer ziemlich aufgeregt. So etwas ist mir wirklich noch nie passiert. Ich war ganz sicher, eine Pfundnote eingesteckt zu haben. Aber offenbar war das ein Irrtum.“

„Oder ein Taschendieb hat Ihnen das Geld entwendet.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe das Retikül die ganze Zeit über fest in der Hand gehalten.“

„Sie erlauben? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Er trat hinter sie und begann, die Bändel des Retiküls so geschickt und heimlich zu lösen, dass Lilly nichts davon merkte.

„Oh!“, rief sie erstaunt, als er ihr plötzlich ihren eigenen Handschuh hinhielt. „Wie haben Sie das gemacht?“

„Jahrelange Übung, Miss O’Rourke. Ein guter Taschendieb arbeitet so leise, dass die Opfer nichts merken.“

Sie schaute ihn entsetzt an. „Sind Sie ein Dieb, Mr. Devlin?“

„In meiner Jugend habe ich mir meinen Lebensunterhalt eine Zeit lang auf diese Art verdienen müssen. Nun bin ich geläutert.“ Er steckte den Handschuh zurück in Lillys Beutel. „Jedenfalls, was das Stehlen angeht.“

Ein Taschendieb? Unmöglich! Olney hätte ihn gewiss nicht auf das Fest eingeladen. „Was also tun Sie jetzt als ehrbarer Mann?“

„Ach, dies und das. Ich kümmere mich um meine Geschäfte, halte meine Angestellten in Schach, halte nach neuen Herausforderungen Ausschau. Aber mein Leben ist undankbarer Gesprächsstoff, Miss O’Rourke. Ich brenne eher darauf zu erfahren, warum Sie ohne männliche Begleitung unterwegs sind, obwohl es doch während der letzten Tage wiederholt zu Unruhen gekommen ist. Die Anhänger der Königin …“

„Vielleicht bin ich ja selbst eine Anhängerin der Königin?“

Er lachte und stupste sie scherzhaft in die Seite. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Eine ehrbare junge, heiratswillige Dame, die auf ihren Ruf und ihre Stellung bedacht ist, würde ungern die Missbilligung des Königs riskieren wollen.“

„Sie halten mich für eine ehrbare junge Dame? Vielleicht bin ich das gar nicht.“

„Olney will Sie heiraten. Da müssen Sie gewisse Standards schon erfüllen.“

„Oh, daran habe ich nicht gedacht. Sie haben natürlich recht.“ Sie schaute ihn unter halb gesenkten Lidern hervor an und spürte ein warmes Kribbeln, als er nun erneut lachte.

„Sie wollen mich necken, Miss O’Rourke? Nun, ich hoffe, Olney weiß Ihren Humor zu schätzen.“

Lilly bezweifelte es. Sie hatte eher den Eindruck gewonnen, dass der Marquis gar nicht unterscheiden konnte, ob eine Bemerkung ernst oder scherzhaft gemeint war. Andererseits gab es gewiss Schlimmeres als einen Mann, dem es an Humor fehlte. „Er wird sich an meine Neckereien gewöhnen“, sagte sie. Dann wurde sie durch das Auftauchen eines völlig verschmutzten Jungen abgelenkt, der durch die Menge rannte, um dann mit offenem Mund und großen Augen unvermittelt vor Mr. Devlin stehen zu bleiben.

„’tschuldigung, Sir“, stieß das Kind hervor. „Ich wusst’ nich’, dass die Lady zu Ihn’n gehört.“ Dann holte es eine Pfundnote aus der Hosentasche und hielt sie Devlin hin.

Dieser nahm den Geldschein entgegen und schaute den Jungen streng an: „Das nächste Mal kommst du aber nicht zurück, sondern nimmst die Beine in die Hand und verschwindest, Ned. Wer zurückläuft, riskiert, erkannt und geschnappt zu werden.“

„’wohl, Sir.“ Ned verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war.

Lilly starrte die Pfundnote an. „Ist das mein Geldschein?“, fragte sie verwundert. „Bringen Sie dem Jungen etwa bei, wie man stiehlt?“

„Ich versuche ihm beizubringen, sich nicht erwischen zu lassen.“

„Es wäre richtiger, er würde erwischt, wenn er sich doch am Eigentum anderer vergreift.“

„Ich würde Ihnen zustimmen, Miss O’Rourke, wenn ich nicht wüsste, dass Ned hungern muss, wenn er nicht stiehlt. Und einen Schlafplatz hätte er auch nicht.“

„Aber seine Eltern …“

„Seinen Vater kennt er nicht“, fiel Devlin ihr ins Wort. „Und seine Mutter … Nun, man könnte es so ausdrücken: Sie interessiert sich nicht für ihn.“

„Sie ist verantwortlich für ihn!“

Autor

Gail Ranstrom
<p>Geboren und aufgewachsen ist Gail Ranstrom im Nordwesten der USA, in den Weiten von Montana. Schon damals hörte sie gerne Geschichten über vergangene Epochen und weit entfernte Länder, und dabei durfte natürlich auch Abenteuer, Spannung und Romantik nicht zu kurz kommen! Bevor sie jedoch selbst mit dem Schreiben anfing, machte...
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