Die falsche Braut des Dukes

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Auf der ersten Reise ihres Lebens geht für Miss Evelyn Graves bereits einiges schief: Schon direkt bei ihrer Ankunft auf Ballymore Castle in Connemara hält man sie für ihre Arbeitgeberin, die Countess of Waverly! Nur Alexander Pierpont, der Duke of Rennick, kennt die Wahrheit. Und er macht ihr ein pikantes Angebot: Wenn sie die Illusion aufrechterhält, hat er Ruhe vor seiner Familie, die ihn unbedingt mit der Countess verlobt sehen will. Im Gegenzug sorgt er dafür, dass ihre Zeit in Irland unvergesslich wird. Doch schon bald verschwimmen für den Duke und Miss Evie die Grenzen zwischen vorgetäuschtem Interesse und echter Zärtlichkeit …


  • Erscheinungstag 28.12.2024
  • Bandnummer 169
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526913
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Freundin Holly, mit der ich viele
gemeinsame Sommerritte unternommen habe, und für
jeden, der Pferde oder Irland liebt. Oder beides.

Christy Carlyle

Guter Kaffee und britische Serien mit aufwendigen historischen Kostümen sind die Dinge, die Christy Carlyle antreiben. In ihren Romanen schreibt sie am liebsten über Helden und Heldinnen, die ihrer Zeit voraus sind. Da sie selbst einen Abschluss in Geschichte hat, liebt die Autorin es, beim Schreiben ihre Leidenschaft fürs Historische und ihren unerschütterlichen Glauben an ein Happy End zu vereinen.

1. KAPITEL

Juli 1896

Belgravia, London

Im Falle eines Skandals blieben einem Adeligen zwei Möglichkeiten, wie Alexander Pierpont, der Marquess of Kirkham, gelernt hatte.

Er konnte sich in ein stilles Leben flüchten und sich so dem kritischen Auge der Gesellschaft entziehen.

Oder er konnte mit so viel Todesverachtung zurück in den Kreis der ach so feinen Gesellschaft stürmen, dass dieser gar nichts anderes übrig blieb, als zu weichen.

Drei Jahre lang hatte Alex sich für die erste Option entschieden, denn er zog die Stille vor. Überschaubare, traute Zusammenkünfte waren ihm immer schon lieber gewesen als opulente, überlaufene Feste. Für einen vorzüglichen Kaffee und einen Freund, mit dem er sich angeregt unterhalten konnte, verzichtete er gern selbst auf die gefragteste Soiree der Saison.

Verdammt, er brauchte gar keinen Anreiz, um der Saison fernzubleiben. Seiner Meinung nach war der Heiratsmarkt ein antiquiertes, ungerechtes Ritual, bei dem die Damen das Nachsehen hatten. Und zumindest im Fall seiner Mutter hatte dieses Ritual zu einem Ehebündnis geführt, das so unglücklich gewesen war, dass sie meist fünfhundert Meilen von Alex’ Vater entfernt gelebt hatte.

Irland war das Land ihrer Geburt gewesen, und auch für Alex und seine Geschwister war es zur Heimat geworden.

Nur für den armen Edmund nicht. Als Erbe hatte er bei seinem Vater bleiben müssen und war auf dem herzoglichen Anwesen in Wiltshire ausgebildet und unterrichtet worden, um eines Tages das Herzogtum zu übernehmen. Derweil hatte sein Vater sich redlich bemüht, dieses in den Ruin zu treiben.

Völlig unerwartet war Edmund vor vier Jahren einem Fieber erlegen, und ebenso unverhofft war Alex als Erbe nachgerückt. Ein Jahr lang hatte er sich angestrengt, seine Impulsivität zu bezähmen, sich an die Regeln der Etikette zu erinnern und den Ansprüchen seines Vaters zu genügen. Bewiesen hatte er damit jedoch nur, weshalb er niemals der Duke of Rennick hätte werden sollen.

Gekrönt hatte er das Jahr damit, dass er einen anderen Adeligen verprügelt hatte.

Die damit einhergehende Schmach hatte ihm die Heimkehr ermöglicht. Er war nach Ballymore Castle zurückgegangen und dort geblieben – weit entfernt von der Gesellschaft, dem ausgebluteten herzoglichen Anwesen in Wiltshire und den Erwartungen seines Vaters.

Doch er hatte gewusst, dass ihm lediglich eine Galgenfrist vergönnt war. Trotz seiner Arroganz und Anmaßung war Marcus Pierpont sterblich, und seinen Ärzten zufolge blieben ihm nur noch wenige Tage auf Erden.

Daher hatte Alex gehorcht, als sein Vater ihn nach London zurückbeordert hatte, und heute Abend war er der Weisung seines alten Herrn nachgekommen, sich wieder auf gesellschaftliches Terrain zu wagen und eine der beliebtesten Soireen der Saison zu besuchen. Die Gastgeberin war eine Freundin der Familie. Nach jenem Vorfall damals, der Alex dazu veranlasst hatte, der feinen Gesellschaft zugunsten seiner Pferde und der wohltuenden Schönheit Galways den Rücken zu kehren, hatte sie ihm in einem Brief ihre Solidarität bekundet.

Er stieg aus seiner Kutsche und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, das zu lang war, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, es schneiden zu lassen. Er ballte die Hand, mit der er einst einen Standesgenossen niedergestreckt hatte, zur Faust. An der Eingangstür zu Lady Waverlys Stadthaus in Belgravia zögerte er kurz.

Kehr um, schrie ihm ein letzter Rest Selbsterhaltungstrieb aus einem Winkel seines Verstandes zu.

Da jedoch hatte ihn bereits ein Lakai erspäht, und gleich darauf wurde sein Name auf einer Liste abgehakt. Alex watete in das Getümmel, das in Lady Waverlys berühmtem silbernem Ballsaal herrschte.

Ein überwältigendes Kaleidoskop aus Farben und Tumult umfing ihn, kaum dass er die Schwelle überschritten hatte. Apricot, Pflaumenblau, Fuchsia und Gelb beherrschten die Garderobe der Damen, und in einer Ecke erzeugte ein Streichquartett, das seine Instrumente stimmte, eine wahre Kakofonie.

Alex nahm sich ein Glas vom Tablett eines vorbeieilenden Lakaien und trank einen Schluck lauwarme Limonade, wobei er sich am Rande des Ballsaals hielt. Von hier aus hatte er eine gute Sicht auf das Schlachtfeld.

„Sie sehen aus, als wollten Sie das Weite suchen.“

Die weibliche Stimme überraschte Alex, doch er nickte der Dame, die unbemerkt neben ihm aufgetaucht war, höflich zu.

„Offenbar habe ich zu viel preisgegeben. Es ist mein erster Ball in dieser Saison“, gestand er angespannt lächelnd. „Die Versuchung ist groß, aber noch habe ich nicht vor zu fliehen.“

„Die Saison ist schon eine Weile im Gange, Mylord.“

„Ich habe es aufgeschoben, solange ich konnte.“ Er würzte seinen Tonfall mit einer Prise Nonchalance. Ihm selbst kam seine Bemühung steif und unbeholfen vor, doch anscheinend wirkte sie.

Die Dame lachte leise.

„Es freut mich, dass Sie sich für Ihren ersten Auftritt in dieser Saison meinen Ball ausgesucht haben.“

„Ah, Lady Waverly.“ Alex wandte sich der jungen, verwitweten Countess zu. „Haben Sie Dank für die Einladung. Und ja“, pflichtete er ihr bei, „Ihre Feste sind berüchtigt.“

Das Gewimmel aus betuchten Menschen, das der Countess ein stolzes Lächeln auf die Lippen zauberte, verursachte bei Alex ein nervöses Ziehen in der Magengrube, so wie er es inmitten von zu vielen Menschen und zu viel Lärm stets verspürte.

„Was hat Sie aus Ihrem Versteck getrieben?“

„Die Notwendigkeit.“ Er hatte nicht vor, Näheres über die schwächelnde Gesundheit seines Vaters zu verraten, aber die Countess wusste offenbar Bescheid oder ahnte zumindest etwas.

„Es ist eine Weile her, dass ich Ihren Vater gesehen habe“, bemerkte sie gedämpft. „Er war ein regelmäßiger Gast auf meinen Soireen, und ich vermisse ihn.“

Ihre Worte führten ihm nachdrücklich vor Augen, wie rasch sich die Umstände ändern konnten. Sechsundvierzig Jahre lang war sein Vater der ungestüme, draufgängerische Duke of Rennick gewesen. Laut den Ärzten würde dieser Titel bis zum Monatsende Alex gehören.

„Ich werde ihm ausrichten, dass Sie sich nach ihm erkundigt haben.“

„Danke. Ich hoffe, Sie werden wir häufiger sehen.“

Alex nahm einen weiteren Schluck Limonade, um die Freudlosigkeit zu ersticken, die bei diesen Worten in ihm aufflammte.

Das würde sein Schicksal sein. Künftiger Duke. Vater des nächsten Dukes. Durch Edmunds Tod waren alle anderen Perspektiven ausgelöscht worden.

„Kennen Sie ihn gut?“ Alex war neugierig zu erfahren, was andere Leute an seinem Vater fanden. Seine eigene Familie hatte er mit harter, manchmal grausamer Hand gegängelt. Den meisten Menschen gegenüber gab er sich indes auf charmante Weise burschikos und gesellig.

„Wir haben beide an Veranstaltungen des Reitsportverbands teilgenommen.“

„Ah, richtig. Er liebt Pferde.“ Wobei Alex sich nicht sicher war, ob diese Behauptung gänzlich der Wahrheit entsprach. Wenn sein Vater seine Pferde gut behandelte, so tat er es, weil sie kostbare Besitztümer waren und es ihn mit Stolz erfüllte, als versierter Reiter zu gelten. Die Wertschätzung dieser Tiere war eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen seinen Eltern. Und das einzige Erbe, für das Alex ihnen dankbar war.

„Also sind Sie nur seinetwegen hier?“

Alex spürte, dass Lady Waverly ihn musterte, wenngleich er nicht zu sagen vermochte, ob sie es aus sinnlichem Interesse oder reiner Neugier tat.

Derzeit verlangte es ihn ebenso wenig nach einem amourösen Abenteuer wie nach einer Heirat. Dabei war ihm bewusst, dass die Brautsuche nicht länger eine Frage des Wollens, sondern der Pflichterfüllung war.

„Es wird Zeit, dass ich mich in die Schlacht stürze.“ Er konnte nicht verhindern, dass er so beklommen klang, wie er sich fühlte. Schon jetzt sehnte er sich zurück nach Irland.

„Viele hier dürften froh über Ihren Entschluss sein.“ Mit ihrem geschlossenen Fächer wies sie schwungvoll auf den Ballsaal.

„Tatsächlich?“ Das bezweifelte er. Ein im Exil lebender Adeliger, skandalbehaftet durch eine Handgreiflichkeit?

Dennoch entging ihm nicht, dass so manche Frau zu ihm herüberspähte. Da er sich während der Saison noch nicht gezeigt hatte, waren viele vermutlich schlicht neugierig zu erfahren, wer er war. Aber er bemerkte auch interessierte Blicke, ja gar das Aufflackern von Begehren.

„In einer Viertelstunde beginnt der erste Tanz, Lord Kirkham. Ich empfehle Ihnen, sich auf die Tanzkarte einiger Damen setzen zu lassen.“

„Ich werde mich nach Kräften bemühen.“ Er nickte lächelnd, eine Geste, die sie erwiderte, bevor sie davonrauschte und in dem Heer aus schwarz gekleideten Edelmännern und bunt gewandeten Damen untertauchte.

Seine scharfsichtige Gastgeberin hatte recht. Er hätte auf der Stelle die Flucht ergriffen, wäre ihm das möglich gewesen.

Aber er kannte seine Pflichten. Daher löste er sich aus seinem Winkel und umrundete den Saal.

Die erste Dame, an die er herantrat, errötete tief, schaute zu ihrer Anstandsdame hinüber und wäre fast in Tränen ausgebrochen, als sie feststellte, dass ihre Tanzkarte bereits voll war. Die Nächste trug ihn mit ihrem Bleistift ein, kaum dass er seine Bitte vorgetragen hatte. Sein Name war der erste und einzige auf ihrer Karte. Die dritte junge Dame hätte ihn beinahe abgewiesen, bis eine andere Debütantin ihr unüberhörbar etwas zuflüsterte.

„Er ist der künftige Duke of Rennick.“

Die Anspannung grub ihm ihre Klauen in die Eingeweide, kaum dass er mit seiner ersten Tanzpartnerin am Arm vortrat. Während die anschwellende Musik von der Decke widerhallte, traf ihn die Hitze der zahlreichen Leiber ringsumher mit voller Wucht. Der Tanz begann.

Und sogleich kam Alex aus dem Tritt.

Wieso zur Hölle hatte er geglaubt, einfach in einen Ballsaal marschieren zu können, nachdem er Tänze und Menschenaufläufe jahrelang gemieden hatte? Neben der Debütantin in Fuchsia, die ihm ihre zierlichen behandschuhten Finger auf den Arm gelegt hatte, kam er sich linkisch und unkoordiniert vor. Er bewegte sich in die eine Richtung, dann in die andere, verzählte sich bei den Schritten und wurde fahrig.

Die Dame spürte sein Unbehagen und teilte es anscheinend. Ihre Wangen wurden flammend rot, und es fiel ihr sichtlich schwer, ihm in die Augen zu schauen.

„Verzeihen Sie. Ich habe länger nicht getanzt“, erklärte er, nach wie vor bemüht, sich auf die Schrittfolge zu konzentrieren.

„Ich habe bei Weitem zu viel getanzt.“ Bebend stieß sie den Atem aus.

„Vielleicht sollte ich die Führung Ihnen überlassen.“

Sie kicherte und kam selbst aus dem Konzept, just in dem Moment, da auch er einen falschen Schritt tat. Sie taumelte, und Alex packte sie am Arm, um zu verhindern, dass sie stürzte. In diesen wenigen Sekunden waren sie fast zum Stehen gekommen, sodass ein anderes Paar beinahe mit ihnen kollidiert wäre.

Wortlos entzog ihm seine Tanzpartnerin ihre behandschuhten Finger und eilte aus dem Ballsaal.

Kurz stand Alex da und ließ die Blicke und das Getuschel über sich ergehen, ehe er sich einen Weg durch die tanzenden Paare bahnte. Ihm war bewusst, dass er einer weiteren Dame einen Tanz schuldete, doch der Drang zu entfliehen war verführerisch. Er starrte zur Vordertür und überlegte, welchen Affront es bedeuten mochte, wenn er dem Drang nachgäbe. Die junge Dame wäre vermutlich enttäuscht, doch nach seiner Darbietung auf der Tanzfläche wäre sie bei jedem anderen in besseren Händen.

Nur wenige Schritte, und er könnte in einer Kutsche sitzen, auf dem Rückweg zum Londoner Stadthaus seiner Familie. Stattdessen wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung und suchte nach einer Tür, die hinaus in den Garten hinter Lady Waverlys Haus führte.

Frische Luft war ein probates Mittel gegen seine Angst, und ein solches brauchte er, bevor er seiner nächsten unglückseligen Tanzpartnerin entgegentrat.

Miss Evelyn Graves schloss die Augen und fügte die Bilder in ihrem Kopf zu einem Ganzen zusammen, während sie ihren Füllfederhalter über dem Papierbogen verharren ließ, auf dem bereits einige hastig niedergeschriebene Zeilen standen.

Der Held ihrer Geschichte war noch nicht stimmig. Er war fast zu vollkommen, zu nobel. Sie überlegte, welch tief verborgenes, dunkles Geheimnis sie in die Geschichte ihrer Figur einbinden könnte.

Als von unten Applaus heraufdrang, schlug sie die Augen auf. Um ihre Konzentration war es geschehen.

Evie hatte nichts gegen die langen Abende, an denen ihre Brotherrin Bälle in ihrem Stadthaus am Belgrave Square ausrichtete. Lady Waverly war eine der beliebtesten Gastgeberinnen der Saison. Ebendeshalb hatte die verwitwete Countess Evie als persönliche Sekretärin eingestellt.

Und schlaflose Abende gaben Evie Zeit, an ihrem Roman zu schreiben. Ihre jüngere Schwester zog sie oft damit auf, dass sie nach ihrer Arbeit als Schreibkraft auf ihrem Zimmer gleich weiterschrieb. Aber für Lady Waverly Reden zu verfassen und die Korrespondenz zu erledigen war etwas anderes als ihre Geschichten. Bei Ersterem war vor allem Logik gefragt, Letzteres hingegen erforderte eine überbordende Fantasie.

Schreibarbeiten waren natürlich nicht ihre einzige Aufgabe für Lady Waverly. Sie organisierte, plante, vereinbarte Termine – bei allem, was nötig war, um die Veranstaltungen der Countess zu arrangieren, war Evie beteiligt. Gemeinhin war sie froh, wenn ihr Arbeitstag endete und sie auf ihr Zimmer gehen konnte, um an einem Manuskript zu schreiben. Als sie heute Abend letzte Vorkehrungen getroffen hatte, war aus unerfindlichen Gründen der Wunsch in ihr aufgestiegen, eine solch verschwenderische Soiree selbst einmal zu besuchen. Ein einziges Mal bloß. Nur um zu erfahren, wie es war, ein elegantes Abendkleid zu tragen und durch den Ballsaal gewirbelt zu werden.

Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie nicht zu den Adeligen dort unten gehörte. Zwar war ihr Vater der dritte Sohn eines Earls gewesen, doch die Heirat mit ihrer bürgerlichen Mutter hatte einen Bruch mit der Familie Graves herbeigeführt. Evie und ihre Schwester waren in einem bescheidenen Heim aufgewachsen, und ihr Vater hatte sie dazu erzogen, stark und unabhängig zu sein. Deshalb hatte sie nach dem Tod ihres Vaters keinerlei Zweifel daran gehegt, sich selbst und ihre Schwester versorgen zu können. Eine Anstellung und ein Dach über dem Kopf – und das auch noch in Belgravia – waren ein großes Geschenk.

Lady Waverly war immer gut zu ihr gewesen, und als Gegenleistung arbeitete Evie hart. Die zurückliegenden Tage waren höchst turbulent gewesen, da sie eine Wohltätigkeitsveranstaltung vorbereitet hatten, die nächste Woche im Stadthaus ausgerichtet werden sollte. Jedes Detail musste perfekt sein, denn eine Prinzessin des Königreichs würde sie beehren.

Nun jedoch saß sie auf dem Bett, umgeben von beschriebenen Blättern, während Musik durchs Haus schallte und gedämpftes Stimmengewirr ihr in den Ohren summte. Als die Musikanten ein beschwingtes Stück anstimmten, konnte sie nicht widerstehen, den Takt mit den Fingern zu klopfen.

Verflogen war alle Hoffnung darauf, ihre Aufmerksamkeit wiederzufinden.

Lesen half ihr für gewöhnlich, sich wieder zu konzentrieren. Oft begab sie sich in die Bibliothek, nachdem der übrige Haushalt zu Bett gegangen war, und wenn sie es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, kehrte Ruhe in ihrem Kopf ein.

Leider war die Bibliothek heute Abend tabu, da der angrenzende Salon den Ballgästen als Damen-Separee diente.

Blieb ihr immer noch der Zauber des Gartens – ein weiterer Ort, an den sie sich gern zurückzog.

Sie stieg vom Bett und spähte hinaus in den Garten hinter Lady Waverlys Haus. Eine wohltuende Brise hob den Vorhang, und nahe der Rosenlaube entdeckte sie eine Stelle, die von Laternen beleuchtet wurde. Evie beschloss, sich ein Buch zu nehmen und hinunterzugehen.

Ihre Ladyschaft hatte schmiedeeiserne Tische und Stühle aufstellen lassen, an denen ihre Gartenklub-Freundinnen bei ihren Zusammenkünften saßen. Ein wenig abseits stand versteckt eine kleine Bank, die durch das Licht der Laternen eine ideale Leseecke abgab.

Evie tauschte ihr Nachthemd gegen den Unterrock und das Kleid, die sie tagsüber getragen hatte, schnappte sich das Buch vom Nachttisch und machte sich auf den Weg nach unten. Sie nahm die Dienstbotentreppe, um keinem der Gäste zu begegnen, und gelangte zur Küche, von der aus eine Tür in den Garten hinter dem Haus führte.

Im Erdgeschoss waren die Musik und das Gedränge Dutzender Menschen deutlicher zu vernehmen, doch der erste Atemzug Nachtluft beruhigte sie. Es war eine herrlich klare Nacht, was bedeutete, dass der Londoner Nebel keine giftigen Industrieabgase gebunden hatte, wie es oft der Fall war.

Sie fand ihre Bank, sammelte ein paar bestickte Kissen von den umliegenden Stühlen ein und stapelte sie in ihrem Rücken. Neben ihrem Lieblingsrosenbusch erstreckte sich ein Fleckchen ordentlich gestutzter Rasen, in Mondschein getaucht. Die Rosenblüten waren von einem zarten Rosa, das am Kelch ins Gelbliche changierte. Ihr berauschender Duft erinnerte Evie an das Häuschen in Hampstead, in dem sie und ihre Schwester von ihrem verwitweten Vater großgezogen worden waren.

Wie angenehm sich das Gras unter ihren dünnen Schuhen anfühlte. Sie überlegte es sich anders und breitete einige der Kissen auf dem Boden aus, um sich darauf auszustrecken, so als veranstaltete sie ihr eigenes kleines Abendpicknick.

Da sich der Ballsaal im vorderen Bereich des Stadthauses befand, drangen Musik und Stimmen nur schwach in den Garten, und Evie lauschte aufmerksam den nächtlichen Klängen – dem Zirpen der Grillen, dem Hufgetrappel eines Kutschengespanns auf dem Weg zu den Stallungen, dem Rascheln der Blätter im Sommerwind.

Die Symphonie aus verschiedenen Lauten wirkte einschläfernd, und Evie war stark versucht, gleich hier im Garten einzuschlummern. Da jedoch vernahm sie ein anderes Geräusch und schlug die Augen auf.

Jemand hatte die Hintertür aufgestoßen und strebte in den Garten. Sie hörte einen Mann über die Pflastersteine eilen, so als suchte er einen Verfolger abzuhängen. Er wurde langsamer und begann, leise und aufgebracht vor sich hin zu murmeln.

Evie hörte Narr und verdammte Soiree und einen Fluch, der sich um den Teufel und die Hölle drehte, sowie ein Wort, das sie nicht verstand.

Schließlich verharrten die Schritte, und das Gemurmel verstummte. An seine Stelle traten gereizte Seufzer. Der Garteneindringling drehte sich, wobei seine Stiefelabsätze über die Steine scharrten, und gleich darauf kam er direkt auf sie zu.

Evie erstarrte. Sollte sie bleiben und hoffen, dass er sie nicht sähe, oder aufspringen und fliehen?

Da brach auch schon eine hochgewachsene, kräftige Gestalt durch die Rosen und stolperte über sie. Evie riss die Hände hoch, um zu verhindern, dass er auf sie fiel, hatte der Wucht des Mannes jedoch nichts entgegenzusetzen.

Der Gentleman verlor das Gleichgewicht und griff nach ihr, wobei er sie auf den Rücken drehte. Er selbst landete auf den Knien und fing sich ab, indem er eine Hand neben ihrem Kopf und die andere neben ihrem Arm ins Gras stemmte.

Er ragte über ihr auf, und in der Finsternis konnte sie bis auf seine Konturen wenig erkennen – nur breite Schultern und wildes, schwarzes Haar. Mit seiner massigen Gestalt verdunkelte er die Laterne.

Schließlich ergriff er das Wort.

„Was zur verfluchten Hölle tun Sie hier?“, knurrte er atemlos, während er sich aufrappelte und auf sie herabstarrte, die Hände in die Hüften gestemmt.

„Ich?“, presste Evie erstickt hervor. Sie stützte sich auf die Ellbogen und ordnete ihren Rock, damit auch sie aufstehen konnte. „Sie sind in mich hineingelaufen.“

Er seufzte ergeben. „Sie haben recht. Bitte verzeihen Sie mir. Sind Sie verletzt?“

Er trat näher und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen.

Evie erwog, die verspätete Ritterlichkeit zu ignorieren, doch etwas trieb sie, seine Hand zu ergreifen.

Kaum umschlossen seine Finger die ihren, schoss ihr ein befremdlicher Schauer den Arm entlang und mitten ins Herz.

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute auf.

Er blickte auf sie herab. Eindringlich.

Einige Atemzüge verstrichen, ohne dass er sie hochzog. Als Evie sich anschickte, allein aufzustehen, gebot er ihr mit der freien Hand zu verharren.

„Vorsicht“, flüsterte er. „Keine hastigen Bewegungen.“

Hastig? Sie hatte sich kaum gerührt.

Er zeigte auf etwas, allerdings nicht auf sie, sondern auf den Rosenbusch neben ihr. Etwas darin hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

„Ein Glühwürmchen“, bemerkte er. Verschwunden war der schroffe Tonfall. Es war, als hätte sich der Mann vor ihren Augen verwandelt.

Und noch immer hielt er ihre Hand umfangen. Wärme ging von seiner Berührung aus und hüllte sie ein.

„Gleich dort drüben“, ergänzte er, ehe er in die Hocke ging.

Evie schaute hinüber und entdeckte ein flackerndes Licht. Das Glühwürmchen saß auf einem Zweig des Busches. Sogleich verstand sie, was den Fremden mit Ehrfurcht erfüllte: dass ein solch winziges Wesen ein derart überirdisches Leuchten erzeugen konnte.

„Sie versucht, einen Liebhaber anzulocken“, erklärte er Evie leise, und seine tiefe Stimme brachte etwas in ihrer Brust zum Schwingen.

Die Worte schienen ihr die Wärme des Juliabends und der Berührung dieses Fremden in die Wangen und bis hinauf in die Ohrenspitzen zu treiben.

Gleich darauf riss er sich sichtlich zusammen. Rasch richtete er sich auf und zog sie mit sich hoch.

Nachdem sie sich das Kleid glatt gestrichen und ihr Haar wieder festgesteckt hatte, wandte sie sich ihm zu. Und prompt stockte ihr der Atem.

Im Licht der Laterne erkannte sie, wie attraktiv er war. Im Finstern hatte sein Haar dunkel gewirkt, aber es war schwärzer als der Nachthimmel. Seine Augen indes waren hell. Blau, wenn sie hätte raten müssen, vielleicht auch blassgrün.

„Verzeihen Sie mir meine Grobheit“, bat er steif und musterte sie ebenso abschätzend wie sie ihn. „Ich wollte nicht …“

„Es war meine Schuld.“

„Nein, die meine. Ich hätte achtgeben sollen. Sind Sie verletzt?“

„Ich bin wohlauf.“ Ihr schmerzte die Schulter, doch sie war nur unglücklich gelandet. Unnötig, es zu erwähnen. Warum hatte sie auch so närrisch sein müssen, sich ins Gras zu legen? „Und Sie?“

Er ließ sie los und sah auf seine Hose hinab. „Vielleicht ein wenig derangierter, als ich das Haus der Countess betreten habe, aber ich glaube, ich werde überleben.“ Er hob den Kopf und lächelte sie verlegen an.

Evie wurde die Kehle trocken. Ihr Verstand versuchte, dies zu überspielen.

„Ich wollte mich auf eine Bank setzen.“ Sie wies auf die Bank, die sie sich auserkoren hatte. „Es ist eine warme Nacht, und im Laternenlicht kann ich lesen. Ihre Ladyschaft hat sie erst vor Kurzem aufstellen lassen. Die Bänke, meine ich. Und auch die Stühle. Und die Tische. Sie mag nämlich Gartenfeste und ist im Vorstand des Gärtnerinnenvereins. Bei schönem Wetter trifft sich der Verein hier.“ Ihr ging auf, dass ihre Zunge, ungeachtet ihrer ausgedörrten Kehle, nur so dahingaloppierte. Sie zwang sich, still zu sein, und fügte zusammenfassend hinzu: „Letztlich habe ich mich für einen Platz neben meinen Lieblingsrosen entschieden.“ Sie deutete auf den blühenden Busch, in dessen Blättern nach wie vor das Glühwürmchen seine Lichtsignale aussandte.

Ob nun aus schlechtem Gewissen, weil er über sie gestolpert war, oder aus Galanterie, jedenfalls nahm er pflichtschuldig sowohl einen Stuhl als auch den Rosenbusch in Augenschein.

„Ich nehme an, Sie ziehen Rosen dem Tanzen vor.“

„Oh, ich bin kein Ballgast.“

Unter dem zerzausten tintenschwarzen Haar runzelte er die Stirn.

Normalerweise störte sich Evie nicht daran zu offenbaren, dass sie zu Lady Waverlys Personal gehörte. Sie war stolz auf ihre Anstellung. Viele hatten kein solches Glück. Doch hier im mondbeschienenen Garten vor diesem atemberaubend schönen Fremden fiel es ihr plötzlich schwer, die Wahrheit zu gestehen.

Einen Moment lang malte sie sich ein anderes Leben aus. Die Art Zukunft, wie sie den Damen im Ballsaal der Countess beschieden war. Eine Zukunft, die ihr niemals vergönnt sein würde, womit sie sich abgefunden hatte.

Ein Verehrer. Ein Ehemann. Ein Heim. Eine Familie.

„Aha“, erwiderte der hochgewachsene Aristokrat. Denn ein solcher war er wohl, wenn er eingeladen worden war.

Was, wenn sie eine der Teilnehmerinnen wäre? Was, wenn sie, einen Augenblick lang nur, zu den mit Juwelen geschmückten Adeligen im silbernen Ballsaal gehören würde? Würde er sie zum Tanzen auffordern?

Zu ihrem Entsetzen trat er einen Schritt näher. „Passen Sie auf, dass Sie das nicht verlieren.“ Er wies auf ihren Hals, und Evie griff nach dem Anhänger, den sie trug, seit ihr Vater ihn ihr geschenkt hatte.

Die Kette hatte sich in ihren Nackenhaaren verfangen, und es fühlte sich so an, als wäre der Verschluss offen oder beschädigt. Sie versuchte, die Kette zu entwirren, doch sie hatte sich hoffnungslos verwickelt.

„Bitte gestatten Sie.“ Der Aristokrat trat hinter sie.

Sie hielt den Atem an, als sie seine Finger über ihre streichen spürte.

„Gleich geschafft“, sagte er leise. „Der Haken hat sich nicht lösen wollen.“

Evie ließ die Hände sinken, während er sich vorsichtig bemühte, die Kette zu befreien.

Schließlich trat er wieder vor und bot ihr die Halskette auf seiner Handfläche dar. Evie nahm sie und schloss die Finger um das warme Metall.

„Danke.“ Als sie ihm in die Augen schaute, stellte sie fest, dass sie den Blick nicht abwenden konnte.

Das sah ihr so gar nicht ähnlich.

Attraktive, heiratsfähige Aristokraten gingen in Lady Waverlys Salon und Ballsaal ein und aus. Aber etwas an diesem hier fesselte sie.

Und aus unerfindlichen Gründen faszinierte sie offenbar auch ihn, obwohl ihr Haar in Unordnung war und sie ein Tageskleid statt einer Ballrobe trug und sie einander im schwachen Licht kaum erkennen konnten.

Den Kopf zur Seite geneigt, sah er sie an. „Wieso sind Sie hier draußen im Garten?“

Ein denkbar törichter Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Weil es ihr bestimmt war, ihn zu treffen.

Jäh ertönte eine weibliche Stimme und brach den sehnsuchtsvollen Bann, der Evie befallen hatte.

„Mylord, der nächste Tanz ist der unsere.“

Die Worte ließen ihn erstarren, und flüchtig schloss er die Augen. „Ja, natürlich“, gab er zurück, ohne das Mädchen auch nur anzuschauen. Er holte Luft, als wollte er Evie noch etwas sagen.

Sie spürte Hoffnung in sich aufkeimen. Ein solch glühendes Verlangen, dass ihr Herz wie wild zu pochen begann.

„Verzeihen Sie mir, dass ich …“, setzte er leise an.

„Nein.“ Scham hatte sie erfasst. Es war, als würde sie sich selbst von ihrem Fenster aus beobachten. Eine alte Jungfer, die sich einbildete, in einem mondbeschienenen Garten ihrem Schicksal begegnet zu sein, so wie die Heldin in einer ihrer Geschichten.

Evie war dankbar für das Leben, das sie sich selbst aufgebaut hatte. Sie brauchte keine peinliche Begegnung mit einem attraktiven Herrn, die ihr Leben veränderte.

„Guten Abend, Mylord“, sagte sie, bevor sie ihr Buch aufhob, sich an dem Mann und dessen Tanzpartnerin vorbeischob und zurück zu Lady Waverlys Stadthaus eilte.

Zurück in ihr eigenes Leben, anstatt sich in dem zu verlieren, von dem sie dann und wann zu träumen wagte.

2. KAPITEL

Oktober 1896

Drei Monate später

Belgravia, London

Es geschah nicht oft, dass Evie um Worte verlegen war.

Als Sekretärin einer gefragten und viel beschäftigten Aristokratin verbrachte sie ihre Tage damit, Briefe aufzusetzen, Einladungen zu schreiben und sogar Reden zu formulieren, welche die Countess of Waverly in diversen Klubs und Organisationen hielt.

Nun jedoch überlegte sie fieberhaft, was sie sagen sollte. Sie hockte auf der Kante eines höchst unbequemen Stuhls im luxuriösen Salon von Londons gefürchtetster Duchess, wog ihre Möglichkeiten ab und bereute, dass sie so dumm gewesen war, geradewegs in eine potenzielle Katastrophe hineinzulaufen.

Dabei hatte alles so simpel geklungen. Lady Waverly hatte sie gebeten, der Duchess of Vyne eine Einladung zu einem Wohltätigkeitsball zu überbringen. Offenbar hatte ihre Gnaden darauf bestanden, die Einladung persönlich überreicht zu bekommen, und da lag der Hase im Pfeffer.

Zu Evies Entsetzen hatte die einschüchternde ältere Duchess darauf bestanden, dass sie zum Tee blieb, und nun saßen sie einander gegenüber, während die in der Luft liegende Spannung der Atmosphäre auf einem Duellplatz glich.

Das Angebot, das ihr just unterbreitet worden war, hatte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen.

Die Duchess of Vyne wollte sie abwerben – wobei sie ihr eine Anstellung als Gesellschafterin und nicht als Sekretärin offerierte. Was tat eine Gesellschafterin überhaupt? Folgte sie einer Aristokratin überallhin? Das klang furchtbar öde.

Außerdem hatte Lady Waverly ihr Arbeit gegeben, als sie sich in einer Notlage befunden hatte, und das verlangte ein gewisses Maß an Loyalität. Vor drei Jahren war Evie völlig verzweifelt gewesen. Sie hatte gerade ihren Vater verloren und war allein dafür verantwortlich gewesen, sich selbst und ihre kleine Schwester zu ernähren.

Lady Waverly hatte ihr Potenzial erkannt, und obwohl Evie kaum eine ruhige Minute hatte, blieb ihr abends genügend Zeit, um an ihren Geschichten zu arbeiten. Das würde sie nicht aufgeben, um nach der Pfeife einer Duchess zu tanzen.

Sie schluckte krampfhaft und blickte der eleganten betagten Frau geradewegs in die Augen. Die Worte indes, die ihr auf der Zunge lagen, hätten die Dame brüskiert. Und kränken durfte sie die mächtige Duchess auf keinen Fall. Das hätte ein schlechtes Licht auf Lady Waverly geworfen.

Die Duchess of Vyne rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht. Ihr Lächeln war so schneidend, dass es Glas zerteilt hätte, und bar jeder Wärme.

„Man sagt, Sie seien ein intelligentes kleines Ding.“

„Intelligent bin ich durchaus, Euer Gnaden.“ Nachdem sie drei Jahre lang Umgang mit Aristokratinnen gepflegt hatte, wusste sie, dass falsche Bescheidenheit niemanden beeindruckte. „Ich habe eine hervorragende Bildung genossen.“

„Hmm.“ Ein halbes Dutzend Urteile schwang in dem einen Laut mit. „Sie sind eine Enkelin des Earl of Wexford, richtig?“

„Ja, aber ich habe meinen Großvater kaum gekannt. Er und mein Vater haben sich überworfen.“

Evie hatte keine Zeit hierfür und lugte verstohlen zu der kunstvollen Kaminuhr aus Goldbronze hinüber. Sie hatte Lady Waverlys heiß geliebten Mops Chester mitgenommen in dem Glauben, dies würde ein kurzer, wohltuender Spaziergang für sie beide werden. Chester hob just den Kopf, wie um ihr zu signalisieren, dass auch er gehen wolle.

„Sie wollen keine Zeit vergeuden“, stellte die Duchess vernehmlich fest, als wäre Evie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose ertappt worden war. „Eine lobenswerte Eigenschaft für ein Mädchen in Ihrer Position.“

Die Bezeichnung Mädchen ging Evie gegen den Strich. Sie war vierundzwanzig. Kaum mehr ein Mädchen, und zudem hatte sie jede Menge Arbeit zu erledigen. „Lady Waverly erwartet mich. Ich bedaure, Euer Gnaden, aber ich kann Ihr Angebot nicht …“

„Also schön, kommen wir gleich zur Sache.“ Die Duchess stellte ihre Teetasse ab und hob eine ihrer silbergrauen Brauen. „Wie viel zahlt Katharine Ihnen?“

Die Duchess of Vyne mochte an der Spitze der Londoner Gesellschaft stehen, doch Evies Dienstherrin rangierte in der Hierarchie nicht weit unterhalb von ihr. Und da Evie sich vorgenommen hatte, die Countess diese Woche um eine Gehaltserhöhung zu bitten, konnte sie es sich nicht leisten, ihr Missfallen zu erregen.

„Es wäre indiskret von mir, dies preiszugeben, Euer Gnaden.“ Evie wählte den exakt falschen Moment, um einen Schluck vom aromatischen Jasmintee der Duchess zu nehmen. Er war so heiß, dass sie sich die Kehle verbrannte. Sie hustete, bis ihr die Augen tränten, und stellte die Tasse so ungeschickt auf dem Unterteller ab, dass ihr Tee auf die Hand schwappte.

Kaum hatte sie sich wieder gefasst, sah sie, dass die Duchess sie fast gelangweilt betrachtete, so als verschwendete Evie nunmehr ihre Zeit.

„Sie sind weit weniger fügsam, als ich erwartet habe.“ Die Duchess lächelte erneut, und dieses Mal lag aufrichtige Heiterkeit darin. „Aber Diskretion ist etwas, das ich von meiner Gesellschafterin vorrangig verlange, Miss Graves. Nichts von dem, was Sie bislang geäußert haben, bringt mich daher von meinem Vorhaben ab. Ich wünsche, dass Sie meinem Haushalt beitreten. Sollten Sie zustimmen, werde ich Ihnen das Doppelte Ihres gegenwärtigen Gehalts zahlen.“

Evie blieb der Mund offen stehen, und sie schluckte, ehe sie ihn hastig schloss. Ihr Herz raste, in ihrem Innern tobte ein Aufruhr. Begeisterung wich Verunsicherung, die wiederum in Wut umschlug.

Wie konnte die Duchess erwarten, dass Evie auf ein Lob hin – geschmälert durch das Mädchen – ihre Brotherrin einfach im Stich ließ?

Lady Waverly war gütig und hatte Evie vor allen männlichen Bewerbern den Vorzug und somit eine Chance gegeben. Zwar musste Evie viel arbeiten, aber abends blieb ihr dennoch genügend Zeit, um an ihren Geschichten zu schreiben.

Die ungeschönte Wahrheit indes lautete, dass sie derzeit auf das Einkommen angewiesen war.

„Wie ich hörte, haben Sie eine Schwester, die danach strebt, die medizinische Hochschule zu besuchen.“

Du lieber Gott, die Duchess hatte gründlich recherchiert.

Evies jüngere Schwester Sybil schlug nach ihrer Mutter und besaß deren medizinisches und therapeutisches Talent. Bald würde sie auf dem Mädchenpensionat ihren Schulabschluss machen, und sie hatte bereits eine Zusage von der Medizinischen Fakultät für Frauen in London. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Evie mit ihrem Einkommen für sie beide gesorgt, und nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass Sybil ihre Ziele erreichte.

Aber ihre Arbeitgeberin einfach so zu verlassen? Geködert von einer Adeligen, die als schwierig, wenn nicht gar rüde galt? Das fühlte sich falsch an, und Evie hatte gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen.

„Vielen Dank für den Tee, Euer Gnaden, doch ich muss nach Waverly House zurückkehren. Vor dem Wohltätigkeitsball der Countess nächste Woche gibt es noch jede Menge zu tun.“

Evie riskierte den Fauxpas, vor ihrer Gastgeberin aufzustehen. Sie war wirklich schon viel zu lange hier. Das fand auch Chester, der fiepend aufsprang und sich an ihren glockenförmigen Rock schmiegte.

Ihre Arbeitgeberin würde bald von einem Mittagessen heimkommen und wollte sich gleich im Anschluss mit ihr treffen, um das anstehende Ereignis zu besprechen. Evie hatte jedes Detail mit großer Sorgfalt ausgearbeitet, darunter den gesamten Ablauf, alle Bestellungen sowie Notizen über die Vorlieben der Gäste, etwas, auf das Lady Waverly großen Wert legte. Evie hoffte, die Countess auf diese Weise davon zu überzeugen, dass sie eine Gehaltserhöhung verdient hatte.

Der Gehstock der Duchess traf mit einem dumpfen Laut auf dem Fußboden auf, als auch sie sich erhob.

„Ich verstehe.“ Sie klang enttäuscht. „Ihre Loyalität stärkt nur meine Entschlossenheit, Sie einzustellen, Miss Graves.“

„Ich bin mit meiner jetzigen Anstellung vollauf zufrieden, aber ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Euer Gnaden.“

„Denken Sie gut darüber nach, Mädchen. Ihre Anstellung bei Katharine mag gefährdeter sein, als Ihnen bewusst ist. Es heißt, sie plane, sich wieder zu vermählen.“ Die Duchess of Vyne pochte zweimal mit dem Stock auf den dicken Teppich. „Offenbar erwägt der Neffe meiner lieben Freundin Oona, sie zu seiner Braut zu machen.“

Evie zog die Augenbrauen so fest zusammen, dass sie Kopfschmerzen bekam. Braut?

Lady Waverly liebte ihre Unabhängigkeit mehr als jede andere Frau, die Evie kannte. In den drei Jahren, die sie nun für die Dame tätig war, hatte so mancher Herr sein Interesse bekundet, wobei es sich meist um Mitgiftjäger gehandelt hatte, die sich das Vermögen der Countess hatten einverleiben wollen. Vielleicht zählte der Neffe dieser Freundin der Duchess ebenfalls dazu.

Jedenfalls hatte Lady Waverly mit keinem Wort erwähnt, dass sie erneut zu heiraten gedachte, und sie hatte auch nie einen Verehrer besonders hervorgehoben.

Kurz gesagt, Evie glaubte der Duchess of Vyne kein Wort.

„Falls Lady Waverly wieder zu heiraten gedenkt …“

„Um Duchess zu werden, wohlgemerkt.“

„Falls sie Duchess werden sollte, würde sie vermutlich dringender denn je eine Sekretärin benötigen, Euer Gnaden.“ Evie wickelte sich Chesters Leine um die Hand, damit er in ihrer Nähe blieb. „Ich muss gehen. Danke für den Tee.“

Sie knickste vor der Duchess, bevor sie sich abwandte.

„Ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen, Miss Graves.“

Das ließ Evie innehalten, und als sie sich wieder umdrehte, war die Miene der Duchess weicher geworden.

„Ich habe Ihren Vater kennengelernt, vor vielen Jahren, als wir fast noch Kinder waren. Meine Familie war auf einer Hausgesellschaft auf dem Land zu Gast, ausgerichtet von den Wexfords, und zu dieser waren alle Familienmitglieder geladen. Reginald und ich haben uns gut verstanden.“ Sie lächelte, und dieses Lächeln wirkte echter und nicht gar so zynisch. Die Falten in ihrem Gesicht glätteten sich, und kurz verschleierte sich ihr Blick. „Ich fand ungerecht, wie ihm mitgespielt wurde, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich habe Ihre Mutter nie kennengelernt, aber seinen eigenen Sohn zu verstoßen ist grausamer, als ich es mir vorzustellen vermag.“

„Das sehe ich auch so.“ Evie bekam selten Gelegenheit, über ihre Eltern zu reden. Nicht einmal sie und Sybil sprachen oft über ihren Vater. Auch nach drei Jahren lastete die Trauer noch schwer auf ihnen. Und an ihre Mutter erinnerte Sybil sich kaum. Evie hingegen schon. Ihre Mutter war intelligent, selbstbewusst und voller Güte gewesen – alles Attribute, die auch Evie verkörpern wollte.

„Meine Mutter war diejenige, die mir Anstandsregeln beigebracht hat. Sie hat mich lesen gelehrt und dafür gesorgt, dass meine Schwester und ich eine gute Schulbildung erhielten. Vaters Familie hätte stolz darauf sein müssen, eine solche Frau in ihre Mitte aufzunehmen.“

Die Duchess rührte sich nicht und sagte nichts, sondern beobachtete Evie lediglich abwägend, wie sie es tat, seit sie Evie zum Tee eingeladen hatte.

„Als Gesellschafterin, Miss Graves, würden Sie mehr Freiheit und vermutlich mehr Ansehen genießen denn als Sekretärin. Sie wären eher ein Mitglied meines Haushalts als eine Angestellte, und Sie würden mich zu allen gesellschaftlichen Veranstaltungen begleiten. Eine junge Frau in dieser Position könnte den Lauf ihres Schicksals auf eine Weise ändern, die einer Sekretärin verwehrt bleibt.“

„Meine Anstellung ist durchaus ehrbar, Euer Gnaden.“

Die Duchess schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Sie missverstehen mich absichtlich, Kind. Ich will Ihnen die Welt eröffnen. Katharine wird eine andere Sekretärin finden, aber Sie erhalten eine solche Gelegenheit wahrscheinlich kein zweites Mal.“

Etwas an der Art, wie die Duchess Lady Waverlys Namen betonte, ließ Evie alarmiert aufhorchen.

„Sie mögen sie nicht?“

„Was für eine Frage! Mir liegt sehr viel an Katharine. Als Witwen bewegen wir uns in denselben Kreisen.“ Die Duchess zuckte mit den Schultern. „Mein Mitgefühl für Sie entspringt meiner Bekanntschaft mit Ihrem Vater.“

Mitgefühl. Etwas an diesem Wort brachte Evie in Harnisch. Womöglich war sie zu stolz oder zu sehr darauf bedacht, ihre Arbeitgeberin in Schutz zu nehmen, aber sie wollte das Mitgefühl der Duchess nicht, auch wenn diese ihren Vater gekannt hatte. Und sie wollte nicht die Gesellschafterin einer Dame sein.

„Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber ich kann Ihr Angebot nicht annehmen und ich darf nicht zu spät kommen.“ Ohne ein weiteres Wort machte sie kehrt und strebte zur Vordertür. Die Kehle war ihr so eng, dass sie kaum Luft bekam, bis sie auf dem Gehsteig stand.

„Welch unerquickliches Erlebnis“, beschied sie Chester, als sie sich auf den Heimweg machte. Der Mops sandte ihr einen Seitenblick zu, den sie als Verständnis wertete. „Ich habe kein Interesse daran, einer Duchess hinterherzulaufen.“ Die Vorstellung, Soireen besuchen zu müssen, wie sie sie für Lady Waverly plante, reizte sie nicht. Auch wenn es in jener einen Julinacht anders gewesen war.

Evie stolperte und blieb stehen, als Erinnerungen an diese Nacht in ihr aufstiegen – ein so köstlicher wie flüchtiger Aufruhr der Gefühle. Die warme Berührung eines Fremden, der Duft der Rosen, das Leuchten eines Glühwürmchens.

Chester ließ sich neben ihr nieder und schaute verwirrt zu ihr auf.

„Tut mir leid, Chessie. Ich hänge Tagträumen nach.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung und zwang sich, ihre Gedanken auf wichtigere Dinge zu richten. „Sollte Lady W. wirklich heiraten wollen, wird sie uns einfach mitnehmen. Ganz sicher.“

Der Mops antwortete mit einem schweren Seufzer, und erst da fiel ihr auf, dass sie schneller ausschritt als sonst.

„Vergib mir, Junge. Diese ganze Sache hat mich aufgewühlt.“ Evie wurde langsamer und schlug ein gemäßigteres Tempo an. Ihr Herz raste noch immer, aber sie wusste nicht genau, ob dies der Unverfrorenheit der Duchess oder der Angst um ihren Arbeitsplatz bei Lady Waverly geschuldet war.

Sie bogen um die Ecke, und voraus erspähte Evie die Kutsche ihrer Ladyschaft, die just am Gehsteig hielt.

„Sie ist früh zurück“, murmelte sie sich selbst ebenso wie dem Mops zu, der neben ihr hertrottete. „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.“

Chessie winselte, doch so reagierte er stets, sobald er seine Herrin witterte. Dennoch sah Evie das Hündchen prüfend an und fragte sich, ob es spürte, dass etwas nicht stimmte.

Sie beschloss, ihn zu tragen, um die Eingangstür von Waverly House schneller zu erreichen.

Im Haus begegnete sie Mrs. Robards, der zuverlässigen Haushälterin ihrer Ladyschaft.

„Ist irgendetwas vorgefallen?“

„Nicht dass ich wüsste, Miss Graves.“ Sie betrachtete den Mops in Evies Armen. „Ist der kleine Bursche krank?“

„Keineswegs.“ Evie sah Chessie an, der den Kopf vorstreckte und ihr übers Gesicht leckte. „Er war der ideale Begleiter, wie stets.“

Nachdem sie den Hund abgesetzt hatte, zog sie den Mantel aus und betrat das Studierzimmer, in dem sie für gewöhnlich tagsüber arbeitete.

„Oh, Miss Graves, die Countess hat mich gebeten, Sie hinaufzuschicken, sobald Sie wieder hier sind.“

„Ich habe so früh nicht mit ihr gerechnet.“

Mrs. Robards blickte auf die Standuhr. „Ja, vermutlich ist sie recht zeitig zurück. Aber sie sagte, dass Sie etwas mit Ihnen besprechen müsse.“

Vor Anspannung krampfte sich Evie der Magen zusammen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Vielleicht hatte die Duchess recht. Vielleicht würde sich alles ändern. Vielleicht hatte sie just zu dem Zeitpunkt, da Sybil dringend Geld brauchte, eine lukrative Stelle abgelehnt.

„Geht es Ihnen gut?“ Mrs. Robards trat näher. „Sie sind ganz blass geworden.“

„Mir fehlt nichts.“ Evie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an und griff sich Notizbuch und Stift, die sie bei jeder Besprechung mit der Countess dabei hatte. Auch die Mappe mit den Plänen für den anstehenden Wohltätigkeitsball nahm sie.

Eigentlich hatte sie mit ihrer Ladyschaft über den Ball und eine mögliche Gehaltserhöhung sprechen wollen, aber sie versuchte, sich für alles zu wappnen, was die Countess ihr sagen würde.

Sie atmete tief durch und ging nach oben. Wie üblich, stand die Tür zum privaten Salon ihrer Ladyschaft offen. Evie hörte, wie die Countess leise mit Chessie sprach, der die Treppe hinaufgesprungen war, kaum dass sie das Haus betreten hatten. Evie klopfte verhalten, ehe sie eintrat.

„Oh, da sind Sie ja.“ Lady Waverly lächelte. Ein gutes Zeichen. Sie war von Natur aus temperamentvoll, und obwohl sie sechs Jahre älter war als Evie, besaß sie oft mehr Tatendrang.

„Guten Tag, Mylady.“

„Kommen Sie, setzen Sie sich ans Feuer. Ich habe viel mit Ihnen zu bereden.“

Evie nickte. Etwas war anders als sonst. Dass sie während ihrer nachmittäglichen Gespräche in den beiden Sesseln vor dem Kamin saßen, war zwar nicht unüblich, doch normalerweise stand dort auch ein hoher Beistelltisch, damit sie gemeinsam Speisepläne, Listen und Korrespondenz durchgehen konnten. Heute waren die zwei Sessel einander zugekehrt, und der Beistelltisch war fortgerückt worden, als würde er nicht gebraucht werden.

„Tee?“ Dies wiederum gehörte zum täglichen Ritual ihrer Zusammenkünfte.

„Ja, bitte.“ Evie nahm Sahne, aber keinen Zucker, und während sie beobachtete, wie die Countess ihr eine Tasse einschenkte, versuchte sie, ihren Herzschlag mittels schierer Willenskraft zu beruhigen.

„Also“, begann Lady Waverly, „zunächst möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie in den letzten Jahren so hart für mich gearbeitet haben. Sie waren ein Geschenk des Himmels, um ehrlich zu sein. Ich wüsste nicht, wie ich ohne Sie zurechtgekommen wäre.“

„Ich bin froh, dass ich helfen konnte, Mylady. Und ich weiß die Chance zu schätzen, die Sie mir vor drei Jahren gegeben haben.“

„Ja.“ Sie wies in Evies Richtung. „Drei Jahre ist es her, nicht wahr? Das ist eine enorm lange Zeit. Und noch nie hatten Sie einen richtigen Urlaub.“

Evie stieß langsam den Atem aus und nahm rasch einen Schluck Tee, bevor sie ihre Tasse abstellte.

„Ich hatte vor, mein Gehalt zur Sprache zu bringen.“

„Hm, tatsächlich? Vielleicht wäre eine Erhöhung angebracht. Sagen wir, fünfzehn Prozent?“ 

Das leise Glucksen, das Evie entschlüpfte, war ganz und gar nicht damenhaft, entsprang jedoch aufrichtiger Erleichterung und Freude. Lady Waverly lächelte.

„Ausgezeichnet. Es freut mich, dass Sie zufrieden sind.“ Die Countess schlug die Hände zusammen. „Und nun habe ich eine kleine Überraschung für Sie.“

Die Countess hätte ihr unterbreiten können, dass sie gleich zwei Adelige zu heiraten gedenke, und Evie hätte nur lächelnd genickt. Alles, was zählte, war, dass sie nicht entlassen wurde und mit ihrem Einkommen Sybils Ausbildung finanzieren konnte.

„Haben Sie je eine Irland-Reise ins Auge gefasst?“

Evie hatte wieder nach ihrer Tasse gegriffen und ließ sie auf halbem Weg zum Mund in der Luft verharren. „Irland, Mylady?“

Die Countess lächelte gequält. „Ich sitze in der Klemme, wissen Sie. Ich habe eine reizende Einladung nach Irland erhalten, um dort für den irischen Zweig des Reitsportverbands eine Wohltätigkeitsveranstaltung auszurichten.“

Evie nahm ihr Heft zur Hand und machte sich Notizen. „Wann werden Sie abreisen, Mylady?“

„Nun, genau darum geht es, Evelyn. Ich kann die Reise nicht antreten, denn ich hatte sie für nächste Woche angesetzt.“

„Nächste Woche?“ Unwillkürlich zog Evie die Brauen hoch, ermahnte sich jedoch, dass sie auch früher schon kurzfristig hatte planen müssen. Es war keineswegs unmöglich. „Ich werde alles vorbereiten. Zuerst sollten wir die Überfahrt buchen, eine Unterkunft reservieren …“

„Sie verstehen nicht, meine Liebe. Bitte lassen Sie es mich erklären, dann werden Sie begreifen.“

„Natürlich.“ Evie nickte, das Notizbuch auf ihrem Schoß umklammernd.

„Ich kann nicht nach Irland reisen, aber ich finde, Sie sollten es tun. Gönnen Sie sich den wohlverdienten Urlaub.“

„Mylady …“

„Sie würden mir damit einen großen Gefallen erweisen. Ich habe dem Duke of Rennick, dessen Vater ich kannte, eine Spende für den Irischen Reitsportverband zugesichert. Aber es soll auch eine kleine Benefizveranstaltung geben, und ich wurde gebeten, sie zu organisieren und eine Rede zu halten. Da ich verhindert bin, wird jemand anderes die Organisation übernehmen müssen, und niemandem vertraue ich mehr als Ihnen. Die kurze Rede, die ich vorbereitet habe, kann Rennick halten.“

Evie saß wie erstarrt da. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Eine Sache, die sie ihrer Arbeitgeberin nie hatte beichten müssen, war die, dass sie das Reisen nicht vertrug. Als Kind war ihr Vater mit ihr und Sybil zu einem Badeurlaub nach Margate gefahren, und Evie hatte sich die ganze Zugfahrt über bemüht, nicht ihr Essen von sich zu geben.

Aber Irland. Sie hatte davon geträumt, die Insel zu besuchen. Einerseits verfiel sie in Panik ob der Aussicht, eine Veranstaltung in einem ihr völlig fremden Haushalt zu organisieren. Ganz zu schweigen von der Kommunikation mit dem Duke und dessen Familie. Andererseits sehnte sich etwas tief in ihr danach zu fahren. London zu verlassen. Etwas Neues und Schönes zu sehen, vor allem Irland. Ihr Vater hatte sich für das Altertum begeistert, und die alten Kelten hatten ihn fasziniert.

Eine solche Gelegenheit bekäme sie vielleicht nie wieder.

Stille senkte sich über das Zimmer, nur durchbrochen vom Ticken der Kaminuhr ihrer Ladyschaft und dem Knacken des Feuers.

„Sie werden doch fahren, oder?“ Ihre Ladyschaft präsentierte Aufgaben oft auf diese Weise und vermittelte Evie so das Gefühl, eine Wahl zu haben. Aber bislang hatte sie nie um etwas gebeten, das Evie hätte verweigern wollen.

Und auch diesmal konnte sie nicht ablehnen, trotz ihrer Bedenken. Zugegeben, die Gelegenheit hatte etwas von einer Herausforderung an sich, aber sie würde es bis in alle Ewigkeit bereuen, sie aufgrund ihrer Ängste nicht ergriffen zu haben.

„Selbstverständlich, Mylady.“

„Wunderbar!“ In Lady Waverlys Lächeln lagen aufrichtige Wärme und eine gehörige Portion Erleichterung. „Ich habe mich schrecklich gefühlt, als mir klar wurde, dass ich mir zu viel aufgebürdet habe. Aber vielleicht sollte es so sein, damit Sie eine Zeit lang verreisen können.“ Sie trank von ihrem Tee, ehe sie Evie eingehend musterte. „Wenn ich so darüber nachdenke, werde ich ohne Sie ziemlich verloren sein.“

„Ich werde vorbereiten, was ich kann, bevor ich abreise.“

„Daran zweifle ich nicht.“ Sie fuhr mit den Fingern über die Polsternaht ihres Sessels.

Dies bedeutete, dass irgendetwas der Countess zu schaffen machte, wie Evie inzwischen wusste. Sie brauchte nur zu warten, schlussendlich würde die Countess es preisgeben. Derweil schlug Evie ihr Notizbuch auf und begann, eine Liste all der Dinge zu erstellen, die sie vor ihrer Abreise würde erledigen müssen.

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