Die Familie Wilder - Erbe, Liebeskampf und Doktortitel (6-teilige Serie)

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UND DOCH GEHÖREN WIR ZUSAMMEN
Alltag, Business, rote Zahlen? Alles vergessen! In dieser Nacht werden Peter und Bethany von ihren leidenschaftlichen Gefühlen überwältigt. Doch nach Sonnenaufgang hat er einen quälenden Verdacht: Spielt Bethany falsch? Die schöne Betriebswirtin kämpft für die Übernahme seiner Klinik durch einen mächtigen Konzern. Peter liegt das Wohl der Patienten am Herzen - aber alles in ihm sehnt sich nach Bethany. Hin und her gerissen, weicht er ihr aus. Aber kann er auch seinen Gefühlen für sie ausweichen? Denn er spürt: eines wollen sie beide - die Liebe …

ENTSCHEIDUNG AM VALENTINSTAG
Als der erfolgreiche Geschäftsmann J.D. in ihrem Krankenhaus auftaucht, fühlt sich die schüchterne Ärztin Ella sofort zu ihm hingezogen. Doch er arbeitet für einen Konzern, der aus ihrem kleinen Hospital eine hochmoderne Klinik machen will, in der Profit an erster Stelle steht und nicht das Mitgefühl und Verständnis für die Patienten. Verzweifelt kämpft Ella gegen J.D.s Pläne, aber sie kann nicht verhindern, dass ihre Gefühle für ihn intensiver werden. Am Valentinstag muss er sich entscheiden: Wird J.D. erkennen, dass wahre Gefühle viel mehr wert sind als alles Geld der Welt?

HERZ VERLOREN, GLÜCK GEFUNDEN
In seiner Arzt-Familie gilt Dr. David Wilder als schwarzes Schaf. Dabei setzt der Schönheitschirurg sein Können nicht nur für alternde Hollywoodstars ein. Unentgeltlich operiert er Courtneys Tochter, deren Gesicht bei einem Autounfall verletzt wurde. Um diese kleine Patientin kümmert er sich ganz besonders liebevoll. Denn er hat längst sein Herz verloren - nicht nur an die süße Janie, sondern auch an ihre bezaubernde Mutter. Trotzdem zögert David, ihr seine Gefühle zu gestehen. Ihn quält die Frage: Empfindet Courtney nur Dankbarkeit für ihn - oder ist es wirklich Liebe?

NUR DEIN HERZ WEIß DIE ANTWORT
Nur eine einzige zärtliche Liebesnacht hat Simone nach einer Feier in den Armen ihres gut aussehenden Kollegen Mike O’Rourke verbracht. Und jetzt ist sie schwanger - sehr zu ihrem Schrecken! Nach einer unglücklichen Kindheit glaubt sie, keine gute Mutter sein zu können, und möchte das Kind zur Adoption freigeben. Doch da hat Mike auch noch ein Wörtchen mitzureden: Auf keinen Fall gibt er sein Kind weg. Und er will Simone heiraten - denn er hat unrettbar sein Herz an sie verloren. Ist seine Liebe stark genug, die Schatten der Vergangenheit für immer zu besiegen?

VERTRAU MIR, GELIEBTER
Wer versucht das Walnut River General Hospital in Misskredit zu bringen? Isobel ist erst wenig begeistert, dass der Ermittler Neil Kane sie befragen will. Aber ein Blick in seine zärtlichen braunen Augen, und schon ist es um sie geschehen. Neil stellt sich als so charmant und attraktiv heraus, dass sie nicht anders kann und sich jeden Tag mehr in ihn verliebt. Doch ihr junges Glück scheint schneller vorbei, als es begann. Plötzlich verdächtigt Neil ausgerechnet Isobel. Sie ist tief verletzt. Wie kann der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hat, sie nur für schuldig halten?

RÜCKKEHR INS LAND DER LIEBE
Anna Wilder muss in ihren Heimatort zurückkehren, um für ihre Firma das Walnut River General Hospital aufzukaufen. Prompt holen sie dort die Schatten der Vergangenheit ein. Ausgerechnet Richard Green vertritt das Krankenhaus als Anwalt: der Mann, den sie vor acht Jahren nach einer unvergesslichen Liebesnacht ohne ein Wort des Abschieds verlassen musste. Immer noch ist die Anziehungskraft zwischen ihnen wie magisch. Doch als Anna schon glaubt, dass Richard ihr verziehen hat und ihrem Glück eine zweite Chance gibt, verdächtigt er sie jäh, ein doppeltes Spiel zu treiben …


  • Erscheinungstag 11.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717636
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Marie Ferrarella, Mary J. Forbes, Teresa Southwick, Judy Duarte, Karen Rose Smith, Raeanne Thayne

Die Familie Wilder - Erbe, Liebeskampf und Doktortitel (6-teilige Serie)

Marie Ferrarella

Und doch gehören wir zusammen

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2008 by Harlequin Books S. A.
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1657 (27/2) - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen

Fotos: Matton Images

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-889-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Er hatte schon lange gewusst, dass dieser Tag kommen würde.

Der Tod war ihm nicht fremd. Als Arzt begegnete er ihm allzu oft. Aber auch wenn er stets positiv dachte, wusste Dr. Peter Wilder doch, dass der Tod zum Leben gehörte.

Seine Mutter Alice war vor fünf Jahren an Krebs gestorben, und jetzt hatte er zum zweiten Mal einen geliebten Menschen verloren. Trotz der vielen Trauergäste auf dem Friedhof fühlte er sich allein. Neben seinen drei Geschwistern waren all die Freunde und Bewunderer da, die sein Vater Dr. James Wilder während seiner langjährigen Tätigkeit im Walnut River General Hospital für sich gewonnen hatte. Es war ein kalter, trüber Januarmorgen. Obwohl es noch dazu heftig schneite, waren viele Menschen gekommen, um dem Verstorbenen ihren Respekt zu erweisen.

Als Chefarzt und Vorsitzender des Verwaltungsrats war James beruflich stark eingespannt gewesen. Dennoch hatte er sich immer Zeit für seine Familie genommen und war stets für seine Söhne und Töchter da gewesen. Nun musste Peter in seine Fußstapfen treten – auch wenn die ihm unglaublich groß erschienen.

Als Ältester war er jetzt derjenige, bei denen David, Ella und Anna Rat und Hilfe suchen würden. Nun ja, Anna wohl nicht, dachte er betrübt und schaute zu ihr hinüber.

Die Geschwister hatten sich um das Grab versammelt. Aber während David, Ella und er beieinanderstanden, hatte Anna sich auf die andere Seite gestellt. Sie war zehn Jahre jünger als er – und das schwarze Schaf der Familie.

Beruflich waren David, Ella und er dem Vorbild ihres Vaters gefolgt, aber Anna hatte es nicht geschafft. Schon im ersten Jahr hatte sie das Medizinstudium abgebrochen, stattdessen Betriebswirtschaft studiert und in der Finanzwelt Karriere gemacht.

Aber es gab einen noch gewichtigeren Grund dafür, dass sie als schwarzes Schaf galt. Als Baby war Anna vor dem Eingang des Krankenhauses abgelegt worden. Von da an hatte sich James, der sich im Walnut River General für alles zuständig gefühlt hatte, um das Findelkind gekümmert. Das Baby war dem Krankenhaus anvertraut worden. Für James war es selbstverständlich gewesen, dass er die Kleine adoptierte.

Jedenfalls hatte Peter gehört, wie sein Vater genau das zu seiner Mutter gesagt hatte. Vergeblich hatte Alice versucht, das Kind, das die eigenen Eltern nicht gewollt hatten, in ihr Herz zu schließen. Vielleicht hatte James das ausgleichen wollen und deshalb seine Adoptivtochter oft den leiblichen Kindern vorgezogen. Trotz seiner guten Absichten war sein Handeln jedoch nicht ohne Folgen geblieben: Peter und seine Geschwister hatten eifersüchtig auf Anna reagiert. Vor allem David, der gegen seine Familie rebelliert hatte, um so mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

Nach und nach hatten sich die Kinder in zwei Lager aufgespalten – David, Ella und Peter auf der einen, Anna auf der anderen Seite. Obwohl James versucht hatte, es zu verhindern, war die Kluft zwischen ihnen immer größer geworden, und Anna hatte sich zunehmend ausgeschlossen gefühlt.

Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, aufeinander zuzugehen und von vorn anzufangen, dachte Peter. Ihr Vater hätte es so gewollt, und im Grunde waren sie vier gar nicht so verschieden. Anna hatte James Wilder mindestens so sehr geliebt wie jeder andere von ihnen.

Als Peter sich die Schneeflocken aus der Stirn wischte, sah Ella ihn an. Ella, mit ihren Rehaugen und dem kleinen Mund, den so oft ein scheues Lächeln umspielte. Ella, deren Blick jetzt voller Trauer war.

„Ich kann nicht glauben, dass er wirklich fort ist. Ich habe immer geglaubt, er würde für immer bei uns bleiben, wie eine Naturgewalt“, flüsterte sie.

„Er ist wirklich fort“, murmelte David, doch der Schmerz in seiner Stimme war deutlich zu hören.

Peter wusste, dass David nicht nur um den verstorbenen Vater trauerte, sondern auch um die verpasste Gelegenheit, sich mit ihm zu versöhnen. Zwischen James und David hatte zuletzt ein äußerst gespanntes Verhältnis geherrscht. Peter war sicher, dass sein Bruder zutiefst bereute, nicht auf seinen Vater zugegangen zu sein. Morgen ist auch noch ein Tag, hatte er immer gesagt.

Jetzt würde dieser Tag nie mehr kommen.

Peter wandte sich wieder nach vorn und starrte auf den polierten Sarg, der langsam in die gefrorene Erde hinabgelassen wurde. Mit jedem Zentimeter wurde der Verlust größer.

Leb wohl, Dad. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit zusammen gehabt. Es gibt noch so viel, das ich von dir wissen will, das ich dich noch immer fragen will.

Er wartete, bis der Sarg ganz unten angekommen war, trat vor und warf die rote Rose in die Grube. Sie fiel auf den Sarg und glitt wie eine Träne an der Seite hinab.

„Schlaf gut, Dad.“ Seine Stimme drohte zu versagen, und er schluckte. „Du hast es dir verdient.“ Er trat zur Seite und überließ Ella den Platz am Grab, damit auch sie ihre Rose hineinwerfen konnte. Anna dagegen wartete, bis alle Trauergäste ihnen ihr Beileid ausgesprochen hatten. Offenbar wollte sie ein letztes Mal mit ihrem Vater allein sein.

Sie sagte etwas, sprach jedoch so leise, dass er es nicht verstand. Als er Tränen in ihren Augen glitzern sah, regte sich in Peter das schlechte Gewissen. Adoptiert oder nicht, sie war und blieb seine Schwester. Wenige Tage nach ihrer Geburt hatte sein Vater sie mit nach Hause gebracht.

„Ich hab hier ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk für dich, Alice“, hatte er verkündet.

Nie würde Peter vergessen, wie überrascht und ungläubig seine Mutter reagiert hatte. Er war damals zehn gewesen, David sechs. Gerade erst hatte ihre Mutter die Depression überwunden, die sie zeitweilig ans Bett gefesselt hatte. Ihre Reaktion hatte ihn damals verwirrt. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie sich auf der Stelle und Hals über Kopf in das Baby verlieben würde – das taten Frauen doch, oder? Sie liebten Babys.

Aber sie lächelte nicht, als sie es seinem Vater abnahm. Im Gegenteil, ihr Mund wirkte noch schmaler als sonst.

„Sie ist sehr hübsch, nicht wahr, Jungs?“, sagte sein Vater aufmunternd, um seine Söhne einzubeziehen.

„Sie ist laut“, antwortete David mit finsterer Miene. „Und sie riecht.“

Sein Vater lachte. „Sie braucht nur eine frische Windel.“

„Können wir sie gegen ein Pony eintauschen?“, fragte David.

„Nein, David.“ James lachte und wandte sich seinem anderen Sohn zu. „Wie findest du sie, Peter?“

„Sie ist sehr klein“, hatte er knapp erwidert. Peter erinnerte sich, dass er nicht das neue Mitglied der Familie, sondern seine Mutter betrachtet hatte – voller Sorge. Sein Vater hatte über ihn mal gesagt, dass er schon alt zur Welt gekommen sei. Das war nicht ganz unwahr. Er war noch nie in seinem Leben völlig unbeschwert gewesen.

„Stimmt. Deshalb müssen wir gut auf sie aufpassen.“ Sein Vater hatte seine kräftige Hand auf Peters Schulter gelegt und ihm damit signalisiert, wie sehr er dabei auf ihn zählte. „Vor allem du. Du bist ihr großer Bruder.“

Peter erinnerte sich genau an die Szene. An sein ernstes Nicken, an die Hoffnung, seinen Vater nicht zu enttäuschen. Und an das Stirnrunzeln seiner Mutter, als sie ihrem Mann das Findelkind abgenommen hatte und nach nebenan gegangen war. Und so war Anna in ihre Familie gekommen – für David als Konkurrenz, für Peter als Last, die er zu tragen hatte. Bis heute hatte sich daran nicht viel geändert.

Harmonisch war ihr Verhältnis nie geworden. Nur mit Ella hatte Anna sich verstanden. Wann immer Peter versucht hatte, sich ihr anzunähern, war Anna auf Abstand geblieben. Und wenn sie nach Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gesucht hatte, war er zu beschäftigt gewesen, um ihr auf halbem Weg entgegenzukommen. Zwischen ihr und David hatte praktisch Funkstille geherrscht.

Und so waren die Jahre vergangen, voller Missverständnisse und verletzter Gefühle, und die Kluft hatte sich immer weiter vergrößert.

Es war höchste Zeit, damit aufzuhören.

„Anna!“, rief Peter.

Abrupt drehten sich David und Ella zu ihrem älteren Bruder um. Anna war gerade dabei, zwischen den Trauergästen zu verschwinden, und schaute überrascht in seine Richtung. Der Wind wehte ihr das hellblonde Haar in die Augen. Blinzelnd strich sie es hinter die Ohren, und ihre hellblauen Augen blickten fragend.

Peter ging zu ihr. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies die einzige Chance zur Aussöhnung war, die sich ihm bieten würde. Wenn er es hier und jetzt, am offenen Grab ihres Vaters, nicht schaffte, aus ihnen eine harmonische Familie zu machen, würde es ihm nie gelingen. Er hatte keine Ahnung, woher das Gefühl kam.

Doch als er Anna erreichte, fehlten ihm plötzlich die richtigen Worte. Als Arzt verstand er es normalerweise, Menschen sein Beileid auszusprechen und sie zu trösten. Der einfühlsame Umgang mit Patienten und ihren Angehörigen war eine seiner Stärken. Es fiel ihm nicht schwer, sich in ihre Lage zu versetzen. Er konnte sich gut vorstellen, was sie durchmachten, wenn sie auf einem zugigen Korridor und im Nachthemd auf seine Diagnose warteten. Wie sein Vater war auch Peter ein warmherziger, rücksichtsvoller Arzt, und seine Patienten liebten ihn dafür.

Aber das hier war anders. Es war fast zu persönlich. Es gab eine lange Vorgeschichte, die schmerzliche Erinnerungen mit sich brachte.

Peter ließ seine Stimme sanft und warm klingen, denn er wusste, dass sie ebenso nervös war wie er.

„Bei mir zu Hause findet noch ein Empfang statt“, begann er. David und Ella waren ihm gefolgt und standen stumm hinter ihm. Er wünschte, einer der beiden würde etwas sagen. „Ich war nicht sicher, ob du das wusstest.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er sie. Sie klangen nicht gerade wie eine von Herzen kommende Einladung.

„Ich wusste es nicht“, erwiderte Anna leise. Sie schaute von ihm zu David und Ella und wieder zurück. Die beiden schwiegen noch immer.

Sie sieht aus, als würde sie lieber gehen, dachte Peter. Er konnte es ihr nicht verdenken. Ohne sie würde es weniger Spannungen geben. Aber es wäre falsch, sie auszuschließen.

Erneut setzte er zu einem Versuch an. „Vielleicht hilft es uns allen, einfach ein paar Geschichten über Dad auszutauschen. Jeder scheint Hunderte davon zu kennen“, fuhr er fort und rang sich ein Lächeln ab.

Er wartete, doch statt Anna gab David ihm eine Antwort. „Klingt gut, Peter, aber mein Flug geht in zwei Stunden“, sagte er und schaute auf die Uhr. „Mir bleibt gerade noch genug Zeit, zum Flughafen zu fahren und die Sicherheitskontrolle zu passieren.“

„Nimm einen späteren Flug“, entgegnete Peter.

Sein Bruder konnte es sich leisten, das Ticket verfallen zu lassen und ein neues zu kaufen. Schließlich war David ein heiß begehrter Schönheitschirurg mit vielen prominenten Patienten. Erst kürzlich hatte das Magazin People ihn als „Chirurg der Stars“ bezeichnet. Kein Zweifel, er war das erfolgreichste Mitglied der Familie – jedenfalls finanziell. Ella dagegen war bis vor Kurzem noch Assistenzärztin gewesen, und auch Peter selbst verdiente nicht gerade ein Vermögen. Etwa vierzig Prozent seiner Patienten besaßen keine Krankenversicherung und zahlten nicht mehr für ihre Behandlung, als sie entbehren konnten. Trotzdem war er zu jeder Zeit für sie da, wenn sie Hilfe brauchten.

Annas Outfit sah teuer aus, genau wie der Wagen, den sie fuhr. Sie sprach nie über ihren Job, aber er schien eine Menge einzubringen.

David schüttelte den Kopf. „Wirklich, ich würde bleiben, wenn ich könnte. Aber ich habe gleich morgen früh eine Operation. Ein ganz kurzfristiger Termin“, erklärte er. „Das Fliegen macht mich so müde. Danach brauche ich immer mindestens acht Stunden Schlaf, sonst bin ich nicht in Bestform.“ Er machte eine Pause und schaute seinen älteren Bruder an. Sein schlechtes Gewissen war nicht zu übersehen. „Ist das okay für dich?“

Nein, dachte Peter, es ist nicht okay für mich. Aber so war das Leben. Es erschien ihm sinnlos, darüber zu diskutieren. Also nickte er. „Ich verstehe. Die Pflicht ruft.“ Heute war nicht der Tag, um sich mit David zu streiten.

„Ich muss auch gehen“, sagte Anna rasch und ohne ihn anzusehen. „Ich muss mich auf eine Sitzung vorbereiten“, fügte sie hinzu.

Sie lügt, dachte Peter. Wenn sie die Unwahrheit sagte, sah Anna stets äußerst verlegen aus.

Trotzdem ließ er es auf sich beruhen. „Man wird dich vermissen“, erwiderte er nur und fragte sich im Stillen, wer von ihnen beiden wirklich schwindelte.

Anna zögerte. „Das bezweifle ich.“ Erstaunt sahen Ella und ihre Brüder sie an. War die Wahrheit so überraschend? Oder hatten sie nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt etwas sagte? „Kein Mensch wird mich vermissen.“

„Ich schon“, sagte Ella leise.

Anna warf ihrer Schwester einen dankbaren Blick zu. Wenn es in ihrer Familie außer ihrem Vater jemanden gab, dem sie nahestand, dann war es Ella. Sie hatte sich sogar die Zeit genommen, an Ellas Abschlussfeier teilzunehmen. Bis dahin war sie nur an Feiertagen und zum Geburtstag ihres Vaters nach Hause gekommen.

Nach seinem Tod würde sie wohl für immer fortbleiben. Im Grunde waren diese Menschen ihr fremd, und sie glaubte, dass ihre Geschwister darüber erleichtert wären. Sie bräuchten nicht mehr so zu tun, als freuten sie sich über ihren Besuch.

Lächelnd drückte Anna die Hand ihrer Schwester. „Danke, El. Aber ich muss trotzdem los.“

„Eine Stunde?“, hörte Peter sich sagen. Vielleicht war es Ellas Gesichtsausdruck, der ihn dazu brachte, noch immer nicht aufzugeben. „Nur eine Stunde. Für Dad, nicht für mich.“

„Du kannst für uns beide bleiben“, schlug David Anna gleichgültig vor, bevor er Ella umarmte und sie auf die Wange küsste. Dann gab er seinem Bruder die Hand. „Ich melde mich“, versprach er und nickte anschließend Anna höflich, aber deutlich kühler zu. „Anna, es war gut, dich zu sehen.“

Peter entging nicht, wie Annas Mund noch schmaler wurde.

So viel zum Waffenstillstand, dachte er betrübt. Vielleicht ein anderes Mal.

Mit Ella ging er in Richtung des Parkplatzes, auf dem die Limousine wartete. Er bemerkte Bethany Holloway erst, als sie neben ihm auftauchte. Hin und wieder fielen ihm hübsche Frauen auf, und diese war eine klassische Schönheit mit makellosem Teint, leuchtend blauen Augen und atemberaubend rotem Haar.

Erstaunt wandte er sich ihr zu, als sie ihm eine Hand auf den Arm legte.

„Peter, ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen, wie leid mir das mit Ihrem Vater tut. Alle haben ihn geliebt.“

Das war nicht zu bestreiten. Wer James Wilder gekannt hatte, hatte ihn auch bewundert. Sein Vater hatte seinen Mitmenschen stets das Gefühl vermittelt, dass sie ihm wichtig waren und dass ihm ihr Wohlergehen persönlich am Herzen lag. Damit hatte er sich viel Zuneigung erworben. Es war ein seltenes Geschenk.

„Danke.“

Vielleicht war es egoistisch, aber im Moment wäre er mit seiner Trauer lieber allein gewesen. Doch das war unmöglich. Er musste stark sein, damit andere ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten. Ganz sicher würde es Ella nicht helfen, wenn er jetzt zusammenbrach.

Bethany schloss sich ihnen an. „Aber vielleicht war es so einfacher für ihn.“

„Wie?“

„Dass er gestorben ist.“

Abrupt blieb Peter stehen. Er konnte ihrer Logik nicht folgen. „Wie meinen Sie das?“

Überrascht sah Bethany ihn an. Mit dieser Reaktion hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. „Stellen Sie sich doch nur mal vor, wie Dr. Wilder sich bei der Übernahme durch Northeastern Healthcare gefühlt hätte.“

Peter begriff gar nichts mehr. „Was will dieser Klinikkonzern denn übernehmen?“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das Walnut River General Hospital natürlich.“

2. KAPITEL

Einen Moment lang war es so still, dass Peter fast glaubte, den Schnee fallen zu hören. Nur am Rande nahm er wahr, dass sowohl Anna als auch David noch in der Nähe standen.

„Was haben Sie gesagt?“, fragte er und sah Ella an, bevor Bethany antworten konnte. Sie war blass, ihr Blick traurig und erschöpft, und er wollte ihr in diesem Zustand nicht noch mehr zumuten. „Dir ist kalt, Ella. Warum gehst du nicht vor und wartest in der Limousine auf uns?“, schlug er vor.

Wie benommen nickte sie und setzte sich in Bewegung.

Er hat nichts davon gewusst, dachte Bethany. Noch schlimmer, die Nachricht von der bevorstehenden Übernahme des Krankenhauses schien ihn zu erschüttern. Das erstaunte sie, denn für sie klang es nach einer guten Neuigkeit. Nur Leute, die den Fortschritt aufhalten wollten, würden darin etwas anderes sehen.

Dennoch spürte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen.

„Es ist jetzt offiziell. NHC hat Interesse daran bekundet, das Walnut River General zu kaufen“, erklärte sie lächelnd. „Es passt hervorragend in die Kette von Kliniken, die NHC verwaltet. Ihr Vater hat ein hoch angesehenes Haus daraus gemacht.“

Vielleicht zu hoch, dachte Peter, sonst könnten wir in Ruhe hier weiterarbeiten.

„Aber er hat es nicht getan, damit das Krankenhaus von einem unpersönlichen Konzern geschluckt wird“, erwiderte er empört. Dies war ein schlagender Beweis für die Gefühllosigkeit von NHC. Sein Vater war noch nicht mal ganz unter der Erde, da wollte man sich schon sein Lebenswerk einverleiben. „Für die Haie zählt doch nur der Profit, nicht der Patient.“

„Na los, Peter“, drängte David trocken. „Sprich dich ruhig aus.“

Bethany warf dem jüngeren Dr. Wilder einen Blick zu. Sie wusste, dass er nicht zum Personal der Klinik gehörte, hatte von ihm allerdings mehr als eine scherzhafte Bemerkung erwartet. Als renommierter Schönheitschirurg sollte er der modernen, effizienten Medizin eigentlich aufgeschlossener gegenüberstehen.

Ein wenig verlegen räusperte sie sich. „Jedenfalls trifft sich der Verwaltungsrat morgen, um darüber zu beschließen“, sagte sie zu Peter. „Ich dachte mir, ich informiere Sie rechtzeitig. Schließlich ist es das erste Mal, dass Sie daran teilnehmen.“

Nach dem Tod seines Vaters hatte Wallace Ford den Vorsitz im Führungsgremium übernommen, und Peter war für Wallace nachgerückt. Man hatte ihm die Position aus Respekt vor James Wilder angeboten. Er hatte sie nur aus Pflichtgefühl angenommen, denn er war kein Manager, sondern Arzt, und wollte es auch bleiben.

Jetzt nickte er nur und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Neuigkeit ihn beunruhigte. Heute war sein Vater beigesetzt worden. Mit der drohenden Übernahme würde er sich erst morgen beschäftigen.

„Danke.“ Als ihm bewusst wurde, wie förmlich er klang, bemühte er sich, ein wenig freundlicher zu sein. „Sehen wir uns auf dem Empfang?“

Bethany blickte ihn warmherzig an. „Natürlich. Nochmals …“ Sie nahm Peters Hand und sah ihm in die Augen. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Ihren Vater verloren haben.“ Sie schaute zur Limousine hinüber, in der Ella inzwischen Platz genommen hatte. „Sie und Ihre Schwester“, fügte sie hinzu.

Wenigstens war es der Tod, der Peter und seinen Geschwistern den Vater genommen hat, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre eigenen Eltern hatten sie schon vor Jahren verlassen, einfach so, als wären sie nie da gewesen.

„Bis nachher“, sagte sie und ging davon.

David schaute ihr nach. Deutlich war ihm anzusehen, dass er sich vorstellte, wie sie unter dem weißen Wintermantel aussah. „Interessantes Gesicht.“ Er wandte sich wieder seinem Bruder zu. „Ebenmäßige Züge. Anmutige Wangenknochen.“

„Musst du jeden Menschen in Gedanken auf deinen OP-Tisch zerren?“, fragte Anna leise, aber ihre Verärgerung war unüberhörbar.

David zuckte mit den Schultern. „Entschuldigung. Berufskrankheit. Das ist der Künstler in mir. Obwohl …“ Er lächelte Peter zu. „An der Frau gibt es nichts zu verschönern. Wer ist sie?“

„Bethany Holloway“, antwortete er. Bethany und er waren sich höchstens ein halbes Dutzend Mal begegnet, seit sie in Walnut River lebte. „Wir kennen uns nur flüchtig aus dem Verwaltungsrat.“

„Sie muss neu sein. Wenn ich mich recht erinnere, war der Rat immer ein Seniorenklub.“

Peter lachte. „Das ist er längst nicht mehr. Dad ist … war schon eine ganze Weile der Älteste.“ Es war schwer, sich damit abzufinden, dass sein Vater tot war. „Bethany ist Betriebswirtin und soll bei uns für effizientere Arbeitsabläufe sorgen. Sie sitzt seit sechs Monaten im Verwaltungsrat.“ Mit Unbehagen dachte er daran, was ihn morgen erwarten würde. „Jetzt gehöre ich auch dazu. Dann werde ich mich wohl mehr mit der geschäftlichen Seite unseres Krankenhauses beschäftigen müssen.“

„Du übernimmst Dads alte Position?“, fragte sein Bruder beeindruckt.

Peter schüttelte den Kopf. „Nicht ganz. Dad war Vorsitzender. Ich bin noch lange nicht erfahren genug für die Position – nicht, dass ich sie will“, betonte er, denn für ihn war der Sitz im Führungsgremium nur ein notwendiges Übel. „Er hat immer bedauert, dass es ihm so wenig Zeit gelassen hat, als Arzt zu arbeiten. Das hat er schließlich über alles geliebt.“

„Ärzte wie ihn gibt es nicht mehr, was?“ Nach einer kurzen Pause lächelte David entschuldigend. „Oh, ich wollte dich damit nicht kränken.“

„Bin ich nicht. James Wellington Wilder war einzigartig. Einen wie ihn werden wir nie wiedersehen.“

Eindringlich betrachtete David ihn. „Trotzdem – es ist für mich höchste Zeit, zu verschwinden.“

Peter ließ seinen Bruder nur ungern gehen. David kam so selten nach Walnut River. „Soll ich dich am Flughafen absetzen?“

David schüttelte den Kopf und lief zum Parkplatz. „Mein Taxi wartet. Du weißt ja, wie sehr ich lange Abschiede hasse.“

„Ja, das weiß ich. Und Ella auch.“

„Mach dir keine Sorgen wegen NHC“, riet David.

Bitter lachte Peter auf. „Das sagst du so einfach. Wie lautet deren Motto noch? Was NHC will, bekommt NHC auch?“

David grinste. Wenn es darauf ankam, würde er sein Geld auf Peter setzen. Sein Bruder machte zwar nicht viele Worte, aber in Peters Fall waren stille Wasser tief. Sehr tief sogar.

„Nein, ich glaube, es heißt: Uns ist noch nie eine Dollarnote begegnet, die uns nicht gefällt“, entgegnete David. „Und genau deshalb wird das Walnut River General eigenständig bleiben. In Dads Krankenhaus – entschuldige – in deinem Krankenhaus fühlen die Leute sich umsorgt …“

„Es ist nicht mein Krankenhaus“, verbesserte Peter. „Es ist und bleibt Dads.“

David ging nicht darauf ein, denn sie wussten beide, dass es nicht stimmte. Das Walnut River General war wie eine Geliebte in Peters Leben: Nur das Krankenhaus war wichtig, und ihm war er treu. Er hatte viele Beziehungen, aber alle nur mit seinen Patienten und Freunden. Nicht eine davon war romantischer Natur.

Seit er den hippokratischen Eid abgelegt hatte, war er mit Leib und Seele Arzt, und weder Beruf noch Berufung ließen Raum für feste Beziehungen. Auf dem College hatte er eine gehabt, aber das war lange her.

„Ruf mich an, wenn du mich brauchst“, sagte David und umarmte seinen Bruder. „Ich bin nur fünf Flugstunden entfernt – schlechtes Wetter und die Schlangen an der Sicherheitskontrolle nicht mit eingerechnet.“ Er bückte sich, um in die Limousine zu schauen. Ella öffnete das Fenster. „Mach mich stolz, kleine Schwester.“

Lächelnd schüttelte Peter den Kopf. „Druck ist genau das, was sie jetzt nicht braucht.“

„Den brauchen wir alle mal“, widersprach er unbeschwert und warf Anna einen Blick zu. „Er hält wach und macht das Leben spannend“, fügte er hinzu und eilte zu seinem Taxi.

„Ich muss auch los.“ Anna sah Peter an. „Wenn der Chauffeur mich auf dem Rückweg an meinem Hotel absetzen könnte, wäre ich sehr dankbar.“

Sie hört sich an, als würde sie mit einem Fremden reden, dachte Peter. „Kein Problem.“

Der Fahrer hielt ihm die Wagentür auf. Peter ließ Anna den Vortritt und stieg dann selbst ein.

„Bist du sicher, dass du nicht mit zum Empfang willst? Nur für ein paar Minuten“, drängte er.

„Tut mir leid, ich muss wirklich weg. Ich will mein Flugzeug nicht verpassen. Mir ist klar, dass ich morgen früh keinem Hollywood-Starlet einen perfekten Busen verschaffen werde. Aber was ich tue, ist auch wichtig.“

„Niemand hat behauptet, dass es das nicht ist, Anna“, entgegnete Peter sanft.

Warum musste sie ständig über alles diskutieren? Im Moment war er nicht in der Stimmung, sich aus lauter Rücksicht wie auf Eierschalen zu bewegen.

Auch Ella schien genug zu haben. „Bitte“, griff sie ein. „Wir habe gerade Dad begraben. Müsst ihr euch unbedingt heute streiten?“

Der Tod ihres Vaters hatte sie alle aufgewühlt, und die Nerven lagen blank.

„Ella hat recht“, sagte Peter besänftigend. Bevor er hinzufügen konnte, dass sie sich wirklich nicht so benehmen sollten, beherrschte er sich jedoch. Anna würde es als Vorwurf auffassen, und das würde nur zu weiteren Spannungen führen. Deshalb wechselte er das Thema und sprach an, was ihm seit der Begegnung mit Bethany Holloway auf der Seele brannte. „Anna, ich brauche deine Hilfe.“

Damit schien sie nicht gerechnet zu haben. „Du brauchst meine Hilfe?“, fragte sie verblüfft.

Auch Ella sah ihn überrascht an.

Aber es stimmte, er brauchte Annas Hilfe. „Ja.“

Das ist eine Premiere, dachte Anna. Nervös wich sie seinem Blick aus, denn sie ahnte, worum er sie bitten wollte. Aber wenn sie mit ihrem Verdacht recht hatte, würde sie ablehnen müssen – denn sonst würde sie in einen gewaltigen Interessenkonflikt geraten. Also kam sie ihm zuvor und wich dem Problem aus, noch bevor es auf dem Tisch lag. „Es tut mir leid, Peter, aber in den nächsten Monaten habe ich überhaupt keine Zeit“, sagte sie mit fester Stimme.

„Ich verstehe.“ Peter ließ es auf sich beruhen und ärgerte sich über sich selbst. Angesichts der Distanz zwischen ihnen hätte er sie gar nicht erst fragen dürfen.

Wenig später war Peters kleines zweistöckiges Haus voller Menschen. Fast alle Trauergäste waren der gemieteten Stretchlimousine gefolgt. Da er selbst sich mit solchen Dingen nicht auskannte, hatte er alles Ella überlassen. Sie hatte sich um die Vorbereitungen gekümmert, die Einladungen verschickt und ein Buffet bestellt.

Als er gesehen hatte, welche Mengen der Partyservice anlieferte, hatte er befürchtet, das nächste halbe Jahr allein von den Resten leben zu müssen. Aber trotz des betrüblichen Anlasses ließen die Gäste es sich schmecken. Wenn ich Glück habe, bleibt für morgen Mittag gerade noch ein Sandwich übrig, dachte Peter.

Vermutlich machte die Trauer manche Menschen hungrig. Ihm dagegen nahm sie fast völlig den Appetit. Seit sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, hatte er am Tag kaum mehr als eine Mahlzeit zu sich genommen.

Verdammt, du wirst mir fehlen, Dad. Du bist viel zu früh von uns gegangen.

„Sie essen ja gar nichts.“

Die leisen Worte überraschten ihn. Genauer gesagt war es die Stimme. Sie gehörte Bethany Holloway, dem neuesten Mitglied des Verwaltungsrats.

Langsam wandte er sich zu ihr um und musste unwillkürlich an Davids Bemerkung denken. Ja, sein Bruder hatte einen Blick dafür – sie war wirklich bildhübsch. Aber sofort beschlich ihn das unbestimmte Gefühl, dass sie beide Gegner waren.

Schade.

„Weil ich keinen Hunger habe“, erwiderte er und lächelte halbherzig.

„Sie sollten aber etwas zu sich nehmen.“ Im nächsten Moment drückte sie ihm den Teller mit Roastbeef und Schinken in die Hand, den sie offenbar für sich selbst zusammengestellt hatte. „Sie sehen nämlich ein wenig blass aus.“

Vergeblich versuchte er, ihn ihr zurückzugeben. „Haben Sie einen Abschluss?“, fragte er freundlich.

Bethany wusste, dass er einen Abschluss in Medizin meinte.

„In der Beobachtung von Menschen“, erwiderte sie. „Ich sehe Ihnen an, dass Sie Ihren Kühlschrank in letzter Zeit eher selten aufgesucht haben.“ Das weckte in ihr ein paar vage Erinnerungen an ihre Kindheit. „Mein Vater hat früher vor lauter Arbeit die Mahlzeiten vergessen“, erzählte sie. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Peter sich fühlte. Einen Angehörigen zu verlieren war nie leicht, und sie wusste, dass Vater und Sohn sich sehr nahegestanden hatten.

„Früher?“, wiederholte Peter. „Ist er …“ Er brachte es nicht fertig, das Wort „tot“ auszusprechen.

„Weg?“ Das war ein sicheres, harmloses Wort angesichts dessen, was ihr passiert war. „Nein, ich bin die, die weg ist. Aus dem Bundesstaat. Soweit ich weiß, arbeiten meine Eltern beide noch wie verrückt.“ Bethany zuckte mit einer Schulter und nippte an ihrem Glas. „Es macht sie glücklich, also ist es wohl in Ordnung so.“

Dass es für sie keineswegs in Ordnung war, konnte Peter deutlich heraushören. Diese Frau machte ihn neugierig.

Sie sah sich um. Es waren so viele Menschen im Wohnzimmer und den benachbarten Räumen, dass Körperkontakt kaum zu vermeiden war.

„Es sind wirklich viele Leute gekommen“, sagte sie lächelnd. „Ihr Vater hatte eine Menge Freunde.“

Wer ihn kannte, mochte ihn, dachte Peter. „Das stimmt.“

„Ich kannte ihn nicht sehr gut“, begann Bethany und wählte ihre Worte sorgfältig. „Aber was ich über ihn gehört habe, hat mir sehr gefallen.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Er hat mich immer ein bisschen an James Stewart in dem Film Ist das Leben nicht schön? erinnert. Ihr Vater hat auch immer an andere gedacht und daran, was sie brauchten.“

Er spürte, wie etwas tief in seinem Innern auf ihre blauen Augen reagierte, als sie ihn anschaute.

„Sie sehen ihm ähnlich“, fuhr sie fort. „Jedenfalls dem Porträt von ihm, das auf dem Korridor in der Klinikverwaltung hängt. Das gleiche kräftige Kinn, die gleichen freundlichen Augen.“

Ihm entging nicht, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

Und dann lachte sie. „Es tut mir leid. Ich spreche immer aus, was ich denke. Meine Mutter hat mich gewarnt, dass mir das eines Tages noch Ärger einbringen würde.“ Sie hatte sie nicht nur gewarnt, sondern ihr deswegen ständig Vorwürfe gemacht. Aber das brauchte Peter nicht zu wissen.

„Und hat es das?“, fragte Peter. „Ihnen Ärger eingebracht, meine ich.“

„Bisher nicht, aber ich habe noch Zeit.“ Sie blickte an seiner Schulter vorbei. „Ich glaube, da will Sie jemand sprechen.“

Er drehte sich um. Fred Trinity, der Anwalt seines Vaters, winkte ihn zu sich heran. Was konnte Fred von ihm wollen? Die Testamentseröffnung fand erst morgen statt.

Na ja, ich werde es gleich erfahren, dachte er. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, murmelte Peter und gab Bethany ihren Teller zurück. Er hatte keinen Bissen angerührt.

„Natürlich.“ Stirnrunzelnd starrte sie auf den Teller. „Vergessen Sie nicht, etwas zu essen“, rief sie ihm nach, bevor sie resigniert seufzte und sich wieder unter die anderen Trauergäste mischte.

Erst nach einer Minute wurde Peter bewusst, dass er stehen geblieben war und ihr nachschaute. Egal, ob sie kam oder ging, die Frau sah einfach verdammt gut aus.

3. KAPITEL

Mit seinem zottigen Schnurrbart und der blank polierten Glatze sah Fred Trinity aus wie ein Walross in einem altmodischen, viel zu engen Anzug. Doch der äußere Eindruck täuschte: Dieser Mann besaß einen messerscharfen Verstand.

Der Anwalt legte Peter eine Hand auf den Arm und senkte die Stimme. Was er zu sagen hatte, war anscheinend nicht für andere Ohren bestimmt.

„Kann ich Sie kurz sprechen, Peter?“

Das ernste Gesicht des sonst immer lächelnden Mannes war beunruhigend. Peter lief es kalt den Rücken herunter, und er fragte sich, ob dieser Auftritt mit dem drohenden Verkauf des Krankenhauses an NHC zu tun hatte. Fred war zwar der Anwalt seines Vaters gewesen, die Klinik hatte sich jedoch nie von ihm beraten oder vertreten lassen. Aber vielleicht besaß er ja einige Insiderinformationen. Schließlich redeten Anwälte untereinander, oder nicht?

Peter machte sich auf einiges gefasst und nickte. „Natürlich.“ Er zeigte zum Durchgang, der in den hinteren Teil des Hauses führte. „Wir können in mein Arbeitszimmer gehen. Einfach den Flur entlang.“

Fred folgte ihm. „Ich war noch nie in Ihrem Haus“, sagte er und schaute sich interessiert um.

„Sehen Sie nicht zu genau hin“, bat Peter. „Ich bin kein sehr begabter Hausmann. Sie wissen ja, wie das ist.“

„Ehrlich gesagt, nein“, gab der Anwalt zu. „Bei uns zu Hause hat Selma alles im Griff. Sie brauchen eine Ehefrau.“

„Ich setze es auf die Liste der Dinge, die ich dringend erledigen muss“, versprach Peter lächelnd. Ganz unten, fügte er in Gedanken hinzu.

Das Haus war älter als er und musste dringend renoviert und modernisiert werden. Hin und wieder engagierte er ein Reinigungsteam, um den Staub und die Spinnweben in Schach zu halten. Doch abgesehen davon hatte er nichts daran gemacht, seit er nach Abschluss des Medizinstudiums hier eingezogen war. Er konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal gestrichen worden war.

Allerdings verbrachte er auch die meiste Zeit im Krankenhaus: entweder im OP, in der Notaufnahme oder in seinem Büro. Das Haus war für ihn nur der Ort, an den seine private Post geliefert wurde. Dort schlief er und erledigte seine Wäsche. Doch darüber hinaus brauchte er es eigentlich gar nicht.

Wie alle anderen Räume stand auch sein Arbeitszimmer offen. Peter mochte keine geschlossenen Türen. Schon als Kind hatte er gelernt, dass sie immer Geheimnisse bedeuteten. Wenn seine Eltern sich – was selten vorkam – gestritten hatten, war die Tür stets zu gewesen. Und wenn sie wieder aufgegangen war, hatten beide traurig ausgesehen.

Er ging hinein, schaltete die Lampe auf dem Schreibtisch ein und drehte sich zu dem Anwalt um. „Was gibt es denn, Fred?“

Der Mann sah irgendwie nervös aus. Normalerweise strahlte er immer Gelassenheit und unerschütterliche Zuversicht aus. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm einen dicken weißen Brief heraus und reichte ihn Peter. Dabei ließ er sein Gesicht nicht aus den Augen.

Auf dem Umschlag stand – in der unverkennbaren Handschrift James Wilders –Peters Name.

„Ihr Vater hat mich gebeten, Ihnen den hier zu geben. Nach seinem Tod“, erklärte Fred und seufzte betrübt. James Wilder und er waren zusammen zur Schule gegangen und sechzig Jahre lang gute Freunde gewesen. „Also jetzt. Ich werde ihn wirklich vermissen. Habe ich Ihnen erzählt, dass er mir mal das Leben gerettet hat?“

Peter starrte auf das Kuvert, bevor er es nahm. Warum hatte sein Vater ihm etwas geschrieben, anstatt es ihm persönlich zu sagen?

„Zweimal sogar“, erwiderte er und war nicht sicher, ob er wissen wollte, was in dem Brief stand. „Wann hat er Ihnen den hier gegeben?“

„Vor fünf Jahren. Kurz nachdem Ihre Mutter gestorben war. Ich glaube, damals hat er eingesehen, dass auch er irgendwann sterben wird. Deshalb wollte er wohl ein paar Dinge loswerden, bevor es zu spät ist.“ Unter dem zottigen Schnurrbart wurde Freds Mund schmal. „Verdammt, ich dachte immer, wenn jemand dem Tod ein Schnippchen schlagen kann, dann er.“

„Ja, das dachte ich auch.“ Sein Vater war der anständigste, ehrenwerteste Mensch gewesen, den er kannte. Er konnte keine Leichen im Keller, keine dunklen Geheimnisse gehabt haben. James Wilders Leben war wie ein offenes Buch gewesen. „Wie kommen Sie darauf, dass mein Vater etwas loswerden wollte?“

„Zum einen, weil er keine Briefe für David, Ella oder Anna hinterlassen hat. Jedenfalls nicht bei mir. Nur für Sie. Ich nehme an, weil Sie das neue Oberhaupt der Familie sind.“ Fred zog seine buschigen Brauen hoch, als Peter den Umschlag einsteckte. „Wollen Sie ihn denn nicht lesen?“

Peter schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Ich muss erst diesen Tag hinter mich bringen, bevor ich mich einem neuen Problem stellen kann.“

Der Anwalt nickte, aber seine Neugier war offensichtlich.

„Das verstehe ich.“ Er hatte seinen Auftrag erfüllt und machte einen Schritt in Richtung Tür. „Übrigens, passt es Ihnen noch immer morgen Abend? Der Termin der Testamentseröffnung?“

Ob er ihm passte? Was für ein eigenartiges Wort unter diesen Umständen. Peter atmete tief durch und wehrte sich gegen die Trauer, die ihn erneut zu überwältigen drohte.

„Natürlich, Fred, morgen Abend passt mir“, antwortete er leise.

Der Anwalt wollte schon hinausgehen, da fiel ihm noch etwas ein. „Was ist mit Anna und David? Ich habe die beiden noch gar nicht gesehen. Hier auf dem Empfang, meine ich.“

„Weil sie nicht hier sind.“ Peter sah dem Anwalt an, dass die Antwort ihm nicht genügte. Er schaltete die Lampe aus. „Falls das Testament etwas Außergewöhnliches enthält, kann ich sie immer noch anrufen und es Ihnen erzählen.“ Aber er war sicher, dass das nicht nötig sein würde.

Gemeinsam verließen sie das Zimmer. „Es kursiert das Gerücht, dass NHC am Walnut River General interessiert ist und schon an der Kliniktür kratzt.“ Vor dem Durchgang zum Wohnzimmer blieb Fred stehen. „Was wollen Sie tun?“

„Nicht aufmachen“, antwortete Peter fest entschlossen.

Grinsend streckte Fred sich und klopfte Peter auf die Schulter. „Guter Mann. Ihr Vater wäre stolz auf Sie.“ Er sprach leiser. „Er passt jetzt auf Sie auf. Das wissen Sie doch, oder?“

Flüchtig lächelte Peter. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte. Er wusste nur, dass er seinen Dad jetzt gern an seiner Seite hätte. James Wilder wäre besser dazu geeignet, den Angriff des habgierigen Klinikkonzerns abzuwehren.

Doch er selbst würde es lernen müssen. Und zwar schnell.

Am nächsten Morgen betrat Peter den Konferenzraum. Die erste Person, die er bemerkte, war Bethany Holloway. Aus Respekt vor dem verstorbenen Vorsitzenden trug sie ein schwarzes Etuikleid. Es ließ ihr rotes Haar noch flammender, ihren Teint noch makelloser erscheinen.

Schwarz steht ihr, dachte Peter. An ihr wirkte es nicht so düster und deprimierend.

Auch die anderen acht Mitglieder des Verwaltungsrats waren in dunkle Farben gekleidet. Sein Vater wäre darüber verwundert gewesen, wie viele Menschen um ihn trauerten. Aber James Wilder war ein bescheidener Mann gewesen und hatte nie an sich selbst, sondern nur an andere gedacht.

Peter musste wieder an den Umschlag denken, den Fred ihm übergeben hatte. Der Brief lag noch immer ungeöffnet auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Er hatte das ungute Gefühl, dass der Inhalt sein Leben für immer verändern würde. Und im Moment hatte er genug Probleme. Vor allem, wenn NHC es tatsächlich auf sein Krankenhaus abgesehen hatte.

Die Januarsonne schien durch das große Fenster, durch das man den Eingang der Notaufnahme sehen konnte. Trotz der hellen Strahlen lief es Peter kalt den Rücken herunter. Alle anderen saßen schon versammelt, obwohl er pünktlich war. Hatte das etwas zu bedeuten?

Der neue Vorsitzende Wallace Ford kam ihm entgegen und gab ihm die Hand.

„Gut, dass Sie teilnehmen, Peter“, sagte er ernst und seufzte schwer. „Lassen Sie mich Ihnen nochmals mein tief empfundenes Beileid aussprechen.“ Er sah sich im Raum um, bevor er ihn wieder anschaute. „Wir alle haben mit Ihrem Vater einen Menschen verloren, der uns sehr viel bedeutet hat.“

„Danke, Wallace.“ Peter blickte den langen Tisch entlang. Nur neun der zwölf Plätze waren besetzt. „Wo soll ich sitzen?“

Wallace zeigte auf den Stuhl neben Bethanys. „Nehmen Sie doch neben Miss Holloway Platz.“ Er lächelte ihr zu, als würden sie beide ein Geheimnis teilen. „Ich nehme an, Sie müssen Ihren Titel als neuestes Mitglied des Verwaltungsrats an Peter abtreten, Miss Holloway.“

„Sehr gern“, erwiderte sie.

Wallace wartete, bis Peter saß, und strich über den Hammer. Doch er setzte ihn nicht ein, sondern bat mit Worten um Ruhe und begrüßte die Anwesenden.

„Weil dies eine außerordentliche Sitzung ist und wir alle anderweitig zu tun haben, werde ich heute auf die Verlesung des Protokolls verzichten und gleich zum Punkt kommen“, fuhr er fort und warf Peter einen langen Blick zu. „Oder zu den Punkten, um genau zu sein. Erstens, der Verwaltungsrat und ich …“ Mit einer bedeutenden Geste schloss er die anderen Mitglieder ein. Der Mann liebt Kunstpausen, dachte Peter. „Wir möchten Ihnen, Dr. Wilder, die Position des Chefarztes anbieten.“

Einen Moment lang wusste Peter nicht, was er erwidern sollte. Sein Vater war der Chefarzt im Walnut River General gewesen, und in den letzten Jahren hatte er außerdem den Vorsitz in diesem Gremium übernommen. Beides waren Vollzeitjobs, und er staunte noch immer darüber, dass sein Vater beide bewältigt hatte. Die Doppelbelastung hatte ihn sicher viel Kraft gekostet, und bestimmt hatte auch seine Gesundheit darunter gelitten.

Dennoch fühlte Peter sich geschmeichelt. Aber er kannte seine Grenzen. Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Ich danke Ihnen allen. Aber ich glaube nicht, dass ich erfahren genug bin.“

„So bescheiden“, sagte Wallace lachend. „Ganz der Vater. Allerdings bitten wir Sie nur, den Posten vorläufig zu übernehmen, bis wir einen geeigneten Bewerber gefunden haben. Das wird eine Weile dauern, denn es gibt nicht viele, die es mit Ihrem Vater und seinen Leistungen aufnehmen können. Bis dahin wäre es uns eine Ehre, einen Wilder in dieser Position zu haben.“ Wieder machte er eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Sie würden uns wirklich einen Gefallen tun.“

Der neue Vorsitzende hatte ihn geschickt in eine Falle manövriert. Peter war klar, dass ihm keine andere Wahl blieb. Dass er den Job nicht allzu lange machen musste, tröstete ihn ein wenig. „In dem Fall kann ich wohl nicht ablehnen.“

„Wunderbar. Damit wäre das geklärt. Peter Wilder ist unser neuer Chefarzt“, verkündete Wallace freudig, bevor er eine geradezu feierliche Miene aufsetzte. „Der zweite Grund für unser heutiges Treffen ist das große Interesse, das Northeastern Healtcare an unserem kleinen Krankenhaus bekundet hat. Ich denke, das Angebot ist es wert, gründlich diskutiert zu werden.“

Peter spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Solange unsere Antwort Nein lautet“, warf er ein.

Tadelnd blickte Wallace ihn an, als hätte er gerade gegen irgendein unantastbares Gesetz verstoßen.

Vermutlich hatte er eine geheiligte Regel der Geschäftsordnung übertreten, doch das war Peter egal. Wichtiger als Förmlichkeiten und der ordnungsgemäße Ablauf der Sitzung waren ihm die Patienten – sie brauchten schließlich seine Hilfe, seine Fähigkeiten als Arzt. Unwillkürlich fragte er sich, wie sein Vater das hier so lange ertragen hatte.

Der Vorsitzende kniff die Augen zusammen. „Wie bitte?“

Doch Peter nahm kein Blatt vor den Mund: „Nun ja, Sie können doch nicht ernsthaft daran denken, das Angebot von NHC anzunehmen, Wallace.“

„Sie kennen den Betrag doch noch gar nicht“, erwiderte Wallace mit gerunzelter Stirn.

Abfällig lachte Peter auf. „Den brauche ich nicht zu kennen. Was wir hier tun, kann man nicht einfach mit einem Preisschild versehen.“

„Das dürfte die Versicherungsgesellschaften überraschen, Dr. Wilder“, schaltete Bethany sich ein. Sie registrierte seinen ungläubigen Blick und sprach rasch weiter. Der Mann musste einsehen, warum seine Einstellung falsch war. „Der Punkt ist, dass Patienten für ihre Behandlung bezahlen. Und wenn sie effizienter, schneller und kürzer behandelt werden, gewinnen beide – wir und sie.“ Ihre Stimme wurde leidenschaftlicher. „Außerdem sind wir nur ein kleines Allgemeinkrankenhaus, keine Spezialklinik. Eine einzige Schadenersatzklage könnte uns ruinieren, und das Walnut River General müsste seine Türen für immer schließen.“

„Das Krankenhaus ist noch nie verklagt worden“, erwiderte Peter.

„Das bedeutet nicht, dass es nicht irgendwann passieren kann“, entgegnete Bethany. „Die Leute sind inzwischen wesentlich klagefreudiger als früher. Unter dem Schutz eines großen Konzerns wie NHC müsste das Walnut River General keine Angst vor dem finanziellen Ruin haben.“

Die anderen Mitglieder nahm Peter nur noch am Rande wahr. Als einer von ihnen das Wort ergreifen wollte, hörte er gar nicht zu. Weil das Krankenhaus seinem Vater so viel bedeutet hatte, ging das hier auch für ihn über das rein Geschäftliche hinaus.

„Und wie passt der Patient in diesen Plan?“, fragte Peter. Wie konnte jemand, der wie ein Engel aussah, so gefühlskalt sein?

„Der Patient ist derjenige, der am meisten davon profitiert“, beharrte sie. „NHC macht uns bekannt, verschafft uns Fördergelder und modernisiert unsere Ausstattung. Das alles können Sie doch nicht einfach ignorieren.“

„Das tue ich nicht. Eine zeitgemäße Ausstattung ist extrem wichtig. Aber dafür haben wir die Spenden, die wir bekommen. Bisher sind wir damit ganz gut gefahren.“

Der Mann sieht nur die Details und nicht das Gesamtbild, dachte Bethany und wandt ein: „Privatspenden sind nicht mit dem zu vergleichen, was ein Großkonzern mit unbegrenzten Mitteln für uns leisten könnte.“

Peter fragte sich, ob wie wirklich so naiv war – oder einfach herzlos. „Finden Sie nicht, dass wir damit unsere Seele verkaufen? Für dreißig Silberlinge?“

Als Wallace sich laut räusperte, schauten sie beide in seine Richtung, und ihre Anspannung legte sich etwas.

„Sind Sie nicht ein wenig melodramatisch, Peter?“, fragte Wallace.

„Nein, ich bin pragmatisch“, widersprach er. „Ich bin nicht Arzt geworden, um wie am Fließband zu praktizieren. Wir behandeln den ganzen Patienten, nicht nur ein Stück von ihm.“ Seine Worte galten nicht dem Vorsitzenden, sondern Bethany. Er wollte, dass sie ihn verstand, dass sie den Fehler in ihrer Argumentation sah. „Ich will nicht, dass mir dabei ein Buchhalter mit Stoppuhr über die Schulter schaut und mich anweist, schneller zu sein, damit wir mehr Umsatz machen.“

„Was ist daran so schlimm, mehr Patienten zu behandeln?“, wollte Bethany wissen.

„Es ist schlimm, sie so schnell wie möglich abzufertigen, um eine Quote zu erfüllen oder einen vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. Verstehen Sie das denn nicht?“

Ihre Augen blitzten vor Wut. Hielt der Mann sie etwa für beschränkt? Bethany konnte nicht sehr gut mit Kritik umgehen – davon hatte sie in ihrer Jugend genug einstecken müssen. Als Erwachsene brauchte sie sich das nicht bieten zu lassen.

„Sie ignorieren sämtliche Vorteile, die NHC dem Krankenhaus bieten kann. Ein so großer Klinikverbund hat weitaus größere Möglichkeiten als wir allein.“

„Sieht aus, als hätte jemand seine Hausaufgaben gemacht“, meldete sich Wallace wieder zu Wort, und die Bewunderung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Als wäre das nicht genug, warf er Bethany auch noch einen anerkennenden Blick zu.

War der Vorsitzende für die Übernahme, oder versuchte er nur, sich bei Bethany beliebt zu machen? Peter war nicht sicher, aber sein Ärger wuchs allmählich. Es kam nicht oft vor, dass er die Geduld verlor, aber der Tod seines Vaters hatte ihn zutiefst erschüttert.

„Dann verleihen Sie ihr einen Orden, Wallace, aber liefern Sie unser Krankenhaus nicht NHC aus! Jeder von würde es zutiefst bereuen, vor allem die Patienten.“ Mit einem Ruck schob Peter den Stuhl zurück und stand abrupt auf. „Wenn Sie mich jetzt bitte alle entschuldigen. Ich muss gehen. Meine Patienten warten auf mich.“

Er musste sich beherrschen, um die Tür nicht hinter sich zuzuknallen.

4. KAPITEL

Noch lange nach Peters demonstrativem Abgang konnte Bethany die Anspannung in der Luft spüren. Sogar nachdem die Sitzung des Verwaltungsrats fünfzehn Minuten später überraschend zu Ende gegangen war. Bis zu Wilders heftiger Reaktion hatte sie die Übernahme durch NHC für ein Kinderspiel gehalten.

So viel zu ihrer Intuition.

Man sah es ihm nicht an, aber Wilder hatte eine eindeutig vorsintflutliche Einstellung. Der Mann stand dem Fortschritt im Weg. Anscheinend war er so sehr in der Vergangenheit gefangen, dass er unfähig war, die Augen aufzumachen und in die Zukunft zu schauen.

Offenbar lag es an ihr, den neuen Chefarzt zur Vernunft zu bringen. Die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrats wollten sich nicht mit Peter anlegen – einige, weil sie mit ihm befreundet waren, und andere aus Respekt vor dem verstorbenen James Wilder. Auf solche Gründe konnte sie keine Rücksicht nehmen. Sie musste an das Wohl des kleinen Krankenhauses denken.

Keinesfalls durfte sie zulassen, dass ein Einzelner jeden Fortschritt verhinderte, nur weil er Veränderungen scheute. Oft genug hatte sie mit Leuten wie Peter Wilder zu tun gehabt. Sie kannte diese Art von Menschen, die ihren eingetretenen Pfad niemals freiwillig verlassen würden.

Bethany wusste, dass sie Peter nicht vor seinen Patienten zur Rede stellen konnte. Kurz vor Mittag postierte sie sich deshalb vor seinem Zimmer. Wie jeder andere Arzt würde bestimmt auch er um diese Zeit eine Pause einlegen, um etwas zu essen.

Um ein Uhr wartete sie noch immer vor der Tür.

Verwirrt legte sie die Hand auf den Knauf – vielleicht war Wilder noch immer in seinem Zimmer. Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, wurde diese aufgerissen. Bethany taumelte nach vorn und prallte mit voller Wucht gegen den störrischen Arzt.

Blitzschnell packte er sie an den Schultern, damit sie nicht fiel. Bethany musste einen Aufschrei unterdrücken. Dabei war sie es nicht gewohnt, aus der Fassung zu geraten. Normalerweise hatte sie jede Situation unter Kontrolle und sich selbst stets im Griff.

„Oh, Dr. Wilder …“

„Ja, das steht an der Tür“, knurrte er. Als Vollblutmediziner musterte er sie mit geschultem Blick, fand jedoch kein Anzeichen für eine Verletzung. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er trotzdem.

„Ja.“ Bethany strich ihr Kleid glatt. „Ich bin zäher, als ich aussehe.“

„Gut.“ Peter nickte zufrieden, bevor er zum Fahrstuhl ging.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass er stehen bleiben und mit ihr reden würde. Stattdessen musste sie versuchen, mit ihm Schritt zu halten – er eilte geradezu den Korridor entlang. Wollte der Mann ihr etwa ausweichen? „Ich hatte gehofft, Ihnen über den Weg zu laufen …“

Belustigt sah er sie an. „Das sind Sie. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Sie runzelte die Stirn. Machte er sich etwa über sie lustig? Diese Wunden aus ihrer Kindheit waren nie richtig verheilt. „Das war nicht meine Absicht.“

Am Fahrstuhl blieb Peter stehen und drückte auf den Knopf. „Was war denn Ihre Absicht?“ Er schob die Hände in die Taschen des weißen Kittels und wartete auf eine Antwort.

Bethany brauchte eine Sekunde, um ihren Mut zusammenzunehmen. „Ich wollte mit Ihnen über das Angebot von NHC sprechen.“

Für einen Moment betrachtete er sie. Die Frau erschien ihm nicht wie jemand, der unter einer Aufmerksamkeitsstörung litt. Allerdings war er kein Hellseher. Doch soweit er wusste, war sie sehr ehrgeizig. Vielleicht lag darin der Grund.

„Das haben Sie doch schon“, erinnerte er sie.

„Sie haben die Sitzung einfach verlassen.“ Bevor ich richtig warm werden konnte, fügte sie stumm hinzu.

„Das war nicht sehr höflich von mir“, gab Peter lächelnd zu. „Aber ehrlich gesagt wollte ich weder Ihre noch meine Zeit vergeuden. Ich hatte genug gehört.“

„Sie haben kaum etwas gehört.“

„Ich habe die Worte ‚Northeastern Healthcare‘ und ‚Übernahme‘ gehört. Das war genug.“

Der Mann kapierte es einfach nicht. Doch sie würde diese harte Nuss schon knacken. Schließlich mochte sie Walnut River und arbeitete gern in der kleinen Klinik. Sie würde nicht zulassen, dass Peter Wilder die Übernahme verhinderte.

„Sie sollten sich wenigstens anhören, was NHC zu bieten hat“, sagte sie ruhig.

„Ich bin kein Einsiedler, der in einer Höhle lebt, Miss Holloway. Ich weiß genau, was NHC zu bieten hat: jede Menge nagelneuer, glänzender Apparate, die wir letztendlich nicht einsetzen dürfen, weil die Betriebskosten zu hoch wären.“ Sein Blick wurde durchdringend. „Ich bin kein Kind, das sich mit teurem Spielzeug bestechen lässt.“

Die Fahrstuhltür glitt auf. Bethany folgte Peter in die leere Kabine und atmete tief durch. Jetzt die Beherrschung zu verlieren wäre kein guter Zug.

„Ich halte Sie nicht für ein Kind, Dr. Wilder.“

Als er sie anlächelte, spürte sie, wie etwas tief in ihrem Innern darauf reagierte. Der Mann hatte Ausstrahlung, das war nicht zu leugnen.

„Das beruhigt mich“, sagte er. „Die Ärztekammer wird froh sein, das zu hören.“

Sie fand die ganze Sache überhaupt nicht komisch, und es gefiel ihr nicht, dass er sich auf ihre Kosten amüsierte. „Aber ich halte Sie für altmodisch“, fügte sie hinzu.

Sein Lächeln verblasste nicht, als er eine Augenbraue hochzog. „Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, was?“

Kämpferisch hob Bethany das Kinn und straffte die Schultern. „Stimmt.“

Er starrte auf die Fahrstuhltür und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht charmant.“

„Ich versuche nicht, charmant zu sein.“

„Sehr gut.“ Noch immer schaute er nach vorn. „Es würde Ihnen auch nicht gelingen.“

Manchmal konnte ein Rückzug strategisch wichtig sein. Also gab sie nach. Nur ein wenig. „Vielleicht war ‚altmodisch‘ nicht das richtige Wort.“

Er nickte, den Blick auf die Anzeige gerichtet. „Vielleicht.“

Bethany ging wieder zum Angriff über. „Aber Sie müssen zugeben, dass Sie in der Vergangenheit gefangen sind.“

Erst jetzt sah Peter sie an. „Nein, ich lebe in der Gegenwart“, entgegnete er schärfer als beabsichtigt. Warum schaffte diese Frau es immer wieder, ihn zu provozieren? „Und ich werde dieses Krankenhaus nicht widerstandslos einem anonymen Konzern ausliefern.“

Nun war es an ihr, sich belustigt zu geben. „Sie sind ein wenig melodramatisch, finden Sie nicht?“

„Wenn es sein muss, Miss Holloway.“ Er wandte sich ab und zählte stumm bis zehn. „Wenn es sein muss.“

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss. Peter stieg aus, um etwas zu essen, bevor er sich wieder um seine Patienten kümmerte. Und Bethany war dabei, seine kurze Mittagspause zu ruinieren. Vermutlich hätte er sich etwas von zu Hause mitbringen und in seinem Büro bleiben sollen. Aber sein Kühlschrank war leer. Er musste dringend einkaufen.

Auf dem Weg in die Cafeteria warf er ihr einen abweisenden Blick zu. „Haben Sie vor, mich den ganzen Tag zu verfolgen, Miss Holloway?“

Strahlend lächelte sie ihn an. „Wenn es sein muss, Dr. Wilder.“

Er senkte den Kopf. „Volltreffer.“

„Hören Sie mir doch wenigstens zu“, bat sie, während er ein Tablett nahm und es ihr reichte.

„Ich nehme an, Sie wollen so tun, als wären Sie nicht nur meinetwegen hier“, sagte er und ging weiter. „Dann sollten Sie sich etwas zu essen holen.“

„Richtig“, murmelte sie und sah sich neugierig um. Sie war zum ersten Mal in der Cafeteria, denn normalerweise aß sie in einem der Restaurants in der Nähe. „Sie hören mir also zu?“

„Das tue ich, seit Sie mich vor meinem Büro überfallen haben.“

Seine Antwort brachte ihm einen interessierten Blick von einer Krankenschwester ein, die mit einem vollen Tablett vorbeischlenderte. Die junge Frau betrachtete erst ihn, dann Bethany und lächelte.

Großartig. „Ich glaube, Sie und ich heizen gerade die Gerüchteküche an“, bemerkte Bethany.

Peter nickte, als würde es ihm überhaupt nichts ausmachen. „Kaffee?“

„Ich nehme einen Caffè Latte.“

„Natürlich.“ Jede andere Antwort hätte ihn enttäuscht, denn dann hätte er sie falsch eingeschätzt. „Das hätte ich mir denken können.“

Bethany füllte ihren Becher. „Caffè Latte ist auch etwas, von dem Sie nichts halten?“

Ihr herablassender Ton entging ihm nicht, aber er ließ sich nichts anmerken. „Ich halte nichts davon, etwas Bewährtes nur deshalb abzuschaffen, weil man modern sein will.“

Sie folgte ihm zu einer Vitrine mit fertigen Sandwiches. Ohne hinzusehen, nahm er sich eins.

„Falls Sie damit die Übernahme meinen, täuschen Sie sich“, beharrte sie.

„Ich weiß aus eigener Erfahrung, was für eine Medizin in Klinikkonzernen praktiziert wird, Miss Holloway. Ich weigere mich strikt, so etwas hier im Walnut River General einzuführen. Wir behandeln den ganzen Patienten, nicht nur seinen Arm, sein Bein oder seine Leber. Egal, mit welchen Beschwerden er zu uns kommt.“

In der Theorie klang das schön, aber in der Praxis sah es anders aus. „Meinen Sie nicht, dass das ziemlich zeitaufwendig ist?“ Und kostspielig, fügte sie in Gedanken hinzu.

Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Denn genau mit diesem Argument würden die Manager von NHC ihn zwingen, die Kranken wie am Fließband zu versorgen. „Das mag sein, aber wenn man nicht den ganzen Patienten behandelt, kann man leicht etwas Wichtiges übersehen.“

„Und wie oft passiert das? Dass man etwas findet, das nach den Symptomen des Patienten nicht zu erwarten war?“

Aha, da spricht die Effizienzexpertin, dachte Peter. „Öfter, als man denkt.“ Er sah sie an und senkte die Stimme. „Und wenn Sie die Patientin sind, ist ein einziges Mal schon ein Mal zu viel, nicht wahr?“

Na gut, da hat er recht, dachte Bethany auf dem Weg zur Kasse. Trotzdem war sie sicher, dass solche Fälle äußerst selten vorkamen.

„Aber auf lange Sicht …“

Peter nickte dem Kassierer zu, nahm die Brieftasche heraus, zeigte auf beide Tabletts und gab dem Mann einen Zwanzigdollarschein.

„Auf lange Sicht werden wir so viel Gutes tun wie bisher“, sagte er mit fester Stimme.

Bethany griff nach ihrer Geldbörse. „Ich kann mein Essen selbst bezahlen.“

Mit seinem Tablett ging er einfach weiter. „Daran habe ich keinen Moment gezweifelt, Miss Holloway.“

„Danke“, erwiderte sie spitz und folgte ihm in den Speisesaal. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie meinen Namen aussprechen, als wäre er ein böser Fluch?“

Er drehte sich nicht mal zu ihr um. „Vielleicht kommt Ihnen das nur so vor, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben.“

„Ich habe kein schlechtes Gewissen“, widersprach sie entrüstet.

„Ich hätte es, wenn ich für die Übernahme stimmen würde.“ Peter steuerte einen kleinen Tisch im hinteren Teil an, stellte das Tablett ab und setzte sich. „Zum Glück wird das nicht passieren.“

Bethany blieb stehen. „Sie bleiben hart, was?“

„Ja.“

Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. „Wissen Sie, ich hätte nie gedacht, dass Sie so verbohrt sind.“

„Das Leben steckt voller Überraschungen.“ Still beobachtete er, wie sie ihm gegenüber Platz nahm. „Warum wollen Sie ausgerechnet mich überzeugen? Ich bin lediglich das neueste Mitglied des Verwaltungsrats. Deshalb habe ich von allen sicher den geringsten Einfluss auf die Entscheidung.“

Aber so sah sie es nicht. „Sie sind Peter Wilder, der Hausheilige vom Walnut River General. Der Sohn von James Wilder, der zu seiner Zeit sogar noch mehr verehrt wurde. Die Leute schauen zu Ihnen auf und respektieren Sie. Sie und Ihre Meinung. Wenn Sie eine bestimmte Position vertreten, geht man davon aus, dass Sie einen guten Grund dafür haben.“ Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, als Peter sie anlächelte. Mit Mühe versuchte Bethany, es zu ignorieren.

„Ja, den habe ich.“

Sie überging seine Antwort. „Und die Leute richten sich danach, wie Sie stimmen.“

Dieses Mal fiel sein Lächeln nachdenklich aus. „Aber Sie nicht.“

„Ich stimme nicht mit dem Herzen ab, sondern mit dem Kopf.“

„Schade.“ Als er ihren empörten Blick bemerkte, fuhr er fort: „Meistens trifft das Herz bessere Entscheidungen als der Kopf.“ Er nippte an seinem Kaffee, stellte den Becher ab und beugte sich vor. „Ich bin wirklich neugierig. Warum ist Ihnen diese Übernahme so wichtig, Miss Holloway? Was haben Sie persönlich davon?“

„Fortschritt“, antwortete sie, ohne zu überlegen.

„So sehe ich das nicht.“ Peter schaute auf die Uhr. Das hier war reine Zeitverschwendung, und er hatte wirklich Besseres zu tun. Also wickelte er sein Sandwich in eine Serviette, nahm den Becher in die andere Hand und stand auf. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen … Ich habe zu tun.“

Bethany kniff die Augen zusammen und war sicher, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Warum hatte er sich hingesetzt, wenn er gleich wieder aufbrechen wollte? „Was haben Sie denn zu tun?“, fragte sie herausfordernd.

„Termine“, erwiderte er mit einem gelassenen Lächeln. Dann wandte er sich ab und ging davon.

Entgeistert sah sie sich um. Hatte jemand an den Nachbartischen ihr Gespräch gehört? Wie immer straffte sie die Schultern und hob das Kinn, bevor sie unauffällig nach mitleidigen Blicken Ausschau hielt.

Fast ihr ganzes Leben lang, schon als Jugendliche, hatte sie sich bemüht, zu den Besten zu gehören. Aber sie hatte den Erfolg nie genossen, sondern stets den nächsten angepeilt. Der Weg erschien ihr befriedigender als das Ziel. Über einen Sieg freute man sich nur ein paar Minuten lang.

So war es immer gewesen. Natürlich hoffte sie darauf, dass sich diese Ansicht eines Tages als falsch herausstellen würde – aber bisher war das nicht passiert.

Gedankenverloren hob sie den Caffè Latte an die Lippen und starrte auf Peters breite Schultern, als er zum Ausgang ging. Wieder ignorierte sie das seltsame Kribbeln in ihrem Bauch.

Er weiß es noch nicht, dachte sie, aber ich werde nicht aufgeben und ihn überzeugen. Der Mann war ihre bisher größte Herausforderung, und sie war fest entschlossen, auch diese zu meistern. Nur eine Übernahme könnte das Krankenhaus fit für die Zukunft machen.

Diese altmodische, gemütliche kleine Klinik verdankte ihren guten Ruf allein James Wilder. Jetzt hatte dessen Sohn die Leitung. Aber was sollte aus dem Walnut River General werden, wenn es keine Wilders mehr gab?

Nach und nach würde das Ansehen schwinden, bis kein hoch qualifizierter Arzt mehr dort arbeiten wollte. Binnen kürzester Zeit würde das Walnut River General zu einem mittelmäßigen Krankenhaus mit mittelmäßigem Personal verkommen.

Nur NHC konnte diesen Abstieg verhindern.

Bethany trank den Caffè Latte aus, stand auf und brachte das Tablett weg.

Zeit für die zweite Runde.

Schnellstens musste Dr. Peter Wilder zur Vernunft gebracht werden, bevor er und sein geliebtes Krankenhaus endgültig ins Abseits gerieten. Je früher sie ihn überzeugen konnte, desto besser war es für alle.

5. KAPITEL

Die Testamentseröffnung in Peters Haus brachte keine Überraschungen. Ella erschien um kurz vor sieben, Fred begann pünktlich, und alles verlief so, wie Peter erwartet hatte. Einige kleine Erinnerungsstücke hatte James Wilder guten Freunden vermacht. Da er selbst keine Geschwister hatte, gingen das Haus und die wenigen Ersparnisse zu gleichen Teilen an seine Kinder. Die Aufteilung sollte Peter in die Hand nehmen.

„Das war kurz und eindeutig“, sagte Fred, bevor er das Dokument auf den Mahagonischreibtisch legte, aufstand und seinen Aktenkoffer schloss. „Trotzdem ist es schade, dass David und Anna nicht bis heute bleiben konnten, um bei der Verlesung dabei zu sein.“

Peter wusste, dass Ella ebenso dachte – schon aus Respekt vor ihrem Vater hätten David und Anna teilnehmen sollen. Beide hatten Ausreden gefunden, um so schnell wie möglich wieder abzureisen. Dahinter steckten die ganz persönlichen Probleme, mit denen jeder von ihnen zu kämpfen hatte. Das war zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern.

„Sie meinten, das Testament würde nichts Ungewöhnliches enthalten“, sagte Peter und zuckte die Achseln. „Außerdem mussten sie dringend fort.“

Dass Fred mehr von den Kindern seines besten Freundes erwartet hätte, war ihm anzusehen. Er nickte Ella zu und kam um Peters Schreibtisch herum. „Schön, Sie zu sehen, Ella. Ich hoffe, das nächste Mal begegnen wir uns unter glücklicheren Umständen.“

„Ja“, murmelte sie gerührt. „Ich auch.“

Peter sah, wie Tränen in ihren Augen glitzerten. Sie wird eine ganze Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen, dachte er und stellte sich zwischen seine Schwester und den Anwalt. „Ich bringe Sie hinaus.“

„Wobei mir einfällt …“, begann Fred, als sie den Raum verließen. „Haben Sie … Sie wissen schon …“

Als Peter die Anspielung auf den Brief seines Vaters verstanden hatte, schüttelte er den Kopf. „Nein, habe ich – Sie wissen schon – nicht.“

Fred warf ihm einen Blick zu. „Haben Sie Angst, es könnte etwas Schlimmes drinstehen?“

Angst. Vielleicht ist das der richtige Ausdruck, dachte Peter. Etwas an dem Umschlag beunruhigte ihn. Nichts sollte das Bild, das er von seinem Vater hatte, verändern. Und er fürchtete, dass der Inhalt genau das bewirken könnte.

„Na ja, etwas Gutes kann es wohl kaum sein, oder? Dann hätte mein Vater es mir persönlich gesagt. Er hat nichts von Geheimnissen gehalten.“ Seufzend schob er die Hände in die Taschen. „Jedenfalls habe ich das geglaubt.“ Bis jetzt.

Mitfühlend lächelte Fred ihn an. „Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.“

Als sie am Wohnzimmer vorbeikamen, schaute Peter hinein. Der Brief lag noch immer auf dem Kaminsims.

„Ich weiß. Ich werde ihn lesen“, versprach er.

An der Haustür drehte der Anwalt sich zu ihm um. „Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie dazu bereit sind.“

Peter zögerte. „Was immer es ist, es ist das Geheimnis meines Vaters.“

„Und ich war nicht nur sein Anwalt, sondern auch sein Freund. Vor mir hatte er keine Geheimnisse“, erklärte Fred mit Nachdruck.

Peter starrte ihn an. „Dann wissen Sie, was in dem Umschlag ist?“

„Ich habe einen Verdacht“, gab Fred zu.

Aber wenn Fred es bereits ahnte, warum wollte er dann informiert werden?

„Warum soll ich Sie …“

„Als Anwalt bin ich zur Verschwiegenheit verpflichtet“, lieferte Fred das stets passende Standardargument. „Vergessen Sie nicht, dass Sie der Sohn sind, dem James vertraute.“

Nicht genug, um mir schon zu seinen Lebzeiten etwas anzuvertrauen.

Freds braune Augen verrieten, dass er ahnte, was Peter dachte.

„Sicher wollte er Sie nicht früher als unbedingt nötig damit belasten.“ Fred sah auf die Uhr. „Ich muss los. Selma wartet mit dem Essen auf mich.“ Lachend tätschelte er seinen runden Bauch. „Wenn sie nicht so gut kochen würde, wäre ich nicht so … robust gebaut. Wiedersehen, Ella“, rief er nach hinten und senkte die Stimme sofort wieder. „Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie den Umschlag geöffnet haben“, bat er, bevor er hinausging und die Tür hinter sich schloss.

Gleich darauf betrat Ella den Flur.

„Was wollte er denn noch von dir?“

„Nur Anwaltsgerede“, antwortete Peter ausweichend.

„Ich dachte, damit wäre er fertig gewesen“, bemerkte sie neugierig.

„Du kennst ja Anwälte. Die finden nie ein Ende. Er möchte, dass ich als neues Familienoberhaupt gleich ein Testament mache.“

Heftig schüttelte seine Schwester den Kopf. „Du wirst uns noch lange nicht verlassen, großer Bruder.“ Mit elf Jahren Altersunterschied war Peter nicht nur ihr großer Bruder, sondern auch eine Art Vaterersatz. „Das verbiete ich dir.“

„Ich werde es Fred ausrichten“, erwiderte Peter lachend.

Ella hakte sich bei ihm ein. „Tu das. Lass uns essen gehen. Ich lade dich ein.“

Als er auf die Uhr schaute, bemerkte er, dass es langsam spät wurde. „Hast du nicht Rufbereitschaft?“

„Erst in ein paar Stunden.“

Aufmunternd lächelte er ihr zu und beschloss, den Umschlag zu öffnen, wenn sie fort war. „Einverstanden. Aber ich warne dich: Ich habe einen teuren Geschmack.“

„Such dir aus, was du willst. Vorausgesetzt, es kostet um die zehn Dollar.“

Er lachte. „Ich hole unsere Mäntel, Rockefeller.“

„NHC schickt am Monatsende einen Mann, der mit uns verhandeln soll“, verkündete Bethany ohne Vorrede, als sie das kleine Büro betrat. Dorthin zog Peter sich für gewöhnlich zurück, wenn er nicht Visite machte, im Untersuchungsraum beschäftigt war oder operierte.

Es war kaum acht Uhr morgens. Die ersten Patienten kamen erst gegen halb zehn. Bis dahin hatte er noch drei Kranke zu versorgen, die in der Klinik lagen.

Mit gerunzelter Stirn blickte er von der Fachzeitschrift auf, in der er las. In Zukunft würde er die Tür vor der offiziellen Sprechstunde abschließen. Selbst Eva, seine Krankenschwester und Sekretärin, war noch nicht hier.

Er sah seine rothaarige Besucherin an. „Haben Sie nichts anderes zu tun?“

Entschlossen, seinen Widerstand zu brechen, setzte Bethany ein zuversichtliches Lächeln auf. „Nichts, was wichtiger wäre.“

Nachdem er ein Lesezeichen in das Magazin gelegt und es zugeschlagen hatte, stand er auf. „Sie vielleicht nicht, aber ich.“

Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Die anderen Mitarbeiter mochten Peter Wilder für einen freundlichen, sanftmütigen Mann halten. Doch in ihren Augen war er ein störrischer Esel. Ein sexy Esel, aber eben ein Esel. „Das haben Sie gestern in der Cafeteria auch gesagt.“

„Und es trifft noch immer zu“, entgegnete Peter ungerührt. „Ich bin nicht sicher, womit manche Mitglieder des Verwaltungsrats ihre Zeit verbringen. Aber ich nutze meine, um das zu tun, wofür ich ausgebildet wurde – Patienten zu behandeln.“

Das stimmte nicht ganz. Immerhin wusste er, dass vier von ihnen leitende Ärzte waren. Wie er selbst hatten sie viel zu tun, wenn sie nicht gerade am Konferenztisch saßen, Haushaltspläne studierten oder Personalentscheidungen trafen. Und er wusste, dass Bethany Holloway Effizienzexpertin war – was immer das bedeutete.

„Ich muss zur Visite“, erklärte er auf dem Weg zur Tür. „Wenn Sie also nicht die nächste Stunde auf dem Korridor warten wollen, sollten Sie sich besser um andere Dinge kümmern.“ Und damit floh er zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen vor ihr.

„Was wissen Sie über Bethany Holloway?“

Nach seiner Visite war noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Sprechstunde. Also war Peter beim Verwaltungsdirektor vorbeigegangen, um ein paar Informationen über seine attraktive Gegnerin einzuholen.

Henry Weisfield hob den Blick von dem Reisekatalog, in dem er sehnsüchtig geblättert hatte, und schob die Brille höher auf die Nase. Eingehend betrachtete er den Arzt, der für ihn noch immer „James Wilders Junge“ war.

Dann lächelte er wehmütig. „Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich mein Glück bei ihr versuchen. Warum fragen Sie?“ Neugierig beugte Henry sich vor, und seine grauen Augen funkelten. „Sind Sie an ihr interessiert?“

Peter war vierzig, und noch immer versuchten die Leute, ihn zu verkuppeln. Aber er wollte kein zweites Mal enttäuscht werden. Außerdem hatte er Besseres zu tun, als seinen Seelenfrieden aufs Spiel zu setzen – zumal die Medizin dafür kein Heilmittel parat hielt.

„Ich möchte nur wissen, woher sie kommt und was sie hier will“, antwortete er nach einem Moment.

Henry lehnte sich wieder zurück. „Die Frau bringt nicht nur einen, sondern gleich zwei Abschlüsse von der äußerst angesehenen Universität in Princeton mit. In Volks- und Betriebswirtschaft, beide mit Spitzennoten. Wallace ist ganz begeistert von ihr.“

Peter dachte daran, wie der Vorsitzende sie gestern angehimmelt hatte. „Ich bin sicher, das kommt bei Wallaces Frau gut an.“

„Ihr Vater fand sie auch beeindruckend“, sagte Henry leise.

Nicht, wenn er gewusst hätte, dass die Frau sein Lebenswerk an einen Klinikkonzern verscherbeln will, dachte Peter finster. „Wenn sie so brillant ist, warum sitzt sie dann im Verwaltungsrat eines Provinzkrankenhauses und nicht im Vorstand eines Weltkonzerns? Warum beehrt sie ausgerechnet uns mit ihrem Talent?“

„Gute Frage.“ Henry nickte, mehr zu sich selbst als zu Peter. „Wahrscheinlich ist sie lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich als umgekehrt.“

Vermutlich. Peter trat ans Fenster und beobachtete, wie der hintere Parkplatz sich langsam füllte. Einige Mitarbeiter trafen zur beginnenden Frühschicht ein. Die ersten Besucher fuhren vor, um kranke Angehörige oder Freunde zu trösten oder aufzuheitern. Ein paar Patienten erschienen zur ambulanten Untersuchung.

Dem Walnut River General geht es gut, dachte er. Wir brauchen keinen aufgeblasenen Konzernmanager, der uns vorschreibt, wie wir unsere Arbeit machen sollen.

Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und stützte sich aufs Fensterbrett. „Also hat sie unseren Teich übernommen, um sich sich einen Namen in der Branche zu machen?“

Henry dachte kurz nach. „Das könnte ich mir durchaus vorstellen.“ Er schmunzelte. „Wie ich höre, haben Sie die Sitzung gestern mitten im Satz verlassen – in Bethany Holloways Satz.“

Peter drehte sich zu ihm um. „Ich wollte meine Patienten nicht warten lassen.“

Wissend lächelte Henry ihm zu. „Sie hatten gar keine. Ich habe mir Ihren Kalender angesehen. Ihr erster Termin war eine halbe Stunde später.“

Der Verwaltungsdirektor war immer ein eigenwilliger Mensch gewesen, fast ein wenig exzentrisch. Aber er leistete hervorragende Arbeit, und Peter mochte ihn. „Ich bin gegangen, weil ich nicht die Beherrschung verlieren wollte“, gab er zu.

„Die Beherrschung verlieren?“, wiederholte Henry mit einem ungläubigen Lachen. „Das hätte ich gern erlebt. Das Personal hält Sie für den geduldigsten Menschen auf Erden.“

Gestern hatte Bethany ihn als Heiligen bezeichnet, und jetzt das. Doch Peter wusste, dass keins von beiden zutraf. Er war einfach ein Mann, der sein Bestes gab.

„Ich bin immer das, was ich gerade sein muss.“

Henry musterte ihn. „Und im Moment sind Sie ein wenig …“, begann er und hielt inne. Betont verblüfft fuhr er fort: „Du meine Güte, Sie sind ja richtig verärgert! Hat das zufällig mit Miss Holloway zu tun?“

Peter nickte. Er hatte keine Ahnung, warum sie ihm so auf die Nerven ging. Normalerweise brachte ihn so schnell niemand aus der Ruhe. „Die Frau rührt kräftig die Werbetrommel für Northeastern Healthcare.“

„NHC ist nicht der Teufel“, gab Henry zurück.

Überrascht sah Peter ihn an. Eigentlich hatte er den Direktor für seinen Verbündeten gehalten. „Henry, das ist nicht Ihr Ernst.“

„Oh, ich weiß nicht.“ Der ältere Mann seufzte. „Vielleicht sieht so der Fortschritt aus. Und wenn wir uns dagegen wehren, verzichten wir möglicherweise auf etwas Sinnvolles.“

Was ist nur in ihn gefahren? Das kann Henry doch nicht wirklich glauben!

„Sinnvoll ist die gute Behandlung unserer Patienten, Henry. Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, wie schnell man unter Zeitdruck etwas übersieht. Und darunter steht man zwangsläufig, wenn es in erster Linie darum geht, Profit zu machen.“

„Die Ärzte bei NHC sind nicht alle seelenlose Geschöpfe.“

Wollte Henry ihn nur provozieren? Oder hatte man ihn einer Gehirnwäsche unterzogen? Peter war nicht sicher. „Das mag sein. Aber sie sind nicht mit dem Herzen dabei. Der Konzern, für den sie arbeiten, lässt das nicht zu.“ Frustriert atmete er aus. „Soll NHC doch irgendein anderes Krankenhaus übernehmen. Wir sind doch nur ein winziger Punkt auf dem Radarschirm – warum haben sie es so plötzlich auf uns abgesehen?“

Die Frage schien Henry zu überraschen. „Unterschätzen Sie nicht, was Ihr Vater aus diesem Haus gemacht hat. Er hat sehr hart gearbeitet, um uns auch in Fachkreisen einen ausgezeichneten Ruf zu verschaffen. Vielleicht waren wir einmal nur ein winziger Punkt auf dem Radarschirm. Aber nachdem James die medizinische Leitung übernommen hat, sind wir das längst nicht mehr.“

„Wenn wir wirklich so gut wären, wie Sie behaupten, würde David hier und nicht an der Westküste praktizieren“, wandte Peter ein.

„David ist anderswo, weil er und sein Vater aneinandergeraten sind. Die beiden haben ihre Differenzen nie ausgeräumt“, erinnerte Henry ihn. „Und vielleicht sind wir einfach nicht so eitel wie seine Patienten in Los Angeles.“ Er warf einen Blick auf den letzten Vierteljahresbericht der Klinik. Auf dem Titelblatt waren die Ärzte aufgeführt. „Wir haben hervorragende Kardiologen, Orthopäden und sogar einen Krebsspezialisten, der in Yale studiert hat.“

Ob die Kollegen in Walnut River bleiben würden, wenn NHC das Krankenhaus übernahm, bezweifelte Peter jedoch. „Wozu brauchen wir dann NHC?“

„Wir brauchen dringend neue Geräte“, antwortete der Direktor mit müder Stimme. „Wir brauchen vieles.“

Ungläubig starrte Peter ihn an. Noch immer traute er seinen Ohren nicht. „Also sind Sie für die Übernahme?“

Henry zuckte mit den Schultern. Sein Kopf schmerzte. Seit die Gerüchteküche brodelte, hatte er an nichts anderes gedacht. „Ich bin für meine Pensionierung.“

Das war das Letzte, was Peter hören wollte. „Nein, Henry.“

„Doch“, widersprach Henry sanft. „Ich bin alt, Peter. Älter, als Ihr Vater war. Und ich bin es leid, mit knappen Mitteln zu jonglieren und jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen. Ständig muss ich mich fragen, wie wir dies oder das finanzieren sollen.“

„Aber Sie haben es immer wieder geschafft. Wir alle halten Sie für einen Zauberer.“

„Es ist an der Zeit, dass ein anderer das Kaninchen aus dem Hut zieht“, erwiderte Henry erschöpft. Er liebte dieses Krankenhaus und die Menschen, die dort arbeiteten, aber er war nicht mehr so gesund wie früher. Seine Kraft ließ langsam nach, und er wollte nicht warten, bis man ihn entließ. „Und sich in schlaflosen Nächten den Kopf darüber zerbricht, wie er das nächste Loch stopfen kann.“

Peter musterte ihn. Tatsächlich sah Henry müde aus. Und er litt unter Altersdiabetes. Niemand sollte es erfahren, aber Peter wusste es schon seit längerer Zeit. Deshalb bedrängte er den Direktor nicht weiter.

„Sie sind fest entschlossen?“, fragte er leise.

„Mich zur Ruhe zu setzen? Ja. Was alles andere angeht, nein.“ Henry schüttelte den Kopf. „In der Theorie bin ich auch dagegen, dass dieser Klinikkonzern seine gierigen Hände nach uns ausstreckt. Aber niemandem ist geholfen, wenn wir aus Geldmangel die Türen schließen müssen. Unser guter Ruf allein bringt nichts ein. Wir behandeln manche der ärmeren Patienten gratis. Doch auch dafür muss jemand bezahlen – vom Verbandswechsel bis zum größeren Eingriff. Jede Station verlangt mehr, und ich weiß nicht, woher ich das Geld nehmen soll.“

Peter straffte die Schultern, als wäre er zum Kampf mit einem unsichtbaren Gegner bereit. „Ich weigere mich zu glauben, dass die Übernahme durch NHC die einzige Lösung ist.“

„Vielleicht nicht“, räumte Henry ein. „Aber ich persönlich sehe leider keine andere.“ Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. „Und mir bleibt nichts anderes übrig, als in den Ruhestand zu gehen.“

Allmählich fand Peter sich mit dem unvermeidlichen Abschied ab. „Wann?“, fragte er resigniert.

Henry blätterte in seinem Terminkalender. Er war dankbar, dass Peter ihn nicht einen Feigling nannte und ihm vorwarf, einfach davonzulaufen. „Im April, vielleicht im Mai. Ich habe mich schon nach einem Nachfolger umgehört.“

Wer immer es wird, er wird nicht halb so gut sein, dachte Peter betrübt. „Sie sind nicht zu ersetzen, Henry.“

Der Direktor lächelte. „Jeder ist zu ersetzen. Sie schaffen das, Peter. Sie sind ein Wilder. Die Wilders schaffen immer alles.“

Noch lange nachdem er Henrys Büro verlassen hatte, gingen ihm dessen Worte durch den Kopf.

Die Wilders schaffen immer alles.

Er wusste, dass sein Vater und auch sein Großvater ebenso gedacht hatten. Leider war er selbst nicht so zuversichtlich.

6. KAPITEL

Peter fielen fast die Augen zu. Im stickigen Konferenzraum wartete er darauf, dass die endlos erscheinende Sitzung des Verwaltungsrats zu Ende ging. Dabei hatte er Wichtigeres zu tun.

Fast die gesamte Woche hindurch hatte er Patienten untersucht und behandelt. Währenddessen hatte er immer wieder verstohlene Blicke über die Schulter geworfen – um notfalls dieser Frau aus dem Weg zu gehen. Der Frau, die ein grausames Schicksal ausgerechnet auf dem Stuhl neben ihm platziert hatte.

Die Stimme vom amtierenden Schriftführer Larry Simpson, der das Protokoll verlas, wirkte wie eine Schlaftablette auf ihn.

Auch wegen der gestrigen Überstunden – bis weit nach Mitternacht – war Peter so müde. Für die Fahrt nach Hause war er zu erschöpft gewesen. Er hatte im Büro geschlafen, obwohl die alte, längst aus der Form geratene Couch alles andere als bequem war. Jetzt bezahlte er für den spontanen Entschluss, in der Klinik zu übernachten, mit einem steifen Nacken. Ganz zu schweigen von den anderen Körperteilen, die sich nicht mehr so beweglich anfühlten wie sonst.

Als Larry fertig war, verkündete Wallace offiziell, dass Henry Weisfield sich zur Ruhe setzen wollte.

„Er wird schwer zu ersetzen sein.“ Mit exakt denselben Worten hatte der Vorsitzende auch schon über James Wilder gesprochen. „Aber ich bitte Sie alle, nach einem geeigneten Bewerber Ausschau zu halten.“

„Wir könnten Henry mehr Geld bieten“, schlug Gladys Cooper vor, die seit fünfzehn Jahren im Verwaltungsrat saß.

„Nicht alles lässt sich mit Geld lösen“, entfuhr es Peter, bevor ihm richtig bewusst wurde, dass er diesen Gedanken laut aussprach.

„Das ist wahr“, stimmte seine rothaarige Nachbarin zu. „Aber es macht vieles einfacher.“

Peter hatte nicht die geringste Lust, mit Bethany Holloway zu diskutieren. „Da kann ich Ihnen nicht widersprechen“, stimmte er ihr halbherzig zu.

„Oh, ich bin sicher, das können Sie“, entgegnete sie mit einem Lächeln, das er beim besten Willen nicht deuten konnte.

Verdammt, musste sie dauernd dieses Parfüm tragen? Es war leicht und unaufdringlich – und trotzdem ging es ihm unter die Haut. Als er gerade antworten wollte, klingelte ein Handy.

„Entschuldigung“, murmelte Wallace verlegen. „Ich habe vergessen, es auszuschalten.“ Er nahm es heraus, schaute aufs Display und hob die Hand. „Da muss ich rangehen. Ich schlage vor, wir machen eine kurze Pause“, sagte er und lief rasch hinaus, ohne die Zustimmung der anderen abzuwarten.

Alle standen auf, um sich die Beine zu vertreten. Doch Peter blieb sitzen.

Und Bethany ebenfalls. Unauffällig musterte sie ihn. „Sie haben im Krankenhaus übernachtet, nicht wahr?“, fragte sie leise.

Die Frage traf ihn unerwartet. Warum eigentlich? Schließlich war sie seit Montag immer dann aufgetaucht, wenn er nicht mit ihr gerechnet hatte. „Spionieren Sie mir etwa nach, Miss Holloway?“

Sie setzte eine Unschuldsmiene auf. „Nein. Aber Ihr Wagen stand gestern noch auf dem Parkplatz, als ich nach Hause gefahren bin. Ist mir nur aufgefallen.“ Dass sie eine Viertelstunde auf ihn gewartet hatte, verschwieg sie. Aber an einem kalten Januarabend in ihrem Wagen zu sitzen hatte selbst sie bald überfordert. „Und es hat in der Nacht geschneit.“

Worauf wollte sie hinaus? Und warum musste sie dabei so attraktiv aussehen? „Stimmt.“

„Ihr Wagen war heute Morgen voller Schnee.“

„Gut beobachtet.“ Peter betrachtete sie und wusste nicht, ob er sich über sie amüsieren oder ärgern sollte.

Als sie lächelte, spürte er ein Kribbeln in der Magengegend. Das ist nicht gut, dachte er beunruhigt.

„Hören Sie, Dr. Wilder, lassen Sie uns offen reden. Was muss ich tun, um Ihnen die Argumente der Gegenseite nahezubringen?“

Ein Mitglied nach dem anderen nahm wieder am Tisch Platz – als würde niemand ein Wort verpassen wollen.

„Über die Motive von NHC können Sie mir nichts erzählen, was ich nicht schon weiß“, entgegnete Peter unverblümt.

O doch, das kann ich, dachte Bethany. Intensiv hatte sie sich mit den neuesten Studien beschäftigt, und sie bezweifelte, dass er sich die Mühe gemacht hatte. „Es gibt Statistiken, Dr. Wilder.“

Ungeduldig wedelte er mit der Hand. „Ich arbeitete mit Patienten, Miss Holloway, nicht mit Statistiken.“

„Patienten sind die Grundlage der Statistiken“, beharrte sie.

Peter zügelte seine Verärgerung. Wahrscheinlich wusste diese Frau es nicht besser. Sie wäre nicht die Erste, die mit manipulierten Zahlen hereingelegt wurde.

„Miss Holloway“, begann er so gelassen wie möglich. „Statistiken sind sehr flexibel. Jeder kann die Zahlen so verdrehen, dass sie das ergeben, was er gerade braucht. Zum Beispiel können sie dann das Gute zeigen, das ein aufgeblähter Riesenkonzern angeblich vollbringt.“

Plötzlich erinnerte sie ihn mit ihren blitzenden Augen an Lisa. Die Frau, in die er einmal verliebt gewesen war. Die Frau, mit der er geplant hatte, den Rest seines Lebens zu verbringen. Und die ihn im letzten Studienjahr verlassen hatte – wegen eines anderen Medizinstudenten. Lisa hatte sich für eine bessere Partie entschieden: Gleich nach dem Abschluss sollte dieser Steven in die lukrative Praxis seines Vaters in Manhattan eintreten.

Als Peter die Ähnlichkeiten bemerkte, fröstelte er. Bethany Holloway hatte die gleiche Augen- und Haarfarbe, die gleichen vollen Lippen, die gleiche schlanke Figur.

Und den gleichen gnadenlosen Ehrgeiz, dachte er.

„Im Krankenhaus hält jeder Sie für einen freundlichen, sanftmütigen, verständnisvollen Mann“, sagte sie. „Ich bin nicht sicher, ob das stimmt.“

Im Raum herrschte angespannte Stille.

„Mir ist völlig egal, was Sie von mir halten, Miss Holloway“, antwortete Peter leise und betont emotionslos.

Dabei entsprach das nicht ganz der Wahrheit – und das ärgerte ihn.

Und noch etwas gefiel ihm nicht: dass Bethany Holloways Duft ihm nicht aus dem Kopf ging. Ganz im Gegenteil. Dieser Duft benebelte seine Sinne – und das verschaffte Bethany einen unfairen Vorteil. Statt sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren, sah er den ganzen Tag nur sie vor sich. Seine Fantasie geriet außer Kontrolle und schlug eine Richtung ein, die er nicht verfolgen wollte. Nicht mit ihr.

Was war los mit ihm? Er wollte ihre Argumente entkräften, nicht von ihr träumen. Er wollte die Klinik retten, die James Wilders zweites Zuhause gewesen war. Das Walnut River General war schließlich das Vermächtnis seines Vaters.

Und wenn NHC erst ins Spiel kam, würde dieses Vermächtnis unweigerlich beschädigt werden.

„Tut mir leid.“ Wallace kehrte in den Konferenzraum zurück und schaltete mit großer Geste sein Handy aus. Nachdem er sich gesetzt hatte, wartete er, bis auch alle anderen Platz genommen hatten. „Erstens, ich habe erfahren, dass die Radiologie dringend einen neuen Kernspintomografen braucht. Laut Mrs. Fitzpatrick, der Cheftechnikerin der Abteilung, fällt der alte immer häufiger aus. Hat jemand eine Idee?“ Fragend schaute er in die Runde.

Kaum hatte er ausgesprochen, hob Bethany die Hand. Der Vorsitzende nickte ihr zu. „Ja, Miss Holloway?“

„Wenn wir das Angebot von NHC annehmen, sobald es offiziell präsentiert wird, brauchen wir uns um ein neues Gerät keine Sorgen zu machen.“ Sie warf Peter einen Blick zu. „NHC wird es finanzieren.“

„Ja, aber zu welchem Preis?“, entgegnete Peter und konnte sich nur mühsam beherrschen. Schließlich wussten hier alle – außer ihr vielleicht –, wie derartige Konzerne funktionierten.

„Wie meinen Sie das?“, fragte Wallace ruhig.

Stellte der Mann sich wegen Bethany so dumm? „Sie wissen genau, wie ich das meine, Wallace. Wir alle kennen die Horrorgeschichten über Klinikkonzerne …“

„Uralte Geschichten“, warf sie ein. „Seitdem hat sich vieles geändert.“

„So? Anstatt untätig herumzusitzen und auf das Angebot zu warten, sollten wir lieber ein paar Nachforschungen anstellen. Wir sollten uns ansehen, was aus den Krankenhäusern geworden ist, die NHC bereits geschluckt hat.“

Nervös räusperte Wallace sich. „Dazu fehlen uns die Mittel, Peter. Das können wir uns nicht leisten.“

Wollte der Mann denn nicht begreifen? Offensichtlich zog er eine Übernahme ernsthaft in Betracht. Dann musste ihn doch interessieren, was dieser Schritt für das Walnut River General bedeutete. „Wir können uns nicht leisten, es nicht zu tun“, beharrte Peter. „Und was den neuen Tomografen betrifft …“ Er wusste nur zu gut, wie teuer ein solches Gerät war. „Warum bitten wir nicht Henry Weisfield, eine seiner erfolgreichen Spendenaktionen zu organisieren? Er ist noch drei Monate hier und kennt sich damit aus.“

„Ist das Ihre Lösung?“, fuhr Bethany ihn an. „Eine Spendenaktion?“

Je aufgebrachter sie reagierte, desto ruhiger wurde er. „Das hat bisher immer funktioniert.“

„Und wenn wir die Operationssäle modernisieren müssen?“, entgegnete sie. „Was dann? Noch eine Spendenaktion? Was glauben Sie, wie viele wir noch veranstalten können? Wie lange dauert es, bis wir damit auch den letzten Wohltäter verloren haben?“

„Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist“, antwortete er und lächelte sie an.

Lachte der Mann sie etwa aus? „Unter dem Dach von NHC bräuchten wir uns den Kopf überhaupt nicht zu zerbrechen. Eine schriftliche Anforderung würde völlig ausreichen.“

Entgeistert starrte Peter sie an. Glaubte sie wirklich, was sie da sagte? Oder wollte sie nur die anderen überzeugen?

„Sind Sie tatsächlich so naiv? Sicher, dieser Konzern kann Ihnen alles geben. Aber er ist auch mächtig genug, Ihnen alles wegzunehmen, wenn Sie nicht nach seiner Pfeife tanzen. Ist Ihnen das nicht klar?“ Er war es so leid. Langsam verstand er, warum Henry das Handtuch warf. „Wenn ich zur Marionette werde, will ich wissen, wer an meinen Fäden zieht“, wandte er sich an Wallace. Bei dem hatte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. „In einem anonymen Konzern kann man niemanden zur Rechenschaft ziehen.“

In diesem Moment meldete sich das Notrufgerät an seinem Gürtel. Kaum hatte er die Nachricht auf dem Pager gelesen, stand Peter auf. „Entschuldigen Sie, Wallace. Es hat einen Verkehrsunfall gegeben. Ich werde in der Notaufnahme gebraucht.“

Der Vorsitzende nickte. „Natürlich“, sagte er und schien fast erleichtert, ihn gehen zu sehen.

Jedenfalls kam es Peter so vor.

„Was ist passiert?“, drängte Peter die Oberschwester Simone Gardner, als er in der Notaufnahme eintraf. Die schlanke braunhaarige Frau schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Sofort half ihm eine andere Krankenschwester in einen Einmalkittel aus gelbem Papier, wie ihn alle zum Schutz vor Infektionen trugen.

Die Rettungssanitäter waren schon wieder fort. Also klärte Simone ihn über den Zustand der Verletzten auf und erzählte ihm, was passiert war. „Es war ein Frontalzusammenstoß an einer Kreuzung. Beim Geländewagen haben die Bremsen versagt.“

„Wo war das?“, fragte Peter, während er das Stethoskop aus der Tasche nahm.

„Keine zwei Meilen von hier. Die Sanitäter haben sie sofort hergebracht. Das sind die Fahrer.“ Die Schwester zeigte auf die ersten beiden Tragen. „Der kleine Junge hat vorn gesessen.“

Als der Junge laut weinte, strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und beugte sich zu ihm. „Es wird alles gut, Schätzchen“, sagte sie und drehte sich zu Peter um. „Kein Kindersitz.“ Ihr war anzusehen, was sie davon hielt. „Ich glaube, den Kleinen hat es am schlimmsten erwischt. Er könnte innere Blutungen haben.“

„Lassen Sie ihn so schnell wie möglich röntgen“, befahl Peter und wandte sich den anderen Patienten zu. Bevor er etwas sagen konnte, packte der Mann auf der zweiten Trage seinen Arm.

„Mein kleiner Junge“, flüsterte er heiser.

Ein Auge war zugeschwollen, und auch mit dem anderen schien er kaum noch etwas sehen zu können.

„Ihr Sohn kommt wieder in Ordnung“, beruhigte Peter den Vater mit fester Stimme und sagte ihm damit, was er hören wollte. Vor langer Zeit hatte man ihm beigebracht, keine unhaltbaren Versprechungen zu machen. Aber er wusste, wie wichtig Zuversicht für den Heilungsprozess war. „Jetzt kümmern wir uns erst mal um Sie.“ Er deutete auf das erstbeste freie Bett. „Legen Sie ihn in Raum zwei.“

Peter hatte dem Jungen die Milz entfernen müssen. Anschließend war er zum Vater gegangen und hatte ihm alles über die notwendige Operation erklärt. Noch nie hatte Peter so viel Angst und Reue gesehen wie bei Ned Farmer.

Der selbstständige Automechaniker und ehemalige Rennfahrer machte sich schwere Vorwürfe. Stets gab er sich die größte Mühe mit den Wagen seiner Kunden. Doch seinen eigenen hatte er darüber vollkommen vernachlässigt.

„Meine Schuld, meine Schuld, es ist alles meine Schuld“, flüsterte er immer wieder. Farmer regte sich so sehr auf, dass Peter eine Schwester anwies, dem Mann eine Beruhigungsspritze zu geben.

Der andere Fahrer hatte eine Quetschung an der Wirbelsäule erlitten, die zu Ausfallerscheinungen in den Beinen führte. Peter rief Ella an und bat sie, in die Notaufnahme zu kommen. Er hoffte, dass seine Schwester dem Mann mit ihrer sanften Stimme und einfühlsamen Art die Angst nehmen konnte.

Keine Viertelstunde später war sie da.

„In neunundneunzig von hundert Fällen kann der Patient wieder gehen, sobald die Schwellung an der Wirbelsäule abklingt“, versicherte sie dem Unfallopfer. „Sie müssen nur Geduld haben.“

„Werde ich wieder gehen können?“

„Höchstwahrscheinlich. Sobald die Schwellung abklingt“, wiederholte sie.

„Und wenn nicht?“, fragte er besorgt. „Wenn sie es nicht tut?“

Ella nahm seine Hand. „Wir tun alles, was wir können“, versprach sie ihm eindringlich.

Lächelnd sah Peter seine Schwester an. Ihr Vater wäre stolz auf sie.

Ebenso sicher war er, dass NHC nichts von Ärzten hielt, die sich so eingehend um einen Patienten kümmerten. Einer kurzen Untersuchung würde die rasche Diagnose folgen. Danach würde man den Kranken nach Hause schicken, wo er mit seinen Ängsten allein wäre. Peter wollte sich nicht ausmalen, wie viel Schaden eine solche Fließbandarbeit anrichten konnte.

Die Vorstellung machte ihn nur noch entschlossener, die Übernahme abzuwehren.

Als er sich in seinem matt beleuchteten Sprechzimmer umzog, bemerkte er, dass es geschneit hatte. Unwillkürlich fragte er sich, ob er am Abend nach dem Dienst seine Einfahrt freischaufeln musste. Hoffentlich nicht, dachte er. Obwohl er sein ganzes Leben in Walnut River verbracht hatte, war Peter kein Fan der weißen Pracht.

Nachdem er ein paar Labor- und Röntgenberichte in seinem Aktenkoffer verstaut hatte, ging er zum Fahrstuhl. Die Kabine war leer, und er fuhr allein ins Erdgeschoss. Als er wenig später auf den Parkplatz und in die eiskalte Luft hinaustrat, hörte er einen erschreckten Aufschrei. „O verdammt!“, rief eine wohlbekannte Frauenstimme.

Peter sah nur noch, wie Bethany Holloway auf den Stufen ausglitt und dann aus seinem Blickfeld verschwand.

7. KAPITEL

Die Arbeit in der Notaufnahme hatte Peters Reflexe geschult. Blitzschnell griff er nach dem Geländer, übersprang drei Stufen und packte Bethany am Arm, bevor sie auf dem gefrorenen Boden landete.

Doch als ihre Füße nach vorn wegrutschten, versuchte sie, mit einer ruckartigen Bewegung das Gleichgewicht zurückzugewinnen – mit dem Ergebnis, dass er selbst ins Straucheln geriet. Er verlor den Halt und fiel flach auf den Rücken. Und da er Bethany nicht losließ, zog er sie mit nach unten.

Sie fiel direkt auf ihn.

Verblüfft starrte sie in sein Gesicht. Aber anstatt sofort empört aufzustehen, begann sie, leise zu lachen. Ein melodisches und sinnliches Lachen. Ein äußerst ansteckendes Lachen, das ihm durch und durch ging.

Schließlich stimmte Peter mit ein, als er daran dachte, welchen Anblick sie beide abgeben mussten. Bald liefen ihm die Tränen über die Wangen.

Im Rhythmus des Lachens rieben sich ihre Körper aneinander.

Nach einem Moment verstummten sie.

Halb belustigt, halb besorgt schnappte Bethany nach Luft. „Das hier war wohl nicht geplant, glaube ich.“

Peter wehrte sich gegen ein plötzliches Gefühl, das er schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Es war so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. In den letzten zehn Jahren hatte sein Beruf ihm sehr wenig Zeit für ein Privatleben gelassen. Meistens war ihm das ganz recht gewesen.

Doch in diesem Augenblick spürte er Bethanys Atem auf seinem Gesicht und ihren Körper auf seinem. Schmerzlich wurde ihm bewusst, was er versäumt hatte. Das Verlangen breitete sich so jäh in ihm aus, dass ihm trotz der Kälte warm wurde.

Bethanys Augen verrieten, dass es nicht nur ihm so ging. Auch sie empfand die starke Anziehung, den Funken zwischen ihnen.

Peter war kein spontaner Mensch. Andere Männer gaben nach und ließen sich von einem Impuls treiben. Aber er nicht.

Bis jetzt.

Bevor sein Verstand ihn daran hindern konnte, hob er die behandschuhten Hände und legte sie um ihr Gesicht. Ohne zu überlegen, zog er es zu seinem hinab.

Ihren Körper zu fühlen war erregend, sie zu küssen zehnmal intensiver. Sie schmeckte nach frischen Erdbeeren und Frühling, und er verlor sich in der sanften Berührung.

Eine kurze, unglaubliche Sekunde lang war er nicht mehr Dr. Peter Wilder. Nicht mehr der hoch angesehene Internist und Bewahrer des väterlichen Erbes, sondern ein ganz normaler Mann aus Fleisch und Blut. Ein Mann, der sich nach jemandem sehnte, mit dem er nach einem langen Arbeitstag seine Gedanken und Pläne teilen konnte. Und den er lieben konnte.

Um sie herum schien sich alles zu drehen, und Bethany fragte sich, ob sie sich beim Sturz den Kopf gestoßen hatte. Doch sie war ja auf Peter gefallen. Wenn sich sein Körper auch hart und fest anfühlte – sie war sicher, dass sie keine Gehirnerschütterung davongetragen hatte.

Und trotzdem raste ihr Puls.

Bethany vertiefte den Kuss.

In der Sekunde, in der ihre Körper sich berührt hatten, schien sich etwas tief in ihrem Innern gelöst zu haben.

Doch sie musste sich zusammenreißen. Wenn sie auch nur einen Moment lang so weitermachte, wäre alles umsonst gewesen. Die Mauern, die sie um ihr Herz gezogen hatte, würden bröckeln und könnten es nicht mehr vor Schmerz schützen. Sie war sicher, solange sie niemanden an sich heranließ. Nur dann konnte niemand ihr etwas antun. Nur dann war sie unverletzlich.

Aber genau das war sie jetzt nicht. Sie zitterte. Innerlich und äußerlich. Und gleich würde Peter Wilder merken, dass ihre Reaktion nichts mit dem kalten Wetter zu tun hatte.

Verzweifelt suchte sie nach etwas, das sie sagen konnte, womit sie ihn von ihrer Schwäche ablenken konnte.

„Also …“, begann sie, weil ihr nichts Besseres einfiel, und lächelte verlegen. „Zu der Übernahme …“

Sie fühlte sein Lachen, noch bevor es an ihre Ohren drang. Das Auf und Ab seiner Brust wirkte zugleich beruhigend und erotisch. Also hat er doch Humor, dachte sie erleichtert.

„Im Moment reicht mir eine Übernahme voll und ganz“, sagte er mit leiser Stimme. Dass er damit nicht die durch NHC meinte, war offensichtlich.

Verwirrt und nervös schloss Bethany die Augen. Sie wollte ihn wieder küssen, aber sie wusste auch, dass sie es auf keinen Fall wiederholen durfte.

Behutsam schob Peter sie von sich und setzte sich auf. Er atmete tief durch, bevor er Bethany einen Blick zuwarf und sich entschuldigte. Es erschien ihm vernünftig.

„Tut mir leid.“

Sie riss die Augen auf. „Tut es das?“ Bereute er, dass er sie geküsst hatte? Die Frage versetzte ihr einen Stich. Was war los mit ihr? Anstatt darüber nachzudenken, verdrängte sie die ungewohnte Empfindung.

„Der Sturz“, erklärte er.

Sie musste sich zwingen, Luft zu holen. „Und der Kuss?“

Langsam schüttelte er den Kopf. „Der tut mir nicht leid.“

Eindringlich musterte sie ihn, doch er schien die Wahrheit zu sagen. Plötzlich durchströmte sie ein vollkommen unerwartetes Glücksgefühl.

„Mir auch nicht“, gestand sie. Und dann lächelte sie, ganz natürlich und ungezwungen. „Endlich sind wir uns mal einig.“ Bildete sie es sich nur ein oder lächelten seine Augen wirklich mit?

„Es gibt noch etwas, worin wir uns einig sein sollten“, sagte Peter.

Ihr Herz schlug noch schneller. „So?“

Er nickte. „Dass wir aufstehen müssen, bevor uns jemand sieht.“

Über das plötzliche Gefühl der Enttäuschung wollte sie nicht nachdenken. „Richtig.“

Bevor Bethany aufspringen konnte, stand er bereits und wollte ihr aufhelfen. Sie starrte kurz auf seine ausgestreckte Hand und schaute ihm dann ins Gesicht.

„Ist es nicht genau das, was uns beide erst in diese Lage gebracht hat?“, fragte sie lächelnd.

Er zog die Hand nicht zurück. „Ein Blitz schlägt selten zweimal an derselben Stelle ein.“

„Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Manchmal schlägt er sogar dreimal ein“, widersprach sie.

„Ich habe ‚selten‘ gesagt, nicht ‚nie‘.“

„Na gut.“ Sie nahm seine Hand und erhob sich vorsichtig. Doch schon beim ersten Schritt drohte sie auszurutschen, und sofort festigte er den Griff. „Ich bin selbst schuld, ich hätte Stiefel anziehen sollen“, murmelte sie.

„Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen“, bot er an. „Heute habe ich es nicht eilig.“ Ausnahmsweise, fügte er stumm hinzu.

„Danke“, erwiderte sie. Ihre Unabhängigkeit war ihr sehr wichtig, aber in diesem Fall wäre es wohl unvernünftig, darauf zu bestehen. „Ich habe mich immer auf die Güte von Fremden verlassen“, fügte sie hinzu, um die Situation alltäglich erscheinen zu lassen.

Er sah sie an, und ihre Blicke trafen sich. Vermutlich fragt er sich, wovon ich rede, dachte sie. Doch er überraschte sie. „Dieser Satz stammt doch aus Endstation Sehnsucht. Sie sind viel jünger als Blanche DuBois.“

Beeindruckt nickte sie. „Sie kennen das Theaterstück?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Wir sind hier keine Hinterwäldler. Die Stadt hat eine Bibliothek mit Regalen und Büchern darin.“

Bethany hatte ihn nicht kränken wollen. Sie war es einfach nicht gewohnt, sich über Kunst zu unterhalten. In ihrer Welt drehte sich alles ums Geschäft. Also hatte sie angenommen, dass in seiner nur die Medizin Platz hatte.

Hastig zeigte sie auf ihren Wagen. „Ich stehe dort drüben.“

Er bot ihr seinen Arm an, und nach kurzem, sehr kurzem Zögern nahm sie ihn. Zwar trug er rutschfeste Gummisohlen, aber er passte sich ihrem Tempo an und machte kleine Schritte. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen.

„Ist das wahr?“, fragte er, als sie ihr Auto erreichten.

„Dass dies mein Wagen ist?“

Er ließ seinen Arm, wo er war. Ihm gefiel, wie sie sich daran festhielt. „Dass Sie sich immer auf die Güte von Fremden verlassen haben.“

Hatte sie zu viel von sich verraten? „Na ja, ich bin oft umgezogen, also hatte ich meistens mit Fremden zu tun.“

„Warum sind Sie so oft umgezogen? Soldatenkind?“

Als sie sich ihren Vater in Uniform vorstellte, musste sie lachen. „Meine Eltern waren Geschäftsleute.“ Ihre ältere Schwester und sie waren mit Kindermädchen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten zwölf Stunden am Tag gearbeitet, bis der ersehnte Erfolg endlich eingetreten war. Danach waren sie sogar noch seltener zu Hause gewesen. „Bis zum College habe ich überwiegend in New York gelebt.“

„Und danach?“

„Danach bin ich weit herumgekommen.“

„Womit wir wieder beim Warum sind.“ Er betrachtete sie. „Oder geht es mich nichts an?“

Es ging ihn nichts an, aber sie antwortete trotzdem. „Ich wollte mich umschauen. Ist das hier eine psychologische Untersuchung, Dr. Wilder?“

Peter schüttelte den Kopf. „Nicht mein Fachgebiet.“ Er sah ihr in die Augen. „Wir haben uns im Schnee geküsst, Bethany. Da können wir uns die Förmlichkeiten sparen, finden Sie nicht auch?“

Achselzuckend wich sie seinem Blick aus. Der Parkplatz war ziemlich leer. „Ja, das können wir wohl. Heißt das, Sie werden mich beim Vornamen nennen, wenn Sie mich bei der nächsten Sitzung anknurren?“

„Ich habe nicht geknurrt“, protestierte er. „Ich habe nur ein wenig die Stimme erhoben.“

Spöttisch lächelte sie ihn an.

Er stieß die Luft aus. Sie hatte recht: Er hatte sich gehen lassen. „Falls ich geknurrt habe, entschuldige ich mich. Für den Klang, nicht für das Gefühl dahinter“, betonte er, weil er ihr gegenüber ehrlich sein wollte.

Ein kleiner Fortschritt, dachte Bethany. „Bedeutet das, Sie werden sich anhören, was für eine Übernahme durch NHC spricht?“

Sie stellte die Frage mit einem unwiderstehlichen Lächeln. Sicher, er würde zuhören. Aber das hieß nicht, dass sie ihn auch überzeugen würde. Sein Standpunkt war felsenfest und unverrückbar.

„Vielleicht werde ich das“, antwortete Peter.

„Aber?“, fragte sie, denn sie spürte, dass noch ein Einwand folgen würde.

„Kein Aber“, versicherte er. „Nur eine Bedingung.“

„Eine Bedingung“, wiederholte sie. „Welche?“

Amüsiert bemerkte er ihre misstrauische Miene. Noch nie hatte jemand sich vor ihm hüten müssen. „Wenn ich Sie zu einem Kaffee einladen darf, höre ich Ihnen zu.“

Doch sie reagierte darauf keineswegs erleichtert oder auch nur verlegen. „Wie beim letzten Mal, als Sie mir einen Kaffee spendiert haben? Da haben Sie mich mitten im Satz sitzen gelassen“, entgegnete sie.

„Dieses Mal können Sie den Satz beenden, und ich trinke meinen Kaffee aus.“ Er lächelte aufmunternd und wandte sich nach rechts. „Der Coffeeshop ist nur zwei Blocks entfernt und hat bis spät geöffnet. Wäre das ein Umweg für Sie?“

„Nein.“ Vielleicht war er ja doch nicht so verkrampft, wie sie geglaubt hatte. Jedenfalls küsste er wie jemand, der sich mit Frauen auskannte. Andererseits konnte sie das schwer beurteilen, denn sie hatte auf dem Gebiet nicht viel Erfahrung. Sie nickte lächelnd. „Na gut, einverstanden. Ich kann fahren“, schlug sie vor. „Ihr Wagen sieht nämlich aus, als wäre er im Winterschlaf.“

„Ich sollte ihn besser ausgraben. Gehen Sie nicht weg“, bat er.

„Glauben Sie etwa, ich lasse mir die Chance entgehen, mich mal wieder mit dem Chefarzt zu streiten?“, scherzte Bethany. „Ganz bestimmt nicht.“

„Chefarzt auf Zeit“, erinnerte Peter sie.

„Sie könnten es auf Dauer sein, wenn Sie wollen.“

Ihre Worte klangen aufrichtig und bestimmt. Um Missverständnisse zu vermeiden, erklärte er ihr mit fester Stimme: „Ich will den Job nicht.“

Erstaunt starrte sie ihn an. Es war sein Ernst: Er wollte tatsächlich nicht Chefarzt bleiben. Besaß er denn keinen Ehrgeiz? Sie konnte nicht verstehen, dass jemand nicht Karriere machen wollte. Ihr ganzes Leben war voller Herausforderungen gewesen. Immer hatte sie das nächste Ziel vor Augen gehabt. Etwas anderes kannte sie gar nicht.

„Warum nicht?“, fragte sie verwirrt.

Die Antwort war einfach. „Weil ich auch so genug zu tun habe. Als Chefarzt oder Vorsitzender des Verwaltungsrats bleibt mir nicht genug Zeit für das, was ich liebe. Arzt zu sein und Menschen zu helfen.“

„In einer einflussreichen Position könnten Sie ihnen besser helfen“, beharrte Bethany. „Sie könnten den Kurs des Krankenhauses bestimmen.“

„Nein, das könnte ich nicht. Ich könnte Vorschläge unterbreiten und darüber abstimmen lassen. Aber dazu müsste ich mich dauernd mit einer ambitionierten Princeton-Absolventin anlegen.“

Sie lächelte. „Das tun Sie doch jetzt schon.“

„Trotzdem habe ich in meiner vorläufigen Position mehr Zeit für meine Patienten. Das würde sich ändern, wenn ich zusätzlich noch dicke Akten wälzen und endlose Bilanzen studieren müsste“, erwiderte er lächelnd.

Peter sah sie nicken. Weil sie seiner Meinung war oder weil sie für den Moment einfach aufgab? Er wusste es nicht, begnügte sich jedoch damit und ging zu seinem Wagen. Die dunkelblaue Limousine war halb unter Schnee begraben. Er konnte nur hoffen, dass der Motor noch ansprang.

„Peter!“, rief Bethany, und er drehte sich um. „Passen Sie auf!“

Aber er war nicht schnell genug. Ein Schneeball traf ihn mitten ins Gesicht, und er hörte sie fröhlich lachen. Ohne lange zu überlegen, bückte er sich, und Sekunden später erwischte sein perfekt geformter Schneeball sie am Kinn. Wer wie er mit drei Geschwistern in Massachusetts aufgewachsen war, hatte unzählige solcher Schlachten hinter sich.

Als der Schnee ihr in den Kragen lief, lachte sie noch lauter. „O Gott, ist das kalt!“

Er hatte bereits den nächsten in der Hand, hielt jedoch mit erhobenem Arm inne. „Geben Sie auf?“, fragte er.

Es widerstrebte ihr zutiefst, klein beizugeben – selbst wenn es um etwas so Harmloses wie eine Schneeballschlacht ging. Aber sie hatte das Gefühl, dass er ihr auf diesem Gebiet überlegen war. Bevor sie klitschnass war, kapitulierte sie lieber. „Nur für heute.“

Etwas in ihrer Stimme ließ ihn ahnen, dass die Sache für sie noch nicht vorbei war. Er ließ den Schneeball fallen und klopfte sich die Flocken von der Kleidung. „Heißt das, ich muss ab jetzt auf der Hut sein?“

„Vielleicht“, erwiderte sie mit blitzenden Augen. „Seien Sie gewarnt, Dr. Wilder.“

„Peter“, verbesserte er.

„Peter.“

„Einverstanden, aber die Warnung gilt auch für Sie“, sagte er sanft, bevor er den Schnee von der Motorhaube fegte, einstieg und den Zündschlüssel umdrehte. Der Wagen gab ein keuchendes Geräusch von sich und verstummte wieder.

Er probierte es wieder. Dieses Mal rührte sich überhaupt nichts.

Erst beim dritten Versuch erwachte die Limousine zaghaft zum Leben. Erleichtert ließ er den Motor laufen, damit er warm wurde, und stieg aus. „Soll ich vorfahren?“, rief er Bethany zu.

„Ich weiß, wo es ist. Ich fahre vor.“ Damit stieg sie in ihren Wagen. Er sprang wesentlich leichter an als Peters. Sie fuhr so forsch vom Parkplatz, dass die Reifen den Schnee aufwirbelten.

„Das habe ich mir gedacht“, murmelte er und setzte sich kopfschüttelnd ans Steuer.

Die Frau fährt so, wie sie küsst, dachte er. Stürmisch und leidenschaftlich.

Er gab Gas und war fest entschlossen, sich nicht abhängen zu lassen.

8. KAPITEL

Fünf Minuten nach Bethany traf Peter vor dem Coffeeshop ein. Anders als sie hatte er auf solche Nebensächlichkeiten wie Tempolimits und gelbe Ampeln geachtet. Angesichts des Wetters und der späten Stunde war der Parkplatz fast leer, und er parkte seinen Wagen direkt neben ihrem.

Gleichzeitig stiegen sie aus. Bethany wirkt ziemlich zufrieden mit sich, dachte er.

„Das war kein Rennen, wissen Sie“, sagte er.

„Tut mir leid. Ich habe es immer eilig“, erwiderte sie mit einem entschuldigenden Lächeln.

„Das ist mir aufgefallen.“

Sie lief zur Tür.

„Warten Sie“, rief er ihr nach.

Verwirrt blieb sie stehen. Wollte er ihr etwa eine Strafpredigt halten? „Was denn?“

„Sie haben Schnee im Haar.“ Mit den Fingerspitzen tastete er danach. „Damit sehen Sie aus wie eine Eisprinzessin.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, senkte sich ihr Blick. „Was ist denn?“, fragte er überrascht. „Habe ich was Falsches gesagt?“

„Schon gut.“ Sie wandte sich ab und ging weiter. Unter der Schneehaube sah der Coffeeshop fast malerisch aus.

Peter überholte sie und hielt ihr die Tür auf. Die warme Luft aus dem Inneren strich über ihr Gesicht, und sie atmete tief durch.

Sei nicht albern, befahl Bethany sich streng. Jahre waren vergangen, seit jemand sie so genannt hatte. Sie wusste, dass Peter es nicht abwertend gemeint hatte. Es war einfach nur eine unglückliche Wortwahl gewesen, mehr nicht.

Bis auf einen Gast an einem Tisch beim Tresen war der Coffeeshop leer. Peter wollte eine Nische ansteuern, zügelte sich jedoch rechtzeitig. Vermutlich war es geschickter, Bethany einen Platz aussuchen zu lassen.

„Sie wollen nicht darüber reden“, erriet er.

Sie blieb an einem Tisch in der Mitte stehen und zog die Jacke aus. Nachdem sie sie über die Stuhllehne gehängt hatte, setzte sie sich. „Nein.“

Peter legte seinen Mantel ab und nahm ihr gegenüber Platz, als die Kellnerin erschien. Zufrieden bemerkte er den altmodischen Notizblock in ihrer Hand. In den schickeren Restaurants von Walnut River wurden die Bestellungen bereits elektronisch aufgenommen und an die Küche übermittelt.

Er wartete, bis die junge Frau wieder fort war, und lehnte sich vor. „Na gut. Ich werde Sie nicht bedrängen.“

Bethany wusste, was er damit sagen wollte: Dass er ihren Wunsch höflich und rücksichtsvoll respektierte. Und dass sie ihm hingegen etwas aufzwang, wenn sie mit ihm ausführlich über die Vorzüge einer Übernahme durch NHC diskutieren wollte.

Na ja, auch da liegt er falsch, dachte sie. „Äpfel und Birnen, Peter. Das eine Thema ist persönlich, das andere sehr, sehr öffentlich.“

„Die Behandlung unserer Patienten sollte persönlich sein“, entgegnete er sanft.

In einer perfekten Welt hätte er durchaus recht. Aber so war die Welt leider nicht. Ein kleines Krankenhaus musste jede Chance zur Modernisierung nutzen. NHC bot dem Walnut River General eine einmalige Gelegenheit dazu, die sie sich nicht entgehen lassen durften.

„Das ist eine edle Einstellung“, sagte sie. „Aber leider auch eine unrealistische.“

Er nickte der Kellnerin zu, als sie ihnen zwei Becher Kaffee und die Apfeltasche brachte, zu der er Bethany überredet hatte.

„Das ist sie nur, wenn wir aufgeben und unser Gehalt wichtiger nehmen als die Patienten.“

Der Mann ist ein Idealist, dachte sie. Sympathisch, aber ein wenig naiv. Vielleicht war er einfach betriebsblind und konnte deshalb nicht über den Tellerrand schauen. „Auch die Medizin ist heutzutage hoch spezialisiert“, wandte sie ein.

Peter nahm einen Schluck Kaffee, der etwas bitter schmeckte. „In einem Konzern wie NHC ist jeder Arzt, selbst ein Spezialist, nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Aber ich behandele nicht nur den linken kleinen Finger oder den rechten großen Zeh, ich behandele …“

„Den ganzen Patienten, ich weiß.“ Erschöpft seufzte Bethany auf. „Das sagten Sie bereits. Aber in der Zeit, die Sie für Ihren ganzen Patienten aufwenden, könnten sie drei anderen helfen.“

Er wollte kein Fließbandmediziner werden. Kein Fall war wie der andere. Die Patienten kamen aus den verschiedensten Gründen. Für ihn war jeder von ihnen ein unverwechselbares Individuum. „Oder bei allen drei wichtige Symptome übersehen, weil ich mich beeilen muss.“

Still rührte sie Sahne in ihren Kaffee und sah ihn dabei an. „Nein, das würden Sie nicht.“

Na gut, ich gehe darauf ein und beiße an, dachte er. „Warum nicht?“

„Weil Sie gut sind. Sie sind erfahren.“

Erwischt. Damit hatte sie ihm das passende Argument selbst geliefert. „Die Erfahrung habe ich erworben, indem ich mir immer Zeit für jeden einzelnen Patienten genommen habe.“

Sie drehten sich im Kreis. „Als Ihr Großvater praktiziert hat, konnten Ärzte noch Hausbesuche machen und sich ganz ihren Patienten …“

„Sie haben Nachforschungen über mich angestellt?“, unterbrach er sie erstaunt. Dass schon sein Großvater Arzt gewesen war, hatte er gar nicht erwähnt.

Als ihr klar geworden war, dass Peter Wilder die Übernahme verhindern wollte, hatte sie versucht, möglichst viel über ihn zu erfahren. Bethany wusste gern, mit wem sie es zu tun hatte. Denn sie mochte keine Überraschungen – abgesehen von dem Kuss vielleicht. „Ich bin eben gründlich …“

„Ich auch. Genau das ist mein Punkt“, unterbrach er sie.

Peter Wilder war schnell und scharfsinnig – das musste sie ihm lassen. Aber sie war ebenso schlau, wenn nicht sogar noch schlauer. „Und mein Punkt ist, dass die Medizin in den letzten paar Jahrzehnten enorme Fortschritte und bedeutende Durchbrüche erzielt hat. Plötzlich sind Dinge möglich, von denen Ihr Großvater nicht einmal geträumt hat.“

Er brach ein Stück Apfeltasche ab. Puderzucker rieselte auf seine Finger, bevor er es sich in den Mund steckte. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, worauf sie hinauswollte. „Und Sie behaupten, diese Durchbrüche wären ohne Konzerne wie NHC unmöglich gewesen.“

„Genau.“ Ihre kleine, triumphierende Kopfbewegung entging ihm nicht. Bevor er antworten konnte, hob sie abwehrend eine Hand und fuhr fort: „Ich sage nicht, dass die Medizin vorher noch im Mittelalter steckte. Aber Konzerne wie NHC haben den Entwicklungsprozess deutlich beschleunigt. Sie arbeiten effizienter als kleine Häuser. Daher können sie Forschungsprojekte finanzieren, ihre Kliniken mit den modernsten Geräten ausstatten und …“

„Um diese Geräte auch benutzen zu dürfen, muss der Arzt beim Management betteln – weil ihr Betrieb so teuer ist“, erinnerte er sie. Was den Alltag im Krankenhaus anging, kannte er sich besser aus als sie, auch wenn sie das vielleicht nicht einsah.

Schweigend starrte sie auf den Kuchen in ihrer Hand. Sie konnte ihm nicht guten Gewissens widersprechen, denn er hatte recht. „Manchmal“, gab sie schließlich zu.

„Oft“, entgegnete er und legte eine Hand auf ihre, um sich noch ein kleines Stück von der Apfeltasche abzubrechen.

Verlegen zog sie die Hand zurück. „Hören Sie, ich …“

Peter hatte genug von dieser fruchtlosen Diskussion. Immerhin hatte er einen harten Arbeitstag hinter sich. Im Moment wollte er nur seinen Kaffee trinken und ein paar überflüssige Kalorien mit dieser Frau teilen. Der Frau, die ihn reizte wie keine andere seit langer Zeit.

„Bethany“, begann er leise und schaute ihr tief in die Augen. „Warum schließen wir nicht einfach einen Waffenstillstand und genießen unseren Kaffee?“

Warum machte sein Vorschlag sie nervöser als die Debatte über NHC? Sie versuchte, das vollkommen unangemessene Kribbeln im Bauch zu unterdrücken. „Und worüber sollen wir dabei reden? Das Wetter?“

Lachend schaute er auf den Parkplatz hinaus. Es schneite schon wieder. „Ist doch besser, als draußen zu frieren und Schnee zu schaufeln.“

Sie folgte seinem Blick und stöhnte auf. Allein vom Hinschauen bekam sie kalte Füße. „Na ja, das wird sich wohl nicht vermeiden lassen.“

Aber hier saßen sie warm und trocken. „Sehen Sie alles so pessimistisch?“, fragte Peter.

„Das ist nicht pessimistisch“, widersprach Bethany. „Es ist realistisch.“

Sie ist eine typische Überfliegerin, dachte er. Gewohnt, das Kommando zu haben. Aber irgendwann hatte sie vergessen, worauf sie so ehrgeizig hingearbeitet hatte. Die Karriere war für sie zum Selbstzweck geworden. Ihr fehlte das klare Ziel.

Nachdenklich musterte er sie über den Becher hinweg. „Ich wette, Sie hatten in der Schule nur glatte Einsen.“

Wie kam er denn jetzt darauf? „Das hat zwar nichts mit unserer Diskussion zu tun, aber ja, die hatte ich.“

Das hat sogar sehr viel damit zu tun, dachte Peter. Es verriet ihm, was für ein Mensch sie war. Zielstrebig. Unnachgiebig. Und vermutlich äußerst streng zu sich selbst. „Ihre Eltern müssen sehr stolz auf Sie gewesen sein.“

Sie schnaubte verächtlich. „Falls sie es waren, haben sie es sich nicht anmerken lassen.“ Als sie das plötzliche Interesse in seinen Augen registrierte, ärgerte sie sich über ihre Offenheit. Warum war ihr das herausgerutscht? Sie musste wachsamer sein.

„Weil sie zu beschäftigt waren?“, fragte er.

Der verständnisvolle Tonfall in seiner Stimme passte ihr gar nicht. Sie wollte sein Mitleid nicht. Sie hatte es auch allein geschafft. Erfolgreiche Menschen brauchten kein Mitgefühl.

„Sie hatten … haben Berufe in einflussreichen Positionen. So was nimmt viel Zeit in Anspruch“, erklärte sie. Warum versuchte sie, ihre Eltern zu entschuldigen? „Meine Schwester und ich haben die beste Ausbildung bekommen, ein wunderschönes Penthouse, alles, was wir uns nur wünschen konnten. Unsere Eltern haben versucht, uns ein qualitativ hochwertiges Leben zu bieten.“ Was für eine seltsame Formulierung, schoss es ihr durch den Kopf.

Peter las zwischen den Zeilen. Ihre Geschichte war keineswegs ungewöhnlich. „Aber dafür haben sie die Quantität vernachlässigt, nicht wahr?“, erriet er.

Als er beobachtete, wie sie die Schultern straffte, fragte er sich, ob sie es bewusst tat.

„Wir hatten alles, was wir brauchten“, verkündete sie stolz.

„Auch Gutenachtgeschichten?“

Verblüfft starrte sie ihn an. Sie musste sich verhört haben. „Wie bitte?“

„Gutenachtgeschichten“, wiederholte Peter, brach das nächste Stück vom immer kleiner werdenden Kuchen ab und schob ihr den Teller zu. „Haben Ihre Eltern Ihnen und Ihrer Schwester vor dem Einschlafen etwas vorgelesen?“

„Nein.“ Die beiden waren damals selten zu Hause bei ihren kleinen Töchtern gewesen. „Ich brauchte keine Gutenachtgeschichten“, informierte sie ihn und aß den letzten Bissen.

„Jedes Kind braucht welche“, erwiderte er mit sanftem Nachdruck.

Bethany seufzte. Er gab ihr das Gefühl, etwas Wichtiges versäumt zu haben. Das gefiel ihr nicht. „Ist es das, was Sie wollen, Peter?“, entgegnete sie sarkastisch. „Ihren Patienten Gutenachtgeschichten vorlesen?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht nötig. Wir verstehen uns auch so.“ Er säuberte seine Finger mit einer Serviette. „Sehen Sie sie oft?“

Langsam fiel es ihr schwer, seinen Gedankengängen zu folgen. „Wen?“

„Ihre Schwester.“

„Belinda? Nein. Nicht oft.“ Ganz sicher hatte sie nicht vor, sich von Peter Wilder analysieren zu lassen. Um seinen Versuch im Keim zu ersticken, fuhr sie fort: „Sie lebt in London. Seit drei Jahren. Sie hat einen tollen Job bei einer internationalen Bank.“ Und unsere Eltern sind sehr stolz auf sie, fügte sie in Gedanken hinzu. Belinda war älter als sie und hatte dadurch einen Vorsprung. In allem, was Bethany leistete, musste sie mehr erreichen, besser sein als Belinda – sonst zählte es nicht.

Aber damit habe ich mich abgefunden, sagte sie sich. Stimmt doch, oder?

„Ihre Schwester hat also auch Betriebswirtschaft studiert?“

„In Yale.“ Das Studium in Yale war besonders anspruchsvoll. Somit übertraf Belindas Abschluss ihren eigenen. Daran musste sie jedes Mal denken, wenn sie jemandem von ihrer Schwester erzählte. Frustriert funkelte sie Peter an. „Sie klingen, als wäre ein Examen in Betriebswirtschaft so etwas wie eine Krankheit.“

Das hat sie jetzt selbst gesagt, dachte er und unterdrückte ein Lächeln. „Nur wenn es einem die Menschlichkeit nimmt“, erwiderte er gelassen.

Heftig schüttelte Bethany den Kopf. „Sagen Sie mal, lassen Sie den Heiligenschein abends im Büro oder nehmen Sie ihn zum Polieren mit nach Hause?“, konterte sie.

Nicht schlecht. Angriff ist nun mal die beste Verteidigung, fiel ihm ein.

Wie aufs Stichwort läutete das Handy des einzigen anderen Gastes. Der Pausengong. „Ich denke, jeder von uns sollte wieder in seine Ecke gehen“, erklärte Peter lächelnd.

Er hatte recht. Das hier war wirklich wie ein kleiner Boxkampf. Und daran war vermutlich sie schuld. Von allein hätte er bestimmt keine Diskussion über NHC angefangen.

Und es sah nicht so aus, als würde das Gespräch zu irgendetwas führen. Sie war müde und wahrlich nicht in Bestform. „Warum brechen wir nicht für heute Abend ab?“, schlug sie vor.

Dazu war er nur zu gern bereit. „Gute Idee. Ich würde viel lieber über Sie reden.“

Ganz sicher nicht. „Und ich würde viel lieber ins Bett gehen.“ Kaum waren die Worte heraus, bereute sie sie auch schon – eine Sekunde, bevor ihre Wangen sich dunkelrot färbten.

„In mein Bett, meine ich.“ Das hört sich noch immer wie eine Einladung an, dachte sie verlegen. „Allein. Um zu schlafen“, ergänzte sie fast verzweifelt.

Lachend kam er ihr zu Hilfe. „Entspannen Sie sich, Bethany. Ich habe es nicht als Einladung verstanden.“

Beruhigt atmete sie auf. Doch neben der Erleichterung spürte sie noch ein anderes Gefühl. Ein kleiner Teil von ihr – ein sehr kleiner, schränkte sie rasch ein – war gekränkt. Die Erinnerung daran, wie sich in der Grundschule und auf der Junior High alle über sie lustig gemacht hatten, stieg in ihr auf. Und zwar mit einer solchen Macht, dass es ihr beinahe den Atem verschlug.

Wollte er sie kränken? Nachdem er sie geküsst hatte? Oder gerade weil er sie geküsst hatte?

„Warum nicht?“, fragte sie unverblümt. „Finden Sie mich so unattraktiv?“

Verwirrt schaute er sie an. „Haben Sie keinen Spiegel? Falls doch, sollten Sie häufiger hineinsehen. Wenn jemand mich aus meinem Dasein als Workaholic befreien könnte, dann Sie …“ Er zögerte. „Vorausgesetzt, Sie versprechen mir, nicht mitten in einer heißen Umarmung eine Diskussion über Gesundheitspolitik anzuzetteln.“

Verärgert und zugleich erfreut, wusste Bethany nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie wollte ihn nicht ermutigen. Aber wenn sie ehrlich war, wollte sie ihn auch nicht entmutigen.

Ihr fehlten die Worte. Sie hatte keine Übung, keine Erfahrung. Für sie war ein Flirt – oder was immer das hier war – unbekanntes Territorium.

Erneut half Peter ihr aus der Verlegenheit. „Ich finde, wir sollten für heute Schluss machen.“

„Ja, ich auch“, sagte sie dankbar.

Er lächelte und tat so, als würde er nicht bemerken, wie erleichtert sie war. „Dann sind wir uns in wenigstens einer Hinsicht einig. Das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht kann ich Sie ja doch noch auf meine Seite ziehen.“

Dasselbe versuchte sie seit Tagen bei ihm. Und zwar so hartnäckig, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, er könnte es umgekehrt ebenfalls versuchen. Dieser Abend ließ alles in einem etwas anderen Licht erscheinen. Im Grunde erschien alles noch ein wenig komplizierter.

„Machen Sie sich keine Hoffnungen“, entgegnete Bethany.

„Oh, ich bin ein optimistischer Mensch.“

„Und ich …“

Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als draußen plötzlich Reifen quietschten. Sekunden später gab es einen lauten Knall.

Peter sprang auf.

Bethany sah ihm nach, als er ohne seinen Mantel zur Tür rannte. Als er sie aufriss, drang die kalte Luft in den Coffeeshop.

„Peter, warten Sie!“, rief sie. „Sie haben Ihren Mantel vergessen.“

Aber die Tür schloss sich schon hinter ihm. Bethany blieb in der Wärme zurück, während er den frostigen Temperaturen trotzte, ohne an seine Gesundheit zu denken.

Hastig zog sie ihre Jacke an, schnappte sich seinen Mantel und folgte ihm.

Die eisige Kälte traf sie wie eine Wand, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.

Der Unfall war nicht weit entfernt passiert. Der Wagen, dessen Reifenquietschen sie gehört hatten, war mit voller Wucht gegen einen Strommast geprallt. Beim Zusammenstoß war die Karosserie zu zwei Dritteln praktisch aufgefaltet worden. Das Metall war derart verformt, dass das Fahrzeug einer bizarren Ziehharmonika glich. Zum Glück für den Fahrer hatte das Auto sich vorher gedreht und den Mast mit dem Heck voran gerammt.

Bei einem Frontalzusammenstoß hätte der Teenager nicht die geringste Chance gehabt.

Als Bethany den Unfallort erreichte, hatte Peter das Opfer bereits aus dem Wrack befreit.

Die Windschutzscheibe war geborsten, genau wie eine Seitenscheibe. Ohne den Blick von dem Jugendlichen zu nehmen, zeigte Peter warnend auf die messerscharfen Kanten.

„Rufen Sie 911!“, befahl er.

Unverzüglich holte sie das Handy aus der Jacke. „Sie haben Ihren Mantel vergessen“, sagte sie und reichte ihn Peter, bevor sie die Nummer wählte.

Die Notrufzentrale meldete sich sofort.

Während Bethany schilderte, was passiert war, beobachtete sie Peter. Gerade wollte er seinen Mantel um den Verletzten legen, um ihn warm zu halten.

Doch vorher riss er noch einen Streifen Stoff aus dem Futter.

„Was tun Sie da?“, rief sie.

„Ich muss die Blutung stoppen.“

„Mit dem Mantelfutter?“, fragte sie ungläubig.

„Nicht sehr hygienisch, aber außer meinem Hemd habe ich sonst nichts.“ Er band dem jungen Mann den Arm ab und spürte Bethanys skeptischen Blick. „Was ist?“

„Ist Ihnen denn nicht klar, dass er Sie verklagen kann, wenn etwas schiefgeht? Er oder seine Eltern?“

Peter schüttelte den Kopf. An so etwas konnte er jetzt nicht denken. Er war Arzt und kein Anwalt. „Ehrlich gesagt, nein“, gab er freimütig zu. „Dafür habe ich Leute wie Sie.“

9. KAPITEL

Keine zehn Minuten nach Bethanys Anruf trafen Polizei und Rettungswagen am Unfallort ein.

Den Sanitätern gab Peter die notwendigen Informationen. Dem jungen Streifenbeamten, der offenbar frisch von der Polizeiakademie kam, konnte er jedoch nicht viel erzählen. Er hatte den Unfall nicht gesehen und kannte das noch immer bewusstlose Opfer nicht.

„Gute Arbeit, Doc“, lobte ihn einer der Sanitäter. „Wenn Sie die Blutung nicht gestoppt hätten, wären wir zu spät gekommen.“ So vorsichtig wie möglich hoben er und sein Kollege den Teenager auf die Trage.

Mit einer abwehrenden Geste trat Peter zur Seite. Leben zu retten war ihm inzwischen zur zweiten Natur geworden und nicht der Rede wert. Er deutete zum Parkplatz hinüber. „Ich hole meinen Wagen und folge Ihnen“, sagte er und bückte sich, um seinen blutverschmierten Mantel aufzuheben.

„Bis gleich.“ Der Sanitäter schloss die Hecktür des Rettungswagens und stieg vorn ein.

Bethany sah Peter an. „Sie fahren zum Krankenhaus zurück?“

Nachdem er den Schnee vom Mantel abgeklopft hatte, zog er ihn an. Warum klang sie so erstaunt? „Ja.“

Sie wollte ihn davon abhalten. Sein Dienst war vorbei, und er war schließlich kein Roboter. „Aber in der Notaufnahme wird man sich schon um ihn kümmern.“

Doch Peter schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle, welcher Kollege Dienst hatte. Seit er den Arm provisorisch abgebunden hatte, war der Teenager sein Patient. „Ich habe das hier angefangen, und deshalb bringe ich es auch zu Ende.“

Bethany staunte darüber, dass er seine knapp bemessene Freizeit einem Wildfremden opferte. Verblüfft sah sie ihn an. Alles, was er gesagt hatte, war sein Ernst gewesen – nicht nur ein Lippenbekenntnis, um sie zu überzeugen. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie beeindruckt war.

„Es stimmt, was die Leute sagen, was? Sie sind wirklich mit Leib und Seele Arzt.“

Peter zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, was die Leute sagen.“ Er tat einfach nur, was richtig war. Was andere davon hielten, spielte für ihn keine Rolle. „Also kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben.“

Zu seiner Überraschung stellte Bethany sich vor ihn, versperrte ihm den Weg zum Wagen und begann, seinen Mantel aufzuknöpfen. „Was tun Sie da?“, entfuhr es ihm.

„Sie haben falsch geknöpft“, erklärte sie und schob die Knöpfe durch die richtigen Löcher. „Nicht, dass es wichtig ist. Sie sehen trotzdem aus wie ein Obdachloser.“ Kopfschüttelnd betrachtete sie ihn. Der Mantel war hinüber. „Das Blut werden Sie nicht herausbekommen.“

Als er an sich herabschaute, musste er ihr recht geben. „Das ist ein geringer Preis für ein gerettetes Menschenleben.“

Auch das hörte sich an, als entspräche es seiner tiefsten Überzeugung. Vergeblich versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr Vater so etwas sagte. Ihre Eltern besaßen vollkommen andere Wertmaßstäbe als Peter Wilder. Die Welt, in der er lebte, hatte plötzlich etwas ungemein Faszinierendes.

Genau wie er selbst.

Der Gedanke kam ungebeten und so überraschend, dass sie zusammenzuckte.

Vielleicht war sie ja unterkühlt und halluzinierte bereits. Seit er sie geküsst hatte, wusste sie nicht mehr recht, was sie glauben sollte. So verunsichert war sie schon lange nicht mehr gewesen.

Peter zögerte. „Kommen Sie allein nach Hause?“ Notfalls würde er ihr folgen, bevor er ins Krankenhaus fuhr.

Was für eine seltsame Frage, dachte sie. Er war wirklich der ritterlichste Mann, dem sie je begegnet war.

„Natürlich“, erwiderte sie. „Unseren Kaffee können wir also vergessen, was?“, fragte sie spontan.

Auf dem Weg zu seinem Wagen drehte er sich noch einmal um und sah sie an. Plötzlich fiel es ihm schwer, sich von ihr zu trennen. Dabei hatten sie miteinander nur Kaffee getrunken – es war kein richtiges Date gewesen. Nicht mal die Vorstufe für eine Verabredung.

Aber das hätte es sein können.

Und dann gab er einem Impuls nach. „Diese Spendengala, die Henry organisiert. Die, um Spenden für den neuen Tomografen …“

Bethany hob das Kinn. Als ob sie ohne seine Erklärung nicht wüsste, wofür Henry Spenden sammeln wollte! Er schien ihr nicht besonders viel zuzutrauen. Als Effizienzexpertin wusste sie über alles Bescheid, was im Krankenhaus geschah. Vielleicht sogar besser als er. In ihrem Beruf durfte ihr nichts entgehen, wenn sie ihn richtig machen wollte.

„Was ist damit?“, fragte sie scharf.

„Gehen Sie hin?“

Warum wollte er das wissen? „Ja.“

Wieder zögerte er. Vielleicht wäre es besser, die nächste Frage für sich zu behalten. Aber der innere Impuls wurde stärker. „Haben Sie eine Begleitung?“, hörte er sich fragen.

„Nein.“ Das war die ehrliche Antwort, aber gleich darauf machte sie einen Rückzieher. „Ich meine …“ Jetzt müsste sie einen Namen aus dem Hut zaubern, um nicht als die Einzelgängerin zu erscheinen, die sie war. Sie fühlte, wie ihre Lippen sich bewegten, und begriff nicht, warum sie ihre erste Antwort wiederholte. „Nein.“

Mit der nächsten Frage rechnete sie am allerwenigsten.

„Wenn Sie mit niemandem hingehen, hätten Sie etwas dagegen, mich zu begleiten?“

Sie brauchte einen Moment, um sich von ihrer Verblüffung zu erholen. „Nein, dagegen hätte ich nichts.“ Wie von selbst hoben sich ihre Mundwinkel. „Wollen Sie etwa mit mir ausgehen, Dr. Wilder … Peter?“

Er lächelte. „Ja, es sieht ganz danach aus.“

Sag Ja. Was hast du zu verlieren? Sie holte tief Luft. „Na gut.“

„Na gut?“, wiederholte er erstaunt und fragte sich, wie er die Antwort deuten sollte. Wollte sie nun mit ihm ausgehen oder nicht? Wenn es eine Frau gab, für die man eine Bedienungsanleitung brauchte, dann war es sicherlich diese.

„Na gut, ich gehe mit Ihnen zu der Veranstaltung. Wir gehen ja sowieso beide hin“, ergänzte sie vorsichtshalber. „Wir können einen Wagen nehmen. Dann sparen wir Benzin …“

„Bethany.“

Sie sah ihm in die Augen. „Ja?“

„Sie müssen Ihre Entscheidung nicht vor mir rechtfertigen.“

„Das tue ich nicht“, widersprach sie und starrte auf ihre Schuhe. „Ich rechtfertige sie vor mir selbst.“

„Oh.“ Er stieg ein und startete den Motor. „Wir sehen uns morgen“, rief er, bevor er die Wagentür schloss und davonfuhr.

Nachdenklich sah sie ihm nach. War das nur eine beiläufige Floskel gewesen oder wollte er sie tatsächlich morgen sehen? Schließlich begegneten sie einander so gut wie nie – wenn sie ihn nicht gerade aufsuchte oder sie bei den Sitzungen des Verwaltungsrats nebeneinandersaßen.

Ihr Körper kribbelte, als sie sich abwandte. Vor Kälte oder Vorfreude? Sie war nicht sicher, hoffte jedoch, dass sie nur fror.

Auf dem Weg zum Wagen überlegte sie, dass sie jetzt vor allem einen klaren Kopf brauchte.

Doch die Chancen darauf standen schlecht, zumal Peter Wilder sie geküsst hatte.

Er hatte sie geküsst!

Bei dem Gedanken wurde ihr warm. So warm, dass sie einen Moment lang reglos im Wagen saß und in der Erinnerung daran schwelgte.

Bis sie sich plötzlich ihrer Gefühle schämte. Sie war bemitleidenswert. Die meisten Frauen ihres Alters träumten von den Liebhabern, die sie gehabt hatten. Nicht von einem einzelnen Kuss, mochte er auch noch so erregend gewesen sein.

Hör auf damit!

Bethany startete den Wagen und fuhr zu der Wohnsiedlung, in der sie lebte. Was ich jetzt brauche, sagte sie sich, sind eine heiße Suppe und irgendeine Fernsehsendung zur Ablenkung.

Nein, das ist nicht das, was du jetzt brauchst, widersprach eine innere Stimme.

Vielleicht nicht, entgegnete sie und mahnte sich, vernünftig zu sein. Mehr als eine heiße Suppe und Fernsehen würde sie sich nicht erlauben.

Peter betrat das Haus und schaltete das Licht ein. Auf der kleinen Matte stampfte er den Schnee von seinen Schuhen.

Es war ein langer Abend gewesen. Zwei Stunden hatte er bei dem Teenager in der Notaufnahme verbracht. Doch mittlerweile konnte er sicher sein, dass Matthew Sayers wieder auf die Beine kommen würde. Die Eltern, die nach dem Anruf der Polizei sofort ins Krankenhaus geeilt waren, würden ihrem Sohn nun beistehen. Unter Tränen hatten sie sich bei Peter dafür bedankt, dass er ihrem Jungen das Leben gerettet hatte.

Wie sich zeigte, waren die Sayers durchaus wohlhabend. Matthews Vater war Topmanager in einem Zeitschriftenverlag, die Mutter stammte aus einer reichen Familie. Neben dem kürzlich erworbenen Haus in Walnut River besaßen sie ein Apartment in Manhattan. Die beiden hatten darauf bestanden, ihre Anerkennung nicht nur mit Worten auszudrücken.

Mehrfach hatten sie ihn auffordern müssen. Doch schließlich hatte Peter nachgegeben und einen konkreten Vorschlag gemacht. Auf diese Weise hatte das Walnut River General die erste Spende für den neuen Tomografen erhalten.

Peter war mit sich zufrieden. Alles in allem war es ein äußerst produktiver Abend gewesen: Er hatte ein Menschenleben gerettet, und die Klinik war dem Gerät ein ganzes Stück näher.

Außerdem hatte er einen Engel geküsst.

Er musste lächeln. Obwohl es bereits einige Stunden her und inzwischen viel geschehen war, spürte er ihre Lippen noch auf seinen und schmeckte die frischen Erdbeeren.

Plötzlich flackerte über ihm die Deckenleuchte. Für einen Moment wurde das Licht schwächer, dann schien es wieder so hell wie zuvor.

Der Sturm, dachte er.

Draußen heulte der Wind, und es schneite immer stärker. Das ideale Wetter für einen Stromausfall. Es konnte nicht schaden, eine Taschenlampe zur Hand zu haben. Im untersten Regal seiner spartanisch ausgestatteten Speisekammer bewahrte er gleich zwei auf. Auf dem Weg dorthin zog Peter den Mantel aus und warf ihn auf die Couch.

Bethany hatte recht. Der Mantel sah aus wie der eines Obdachlosen. Er würde einen neuen kaufen müssen. Schließlich sollte die Frau sich nicht mit ihm blamieren.

Warum um alles in der Welt zerbrach er sich darüber den Kopf? Seine Gedanken schienen eine Eigendynamik zu entwickeln, die ihm immer weniger gefiel. Hastig verdrängte er die Fragen und die Empfindungen, die der bloße Gedanke an Bethany in ihm auslöste. Er hatte nicht vor, sich mit irgendjemandem einzulassen, erst recht nicht emotional. Im Moment war er zu müde und aufgedreht zugleich, um sein Leben noch komplizierter zu machen.

Als er weiterging, fiel sein Blick auf den Umschlag, der auf dem Kaminsims lag. Den Umschlag mit der Handschrift seines Vaters.

Den er noch immer nicht geöffnet hatte.

Ich hatte keine Zeit dazu, dachte er.

Stimmte das? War das der einzige Grund? Oder war er feige? Hatte er Angst vor dem, was darin stand?

Angst? Er verwarf diese Möglichkeit.

Lächerlich. Er war erwachsen, ein erfahrener Arzt. Er hatte viele schwierige Operationen gemeistert. Er hatte einer Frau beibringen müssen, dass ihr Mann verstorben war. Er hatte den Mut aufbringen müssen, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Er war nicht ängstlich.

Aber warum trat ihm jetzt der Schweiß auf die Stirn, wenn er an einen Umschlag dachte?

Wovor fürchtete er sich?

Und dann wusste er es. Der Brief könnte ihm zeigen, dass sein Vater kein Heiliger gewesen war. Er wollte nicht herausfinden, dass James Wilder ein ganz normaler Mensch mit Fehlern und Schwächen gewesen war.

Unsinn. Hör auf, es hinauszuschieben, Wilder.

Entschlossen ging er in die Küche und öffnete die Tür zur Speisekammer. Die Taschenlampen waren dort, wo er sie deponiert hatte. Sonst enthielt sie nicht viel. Eine Schachtel Streichhölzer, Servietten, Salz, Pfeffer, Zucker und eine angebrochene Schachtel Cornflakes.

Nachdem er die größere der beiden Lampen herausgenommen hatte, checkte er, ob sie funktionierte. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück.

Er stellte die Taschenlampe auf den Kaminsims und griff nach dem Umschlag. Zunächst atmete er tief ein und aus, dann öffnete er ihn. Seine Finger fühlten sich eiskalt an.

Zum Vorschein kamen ein Brief und ein zweiter, dünnerer Umschlag für Anna.

War das hier ein Spiel? Wie bei den bunt bemalten russischen Puppen? Machte man eine auf, kam darin die nächstkleinere zum Vorschein, und das wiederholte sich, bis man sechs oder mehr hatte.

Gab es auch hier noch andere, kleinere Umschläge, adressiert an David und Ella? War dies ein makabrer Scherz?

Bevor er zu lesen begann, ließ Peter sich auf die Armlehne der Couch sinken. Unwillkürlich ging sein Atem schneller, und er holte tief Luft.

Der Brief war handgeschrieben und nicht leicht zu entziffern. Die Schrift seines Vater war manchmal eine echte Herausforderung gewesen.

An meinen Sohn Peter,

von Deinem ersten Atemzug an habe ich in Dir immer meinen Nachfolger gesehen. Nicht nur im Krankenhaus, auch in der Familie. Ich bin sehr stolz auf den Mann, zu dem Du Dich entwickelt hast. Du bist so viel mehr, als ich je war oder zu sein hoffte.

Peter runzelte die Stirn. Was sollte das bedeuten? Seine Nervosität wuchs, und er musste sich zwingen weiterzulesen.

Ich will Dich hiermit nicht belasten. Aber Du bist der Einzige, den ich um diese Entscheidung bitten kann. Du bist der Einzige, dem ich dieses Geheimnis anvertrauen kann.

Du wirst bemerkt haben, dass es einen zweiten Brief gibt, der an Anna adressiert ist. Ich überlasse es Dir, ob sie davon erfahren soll oder nicht. Vielleicht fragst Du Dich, was ich meine. Aber vielleicht ahnst Du es auch längst, denn Du warst immer sehr klug und einfühlsam. Deine Mutter hat es stets vermutet, hat mich jedoch nie danach gefragt. Ich glaube, sie hatte Angst vor der Wahrheit.

Anna ist nicht adoptiert, sie ist Deine Halbschwester. Ihre Mutter hat als Krankenschwester in der Notaufnahme gearbeitet. Als Deine Mutter und ich eine schwere Zeit durchmachten, war sie sehr freundlich zu mir und hat sich um mich gekümmert. Du warst damals neun, daher erinnerst Du Dich wahrscheinlich nicht daran. Damals hat Deine Mutter unter Depressionen gelitten und sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Dem Himmel sei Dank, dass sie später aus dieser Welt zu uns zurückkehrte. Aber bevor sie das tat, war es für uns beide schrecklich.

Ich hatte meine Arbeit und Euch Jungs. Trotzdem fühlte ich mich einsam. In einem Moment der Schwäche gab ich nach und ließ mich von einer anderen Frau trösten. Anna ist das Ergebnis dieser kurzen Beziehung. Ihre Mutter Monica konnte ihr jedoch nicht das geben, was sie brauchte, und wollte Anna zur Adoption freigeben. Doch wir beschlossen, dass sie das Baby am Eingang des Krankenhauses ablegen und ich es dort „finden“ sollte.

Nicht lange danach starb Monica bei einem Flugzeugabsturz. Ich habe daran gedacht, dieses Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Doch ein Teil von mir will, dass Anna die Wahrheit erfährt. Sie war immer und in jeder Hinsicht meine Tochter – und Deine Schwester. Aber wenn Du meinst, dass sie es besser nicht wissen sollte, verbrenne diesen Brief und auch den Umschlag an sie.

Bitte denke nicht schlecht von mir, weil ich Deine Mutter betrogen habe. Ich bin noch immer Euer Vater und liebe jeden von Euch – und Eure verstorbene Mutter – von ganzem Herzen.

Verzeih mir,

Dein Dich liebender Vater James.

Reglos saß Peter da und starrte auf den Brief in seinen Händen. Sein Verstand war wie betäubt. Sehr lange konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

10. KAPITEL

Peter war nicht sicher, wie lange er auf der Couch gesessen hatte. Irgendwann schaffte er es, sich zu erheben. Mit dem bitteren Geschmack des Verrats auf der Zunge steckte er seinen Brief und den an Anna wieder in den größeren Umschlag.

Er atmete tief durch und spürte, wie die unterschiedlichsten Emotionen in ihm aufstiegen. Am intensivsten war die Enttäuschung, in die sich allmählich Verwirrung mischte.

Hätte er den Brief doch nie gelesen, sich diese Last nie aufgebürdet!

Diesen Verlust.

Denn genau das war es – ein Verlust. Das Geständnis seines Vaters hatte ihm das Bild genommen, das er sich bis zu diesem Abend von ihm gemacht hatte.

Natürlich hatte er gewusst, dass der Mann ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war. Natürlich hatte er gewusst, dass sein Vater Fehler begangen hatte wie alle anderen auch. Aber er hatte immer angenommen, dass es bei diesen Fehlern ausschließlich um Patienten ging. Fehler, wie eine besonders seltene Krankheit nicht zu erkennen.

Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er geglaubt, dass sein Vater zu einem privaten Fehltritt fähig gewesen wäre. Er hätte auf einen ganzen Stapel Bibeln geschworen, dass sein Vater seine Mutter niemals hintergangen, seine Familie niemals verraten hatte.

Aber James Wilder hatte seine Frau betrogen. Und in gewisser Weise auch Anna.

Nein – uns alle, dachte Peter und wehrte sich gegen den Schmerz.

Das hier bewies, dass sein Vater eine andere Seite gehabt hatte. Eine menschlichere, als sein Sohn jemals geahnt hätte. Gab es am Ende noch andere finstere Geheimnisse, die er mit ins Grab genommen hatte?

Peter tat sein Bestes, um das Vermächtnis seines Vaters zu bewahren. Dabei war alles nur ein großer Schwindel. Hinter der Fassade verbarg sich ein Mensch – keineswegs der Heilige, für den alle ihn noch heute hielten.

Ein Mensch, den er möglicherweise gar nicht gekannt hatte.

Vielleicht hätte sein Vater überhaupt nichts dagegen gehabt, dass NHC sein Krankenhaus schluckte und ihm die Last der Verantwortung abnahm.

Vielleicht …

Nein. James Wilders Affäre und sein außereheliches Kind hatten nichts mit dem Walnut River General zu tun. Und sie änderten auch nichts an Peters eigener Überzeugung: Ein riesiger, seelenloser Konzern bedeutete nichts Gutes für das kleine Krankenhaus.

Seufzend stand er auf. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt.

Peter legte den Umschlag wieder auf den Kaminsims und wünschte, er hätte ihn nicht geöffnet. Aber selbst wenn er die Briefe an ihn und Anna ins Feuer warf – nie könnte er vergessen, was er gerade gelesen hatte.

„Du hättest es mir nicht erzählen sollen, Dad“, flüsterte er.

Doch jetzt ergab so manches einen Sinn. Jetzt wurde ihm klar, warum sein Vater Anna immer anders behandelt hatte. Warum James Wilder mit ihr mehr Zeit als mit dem Rest von ihnen verbracht hatte.

Er hatte es nicht getan, weil er sie für ihre Außenseiterrolle entschädigen wollte. Er hatte es getan, weil ihre Existenz ihm ein schlechtes Gewissen bereitete. Er hatte sich dafür geschämt, dass er ihr nicht sagen durfte, dass sie seine leibliche Tochter war. Dass er sie in dem falschen Glauben lassen musste, ausgesetzt worden zu sein. Natürlich hätte er sie zur Adoption freigeben können. Aber er hatte sie in seine eigene Familie aufgenommen – und mit ihr das Geheimnis, das sie beide verband.

Peter war versucht, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Es wäre der einfachste Weg, denn das hier betraf nicht nur Anna. Wenn er Anna den Brief gab, mussten auch David und Ella davon erfahren. Sie mussten wissen, dass die Konstellation in der Familie sich grundlegend verändert hatte.

Nein, dachte er auf dem Weg nach oben, Anna muss selbst entscheiden, ob sie es ihnen erzählt. Er lachte bitter. Wer hätte gedacht, dass er sich jemals mit Anna gegen seine Geschwister verbünden würde?

Er schüttelte den Kopf. Nein, das stimmte nicht mehr, oder? Auch Anna war seine Schwester.

Seine richtige Schwester.

Das erklärte, warum sie die Augen seines Vaters zu haben schien. Es waren die Augen seines Vaters.

Und dabei hatte er geglaubt, dass Leben hielt keine Überraschungen mehr bereit.

Der Brief lag nicht mehr auf dem Kaminsims.

Früh am Morgen war Peter aufgestanden, um ihn in seinem Arbeitszimmer zu verstecken. Bis er sich entschieden hatte, was er damit tun wollte, sollte der dicke Umschlag in der mittleren Schublade vom Schreibtisch bleiben.

In der Zwischenzeit musste er sich weiterhin um seine Patienten kümmern. Er war und blieb – jedenfalls vorläufig – der Chefarzt. Und er musste den Verwaltungsrat dazu bringen, die Übernahme durch NHC abzuwehren.

Ende des Monats würde ein Abgesandter des Konzerns nach Walnut River kommen, um die Klinik unter die Lupe zu nehmen. Angeblich wollte er die Arbeitsmethoden vor Ort begutachten. Wahrscheinlicher war es allerdings, dass er sie mit Versprechungen ködern wollte.

Dabei konnte Peter sich nicht strikt gegen den Besuch des NHC-Managers aussprechen: Der Verwaltungsrat würde annehmen, dass er Angst vor den möglichen Veränderungen hatte. Davor, dass das Walnut River General den Anforderungen der modernen Medizin nicht gewachsen sein könnte. Dass das Krankenhaus im Vergleich mit anderen NHC-Kliniken schlecht abschneiden könnte.

Keine Frage, im Moment hatte er viel zu tun. Zu viel, um sich mit Familiengeheimnissen zu beschäftigen.

Aber das Wissen über seinen Vater und Anna lastete schwer auf ihm. Einigen Patienten und auch seiner Sekretärin Eva entging es nicht, dass er noch ernster war als sonst. Alle schrieben es der Trauer um James Wilder zu.

Peter ließ sie in dem Glauben. Dieses Problem war viel zu privat, um darüber zu reden. Der Vormittag erschien ihm endlos, bis er um halb eins endlich mit dem letzten Patienten fertig war. Eva schnappte sich ihre Handtasche, um in der Cafeteria zu Mittag zu essen.

„Soll ich Ihnen etwas mitbringen?“, fragte sie auf dem Weg zur Tür.

„Nein, danke. Ich habe alles“, schwindelte Peter. Seit gestern Abend war ihm der Appetit gründlich vergangen. Essen war das Letzte, woran er im Moment dachte.

„Na gut. Ich bin bald zurück“, versprach sie und verschwand.

Die Tür zum Vorzimmer schloss sich. Peter konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, die sich auf dem Schreibtisch angesammelt hatte. Er musste noch mehrere Krankenakten durchgehen, bevor er sie unterschrieb und ablegte.

Noch etwas, das NHC abschaffen würde, dachte er. Der Konzern würde auch hier das papierlose Büro einführen. Sämtliche Daten gäbe es nur noch im Computer, auf irgendeinem anonymen Server in einem anderen Bundesstaat.

Und wenn der ausfiel? Oder der Strom? Was dann? Wie würde man an die dringend benötigten Informationen kommen?

Mir ist das gute alte Papier lieber, dachte er und schlug den ersten Hefter auf.

Er begann zu lesen, und Sekunden später war er in die Akte – und die Geschichte des Patienten – vertieft.

So sehr, dass er das Klopfen überhörte. Als Bethany sein Zimmer betrat, zuckte er zusammen. Innerlich stöhnte er auf. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre er froh gewesen, sie zu sehen. Aber im Moment hatte er wenig Lust auf einen Lobgesang auf NHC.

„Ich habe zu tun“, sagte er scharf und schaute ungeduldig wieder in die Akte.

„Ich werde Sie nicht lange davon abhalten“, versprach sie. „Ich bin nur gekommen, um Ihnen das hier zu geben.“

Neugierig hob er den Kopf und sah, wie sie eine mit einer leuchtend roten Schleife verzierte Flasche Wein vor ihn hinstellte.

Sein Blick fiel auf das Etikett. Er kannte sich mit Wein gut genug aus, um zu wissen, dass dies kein preiswerter Tropfen aus einem Supermarkt war. Nach dem hier musste man schon eine Weile suchen.

Warum hatte sie sich so viel Mühe gemacht? Sie wollte ihn doch wohl nicht damit bestechen? Peter lehnte sich zurück und schaute ihr ins Gesicht. „Was ist das?“

Ihr Gerechtigkeitssinn war stark. Trotzdem fielen ihr die Worte nicht leicht. „Eine Entschuldigung.“

Damit hatte er am allerwenigsten gerechnet. Zumal er nicht ganz sicher war, wovon sie sprach. „Wofür?“

Bethany holte tief Luft, bevor sie antwortete. Die Sache war ein wenig schwierig, aber er hatte sie gestern Abend tief beeindruckt. „Dafür, dass ich Sie für einen arroganten Kerl gehalten habe, der nicht über den Tellerrand seines eigenen Egos schauen kann.“

Anstatt gekränkt zu sein, lachte er. Wenigstens war sie ehrlich. Und nach der Überraschung, die er gerade erlebt hatte, tat Ehrlichkeit gut. „Ich dachte, Sie haben gesagt, ich sei ein Heiliger.“

Dass er es so locker nahm, erleichterte sie. „Nein, ich habe gesagt, andere Leute halten Sie für einen Heiligen. Ich hatte den Verdacht, dass Sie das Image gezielt für Ihre Zwecke einsetzen.“

Er nahm es ihr nicht übel, dass sie ihm so etwas zutraute. In der Welt, aus der sie kam, gehörten Tricks und geheime Absprachen vermutlich zum Geschäft.

„Und jetzt haben Sie plötzlich ein anderes Bild von mir, weil …“

„Weil ich Sie in Aktion gesehen habe. Weil Sie einfach gehandelt haben, ohne an eine mögliche Schadenersatzklage zu denken.“ Obwohl sie ihn ausdrücklich auf das Risiko hingewiesen hatte. „Sie haben dem Jungen geholfen, weil sein Leben in Gefahr war.“ In ihren Augen hatte er sich geradezu heldenhaft verhalten. „Fast bringen Sie mich dazu, mir die guten alten Zeiten zurückzuwünschen.“

Lachend schüttelte Peter den Kopf. „Für die guten alten Zeiten sind Sie doch viel zu jung.“ Er sagte es, als wäre er wesentlich älter als sie – dabei war sie nur neun Jahre jünger. „Entschuldigung angenommen.“ Er griff nach der Flasche und reichte sie ihr. „Aber das hier ist wirklich nicht nötig.“

Warum wollte er ihr Geschenk nicht annehmen? „Wir scheinen uns in nichts einig zu sein, was?“, fragte sie und blickte ihn enttäuscht an.

Er stellte die Flasche wieder hin. „Na ja, ich kann mich erinnern, dass wir uns gestern Abend in einer Hinsicht durchaus einig waren.“ Lächelnd schaute er auf ihren Mund.

Bethany fühlte, wie ihr plötzlich die Wärme in die Wangen schoss. „In einer vielleicht“, räumte sie ein.

„Ein vielversprechender Anfang, finden Sie nicht?“, entgegnete er und bemerkte, wie sie sich verschloss. „Im Hinblick auf weitere Übereinstimmungen, meine ich“, fügte er hinzu, damit sie ihn keinesfalls falsch verstand.

Sie sah ihn wieder an. „Das kann sein“, sagte sie leise und fühlte, wie ihr immer wärmer wurde. Sie räusperte sich. „Ich will Sie nicht länger stören.“

„Das tun Sie nicht“, erwiderte er, denn plötzlich wollte er nicht mehr allein sein. Das Geständnis seines Vaters hatte ihn verletzlich gemacht. Bisher war er immer so selbstsicher, so zuversichtlich gewesen. Doch das war vorbei. Er kam sich vor wie auf dem College, kurz nachdem Lisa ihn verlassen hatte. „Bleiben Sie doch noch eine Minute“, bat er. „Es sei denn, Sie werden anderswo gebraucht.“

Er lieferte ihr einen Vorwand, doch sie nutzte ihn nicht – noch nicht. Stattdessen kehrte sie langsam zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich auf den Stuhl davor. „Sind Sie denn nicht zu beschäftigt?“, fragte sie und zeigte auf die Akten.

„Die können warten.“ Er klappte den Hefter zu, ließ ihn jedoch vor sich liegen. „Nur Papierkram, den ich aufarbeiten muss. Das hört wohl nie auf.“ Peter seufzte. „Die Zeit reicht einfach nicht dafür – und dabei gibt es so viel Wichtigeres. Ich rate meinen Patienten immer, an den Rosen am Eingang zu schnuppern. Ich selbst komme leider nur selten dazu, auf all das Schöne um mich herum zu achten.“ Ihre Wangen verfärbten sich. „Sie werden ja rot“, stellte er belustigt fest.

Wie gern wäre sie jetzt sonnengebräunt! Aber bei dem Wetter war daran nicht zu denken. „Es ist warm hier drin“, murmelte Bethany und senkte den Blick. „Falls das eben ein Kompliment war, sollten Sie Ihre Augen untersuchen lassen, Peter.“

Ihm ging auf, dass dahinter keine falsche Bescheidenheit stand. Sie meinte es tatsächlich ernst. „Hat Ihnen denn noch nie jemand gesagt, wie hübsch Sie sind?“

Nein, kein Mensch, dachte sie. Ganz im Gegenteil. Als Kind war sie oft gehänselt worden. Gleichaltrige konnten grausam sein, und ihre Eltern hatten ihr keine tröstliche Zuflucht geboten, in der sie ihre Wunden lecken konnte. Sie hatte früh erwachsen werden müssen.

„Sie wären der Erste“, gab sie zu, als sie erkannte, dass Peter auf eine Antwort wartete.

Er konnte es nicht glauben. „Wo sind Sie denn aufgewachsen? Unter Schlamm in einem Sumpf?“

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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<p>RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.</p>
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