Die Frauen der McKettricks (3-teilige Serie)

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WINTER DER ZÄRTLICHKEIT

Endlich daheim! Es ist klirrend kalt, als Sierra die tief verschneite McKettrick-Ranch erreicht. Und sie wird bereits erwartet - von dem gut aussehenden und schweigsamen Travis Reid. Magisch fühlt Sierra sich zu diesem verschlossenen Mann hingezogen, träumt von Küssen, so sacht wie Schneeflocken - der Beginn vieler kleiner und großer Wunder in diesem Winter der Zärtlichkeit.

IN EINER ZÄRTLICHEN WINTERNACHT: HÖR AUF DIE STIMME DEINES HERZENS

Brad O'Ballivan ist auf seine Ranch zurückgekehrt! Die Nachricht trifft Meg wie ein Schlag. Vor Jahren war sie mit ihm verlobt. Doch dann zog es ihn nach Nashville - und er wurde als Countrysänger ein Star. Plötzlich steht Brad wieder vor ihr - er scheint fast unverändert. Genau wie ihre Gefühle für ihn. Aber ihr McKettrick-Stolz ist größer als die Sehnsucht. Noch ist sie nicht bereit, ihm zu verzeihen...

NACHT DER WUNDER

Arizona, 1896. Eine Schneelawine reißt den Zug von den Schienen - und zerstört Lizzies McKettricks Plan: Zum Fest wollte sie bei ihren Eltern sein und ihnen Whitley vorstellen. Verlobung nicht ausgeschlossen! Doch nicht Whitley hilft den Verletzten, macht den Verzweifelten Mut, sondern der attraktive junge Doktor Morgan Shane. Und weckt so in Lizzies Herzen das helle Licht wahrer Liebe ...


  • Erscheinungstag 30.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751864
  • Seitenanzahl 704
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller, Linda Lael Miller

Die Frauen der McKettricks (3-teilige Serie)

Linda Lael Miller

Ein Fest der Liebe – Winter der Zärtlichkeit

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Sierra’s Homecoming

Copyright © 2006 by Linda Lael Miller

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Corbis GmbH, Düsseldorf;

mauritius images GmbH, Mittenwald; pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz /

John Hall Photography

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-080-9

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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1. KAPITEL

Heute

“Bleib im Auto”, befahl Sierra McKettrick ihrem siebenjährigen Sohn Liam.

Mit großen Augen fixierte er sie durch seine Brille. “Ich möchte auch die Gräber sehen.” Entschlossen legte er eine Hand an den Türgriff.

“Ein andermal”, antwortete sie mit fester Stimme. Es war zwar übertrieben, zu befürchten, dass der Besuch eines Friedhofs eine Asthma-Attacke auslösen konnte, aber was Liams Gesundheit betraf, wollte sie kein Risiko eingehen. Sie setzte sich mit einem langen strengen Blick durch, allerdings nur mit Mühe und Not.

“Das ist nicht fair”, seufzte Liam, er klang resigniert. Normalerweise gab er nicht so schnell auf, doch nach der langen Fahrt von Florida nach North Arizona war er müde.

“Willkommen im wahren Leben”, erwiderte Sierra. Sie zog die Handbremse an, ließ den Motor laufen und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Dann kletterte sie aus ihrem alten Kombi.

Bis zu den Knöcheln im Schnee versunken, stand sie da und ließ die Umgebung auf sich wirken. Normale Menschen liegen nach ihrem Tod auf öffentlichen Friedhöfen, dachte sie verdrossen.

Die McKettricks aber hatten ihre eigenen Regeln, ob lebendig oder tot. Ihnen genügte ein normales Grab nicht. Oh nein. Sie mussten einen ganzen Ort nur für sich haben. Einen mit Ausblick.

Und was für einen Ausblick!

Sierra stopfte die Hände in die Taschen ihres Stoffmantels, der fast so schäbig war wie ihr Auto. Dann drehte sie sich in alle Richtungen, um einen prüfenden Blick auf die Triple M Ranch zu werfen, die sich weit über den Horizont hinaus erstreckte. Rote Tafelberge und Spitzkuppen von feinem Schnee überzogen, Wälder aus majestätischen Weißeichen entlang dem breiten und glitzernden Fluss. Ausgedehnte Weideflächen und sogar gelegentlich ein Kaktus, ein Fremder im Hochland, ein verirrter Reisender, der dort nicht hingehörte.

Genauso wenig wie sie.

Plötzlich spürte sie eine enorme Abneigung in sich aufsteigen, erkannte aber, dass es nicht ihre eigene, sondern die ihres verstorbenen Vaters Hank Breslin war.

Was die McKettricks betraf, hatte Sierra keine eigene Meinung, weil sie diese Leute überhaupt nicht kannte.

Sie hatte den Namen nur aus einem einzigen Grund angenommen – weil das Teil der Vereinbarung war. Liam brauchte ärztliche Versorgung, und sie konnte sie nicht bezahlen. Sierras leibliche Mutter Eve McKettrick hatte ein Treuhandkonto für ihren Enkel eingerichtet, an das jedoch Bedingungen geknüpft waren.

Bei den McKettricks, hörte sie ihren Vater sagen, als ob er neben ihr stünde, gibt es nichts ohne Bedingungen.

“Sei still”, rief Sierra laut aus. Sie war dankbar für Eves Hilfe, und wenn sie dafür den Namen McKettrick annehmen und ein Jahr auf der Triple M Ranch leben musste, sollte es so sein. Außerdem war es ja nicht so, dass sie irgendeine andere Alternative hatte.

Entschlossen näherte sie sich dem Friedhofseingang und marschierte unter dem verschnörkelten Torbogen mit der in graziösen Buchstaben gehaltenen Inschrift “McKettrick” hindurch.

In der Mitte stand die lebensgroße Bronzestatue eines Mannes, der stolz auf einem Pferderücken saß, breitschultrig und imposant, mit einem wehenden Tuch um den Hals und einem Revolver um die Hüfte.

Angus McKettrick, der Patriarch. Der Gründer von Triple M und der ganzen Familiendynastie. Sierra wusste wenig über ihn, aber als sie in sein strenges, entschlossenes und hartes Gesicht schaute, fühlte sie eine Art Seelenverwandtschaft.

Skrupelloser alter Mistkerl, hörte sie die Stimme von Hank Breslin. Von dir haben die McKettricks ihre Arroganz.

“Sei still”, wiederholte Sierra und schob ihre Hände noch tiefer in die Manteltaschen. So stand sie für einen langen Moment, lauschte dem ratternden Brummen ihres Automotors, dem einsamen Schrei eines nahen Vogels und dem Pochen des Bluts in ihren Ohren. Harzduft würzte die Luft.

Sierra drehte sich um und erblickte die marmornen Engel, die die Gräber von Angus McKettricks Ehefrauen markierten – Georgia, die Mutter von Rafe, Kade und Jeb, und Concepcion, die Mutter von Kate.

Suche nach Holt und Lorelei, hatte ihr Eve beim letzten Telefonat gesagt. Das ist unser Teil der Familie.

Sierra entdeckte noch andere Bronzestatuen, kleiner als die von Angus, aber nicht weniger eindrucksvoll. Es waren kunstvolle Objekte, Museumsstücke. Ohne ihr festes Zementfundament wären sie wahrscheinlich längst gestohlen worden. Andererseits hatte auch niemand an diesem einsamen und zugigen Ort die Gräber zerstört, was einiges über den Ruf der McKettricks aussagte.

Jeb McKettrick, der jüngste der Brüder, war als Cowboy mit gezogenem sechskalibrigen Revolver dargestellt, seine Ehefrau Chloe als schlanke Frau in einem typischen Kleid aus der Pionierzeit, die lächelnd ihre Augen mit einer Hand abschirmte. Sie waren von ihren Kindern, Enkeln, Urgroß- und ein paar Ururgroßenkeln umgeben, ihre imposanten Grabsteine ordentlich aufgereiht wie die Straßen einer Westernstadt.

Dann kam Kade McKettrick, lässig, mit dem gleichen Revolver wie sein Bruder. Allerdings trug er ihn umgeschnallt und hielt ein offenes Buch in der Hand. Seine Ehefrau Mandy trug Hosen, eine locker sitzende Bluse und hielt eine Flinte in der Hand. Sie lächelte wie Chloe. Gemessen an der Anzahl von Gräbern um sie herum, waren sie ebenfalls sehr produktive Eltern gewesen.

Die Statue von Rafe McKettrick zeigte einen großen, kräftig gebauten Mann mit einem entschlossenen Kinn. Seine Frau Emmeline stand nah an seiner Seite, sie hatten die Arme umeinander gelegt, ihr Kopf ruhte an seinem Unterarm.

Sierra lächelte. Auch sie hatten für reichlich Nachkommen gesorgt.

Die letzte Statue versetzte ihr einen unerwarteten Stich. Hier also war Holt, Halbbruder von Rafe, Kade und Jeb und von Kate. In seinem langen Mantel sah er zugleich attraktiv und kämpferisch aus. Um den Hals hatte er zwei Munitionsgürtel gelegt, auf der Anstecknadel an seinem breiten Jackenrevers stand Texas Ranger.

Wie gebannt starrte Sierra in die Bronzeaugen und spürte wieder, wie sich tief in ihr etwas rührte. Von diesem Mann stamme ich ab, dachte sie. Wir haben die gleichen Gene.

Liam hupte ungeduldig. Er konnte es kaum erwarten, endlich das Ranchhaus zu sehen, das für die nächsten zwölf Monate ihr Zuhause sein würde.

Nach einem kurzen Winken in Liams Richtung ging Sierra zu Loreleis Statue. Sie saß auf einem Maultier, der lange, spitzenbesetzte Rock fiel zu beiden Seiten ihrer unglaublich schmalen Taille. Ein Männer- und kein Sonnenhut schützte ihr Gesicht vor der Sonne. Ihr lebhafter Blick ruhte liebevoll auf ihrem Ehemann Holt.

Nun legte Liam sich auf die Hupe.

Aus Furcht, er könnte sich selbst hinters Steuer setzen und zum Ranchhaus fahren, machte Sierra widerwillig kehrt. Sie folgte dem mit den Kiefernadeln und dem Laub der sechs hohen weißen Eichen übersäten Pfad zurück zu ihrem Auto.

Zurück zu ihrem Sohn.

“Sind alle McKettricks tot?”, fragte Liam, nachdem sie eingestiegen war und sich anschnallte.

“Nein” antwortete Sierra, die darauf wartete, dass der Teil von ihr, der noch immer zwischen den Gräbern herumwanderte, um ihre Ahnen kennenzulernen, sich ihr wieder anschloss. “Wir sind McKettricks, und wir sind nicht tot. Genauso wenig wie deine Großmutter oder Meg.” Sie wusste, dass es auch noch Cousins und Cousinen gab, die von Rafe, Kade und Jeb abstammten. Aber das einem Siebenjährigen zu erklären, war ihr zu kompliziert. Davon abgesehen musste sie sich selbst erst mal einen Überblick verschaffen.

“Ich dachte, ich heiße Liam Breslin”, bemerkte der kleine Junge ganz praktisch.

Eigentlich solltest du Liam Douglas heißen, überlegte Sierra und dachte an ihren ersten und einzigen Liebhaber. Wie immer, wenn ihr Liams Vater Adam in den Sinn kam, spürte sie ein Ziehen im Herzen, eine komplizierte Mischung aus Leidenschaft, Trauer und hilfloser Wut. Da sie nie mit Adam verheiratet gewesen war, hatte Liam ihren Mädchennamen bekommen.

“Jetzt sind wir McKettricks”, seufzte Sierra. “Du wirst das alles verstehen, wenn du älter bist.”

Wegen der steilen Abhänge zu allen Seiten parkte sie vorsichtig aus und fuhr zurück auf die Schotterstraßen, die nach Triple M führten.

“Ich kann das schon jetzt verstehen”, behauptete Liam, nachdem er die Sache – wie es seine Art war – gründlich abgewogen hatte. “Schließlich bin ich hochbegabt.”

“Du magst vielleicht hochbegabt sein”, entgegnete Sierra, die sich hoch konzentriert aufs Fahren konzentrierte, “aber du bist immer noch sieben Jahre alt.”

“Werde ich jetzt Cowboy und reite auf wilden Pferden und so was?”

Sierra unterdrückt ein Schaudern. “Nein”, sagte sie.

“Das ist ja doof.” Ihr Sohn verschränkte die Arme und schmiegte sich tiefer in seinen dicken Nylonmantel, den sie ihm gekauft hatte, als sie die Grenze zu den kälteren Staaten erreicht hatten. “Was ist denn gut daran, auf einer Ranch zu leben, wenn man kein Cowboy ist?”

2. KAPITEL

Der alte Kombi schlitterte in den Hof – halb gefrorener Kies spritzte vor den abgefahrenen Reifen auf – und kam abrupt zum Stehen. Travis Reid sah auf. Er stand hinter dem Pferdeanhänger von Jesse McKettricks verschmutztem schwarzen Truck und schob sich den Hut auf den Hinterkopf. Dann wartete er grinsend darauf, dass irgendein Teil von der alten Karre abfiel. Aber es gab noch Zeichen und Wunder.

Gleich darauf tauchte Jesse mit dem alten Baldy am Halfter hinter dem Trailer auf. “Wer ist das?”, fragte er und blinzelte in die späte Winternachmittagssonne.

Aber Travis hatte kaum einen Blick für ihn übrig. “Eine lange verloren geglaubte Verwandte von dir, wenn ich mich nicht täusche”, erwiderte er leichthin.

Der Kombi spuckte noch etwas Qualm, bevor er abstarb. Travis vermutete, dass das normal war. Er beobachtete interessiert, wie eine gut aussehende Frau vom Fahrersitz kletterte, das alte Auto einmal kurz musterte und der Fahrertür einen festen Tritt mit dem Fuß versetzte.

Sie war eine McKettrick, kein Zweifel.

Jesse ließ Baldy stehen, sprang vom Trailer und senkte die Rampe auf den Boden. “Megs Halbschwester?”, fragte er. “Die in Mexiko bei ihrem verrückten, betrunkenen Vater aufgewachsen ist?”

“Glaub schon”, nickte Travis, der aus Megs E-Mails einiges über Sierra erfahren hatte. Doch keiner aus der Familie kannte Sierra gut, nicht einmal ihre Mutter Eve. Insofern waren die Informationen äußerst spärlich. Sie hatte einen siebenjährigen Sohn – der gerade aus dem Auto stieg – und in den letzten Jahren in Florida Cocktails serviert. Das war in etwa alles, was Travis von ihr wusste. Als Megs Verwalter und Pferdetrainer, und nicht zuletzt als ihr guter alter Freund, hatte Travis für Sierra die Vorratsschränke und den Kühlschrank aufgefüllt und dafür gesorgt, dass die Heizung lief. Außerdem hatte er ihren Chevrolet Blazer jeden Tag gestartet, um sicherzugehen, dass er ansprang.

Nach dem Aussehen des Kombis zu urteilen, war es eine gute Idee gewesen, Megs Anweisungen zu folgen.

“Wirst du mir jetzt mit diesem Pferd helfen”, frage Jesse gereizt, “oder willst du nur weiter dastehen und glotzen?”

“Im Augenblick”, gestand er, “würde ich lieber glotzen.”

Sierra McKettrick war groß und schlank, mit kurzem glänzenden Haar, dessen Farbe an ein edles kastanienbraunes Pferd erinnerte. Sie hatte große und wahrscheinlich blaue Augen, doch noch war sie nicht nah genug, um das genau zu erkennen.

Fluchend kletterte Jesse auf die Rampe zurück, wobei er möglichst viel Lärm machte. Wie fast alle McKettricks verstand er es, seinen Willen durchzusetzen. Zwar war er Frauen gegenüber gewöhnlich äußerst charmant, doch bei Sierra schien er das für überflüssig zu halten. Schließlich waren sie miteinander verwandt – da lohnte sich der Aufwand vermutlich nicht.

Travis jedoch ging einen Schritt auf die Frau und den Jungen zu, der ihn mit offenem Mund anstarrte.

“Ist das Megs Haus?”, fragte Sierra.

“Ja”, erwiderte Travis, streckte ihr die Hand entgegen, zog sie schnell wieder zurück, um den Arbeitshandschuh auszuziehen, dann hielt er sie ihr erneut hin. “Travis Reid.”

“Sierra Bres-McKettrick”, antwortete sie. Ihr Händedruck war fest. Und ihre Augen waren eindeutig blau. Die Art von Blau, das sich einem Mann direkt ins Herz bohrte. Sie lächelte, aber zögernd. Irgendwann im Laufe ihres Lebens hatte sie offenbar gelernt, vorsichtig mit ihrem Lächeln umzugehen. “Das ist mein Sohn, Liam.”

“Tag”, sagte Liam und straffte die schmalen Schultern.

Travis grinste. “Tag.” Von Meg wusste er, dass der Junge gesundheitliche Probleme hatte, davon war aber nichts zu erkennen.

“Das ist ja mal ein hässliches Pferd.” Liam zeigte auf den Anhänger.

Travis drehte sich um. Mitten auf der Rampe stand Baldy, ein graues Vieh mit klapprigen, gespreizten Beinen, roten Augen und kahlen, grauen Stellen auf dem glanzlosen Fell.

“Kann man wohl sagen”, stimmte Travis zu und blickte Jesse finster an, der ihm das Tier aufgehalst hatte. Es sah ihm ähnlich, in letzter Sekunde eine dramatische Rettungsaktion zu starten, um dann die Umsetzung jemand anderem zu überlassen.

Als Jesse grinste, stieg eine Art Beschützerinstinkt in Travis auf. Am liebsten hätte er sich zwischen Sierra und seinen ältesten Freund gestellt. Das brachte ihn irgendwie ziemlich durcheinander, er hatte fast das Gefühl, in einen Hinterhalt gelockt zu werden. Was zum Teufel hatte das denn zu bedeuten?

“Ist das ein Rodeopferd?”, fragte Liam und wagte sich einen Schritt an Baldy heran.

Sierra reagierte schnell und packte ihn an seiner fellbesetzten Kapuze, um ihn zurückzuziehen. Die tief stehende Wintersonne spiegelte sich auf den Brillengläsern des Kindes, sodass man seine Augen nicht sehen konnte.

Jesse lachte. “In alten Zeiten war Baldy mal ein Rodeopferd. Die Cowboys haben vor Angst gezittert, wenn sie ihn reiten mussten. Jetzt allerdings hat er, wie du sehen kannst, seine besten Zeiten hinter sich.”

“Und Sie sind …?”, fragte Sierra mit kühlem Unterton. Vielleicht war sie die Eine unter tausend Frauen, die Jesse als das erkannten, was er war – eine sehr gut aussehende, freundliche Mogelpackung.

“Dein Cousin Jesse.”

Eingehend musterte sie seine ausgebeulten Jeans, das Arbeitshemd, die Schaffelljacke und die sehr teuren Stiefel. “Welche Linie …?”, erkundigte sie sich dann.

Die McKettricks sprachen so miteinander. Jeder von ihnen konnte seine Herkunft über verschiedenste Linien bis zum alten Angus zurückverfolgen. Man tat zwar gut daran, die Familie nicht als Ganzes zu beleidigen, aber davon abgesehen blieb jeder Ast des Familienstammbaums lieber unter sich.

“Jeb”, verkündete Jesse.

Sierra nickte.

Liams Aufmerksamkeit war noch immer ausschließlich auf das Pferd gerichtet. “Kann ich es reiten?”

“Klar”, antwortete Jesse.

“Auf keinen Fall”, sagte Sierra im gleichen Moment. “Wir hatten eine lange Fahrt”, fuhr sie fort. “Ich glaube, wir sollten erst einmal hineingehen.”

“Fühlt euch ganz wie zu Hause”, lächelte Travis und deutete auf das Haus. “Um eure Taschen kümmern Jesse und ich uns.”

Einen Moment zögerte sie. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie sich damit zu etwas verpflichtete. Am Ende nickte sie. Nachdem sie Liam wieder an der Kapuze seines Mantels geschnappt hatte, drehte sie ihn vom Pferd weg und schob ihn zur Eingangstür.

“Schade, dass wir verwandt sind”, murmelte Jesse, der Sierra mit seinem Blick verfolgte.

“Ja, schade”, stimmte Travis ihm leise zu, obwohl er sich insgeheim mächtig darüber freute.

Das Haus war zweistöckig, lang gestreckt und zu allen Seiten von einer Veranda umgeben. Auf den ersten Blick wirkte es eher praktisch und stabil als elegant. Sie verspürte einen sehnsüchtigen Stich, als ob sie viele Jahre auf einer nebligen Straße herumgeirrt wäre und der Nebel nun plötzlich aufreißen würde.

“Diese Typen sind echte Cowboys”, strahlte Liam, als sie im Haus waren.

Während Sierra abwesend nickte, ließ sie den alten Holzfußboden, die Doppeltüren und die steile Treppe auf der rechten Seite, die hohen Decken und die antike Standuhr, die neben der Tür laut vor sich hin tickte, auf sich wirken. Neugierig sah sie in ein geräumiges Wohnzimmer, das man früher wahrscheinlich Salon genannt hatte, und bewunderte den riesigen offenen Natursteinkamin. Abgenutzte, aber bunte Teppiche hellten die ansonsten kompromisslos männliche Einrichtung aus Ledersofa, Stuhl und Tisch aus grob bearbeitetem Kiefernholz ein wenig auf, genau wie das Klavier, das in einem Alkoven mit deckenhohen Fenstern stand.

Ein eigenartig nostalgisches Gefühl überkam Sierra. Sie hatte noch nie einen Fuß auf Triple M gesetzt, geschweige denn das Heim von Holt und Lorelei McKettrick betreten. Doch alles wäre anders gekommen, wenn ihr Vater sie nicht an dem Tag, an dem Eve die Scheidung eingereicht hatte, entführt und nach San Miguel de Allende gebracht hätte. Sie hätte die Sommer hier verbracht, hätte Pferde geritten und Brombeeren gepflückt und wäre durch Bergflüsse gewatet, so wie Meg. Stattdessen war sie barfuß durch die Straßen von San Miguel gelaufen, ohne Erinnerung an ihre Mutter. Nur manchmal kam ihr ein schwacher Duft von teurem Parfüm bekannt vor, den sie zwischen den Touristenströmen aufschnappte, die die Märkte, Läden und Restaurants ihrer Heimatstadt bevölkerten.

“Mom?” Liam zerrte am Ärmel ihrer Jacke.

Sie erwachte aus ihren Träumen und sah lächelnd zu ihm hinunter. “Bist du hungrig, Kumpel?”

Darauf nickte er feierlich, doch als die Tür aufsprang und Travis mit zwei Koffern im Türrahmen erschien, strahlte er.

“Es gibt genug Essen in der Küche”, erklärte er. “Soll ich das Zeug hier nach oben tragen?”

“Ja”, erwiderte Sierra. “Danke.” So wüsste sie wenigstens, welche Räume sie und Liam bekamen, ohne nachfragen zu müssen. Meg hatte ihr erzählt, dass der Hausverwalter in einem Wohnwagen neben dem Stall wohnte. Nicht erwähnt hatte sie jedoch, dass er Anfang dreißig war und nicht in den Sechzigern, wie Sierra vermutet hatte. Außerdem sah er bemerkenswert gut aus: schlanker Körper, blaugrüne Augen und dunkelblondes Haar, das mal wieder geschnitten werden musste.

Bei diesen Gedanken errötete sie leicht und schob Liam schnell in Richtung Küche.

Der große Raum hatte denselben schönen Holzfußboden und war mit modernen Haushaltsgeräten ausgestattet, die neben dem alten schwarzen Holzofen in der linken Ecke recht eigentümlich wirkten. Der Tisch war lang und rustikal, mit Holzbänken an jeder Seite und einem Stuhl an jedem Ende.

“Solche Tische sind Tradition bei den McKettricks”, verkündete eine männliche Stimme hinter ihr.

Sierra schreckte hoch und drehte sich rasch. Vor ihr stand Jesse.

“Entschuldigung”, sagte er. Er sieht gut aus, dachte sich Sierra. Obwohl er eine ähnliche Haarfarbe wie Travis und auch seinen Körperbau hatte, ähnelten die beiden sich überhaupt nicht.

“Kein Problem”, erwiderte Sierra.

Erwartungsvoll riss Liam den Kühlschrank auf. “Mortadella!”, schrie er triumphierend.

“Heißa”, erwiderte Sierra mit einem trockenen Unterton, der an ihren Sohn vollkommen verschwendet war. “Wo Mortadella ist, muss auch Weißbrot sein.”

“Jesse!”, erklang Travis’ Stimme von der Eingangstür. “Komm und hilf mir!”

Nach einem freundlichen Lächeln in Sierras Richtung machte Jesse sich auf den Weg.

Sierra zog den Mantel aus, hängte ihn an einen Haken neben der Hintertür und forderte Liam auf, dasselbe zu tun. Eine Sekunde nachdem er das getan hatte, widmete er sich umgehend wieder der Mortadella. In einer bunt getupften Tüte entdeckte er Brot und begann, sich ein Sandwich zu machen.

Während Sierra ihn dabei beobachtete, spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Herzen. Liam war sehr eigenständig. Das hatte er lernen müssen, bei ihren vielen Nachtschichten im Club. Die alte Mrs. Davis von der Wohnung gegenüber war zwar ein gewissenhafter Babysitter gewesen, aber eben kein Mutterersatz.

Nachdem Liam am Tisch Platz genommen hatte, setzte Sierra Kaffee auf. Ihr Sohn saß mit dem Rücken zur Wand und konnte sie in der Küche beobachten.

“Cooles Haus”, bemerkte er zwischen zwei Bissen, “aber es spukt.”

In aller Ruhe nahm Sierra eine Suppendose vom Regal, öffnete sie, schüttete den Inhalt in einen Kochtopf und stellte ihn auf den modernen Gasherd. Liam war ein fantasievolles Kind, das oft überraschende Dinge von sich gab. Darum ließ Sierra gern ein paar Sekunden vergehen, bevor sie ihm antwortete.

“Wie kommst du darauf?”

“Weiß auch nicht”, meinte Liam kauend. Auf der Herfahrt hatten sie in einem Imbiss gefrühstückt, aber das war bereits Stunden her. Er musste sehr hungrig sein.

Wieder bekam sie ein schlechtes Gewissen, diesmal noch heftiger als zuvor. “Komm schon”, stupste sie ihn an. “Dafür muss es doch einen Grund geben.” Natürlich gibt es einen Grund, dachte sie. Der Friedhof der McKettricks – kein Wunder, dass er an den Tod dachte. Sie hätte warten und die Fahrt irgendwann allein unternehmen sollen, statt Liam mitzuschleppen.

Liam schaute sie nachdenklich an. “Da liegt so eine Art … Schwirren in der Luft”, sagte er. “Kann ich mir noch ein Sandwich machen?”

“Nur wenn du mir versprichst, zuerst was von der Suppe zu essen.”

“Abgemacht”, versprach Liam.

Sierra ging zu dem alten Geschirrschrank an der Wand neben dem Herd, obwohl sie nicht vorhatte, das unschätzbar wertvolle Geschirr darin zu benutzen.

Viele Generationen ihrer Familie hatten von diesen Tellern gegessen.

Ihr Blick blieb an einer Teekanne hängen. Sie sah gleichzeitig robust und wertvoll aus. Gebannt öffnete sie die Glastür und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, aber nur mit den Fingerkuppen.

“Die Suppe kocht über”, verkündete Liam.

Entsetzt schreckte sie auf, machte auf dem Absatz kehrt und zog den Kochtopf von der Flamme.

“Mom”, murmelte Liam.

“Was?”

“Beruhige dich, es ist doch nur Suppe.”

Im selben Moment steckte Travis den Kopf zur Küchentür herein. “Die Sachen sind oben”, sagte er. “Brauchen Sie sonst noch etwas?”

Sierra starrte ihn lange an, als ob er eine fremde Sprache spräche. “Ähm, nein”, sagte sie schließlich. “Danke.” Wieder eine Pause. “Möchten Sie etwas essen?”

“Nein, danke. Ich muss mich noch um das verdammte Pferd kümmern.”

Schon war er wieder draußen.

“Wieso darf ich nicht auf dem Pferd reiten?”, fragte Liam.

Seufzend stellte Sierra ihm einen Teller Suppe vor die Nase. “Weil du nicht reiten kannst.”

Liams Seufzer klang wie das Echo ihres eigenen, worüber sie gelächelt hätte, wenn sie nicht gerade über ein so ernstes Thema sprechen würden, bei dem es um Leib und Leben ging.

“Wie soll ich es denn lernen, wenn du mich nicht lässt? Du bist überfürsorglich, und das könnte meiner Psyche schaden. Ich könnte echte psychologische Probleme entwickeln.”

“Es gibt Momente”, sagte Sierra und setzte sich mit ihrem eigenen Teller Suppe ihm gegenüber an den Tisch, “da wünschte ich, du wärst nicht so schlau.”

“Das habe ich von dir.”

“Nein”, widersprach Sierra. Liam hatte ihre Augen, ihr dichtes, feines Haar und ihre Beharrlichkeit, aber seine bemerkenswerte Intelligenz stammte von seinem Vater.

Denk nicht an Adam, ermahnte sie sich.

Dafür kam ihr Travis Reid in den Sinn.

Noch schlechter.

Nachdem Liam seine Suppe und ein zweites Sandwich verzehrt hatte, machte er sich auf, um das Haus zu erkunden, während Sierra gedankenvoll ihren Kaffee trank.

Das Telefon läutete.

Nach kurzem Suchen fand sie den kabellosen Hörer und nahm ab. “Hallo?”

“Du bist da!”, trillerte Meg.

Sierra bemerkte, dass sie den Geschirrschrank offen gelassen hatte und stand auf, um ihn zu schließen. “Ja”, sagte sie. Meg war am Telefon immer freundlich zu ihr gewesen, allerdings auf eine distanzierte Weise. Da Sierra ihre Halbschwester mit zwei zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie im Grunde Fremde.

“Wie gefällt es dir? Das Haus, meine ich?”

“Davon hab ich noch nicht viel gesehen”, antwortete Sierra. “Liam und ich sind gerade angekommen und haben schnell etwas gegessen.” Ihre Hand streckte sich wie von selbst nach der Teekanne aus, und sie hatte das Gefühl, bei der Berührung einen ganz leichten elektrischen Schlag zu spüren. “Hier stehen eine Menge Antiquitäten herum”, dachte sie laut.

“Du kannst sie problemlos verwenden”, antwortete Meg. “Familientradition.”

Erst jetzt zog Sierra die Hand von der Teekanne zurück und schloss die Schranktüren.

“Familientradition?”, wiederholte sie.

“McKettrick-Regeln”, erklärte Meg. In ihrer Stimme war ein Lächeln zu hören. “Die Dinge sind dazu da, benutzt zu werden, egal, wie alt sie sind.”

“Aber wenn etwas kaputt geht …”

“… geht es kaputt”, beendete Meg den Satz. “Hast du Travis schon kennengelernt?”

“Ja”, sagte Sierra. “Und er ist vollkommen anders, als ich erwartet hatte.”

Meg lachte. “Was hast du denn erwartet?”

“So einen mürrischen alten Typen halt”, gestand Sierra. “Du sagtest ja, er würde sich um den Hof kümmern und in dem Wohnwagen neben dem Stall wohnen, da dachte ich …” Sie brach verlegen ab.

“Er ist niedlich und er ist alleinstehend”, informierte Meg sie.

“Sogar die Teekanne?”, grübelte Sierra.

“Wie bitte?”

“Entschuldige. Ich dachte gerade an die Teekanne im Küchenschrank – ich frage mich, ob ich wohl …”

“Ich weiß, welche du meinst”, antwortete Meg mit einer gewissen Zärtlichkeit in der Stimme. “Sie stammt von Lorelei. War ein Hochzeitsgeschenk.”

Lorelei. Die Matriarchin der Familie. Sierra machte einen Schritt zurück.

“Benutz sie”, bat Meg so, als ob sie Sierras Zurückweichen gespürt hätte.

Sierra schüttelte den Kopf. “Das kann ich nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie alt sie ist. Wenn ich sie fallen lasse …”

“Sierra”, sagte Meg, “sie ist nicht aus Porzellan, sondern aus Gusseisen mit einer Emailleglasur.”

“Oh.”

“Ein bisschen so wie die McKettrick-Frauen, sagt Mom immer”, fuhr Meg fort. “Harte Schale, weicher Kern.”

Mom. Sierra schloss die Augen, um gegen die aufkeimenden Gefühle anzukämpfen, aber es half nichts.

“Wir lassen dir noch Zeit zum Eingewöhnen”, meinte Meg sanft, als Sierra nicht sprechen konnte. “Und dann kommen Mom und ich, wenn es dir recht ist natürlich.”

Meg und Eve lebten in San Antonio, Texas, wo sie für McKettrickCo arbeiteten. Also würden sie sicher nicht ohne Vorankündigung vorbeikommen.

Sierra musste schwer schlucken. “Es ist euer Haus”, sagte sie.

“Und deins”, stellte Meg sehr leise klar.

Danach musste Sierra Meg versprechen, anzurufen, wenn sie irgendetwas brauchte. Nach dem Telefonat ging Sierra zum Geschirrschrank, um die Teekanne zu holen. In dem Moment kam Liam die Hintertreppe hinuntergeflitzt. “Ich hab doch gesagt, dass es in diesem Haus spukt!”, schrie er, sein kleines Gesicht strahlte.

Die Teekanne war schwer – definitiv Gusseisen –, aber Sierra war trotzdem vorsichtig, als sie sie auf die Theke stellte. “Wovon in aller Welt sprichst du?”

“Ich habe gerade ein Kind gesehen”, verkündete Liam. “Oben, in meinem Zimmer!”

“Das bildest du dir ein.”

Liam schüttelte seinen Kopf. “Ich habe es gesehen!”

Prüfend legte Sierra eine Hand an seine Stirn. “Kein Fieber”, stellte sie besorgt fest.

“Mom”, protestierte Liam. “Ich bin nicht krank – und Wahnvorstellungen habe ich auch nicht.”

Wahnvorstellungen. Wie viele Siebenjährige benutzten dieses Wort? Seufzend nahm Sierra Liams eifriges Gesicht in beide Hände. “Hör zu. Es ist in Ordnung, Freunde zu erfinden, aber …”

“Er ist nicht erfunden.”

“Okay.” Natürlich könnte ein Nachbarskind im Haus sein, so unwahrscheinlich es auch klang, weil die nächsten Nachbarn Meilen entfernt wohnten. “Lass uns nachschauen.”

Zusammen stiegen sie die Hintertreppe hinauf, und Sierra bekam einen ersten Eindruck vom Obergeschoss. Der Flur war breit, es gab elektrisches Licht, obwohl die Lampen sehr alt aussahen. Doch das meiste Licht fiel durch die großen bogenförmigen Fenster am anderen Ende. Sechs Zimmertüren standen offen, was darauf hindeutete, dass Liam nacheinander jedes einzelne Zimmer besichtigt hatte, nachdem er vorhin aus der Küche verschwunden war.

Er führte sie in das mittlere Zimmer auf der linken Seite.

Niemand da.

Es war ein großer, perfekter Raum für einen Jungen. Zwei Erkerfenster gaben den Blick auf die Stallungen frei. Dort stand Baldy, das außerordentlich hässliche Pferd, tapfer in der Mitte des Geheges und sah aus, als ob es seinen Ausbruch planen würde. Travis stand neben Baldy und strich ihm sanft über den Rücken, während er ihm ein Halfter über den Kopf zog.

Ein zittriges Gefühl machte sich in Sierras Bauch breit.

“Mom”, platzte Liam heraus. “Er war hier. Er trug eine kurze Hose und komische Schuhe und Hosenträger.”

Etwas verärgert drehte Sierra sich zu ihrem Sohn um. Liam stand neben dem Fenster und untersuchte ein antikes Teleskop, das auf einem glänzenden Messingstativ saß. “Ich glaube dir”, sagte sie.

“Tust du nicht”, widersprach ihr Sohn. “Du gibst einfach nur nach.”

Sierra setzte sich auf die Seite des Bettes, die zwischen den beiden Fenstern lag. Wie die Schränke, so trug auch das Bett die Narben der Zeit, aber das Holz war robust. Das schlichte Kopfteil zierten verschlungene Ornamente, ein verblasster Quilt sorgte für etwas Farbe. “Gut, vielleicht ein bisschen”, gab sie zu, weil sie Liam sowieso nichts vormachen konnte. Er besaß ein unheimliches Talent dafür, die Dinge zu durchschauen. “Ich weiß nur nicht, was ich denken soll, das ist alles.”

“Glaubst du nicht an Geister?”

Ich glaube so ziemlich an gar nichts, dachte Sierra traurig. “Ich glaube an dich”, sagte sie und klopfte neben sich auf die Matratze. “Komm, setz dich mal.”

Widerstrebend gehorchte er, versteifte sich allerdings, als sie einen Arm um seine Schultern legte. “Wenn du glaubst, dass ich einen Mittagsschlaf mache, irrst du dich. Das meine ich todernst.”

Bei dem Wort todernst lief ihr ein Schauer über den Rücken. “Alles wird gut, weißt du”, versprach sie ihm sanft.

“Ich mag den Raum”, gestand Liam, und seine großen hoffnungsvollen Augen versetzten ihrem Herz einen Stich. Bisher hatten sie immer in billigen Wohnungen oder Hotelzimmern gewohnt. Ob Liam sich insgeheim schon immer nach so einem Zuhause gesehnt hatte? Nach einem Ort, wo er hingehörte und wie ein ganz normales Kind leben konnte?

“Ich auch”, gab Sierra zu. “Es hat eine freundliche Ausstrahlung.”

“Soll das ein Schrank sein?”, fragte Liam und deutete auf ein riesiges Ungetüm aus Kiefer, das fast die gesamte Wand einnahm.

Sierra nickte. “Das ist ein Kleiderschrank.”

“Vielleicht ist das so einer wie in dieser Geschichte. Man gelangt durch seine Rückwand in eine andere Welt. Da könnte ein Löwe drin sein und eine Hexe.” An seinem Lächeln sah sie, dass diese Möglichkeit ihn eher faszinierte als verängstigte.

Liebevoll zerzauste sie sein Haar. “Vielleicht”, stimmte sie zu.

Als Nächstes sah Liam zu dem Teleskop. “Wie schön wäre es, wenn ich da durchschauen und Andromeda sehen könnte”, meinte er. “Wusstest du, dass sich die gesamte Galaxie auf Kollisionskurs mit der Milchstraße befindet? Da wird die Hölle los sein, wenn die sich treffen.”

Sierra erschauerte bei dem Gedanken. Die meisten Eltern waren besorgt, dass ihre Kinder zu viele Videospiele spielten. Bei Liam musste man sich eher wegen der Wissenschafts- und Techniksender Sorgen machen, ganz zu schweigen von Sendungen wie Nova. Er beschäftigte sich beispielsweise mit dem Thema, dass die Erde ihr Magnetfeld verlor, und litt unter Albträumen von Kreaturen, die in dunklen Ozeanen unter dicken Eisschichten auf Jupitermonden schwammen. Oder handelte es sich um Saturn?

“Nicht aufregen, Mom”, sagte er mit einem verständnisvollen Lächeln. “Es wird noch zirka fünf Milliarden Jahre dauern, bevor so was passiert.”

“Bevor was passiert?”, fragte Sierra blinzelnd.

“Die Kollision”, erklärte er geduldig.

“Richtig.”

Liam gähnte. “Vielleicht werde ich doch einen Mittagsschlaf machen. Aber glaub nicht, dass das jetzt zur Regel wird.”

Sie strich über sein Haar und küsste seine Stirn. “Das ist mir klar”, dabei griff sie nach der Häkeldecke, die ordentlich gefaltet am Fußende des Bettes lag.

Nachdem Liam seine Schuhe ausgezogen hatte, streckte er sich erneut gähnend auf der blauen Chenillebettdecke aus. Behutsam legte er seine Brille auf den Nachttisch.

Beim Zudecken widerstand Sierra der Versuchung, ihn noch einmal auf die Stirn zu küssen. Als sie sich beim Verlassen des Zimmers umdrehte, schlief Liam bereits.

1919

Hannah McKettrick hörte ihren Sohn bereits lachen, bevor sie um das Haus auf den Stall zuritt. Die Satteltaschen um den Hals des Maultiers waren dick ausgebeult von der Post der letzten Woche. Der Schnee lag stellenweise meterhoch mit hart gefrorener Oberfläche, und der Januarwind blies frostig.

Als sie ihren Sohn nur mit einer dünnen Jacke und ohne Mütze in der Kälte sah, biss sie die Zähne zusammen. Er und ihr Schwager Doss bauten etwas, das wohl ein Schneefort werden sollte. Ihr Atem formte weiße Wolken in der eisigen Luft.

Angesichts Doss’ Ähnlichkeit mit seinem Bruder und ihrem verstorbenen Ehemann Gabe zog sich Hannahs Herz qualvoll zusammen. Dabei sollte sie seinen Anblick eigentlich gewohnt sein, da sie unter ein und demselben Dach lebten.

Sie trieb ihr Maultier mit den Absätzen ihrer Stiefel an, aber Seesaw-Two wurde nicht schneller. Er trottete einfach weiter.

“Was macht ihr hier draußen?”, rief Hannah.

Augenblicklich verstummten Tobias und Doss und drehten sich schuldbewusst zu ihr um.

Die Atemwolken lösten sich auf.

Tobias richtete sich auf und schob die schmalen Schultern zurück. Er war erst acht. Aber seit Gabes Sarg an einem warmen Sommertag im letzten Jahr in eine amerikanische Flagge gehüllt mit dem Zug nach Hause gebracht worden war, besaß er den Gesichtsausdruck eines Erwachsenen.

“Wir bauen nur eine Befestigung, Ma”, erklärte er.

Hannah blinzelte die brennenden Tränen weg. Gabe war als Soldat in einem Armeespital an der Grippe gestorben, ohne das Schlachtfeld auch nur gesehen zu haben. Tobias dachte wie ein Soldat, und Doss spornte ihn dazu an. Beides machte Hannah nicht sehr glücklich.

“Es ist kalt hier draußen”, sagte sie. “Du holst dir noch den Tod.”

Doss verlagerte sein Gewicht und schob den verbeulten Hut auf den Hinterkopf. Sein Gesicht verhärtete sich wie das Eis im Teich hinter dem Obstgarten, wo die Obstbäume stoisch mit ihren kahlen Ästen auf den Frühling warteten.

“Geh ins Haus!”, befahl Hannah ihrem Sohn.

Zögernd gehorchte Tobias.

Doss jedoch blieb und sah sie lange an.

Die Küchentür krachte lautstark ins Schloss.

“Du solltest ihm so etwas nicht sagen”, bemerkte Doss ruhig. Er hielt Seesaws Zügel fest, während sie vorsichtig abstieg und darauf achtete, dass ihr Wollrock nicht hochrutschte.

“Tobias hatte letzten Herbst eine Lungenentzündung. Er wäre fast gestorben und ist immer noch schwach, das weißt du genau. Und kaum kehre ich euch den Rücken zu, lockst du ihn nach draußen, um ein Schneefort zu bauen!”

Sie griffen gleichzeitig nach den Satteltaschen, und nach kurzem Ringen ließ sie los. “Er ist ein Kind”, sagte Doss. “Wenn es nach dir ginge, würde er nichts anderes tun als durchs Teleskop schauen und Schach spielen!”

“Ich habe durchaus die Absicht, dass es auch weiterhin nach mir geht”, erwiderte sie. “Tobias ist mein Sohn, und ich werde mir nicht von dir sagen lassen, wie ich ihn zu erziehen habe!”

Mit Schwung warf Doss sich die Satteltaschen über die Schulter und trat zurück, seine braungrünen Augen verfinsterten sich. “Er ist der Sohn meines Bruders – und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass du aus ihm ein verweichlichtes kleines Hündchen machst, das an deinen Rockschößen klebt.”

“Das reicht, Doss. Du hast genug gesagt”, erwiderte sie knapp.

Da lehnte er sich so weit nach vorn, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. “Ich habe noch nicht mal angefangen zu reden, Mrs. McKettrick.”

Hannah ließ ihn stehen und marschierte Richtung Haus. Der Schnee war fast kniehoch, was es schwierig machte, wütend davonzustapfen. Ohne sich umzudrehen, rief sie ihm über die Schulter zu: “In einer Stunde ist das Abendessen fertig, aber vielleicht isst du ja lieber bei den Arbeitern.”

Doss’ Lachen ärgerte sie, was er sicherlich auch beabsichtigt hatte. “Mit dem alten Charlie kommt man zwar viel leichter aus als mit dir, aber wenn es ums Kochen geht, kann er dir nicht das Wasser reichen. Wie auch immer, er ist für einen Monat weg, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.”

Obwohl ihr in Gabes altem Wollmantel bitterkalt war, spürte Hannah, wie sie errötete. Gabes Geruch verflüchtigte sich langsam aus dem alten Gewebe, und sie wünschte, sie wüsste einen Weg, ihn festzuhalten.

“Ganz wie du willst”, erwiderte sie scharf.

Tobias schob gerade ein Holzscheit in den Herd, als sie hereinkam. Glühende Funken stoben den schwarzen Rauchfang hinauf, bevor er die Ofenklappe mit einem lauten Knall schloss.

“Wir haben doch nur ein Fort gebaut”, brummte er.

Hannah wurde ganz reglos bei seinem Anblick, so, als ob jemand ein Lasso über sie geworfen und fest zugezogen hätte. “Ich könnte Brot und Würstchen in Bratensoße machen”, sagte sie leise.

Aber Tobias ignorierte ihr Friedensangebot. “Du bist hinuntergeritten, um den Postwagen abzufangen”, meinte er, ohne sie anzusehen. “Habe ich irgendwelche Briefe bekommen?” Mit den Händen in den hinteren Hosentaschen und den dunkelblonden Haaren, die in der durchs Fenster schimmernden Wintersonne glänzten, sah er aus wie Gabe in seinem Alter.

“Einen von deinem Großvater”, sagte Hannah. Automatisch hängte sie ihre Mütze an den üblichen Haken, zog die gestrickten Fäustlinge aus und stopfte sie in die Taschen von Gabes Mantel. Den Mantel streifte sie immer zuletzt ab, weil sie es hasste, sich von ihm zu trennen.

“Welcher Großvater?” Tobias wärmte seine Hände am Ofen und weigerte sich noch immer, seine Mutter anzusehen.

Hannahs Familie lebte in Missoula, Montana, in einem großen Haus an einer dreispurigen Wohnstraße, und sie vermisste sie schrecklich. Dass Tobias auf einen Brief von Holt und nicht von ihrem Vater hoffte, schmerzte sie ein wenig.

“Der McKettrick-Opa”, antwortete sie.

“Gut”, nickte Tobias.

Die Hintertür ging auf, und Doss trat ein, noch immer die Satteltaschen über der Schulter. Normalerweise klopfte er vor dem Eintreten den Schnee von seinen Stiefeln, aber heute war er stur.

Hannah ging zum Ofen und füllte eine Schüssel mit heißem Wasser, um das Geschirr zu spülen, bevor sie zu kochen begann.

“Fang”, rief Doss fröhlich.

Als sie sich umdrehte, sah sie die Satteltasche mit der Post durch die Luft fliegen. Tobias fing sie geschickt und mit einem Grinsen auf.

Wann hatte er sie zuletzt so angegrinst?

Aufgeregt durchwühlte der Kleine die Taschen und fand schließlich den dicken, in San Antonio, Texas, abgestempelten Umschlag. Ihre Schwiegereltern Holt und Lorelei McKettrick besaßen eine Farm etwas außerhalb dieser weit entfernten Stadt. Seit Kriegsbeginn verbrachten sie viel Zeit dort, auch wenn Triple M nach wie vor ihr Zuhause war. Hannah kannte sie kaum. Auch Tobias kannte seine Großeltern nicht, doch seit er lesen konnte, führte er einen lebhaften Schriftverkehr mit den beiden. Seit Gabes Tod kamen die Briefe wöchentlich.

Natürlich waren Gabes Eltern zum Begräbnis gekommen, und seitdem hegte Hannah insgeheim eine bestimmte Befürchtung. Holt und Lorelei sahen in Tobias ihren verlorenen Sohn, genau wie sie selbst. Vor ihrer Abreise boten sie Hannah an, ihn mit nach Texas zu nehmen. Sie brauchte nicht abzulehnen – das erledigte Tobias für sie, aber er war sichtlich hin- und hergerissen. Ein Teil von ihm wollte mit.

Bis zur Abreise von Holt und Lorelei hatte Hannah furchtbare Ängste ausgestanden. Und wann immer nun ein Brief von ihnen kam, fühlte sie die Sorgen wieder in sich aufsteigen.

Sie sah Doss zu, wie er sich aus seiner Jacke schälte. Er war zusammen mit Gabe in die Army eingetreten, und auch er hatte die Grippe bekommen, aber überlebt. Nachdem er seinen toten Bruder zur Beerdigung nach Hause gebracht hatte, war er bei Hannah auf der Farm geblieben. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, wusste sie, dass Doss nicht mit seinen Eltern nach Texas gegangen war, um sich hier um Tobias zu kümmern.

Womöglich befürchteten die McKettricks, dass sie zurück nach Montana gehen würde, sobald sie über den Tod ihres Mannes hinweg war, und sie dann die Verbindung zu ihrem Enkel verlieren würden.

Tobias verschlang jedes einzelne Wort des Briefes, und als er am Ende angelangt war, begann er wieder von vorn.

Schnell sah Hannah weg. Das war der Moment, in dem ihr Blick auf die Teekanne auf der Küchentheke fiel. Sie sah zum Geschirrschrank, denn sie hatte die Teekanne nicht angerührt, da sie wusste, wie wichtig Lorelei die Kanne war. Auch Doss und Tobias hatten sie bestimmt nicht herausgenommen. Schließlich hatten sie im Schnee gespielt, während sie die Post geholt hatte, und kein Teekränzchen abgehalten.

“Hat einer von euch die Kanne rausgestellt?”, fragte sie trotzdem beiläufig und nahm die Kanne vorsichtig in die Hand, um sie zurückzustellen. Sie war zwar aus Gusseisen, aber die schöne Glasur hätte beschädigt werden können, und dieses Risiko wollte Hannah nicht eingehen.

Tobias schaute gar nicht erst in ihre Richtung, als er den Kopf schüttelte. Er war noch immer mit seinem Brief aus Texas beschäftigt.

Doss aber hob den Kopf. Neugierig wanderte sein Blick von Hannah zu der Teekanne. “Nein”, sagte er schließlich, um den Rest Kaffee aus der Kanne in den Ausguss zu kippen und frisches Wasser einzufüllen.

Mit gerunzelter Stirn schloss Hannah die Türen des Geschirrschranks.

“Komisch”, murmelte sie sehr leise.

3. KAPITEL

Heute

Um Liam nicht zu wecken, schlich Sierra die Hintertreppe hinunter in die Küche. Er hatte zwar schon fast einen Monat lang keinen Asthmaanfall mehr gehabt, aber er brauchte seinen Schlaf.

In der Absicht, Tee zu kochen und ein paar Minuten die Ruhe zu genießen, holte sie eine Tasse aus dem Schrank. Nach kurzem Suchen entdeckte sie auch eine Schachtel mit Orange Pekoe Tee und griff nach der Teekanne, dem Erbstück.

Sie war weg.

Ganz automatisch blickte sie zum Küchenschrank und entdeckte Loreleis Teekanne hinter dem Glas.

Ob Jesse oder Travis unbemerkt hier gewesen waren und die Kanne wieder in den Schrank gestellt hatten?

Das erschien ihr unwahrscheinlich. Männer und speziell Cowboys interessierten sich üblicherweise nicht für Teegeschirr, oder? Nicht, dass sie viel über Männer und Cowboys im Speziellen wusste.

Vorhin hatte sie Travis von Liams Schlafzimmerfenster aus gesehen, wie er das Pferd trainierte. Sierra war sicher, dass er nicht im Haus gewesen war, nachdem er die Taschen reingebracht hatte.

“Jesse?”, rief sie vorsichtig und rechnete schon halb damit, dass er hinter einem Möbelstück vorspringen würde.

Keine Antwort.

Sie ging ins Wohnzimmer und spähte durch den Spitzenvorhang hinaus. Jesses Truck war weg, er hatte tiefe Spuren in Matsch und Schnee hinterlassen, auf die sich bereits wieder eine frische Schneeschicht legte.

Irritiert kehrte Sierra in die Küche zurück, schnappte sich ihre Jacke und ging durch die Hintertür hinaus. Sie stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und zog den Kopf ein. Der Schneefall wurde heftiger, der Wind, der ihr entgegenschlug, war eiskalt. Nichts in ihrem Leben hatte sie auf dieses Hochlandwetter vorbereitet. Sie war in Mexiko aufgewachsen, nach dem Tod ihres Vaters nach San Diego gezogen und hatte die letzten Jahre in Florida verbracht. Vermutlich würde es eine Weile dauern, bis sie sich an den Klimawechsel gewöhnt hatte. Doch wenn sie etwas gelernt hatte auf ihrem langen Weg von damals bis heute, dann, sich anzupassen.

Die Tore des großen, verwitterten Stalls standen offen. Zitternd trat Sierra ein. Zwar war es hier drinnen wärmer, aber sie konnte noch immer ihren Atem sehen.

“Mr. Reid?”

“Travis”, kam die knappe Antwort aus einer Box. “Ich höre fast auf nichts anderes.”

Sierra überquerte den mit Sägemehl bedeckten Boden und entdeckte Travis auf der anderen Seite der Tür. Mit langen sanften Bürstenstrichen striegelte er Baldy.

“Haben Sie sich schon ein wenig eingewöhnt?”, fragte er.

“Schätze schon.” Sie lehnte sich an die Stalltür, um ihm beim Arbeiten zuzusehen. Es lag etwas sehr Beruhigendes in der Art, wie er sich um das Pferd kümmerte, fast hatte sie das Gefühl, als ob er ihre Haut berühren würde.

Gott bewahre!

Er richtete sich auf. Ein Zucken durchlief Baldys Körper. “Stimmt etwas nicht?”, fragte Travis.

“Nein, alles in Ordnung”, erklärte Sierra schnell und bemühte sich zu lächeln. “Ich habe mich nur gefragt …”

“Was?” Travis fuhr fort, das Tier zu bürsten. Dabei ließ er Sierra jedoch nicht aus den Augen, und das Pferd gab ein zufriedenes Schnaufen von sich.

Plötzlich kam ihr die Geschichte mit dem Teekessel albern vor. Wie sollte sie ihn oder Jesse fragen, ob sie die Kanne weggestellt hatten? Und selbst wenn es so gewesen wäre? Jesse war ein waschechter McKettrick, alles in dem Haus gehörte ihm genauso wie ihr. Und Travis war ein langjähriger Freund der Familie – wenn nicht mehr.

Zu ihrem Erstaunen berührte Sierra dieser Gedanke unangenehm. Meg hatte erwähnt, dass er alleinstehend und frei war – was durchaus bedeuten konnte, dass Meg und Travis mehr als nur Freundschaft verband.

“Ich habe mich nur gefragt … ob Sie auch Tee trinken”, redete Sierra sich notdürftig heraus.

“Nicht oft”, gab er zurück. Obwohl er lachte, sah man seinem Gesicht die Verwirrung an. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, was für eine Verrückte ihm Meg und Eve da aufgehalst hatten. “Laden Sie mich gerade ein?”

Sierra errötete und fühlte sich noch unwohler als zuvor. “Ähm … ja. Ja, ich glaub schon.”

“Ich hätte lieber Kaffee”, sagte Travis, “wenn das möglich wäre.”

“Ich setze schon mal eine Kanne auf”, antwortete Sierra erleichtert. Nun hätte sie eigentlich gehen sollen. Doch ihre Füße ließen sich nicht bewegen, als ob jemand ihre Schuhsohlen mit Sekundenkleber eingeschmiert hätte.

Travis hörte auf, das Pferd zu striegeln, strich mit einer behandschuhten Hand über den Pferdehals und wartete höflich, bis Sierra aus dem Weg ging, damit er die Boxentür öffnen und heraustreten konnte.

“Was ist denn wirklich los, Ms. McKettrick?”, fragte er, als sie sich auf dem langen Gang gegenüberstanden. Links und rechts von ihnen ertönte das Gewieher weiterer Pferde, die wahrscheinlich Travis’ Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.

“Sierra”, sagte sie und versuchte angestrengt, freundlich zu klingen.

“Gut, Sierra. Irgendwie habe ich das Gefühl, Sie sind nicht gekommen, um mich auf ein Tässchen Tee oder einen Kaffeeklatsch einzuladen.”

Darauf atmete sie seufzend aus und schob die Hände noch tiefer in die Jackentaschen. “Okay”, gab sie zu. “Ich wollte wissen, ob Sie oder Jesse noch einmal im Haus waren, nachdem Sie das Gepäck hereingebracht haben.”

“Nein”, antwortete Travis bereitwillig.

“Es wäre natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie …”

Ohne etwas zu sagen, nahm Travis Sierra am Arm und schob sie Richtung Stalltür. Draußen angekommen schloss er sie hinter ihnen ab.

“Jesse ist gleich darauf mit seinem Truck weggefahren”, informierte er sie. “Und ich habe mich in der letzten halben Stunde um Baldy gekümmert. Warum?”

Sierra wünschte, sie hätte gar nicht erst davon angefangen. Warum hatte sie nur die warme Küche verlassen, um sich der Kälte und Travis’ fragendem Blick zu stellen? Aber nachdem sie nun einmal beides getan hatte, musste sie die Sache jetzt auch aufklären. “Ich habe eine Teekanne aus dem Geschirrschrank genommen”, begann sie, “und auf den Tresen gestellt. Dann bin ich hoch in Liams Zimmer gegangen, um ihn für seinen Mittagsschlaf ins Bett zu bringen. Als ich wieder runterkam …”

Ein Grinsen ließ Travis’ Gesicht erstrahlen wie die Sommersonne einen kristallklaren See. “Was?”, hakte er nach. Er wechselte auf die andere Seite, um Sierra gegen den eisigen Wind abzuschirmen. Sie beschleunigten ihre Schritte.

“Sie stand wieder im Schrank. Aber ich könnte schwören, dass ich sie auf die Theke gestellt habe.”

“Seltsam.” Travis klopfte an der Treppe den Schnee von seinen Stiefeln.

Zitternd vor Kälte trat Sierra ins Haus, nahm ihren Mantel ab und hängte ihn auf.

Travis folgte ihr, schloss die Tür, zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Taschen seiner Jacke, bevor er sie zusammen mit seinem Hut neben Sierras Mantel hängte. “Dann muss es Liam gewesen sein”, mutmaßte er.

“Er schläft”, gab Sierra zurück. Da der Kaffee, den sie vorhin gekocht hatte, noch immer heiß war, schenkte sie zwei Becher ein und warf einen nervösen Blick auf den Geschirrschrank. Sie hätte es gesehen, wenn Liam die Treppe hinuntergekommen wäre. Doch selbst wenn nicht, war er zu klein, um an die Kanne zu kommen. Dafür hätte er sich einen Stuhl heranziehen müssen, und sie hätte die Schiebegeräusche gehört. Außerdem hätte Liam den Stuhl anschließend nicht mehr zurückgestellt, wie es nun mal seine Art war.

Mit einem Kopfnicken nahm Travis die Tasse, die Sierra ihm reichte, entgegen und trank einen Schluck. “Dann haben Sie sie eben selbst weggestellt”, beruhigte er sie. “Und es einfach vergessen.”

Sierra setzte sich auf den Stuhl direkt neben den Küchenofen, in dem ein tröstliches Feuer brannte. Travis machte es sich in ihrer Nähe auf der Bank gemütlich.

“Ich weiß, dass ich es nicht war.” Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe.

Einige Sekunden lang konzentrierte Travis sich auf seinen Kaffee, dann sah er ihr wieder ins Gesicht. “Es ist ein merkwürdiges Haus”, sagte er.

Cooles Haus, hatte Liam gleich nach ihrer Ankunft gesagt, aber es spukt. “Was meinen Sie damit?”, fragte sie.

“Meg wird mich umbringen, wenn ich es Ihnen sage”, erwiderte Travis.

“Wie bitte?”

“Sie will Ihnen keine Angst machen.”

Mit gerunzelter Stirn wartete Sierra ab.

“Das hier ist ein guter Ort”, erklärte Travis und ließ den Blick liebevoll durch die heimelige Küche wandern. Offenbar hatte er schon viel Zeit hier verbracht. “Obwohl manches Mal seltsame Dinge geschehen.”

Sierra hörte wieder Liams Stimme. Ich habe ein Kind oben in meinem Zimmer gesehen.

Sie schüttelte den Gedanken ab. “Unmöglich”, murmelte sie.

“Wenn Sie es sagen”, erwiderte Travis leutselig.

“Was für ‘komische Dinge’ geschehen in diesem Haus?”

Als Travis lächelte, überkam Sierra auf einmal das Gefühl, dass er sich um sie kümmerte, sie auf geschickte Weise lenkte wie zuvor das Pferd. “Von Zeit zu Zeit kann man hören, wie das Klavier von selbst spielt. Oder man betritt ein Zimmer und hat das Gefühl, an jemandem vorbeizugehen, obwohl man allein ist.”

Wieder erschauerte Sierra, aber dieses Mal nicht wegen der eisigen Januartemperaturen. In der Küche war es wohlig warm. “Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie vor Liam nicht so einen Quatsch erzählen würden. Er ist … leicht zu beeindrucken.”

Travis hob eine Augenbraue.

Seltsamerweise verspürte Sierra auf einmal das Bedürfnis, ihm zu erzählen, dass Liam einen Jungen in seinem Zimmer gesehen hatte. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Sie wollte nicht, dass Travis Reid oder irgendwer sonst dachte, dass Liam … anders war. Das hörte er oft genug von anderen Kindern, weil er überdurchschnittlich intelligent war, und sein Asthma machte die Sache auch nicht einfacher.

“Ich habe die Teekanne vermutlich selbst zurückgestellt”, sagte Sierra schließlich. “Und es dann vergessen. Genau wie Sie sagten.”

Doch Travis wirkte nicht überzeugt. “Sicher”, sagte er.

1919

Tobias trug den Brief zum Tisch. Doss hatte es sich in dem Sessel gemütlich gemacht, den jeder als Holts Sessel betrachtete.

“Sie haben dreihundert Stück Vieh gekauft”, erklärte der Junge seinem Onkel stolz und reichte ihm das Papier. “Und haben es den ganzen Weg von Mexiko nach San Antonio transportiert.”

Sein Onkel lächelte. “Wirklich?” Im Licht der Petroleumlampe wirkten seine eisblauen Augen viel wärmer. Das Haus hatte inzwischen zwar Strom, aber Hannah versuchte, damit so sparsam wie möglich umzugehen. Die letzte Rechnung hatte über einen Dollar für gerade mal zwei Monate betragen. Diese hohe Summe hatte sie entsetzt.

Energisch drehte sie sich wieder zum Herd, hob das Kinn ein wenig und stieß mit dem Holzlöffel fest in den Kuchenteig. Offensichtlich kam es Tobias nicht in den Sinn, dass sie den Brief vielleicht auch gern gelesen hätte. Immerhin war auch sie eine McKettrick, wenn auch nur eine angeheiratete.

“Wie es scheint, hat Mutter und Vater der Büffel sehr gefallen, den du für sie geschnitzt hast”, bemerkte Doss, nachdem er den Brief zur Seite gelegt hatte. “Hier steht, es sei das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie je bekommen haben.”

Tobias strahlte vor Stolz. Er hatte den ganzen Herbst an dem Büffel gearbeitet. Selbst im Krankenbett hatte er an dem Scheit geschnitzt, den Doss ihm aus dem Feuerholz ausgesucht hatte.

“Ich glaube, nächstes Jahr mache ich ihnen einen Bären”, verkündete er. Kein Wort darüber, ihren Eltern etwas zu schnitzen, wie Hannah feststellte. Dabei hatten sie ihm im Dezember ein Fahrrad und eine Spielzeugfeuerspritze geschickt. Die McKettricks hingegen mussten ihm natürlich am Weihnachtstag ein geflecktes Pony liefern lassen, mit nagelneuem Sattel und Zaumzeug. Obwohl Tobias seinen Großeltern in Montana pflichtbewusst geschrieben hatte, um sich für die Geschenke zu bedanken, hatte er nicht ein einziges Mal mit der Feuerspritze gespielt. Sie landete lediglich im Regal in seinem Zimmer, wo er sie umgehend vergaß. Das Fahrrad nutzte vor dem Frühling nicht viel, das war richtig. Aber er zeigte auch überhaupt kein Interesse mehr daran, seit das Pony angekommen war.

“Wasch dir die Hände vor dem Essen, Tobias McKettrick”, forderte Hannah ihn auf.

“Das Essen ist noch gar nicht fertig”, protestierte er.

“Hör auf deine Mutter”, ermahnte Doss ihn ruhig.

Dass er augenblicklich folgte, hätte Hannah freuen sollen, tat es aber nicht.

In der Zwischenzeit öffnete Doss die Satteltaschen und nahm die übliche Auswahl an Briefen, Magazinen und kleinen Paketen heraus, die Hannah bereits durchgesehen hatte, bevor der Postwagen um die Kurve verschwunden war. Sie war gleichermaßen enttäuscht und erleichtert gewesen, dass ihr Name nirgendwo zu lesen war. Einmal, Ende Oktober, als die feuerroten Blätter der Eichenbäume sich auf den Boden ergossen wie die Falten ausrangierter Kleider, hatte sie einen Brief von Gabe bekommen. Da war er schon vier Monate tot gewesen, und ihr Herz hatte vor Schreck fast ausgesetzt, als sie seine Handschrift auf dem Briefumschlag erkannte.

Einen kurzen verwirrenden Moment lang glaubte sie, dass alles nur ein Missverständnis gewesen war. Dass nicht Gabe, sondern irgendein Fremder an der Grippe gestorben war. Solche Verwechslungen kamen in Kriegszeiten schon mal vor, zumal sie die Leiche in dem zugenagelten Sarg nie gesehen hatte.

Mit dem Brief in der Hand stand sie weinend und zitternd an der Straße. Es verging über eine Viertelstunde, bevor sie in der Lage war, das Siegel zu brechen und den dicken Packen Pergamentpapier herauszunehmen. Zu diesem Zeitpunkt war sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt, doch als sie das Datum auf der ersten Seite sah, schrie sie laut auf: 17. März 1918.

Gabe war noch gesund gewesen, als er den Brief geschrieben hatte. Er freue sich auf zu Hause, schrieb er, dass es an der Zeit sei, die Familie zu vergrößern und wieder eine Rinderzucht auf ihrem Teil von Triple M aufzubauen.

Hannah fiel auf dem schmutzigen Boden auf die Knie, zu verzweifelt, um wieder aufzustehen. Das Maultier trottete allein nach Hause. Kurz darauf tauchte Doss auf. Noch immer presste sie die Seiten an ihre Brust, ihre Kehle schmerzte so sehr, dass sie kein Wort hervorbrachte.

Ohne ein Wort zu sagen, hatte Doss sie hochgehoben, auf sein Pferd gesetzt und war mit ihr nach Hause geritten.

“Hannah?”

Blinzelnd kehrte sie in die Realität zurück, betrachtete den Teig und das Päckchen mit den Würsten in ihrer Hand.

Doss stand neben ihr. Er roch nach Schnee und Kiefernholz und Mann. Er berührte ihren Arm.

“Geht es dir gut?”, fragte er.

Sie nickte.

Natürlich war das gelogen. Hannah war es nicht einen Tag gut gegangen, seit Gabe in den Krieg gezogen war. Wahrscheinlich würde es ihr nie wieder gut gehen.

“Du setzt dich jetzt hin”, befahl Doss. “Ich werde das Essen machen.”

Da sie keine Kraft mehr in den Beinen spürte, gehorchte sie und sah sich überrascht um. “Wo ist Tobias?”

Doss wusch sich die Hände, öffnete das Wurstpaket und gab den Inhalt in die riesige gusseiserne Bratpfanne, die schon auf dem Herd stand. “Oben”, antwortete er.

Tobias hatte einfach so den Raum verlassen, ohne dass sie es gemerkt hatte?

“Oh”, seufzte sie entnervt. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Trieb die Trauer sie nicht nur in gelegentliche Geistesabwesenheit, sondern über die Grenzen der Zurechnungsfähigkeit hinaus?

Sie dachte an den mysteriösen Ortswechsel der Teekanne ihrer Schwiegermutter.

Geschickt rollte Doss den Teig aus und stach mit der Kante eines Glases Kreise aus. Lorelei McKettrick hatte ihren Söhnen beigebracht, wie man kochte, Knöpfe annähte und jeden Morgen das Bett machte. Das zumindest musste man ihr hoch anrechnen, und eine ganze Menge mehr.

Im nächsten Moment reichte er ihr einen Becher Kaffee. Instinktiv wollte er seine Hand auf ihre Schulter legen, besann sich aber eines Besseren und zog sie wieder zurück. “Ich weiß, es ist schwer”, sagte er.

Hannah konnte ihn nicht ansehen. Sie wollte nicht, dass er die Tränen in ihren Augen sah, vermutete aber, dass er es auch so wusste. “Es gibt Tage, da weiß ich einfach nicht, wie es weitergehen soll. Aber es muss weitergehen, schon wegen Tobias”, flüsterte sie.

Doss ging neben Hannah in die Knie, nahm ihre Hände und sah ihr ins Gesicht.

“Ich habe mir bestimmt tausend Mal gewünscht, dass ich in diesem Grab oben auf dem Hügel liege und nicht Gabe. Ich würde alles dafür geben, an seiner Stelle zu sein, damit er hier bei dir und dem Jungen sein könnte.”

Der Schmerz fuhr in Hannahs Herz wie ein erbarmungslos geführtes Schwert. “So etwas darfst du nicht einmal denken”, stieß sie hervor, nachdem sie wieder Luft bekam. Sie zog ihre Hände weg, legte sie ganz kurz an sein ernstes, hübsches Gesicht und riss sie dann schnell wieder zurück. “Das darfst du nicht, Doss. Es ist nicht richtig.”

In diesem Moment polterte Tobias die Treppe hinunter.

Mit gerötetem Gesicht sprang Doss auf.

Hannah drehte sich weg und gab vor, sich für die Post zu interessieren. Doch das meiste war ohnehin für Holt und Lorelei und würde nach San Antonio weitergeleitet werden.

“Was ist los, Ma?”, fragte Tobias, besorgt über die unbehagliche Stille. “Geht es dir nicht gut?”

Offensichtlich hatte der Junge doch noch gesehen, wie Doss neben ihr kniete.

“Mir geht es gut”, sagte sie munter. “Ich habe mir nur vorhin vom Feuerholz einen Splitter zugezogen. Doss hat ihn herausgezogen.”

Tobias schaute von ihr zu seinem Onkel und wieder zurück.

“Kochst du darum das Essen?”, wandte er sich an Doss.

Wie Gabe war Doss dazu erzogen, jede Art von Lügen zu verabscheuen, selbst harmlose, die einen Jungen beruhigen würden, der seinen Vater verloren hatte und nun im tiefsten Innern befürchtete, seiner Mutter könnte ebenfalls was Schlimmes passieren.

“Ich koche unser Essen”, erklärte er tonlos, “weil ich es kann.”

Hannah schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder.

“Kannst du bitte den Tisch decken?”, bat Doss Tobias.

Hastig nahm Tobias Teller und Besteck aus dem Geschirrschrank.

In dem dämmrig beleuchteten Raum trafen sich Hannahs und Doss’ Blicke.

In ihrem Blick lag eine gewisse Anklage, so wie vorhin, als sie gesehen hatte, wie Tobias in der eisigen Kälte eines Hochlandwinters ein Schneefort baute.

“Es ist verdammt dunkel in diesem Haus”, fluchte Doss, ging in die Mitte des Raums und zog an der Schnur des Deckenleuchters. Die Glühbirne leuchtete so hell, dass Hannah blinzeln musste. Aber sie protestierte nicht.

Irgendetwas in Doss’ Gesicht hielt sie davon ab.

Heute

Travis hatte längst seinen Kaffee getrunken und das Haus wieder verlassen, als Liam mit zerrauftem Haar und geschwollenen Augen die Treppe herunterkam.

“Dieser Junge war wieder in meinem Zimmer”, sagte er. “Er saß am Schreibtisch und hat einen Brief geschrieben. Kann ich fernsehen? Da steht ein tolles HDTV-Gerät in dem Zimmer neben der Eingangstür. Und ein Computer mit großem Flachbildschirm.”

Auch Sierra kannte die noble elektronische Ausstattung, da sie eine Runde durchs Haus gedreht hatte, nachdem Travis gegangen war. “Du darfst eine Stunde fernsehen. Aber Hände weg vom Computer, der gehört nicht uns.”

Liams Schultern sackten ein wenig herab. “Ich weiß, wie man einen Computer bedient, Mom”, protestierte er. “Wir haben das in der Schule gelernt.”

Neben den Ausgaben für Miete, Essen und Arztrechnungen hatte Sierra kein weiteres Geld zusammenkratzen können, um einen PC zu kaufen. Sie selbst hatte den im Büro der Bar in Florida benutzt, in der sie gearbeitet hatte. So hatte Meg auch Kontakt mit ihr aufnehmen können.

“Wir kaufen uns einen”, versprach sie. “Sobald ich einen Job habe.”

“Meine Mailbox ist wahrscheinlich schon voll”, verkündete Liam beunruhigt. “All die Kinder aus dem Freak-Programm wollen mir schreiben.”

Dieser Ausdruck versetzte Sierra, die gerade eine Packung tiefgefrorener Erbsen zum Auftauen in die Mikrowelle legte, einen kleinen Stich. “Sag bitte nicht Freak-Programm.”

Darauf zuckte Liam nur mit den Schultern. “Alle tun das.”

“Geh fernsehen.”

Er ging.

Als es an der Hintertür klopfte, spähte Sierra durchs Fenster und sah Travis auf der Veranda stehen.

“Kommen Sie rein”, rief sie und ging zur Spüle, um sich die Hände zu waschen.

Als Travis eintrat, hielt er eine verführerisch duftende Tüte mit Essen vom Lieferservice in einer Hand. Der Kragen seiner Jacke war gegen die Kälte aufgestellt, den Hut hatte er bis zu den Augenbrauen gezogen.

“Brathähnchen”, sagte er und hob wie als Beweis die Tüte.

Die Zeitschaltuhr der Mikrowelle klingelte. “Ich war gerade dabei zu kochen”, erwiderte Sierra.

Travis grinste. “Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig”, antwortete er. “Wenn Sie Ihrer Schwester auch nur ein bisschen ähnlich sind, sollte man Sie nicht in die Nähe eines Herds lassen.”

Wenn Sie Ihrer Schwester auch nur ein bisschen ähnlich sind.

Bei diesen Worten wurde Sierra das Herz schwer. Sie wusste nicht, ob sie ihrer Schwester ähnelte oder nicht. Wenn Meg ihr nicht vor ein paar Wochen ein Foto gemailt hätte, hätte sie sie auf der Straße nicht einmal erkannt.

“Habe ich etwas Falsches gesagt?”, fragte Travis.

“Nein”, entgegnete Sierra schnell. “Es ist sehr aufmerksam von Ihnen, ein Hähnchen vorbeizubringen.”

Offenbar hatte Liam Travis’ Stimme gehört, denn er flitzte mit einem breiten Lächeln im Gesicht in die Küche.

“Hey, Travis”, rief er.

“Hey, Cowboy”, erwiderte Travis.

“Der Computer macht ein komisches klingelndes Geräusch”, berichtete Liam.

“Meg hat das so eingestellt, damit sie nicht vergisst, ihre Mails abzurufen, wenn sie hier ist”, erklärte Travis. Er stellte die Tüte auf den Tresen, machte aber keine Anstalten, Hut und Mantel abzulegen.

“Mom lässt mich nicht ran”, beschwerte Liam sich.

Travis blickte kurz zu Sierra, bevor er wieder Liam ansah. “Regeln sind Regeln, Cowboy”, sagte er.

“Regeln sind doof”, entgegnete Liam prompt.

“Fünfundneunzig Prozent davon mindestens”, stimmte Travis ihm zu.

Liams Laune besserte sich schlagartig. “Bleibst du zum Essen hier?”

“Das würde ich wirklich gern, aber ich werde woanders zum Essen erwartet”, antwortete er.

Damit erlosch Liams Strahlen umgehend wieder.

Sierra fragte sich, wo und mit wem Travis zu Abend essen würde – was sie sofort ärgerte. Das ging sie überhaupt nichts an, und ganz nebenbei war ihr auch egal, was er machte oder mit wem er was machte. Völlig egal.

“Vielleicht ein andermal”, sagte Travis.

Mit einem tiefen Seufzer zog Liam sich wieder ins Arbeitszimmer zu seiner einstündigen Fernsehzeit zurück.

“Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.” Sierra deutete auf die Tüte.

“Es ist doch Ihr erster Abend hier.” Travis öffnete die Tür. “Das gehört sich so für Nachbarn.”

“Vielen Dank”, erwiderte Sierra, aber da hatte er die Türe schon geschlossen.

Travis startete den Truck. Nur für den Fall, dass Sierra auf Motorengeräusche achtete, fuhr er hinter den Stall und parkte. Nachdem er noch kurz nach Baldy und den anderen drei Pferden gesehen hatte, zog er den Kopf ein und ging zu seinem Wohnwagen.

Die Unterkunft war eng, kleiner als der Kleiderschrank in seinem Schlafzimmer zu Hause in Flagstaff. Aber er brauchte nicht viel Platz. Er hatte ein Bett, eine kleine Küche, ein Badezimmer und Platz für seinen Laptop. Das reichte.

Mehr, als Brody jemals haben würde.

Er schleuderte Hut und Jacke auf die eingebaute Bank, die man auch als Sofa benutzen konnte. Ständig bemühte er sich, nicht an Brody zu denken, was ihm tagsüber, wenn er beschäftigt war, auch gut gelang. Abends und nachts jedoch sah die Sache ganz anders aus. Nach Einbruch der Dunkelheit gab es nicht viel mehr zu tun, als eine Tiefkühlmahlzeit zu verschlingen und Nachrichten zu sehen.

In Gedanken wanderte er zu Sierra und dem Jungen drüben in dem großen Haus, die bestimmt gerade das Hähnchen und die Beilagen verspeisten, die er in der Feinkostabteilung des einzigen Supermarkts in Indian Rock gekauft hatte. Er hatte nie vorgehabt, mit ihnen zusammen zu essen. Schließlich waren sie gerade erst angekommen und mussten sich einrichten. Und doch konnte er es sich gut vorstellen, mit ihnen an dem langen Tisch in der Küche zu sitzen.

Um seinen Kühlschrank zu durchforsten, musste er in die Hocke gehen. Zur Auswahl stand Hacksteak, Hacksteak und Hacksteak.

Während der Plastikteller in der winzigen Mikrowelle seine Runden drehte, machte Travis Kaffee. Dabei musste er an den letzten Besuch von Rance McKettrick denken. Als Witwer lebte Rance allein in dem Haus, das sein legendärer Vorfahre Rafe für seine Frau Emmeline und ihre gemeinsamen Kinder – zwei Töchter, die er größtenteils ignorierte – in den 1880ern gebaut hatte.

“Deine Behausung ist nicht mehr als ein schicker Sarg”, hatte Rance in seiner unverblümten Art bemerkt, als er sich in dem Wohnwagen umgesehen hatte. “Dabei ist Brody tot, Trav, nicht du.”

Travis rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. Brody war tot, richtig. Das ließ sich nicht bestreiten. Mit seinen siebzehn Jahren hatten ihm alle Türen offen gestanden. Doch er hatte es vorgezogen, sich in einem Hinterzimmer in den Slums von Phoenix bei dem Versuch, Meth herzustellen, in die Luft zu jagen.

Sein Blick fiel auf das Fenster über der Spüle und sein eigenes Spiegelbild. Hastig drehte er sich weg.

Als sein Mobiltelefon läutete, hätte er am liebsten die Mailbox angehen lassen, doch das konnte er nicht. Wenn er in der Nacht rangegangen wäre, als Brody angerufen hatte …

Also fischte er das Ding aus seiner Tasche, klappte es auf und sagte: “Reid.”

“Wie steht es mit ‘Hallo’?”, fragte Meg.

Seine Mikrowelle klingelte. Travis griff nach seinem Abendessen, verbrannte sich die Finger und fluchte laut.

Sie lachte. “Das wird ja immer besser.”

“Ich bin nicht in der Stimmung für Scherze, Meg”, bemerkte er, während er mit seiner unverletzten Hand den Wasserhahn aufdrehte und die schmerzenden Finger darunterhielt.

“Das bist du nie”, entgegnete sie.

“Den Pferden geht es gut.”

“Ich weiß. Sonst hättest du mich angerufen.”

“Was willst du dann?”

“Mann, Mann, haben wir aber gute Laune heute Abend. Ich rufe an, du alter Nörgler, um nach meiner Schwester und meinem Neffen zu fragen. Wie geht es ihnen? Wie sehen sie aus? Sierra ist so zurückhaltend, beinahe schon reserviert.”

“Das kannst du zweimal sagen.”

“Vielen Dank, aber das werde ich nicht tun. In der Kürze liegt die Würze.”

“Seit wann denn das?”, erkundigte sich Travis und lächelte endlich.

Wieder lachte Meg. Und einmal mehr wünschte Travis sich, er könnte sich in sie verlieben. Er hatte es versucht, beide hatten versucht, etwas zwischen ihnen in Gang zu bringen, nicht nur einmal. Dass Meg sich ein Kind wünschte und er nicht allein sein wollte, waren schließlich gute Voraussetzungen. Aber es hatte nicht funktioniert.

Der berühmte Funken fehlte.

Es gab keine Leidenschaft.

So würde es nie mehr zwischen ihnen geben als eine enge Freundschaft. Inzwischen hatte er sich größtenteils damit abgefunden, doch in den einsamen Momenten sehnte er sich nach etwas anderem.

“Erzähl mir von meiner Schwester”, verlangte Meg.

“Sie ist hübsch”, berichtete Travis. Richtig hübsch, korrigierte ihn eine innere Stimme. “Und sie ist stolz auf ihr Kind, aber geradezu überfürsorglich.”

“Liam hat Asthma”, sagte Meg leise. “Ich weiß von Sierra, dass er ein paarmal fast daran gestorben wäre.”

Travis vergaß seine verbrannten Finger, sein Hacksteak und seine persönlichen Sorgen. “Wie bitte?”, keuchte er.

“Das ist der einzige Grund, warum Sierra überhaupt bereit war, sich auf Mutter und mich einzulassen. Mutter, besser gesagt unsere Firma, bezahlt die medizinische Versorgung für Liam und sorgt dafür, dass er regelmäßig Termine bei einem Spezialisten in Flagstaff bekommt. Als Gegenleistung war Sierra damit einverstanden, ein Jahr auf der Ranch zu leben.”

Völlig reglos stand Travis da, während er die Worte auf sich wirken ließ. “Aber warum hier?”, fragte er dann. “Warum nicht bei dir und Eve in San Antonio?”

“Mutter und ich hätten uns sehr darüber gefreut”, gab Meg zu, “aber Sierra braucht … Distanz. Zeit, um sich an uns zu gewöhnen.”

“Zeit, um sich an zwei McKettrick-Frauen zu gewöhnen. Also sprechen wir vom Jahr 2050 plus minus einer Dekade?”

“Sehr witzig, Trav, Sierra ist selbst eine McKettrick, schon vergessen? Sie ist der Herausforderung gewachsen.”

“Sie ist definitiv eine McKettrick”, stimmte Travis ihr zu. Und noch definitiver eine Frau. “Wie hast du sie wiedergefunden?”

“Mom hatte sie und Hank schon aufgespürt, als Sierra noch klein war”, antwortete Meg.

Um die ganze Geschichte in Ruhe zu hören, ließ Travis sich auf sein ungemachtes Bett fallen. Das Laken muffelte langsam ein wenig, und jede Nacht kämpfte er mit den Pizzakrümeln, die in seinen Rücken piekten. Irgendwann dieser Tage würde er sich aufraffen und das Bett frisch beziehen.

“Sie aufgespürt?”, wiederholte er neugierig.

“Ja”, seufzte Meg. “Ich glaube, diesen Teil der Geschichte habe ich dir noch nicht erzählt.”

“Das glaube ich auch.” Travis wusste von der Entführung, davon, dass Sierras Vater mit ihr am Tag der Scheidung nach Mexiko verschwunden war. “Eve wusste Bescheid und hat keinen Finger gerührt, um ihre eigene Tochter zurückzuholen?”

“Mom hatte ihre Gründe.” Plötzlich klang Meg ein wenig abweisend.

“Oh, gut, na dann”, bemerkte Travis, “dann ist ja alles klar. Und was für Gründe sollen das gewesen sein?”

“Es ist nicht an mir, dir das zu sagen, Trav. Mom und Sierra müssen das zuerst miteinander klären, und es könnte eine Weile dauern, bevor Sierra bereit ist, überhaupt zuzuhören.”

Seufzend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. “Da hast du wohl recht”, räumte er ein.

Meg klang wieder fröhlicher. Trotzdem spürte er eine Verletzlichkeit, die mehr über sie verriet, als sie vermutlich wollte, egal, wie gut sie befreundet waren. “Und? Wie, glaubst du, stehen Mutters Chancen? Sich mit Sierra zu versöhnen, meine ich”, erkundigte sie sich.

“Die Wahrheit?”

“Die Wahrheit”, forderte Meg.

“Gleich Null. Sierra ist höflich zu mir, keine Frage. Aber sie ist so eigensinnig, wie eine McKettrick nur sein kann, und das will was heißen.”

“Na, besten Dank.”

“Du wolltest die Wahrheit hören.”

“Trotzdem, wie kannst du dir so sicher sein, dass Mom es nicht schafft?”

“Ist so eine Ahnung”, erwiderte Travis.

Travis war berühmt für seine Ahnungen. Zu dumm nur, dass er die eine, die ihm sagte, dass sein kleiner Bruder in großen Schwierigkeiten steckte, ignoriert hatte. Dabei hätte er alles stehen und liegen lassen und nach seinem Bruder suchen müssen, bis er ihn gefunden hätte.

“Vielleicht irre ich mich ja auch”, fügte er hinzu.

“Und was denkst du wirklich über Sierra, Travis?”

Mit der Antwort ließ er sich Zeit. “Sie ist geradezu übermäßig eigenständig. Vor allem aber hat sie eine Mauer um sich und das Kind aufgebaut, und sie macht nicht den Eindruck, als würde sie irgendjemanden an sich ranlassen. Außerdem wirkt sie ziemlich nervös. Wenn es nicht um Liam ginge und sie nicht pleite wäre, wie ich vermute, wäre sie auf keinen Fall nach Triple M gekommen.”

“Verdammt”, rief Meg. “Wir sind davon ausgegangen, dass sie nicht viel Geld besitzt, aber …”

“Ihr Auto hat in der Auffahrt den Geist aufgegeben, gleich, nachdem sie geparkt hatte. Ich hab mal einen Blick unter die Haube riskiert, und glaub mir, der Mechaniker, der diese Schrottkarre reparieren kann, ist noch nicht geboren.”

“Sie kann meinen Blazer fahren.”

“Das wird dich einiges an Überzeugungsarbeit kosten. Sie ist keine Frau, die man zu etwas zwingen kann. Vermutlich würde sie am liebsten ihr Kind schnappen und mit dem nächsten Bus irgendwohin abhauen.”

“Wie deprimierend”, seufzte Meg.

“Hey”, tröstete er sie. “Betrachte es doch mal von der positiven Seite. Sie ist hier, sie ist auf Triple M. Das ist ein Anfang.”

“Pass auf sie auf, Travis.”

“Als ob sie das zulassen würde.”

“Tu es für mich.”

“Oh bitte, Meg”, brummte er.

Nach einer kurzen Pause zielte Meg – und traf mitten ins Schwarze. “Dann tu es für Liam.”

4. KAPITEL

1919

Doss verließ das Haus nach dem Abendessen, angeblich, um ein letztes Mal nach dem Vieh zu sehen, bevor er nach oben ins Bett ging. Den Abwasch überließ er Tobias und Hannah. Vor der Tür stellte er den Kragen auf, um sich gegen die klirrende Kälte zu schützen. Sterne sprenkelten den schwarzen Winterhimmel.

In solchen Momenten vermisste er Gabe mit so berennender Intensität, dass er fast in Tränen ausgebrochen wäre. Doch er war ein McKettrick. Die Eigenschaft, die die McKettricks auszeichnete, nannte seine Mutter Willensstärke, Doss sprach im Stillen eher von Dickköpfigkeit.

Wenn er an seine Mutter dachte, musste er auch an seinen Vater denken. Seine Eltern vermisste er fast so schmerzlich wie Gabe. Seine Onkel Rafe, Kade und Jeb hatten sich zusammen mit ihren Frauen im Süden rund um Phönix niedergelassen, wo das Klima für ihre alten Knochen viel angenehmer war. Ihre Söhne dienten alle noch immer in der Army, obwohl der Krieg vorbei war. Sie warteten auf ihre Ausmusterung. Die Töchter hatten alle geheiratet und ihren Familiennamen McKettrick behalten. Sie lebten weit verstreut und entfernt in Boston, New York oder San Francisco.

Niemand von der Familie war hier geblieben, außer ihm, Hannah und Tobias. Das machte Doss’ Einsamkeit nur noch größer. Er wünschte sich sehnlichst, dass sie einfach alle zurück nach Hause kämen, wo sie schließlich hingehörten. Aber es war einfacher, wilde Katzen einzufangen als diese Horde.

Beim Blick zurück zum Haus sah er die Laterne im Küchenfenster leuchten. Er lächelte.

Unmittelbar nachdem er das Haus verlassen hatte, musste Hannah die elektrische Lampe ausgeschaltet haben. Sie machte sich ständig Sorgen und war äußerst sparsam, obwohl sie aus einer wohlhabenden Familie kam und in eine noch wohlhabendere Familie eingeheiratet hatte.

Sein Hals schnürte sich zusammen. Natürlich wusste er, dass sie sich verändert hatte, seit er Gabe in dem Kiefernsarg nach Hause gebracht hatte. Andererseits hatten sie sich alle verändert. Gabes Tod hatte ein Loch in die McKettrick-Familie gerissen. Nicht etwa ein kleines, säuberlich abgestepptes Loch – nein, ein großes, ausgefranstes Loch, und gemessen an der Tiefe seiner eigenen Trauer konnte er sich nicht vorstellen, dass es sich jemals wieder schließen würde.

Die Zeit heilt alle Wunden, hatte seine Mutter gesagt, nachdem sie Gabe oben auf dem Hügel begraben hatten, neben Angus und denen, die ihm gefolgt waren. Doch in ihren Augen glänzten Tränen, als sie es sagte. Und sein Vater – der hatte lange am Grab gestanden. So lange, bis Rafe, Kade und Jeb ihn weggeführt hatten.

Bei der Erinnerung stieß Doss einen Seufzer aus. “Gabe”, murmelte er tonlos, “Hannah sagt zwar, ich dürfe so nicht denken, aber ich wünsche mir noch immer, dass ich an deiner Stelle gestorben wäre.”

Er hätte alles für eine Antwort gegeben. Doch wo immer Gabe auch war, er schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Vielleicht gab es dort oben im Himmel Fischteiche oder Rinderherden, die zusammengetrieben und zum Markt gebracht werden mussten.

“Pass auf Hannah und meinen Jungen auf”, hatte Gabe ihn damals im Armeekrankenhaus gebeten, nachdem sie erfahren hatten, dass er sterben würde. “Versprich es mir, Doss.”

Doss hatte schwer geschluckt und dann das Versprechen gegeben, das nicht leicht zu halten war. Hannah schien keine Hilfe annehmen zu wollen. Jeden Morgen beim Aufwachen befürchtete er, dass dies der Tag war, an dem sie für immer zurück zu ihrer Familie nach Montana ging.

Als er hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde, schreckte Doss aus seinen Gedanken auf. Er zögerte einen Moment, dann steuerte er auf den Stall zu – bemüht, wie ein Mann zu wirken, der ein Ziel hatte.

Hannah holte ihn ein, eingewickelt in einen Schal und mit einer Laterne in der Hand.

“Ich glaube, ich werde wahnsinnig”, platzte sie heraus.

“Das ist die Trauer, Hannah”, erwiderte er schroff. “Das geht vorbei.”

“Das glaubst du genauso wenig wie ich”, entgegnete Hannah. Der Schnee fiel immer heftiger, der Wind war eisig.

Doss wechselte auf die andere Seite, um sie abzuschirmen. “Ich muss es einfach glauben”, erklärte er. “Ich ertrage die Vorstellung nicht, mich für immer so schrecklich zu fühlen.”

“Ich habe die Teekanne weggeräumt”, sagte Hannah. Kleine weiße Wölkchen stiegen von ihren Lippen auf. “Ich weiß, dass ich sie weggeräumt habe. Aber ich muss sie irgendwann wieder herausgestellt haben, ohne dass ich mich daran erinnern kann. Und das macht mir Angst, Doss. Das macht mir wirklich Angst.”

Am Stall nahm Doss ihr die Laterne ab und zog mit der anderen Hand die großen Tore auf. Das war nicht leicht, da der Schnee sich angehäuft hatte, seit er den Pferden, der Milchkuh und diesem verflixten Maultier Seesaw Wasser gegeben hatte. Die Kreatur stammte von dem Maultier seiner Mutter ab, das genauso geheißen hatte. Wer noch daran beteiligt gewesen war, konnte nicht festgestellt werden.

“Vielleicht bist du momentan ein bisschen vergesslich”, mutmaßte Doss, nachdem sie den Stall betreten und die Kälte hinter sich gelassen hatten. Bei dem vertrauten Geruch und den Geräuschen des dunklen Stalls fühlte er sich gleich etwas besser. Er kam oft hierher, auch wenn er nichts zu tun hatte, was selten vorkam. Auf einer Ranch gab es immer etwas zu tun – Holz hacken, Pferdegeschirr ausbessern, Tiere füttern: “Das bedeutet nicht, dass irgendetwas mit dir nicht in Ordnung ist, Hannah.”

Bitte sag es nicht, flehte er stumm. Bitte komm jetzt nicht auf den Gedanken, dass es besser für dich wäre, mit Tobias zurück nach Montana zu gehen.

Das war ein selbstsüchtiger Wunsch, das wusste er. In Montana könnte Hannah wieder ein Stadtleben führen. Sie müsste nicht fünf Meilen auf einem Maultier reiten, um die Post zu bekommen. Sie müsste auch nicht jeden Wintermorgen das Eis in den Wassertrögen zerstoßen, damit die Rinder und Pferde trinken konnten. Es gäbe keine Hühner, die gefüttert werden müssten, und keine Arbeitskleidung, in der sie fast wie ein Mann aussah.

Wenn Hannah Triple M verlassen würde, wüsste er nicht, wie es weitergehen sollte. Vor allem müsste er dann sein Versprechen brechen, auf Gabes Sohn und Frau aufzupassen. Aber das allein war es nicht. Da war noch so viel mehr.

“Das ist noch nicht alles”, vertraute Hannah ihm an.

Ohne etwas zu sagen, ging er von Stall zu Stall und betrachtete die verschlafenen Pferde, die irritiert in den Lichtstrahl seiner Laterne blinzelten. Er wollte Hannah genug Raum geben, um ihm zu sagen, was immer sie zu sagen hatte.

“Was ist es?”, fragte er dann aber doch, als sie nicht antwortete.

“Es geht um Tobias. Er hat mir gerade erzählt … er hat mir erzählt …”

Als Doss sich umdrehte, sah er Hannah in dem vom Mond erhellten Eingang stehen, von Silber übergossen, eine Hand an die Lippen gepresst.

Er ging zu ihr, stellte die Laterne ab und fasste sie mit beiden Händen an den Schultern. “Was hat er dir erzählt, Hannah?”

“Doss, er sieht Gespenster.”

“Was für Gespenster?”

“Einen Jungen.” Viel zu fest für eine zierliche Frau umklammerte sie seinen Arm. Ihre Finger durch die dicke Kleidung zu spüren, stellte seltsame Dinge mit ihm an. “Doss, Tobias behauptet, einen Jungen in seinem Zimmer gesehen zu haben.”

Prüfend sah Doss sich um. Er sah nichts als blankes, gefrorenes Land im Umkreis von vielen Meilen. “Das kann nicht sein”, sagte er.

“Du musst mit ihm sprechen.”

“Und ob ich mit ihm sprechen werde.” Hastig lief Doss zum Haus zurück, so versessen darauf, mit Tobias zu sprechen, dass er gar nicht daran dachte, Hannah vor dem Wind zu schützen. Hannah musste ihre Röcke anheben, um mit ihm Schritt zu halten.

Heute

“Erzähl mir von dem Jungen, den du in deinem Zimmer gesehen hast”, bat Sierra, nachdem sie das Grillhähnchen mit Kartoffelbrei, Bratensaft und gegrillten Maiskolben vertilgt hatten.

Liam sah ihr über den Tisch hinweg direkt in die Augen, als er antwortete. “Er ist ein Geist”, erklärte er und wartete förmlich auf ihren Protest.

“Vielleicht ein erfundener Spielkamerad?”, schlug Sierra vor. Dass Liam einsam war, das brachte ihr Leben mit sich. Nachdem ihr Vater sich in schäbigen Hinterhofkneipen in San Miguel zu Tode gesoffen hatte, waren sie wie Zigeuner durch Amerika gezogen. San Diego, North Carolina, Georgia und zuletzt Florida.

“Ich kann nichts Erfundenes bei ihm entdecken”, widersprach Liam fest. “Er trägt komische Kleidung, so wie diese Kinder früher, wie man es im Fernsehen sieht. Er ist ein Geist, Mom. Akzeptier das.”

“Liam …”

“Nie glaubst du mir!”

“Ich glaube dir immer”, sagte Sierra ruhig. “Aber du musst zugeben, was du erzählst, klingt ziemlich ungewöhnlich.” Wieder dachte sie an die Teekanne. Wieder schob sie ihre Erinnerung zur Seite.

“Ich lüge nie, Mom.”

Als sie seine Hand nahm, um sie zu tätscheln, zog er sie zurück, presste störrisch die Lippen aufeinander und sah sie durchdringend an. Sie versuchte es noch einmal. “Ich weiß, dass du nicht lügst, Liam. Aber du bist in einem fremden neuen Haus und vermisst deine Freunde und …”

“Und ich darf nicht mal nachsehen, ob sie mir E-Mails geschrieben haben!”, schrie er.

Sierra seufzte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich die Schläfen. “Gut”, lenkte sie ein. “Du kannst ins Internet gehen. Sei aber bitte vorsichtig. Der Computer ist teuer, und wir können es uns nicht leisten, ihn zu reparieren.”

Glücklich strahlte ihr Sohn sie an. “Ich mache nichts kaputt”, versprach er.

Ob er sie gerade ausgetrickst hatte und die ganze Geistergeschichte nur eine Erfindung gewesen war, um sie um den Finger zu wickeln?

Im nächsten Moment schämte Sierra sich für diesen Gedanken. Liam war grundehrlich. Er glaubte wirklich, ein anderes Kind in seinem Schlafzimmer gesehen zu haben. Sie sollte morgen früh seine neue Ärztin in Flagstaff anrufen und herausfinden, was sie aus medizinischer Sicht dazu zu sagen hatte. Im Geiste schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Auto anspringen würde, weil die Ärztin Liam sicher unverzüglich sehen wollte.

Inzwischen war Liam aufgesprungen und aus dem Raum gestürmt.

Nachdem Sierra abgespült hatte, folgte sie ihm so beiläufig wie nur möglich in den Raum neben der Eingangstür.

Er war bereits online.

“Genau, wie ich es mir gedacht habe!”, rief er erfreut. “Meine Mailbox explodiert beinahe.”

Der Fernseher lief noch immer, der Sprecher beschrieb mit trübsinniger Stimme die Folgen einer zweiten Eiszeit, die jede Sekunde anstand. Sierra drehte den Fernseher ab.

“He”, protestierte Liam. “Ich habe mir das gerade angehört.”

“Du bist erst sieben”, sagte sie. “Du solltest dir über das Schicksal unseres Planten keine Sorgen machen.”

“Irgendjemand muss das aber tun”, erwiderte Liam, ohne aufzusehen. “Deine Generation ist da ja nicht sonderlich erfolgreich.” Wie hypnotisiert starrte er auf den Computerbildschirm. Das blaugraue Licht spiegelte sich in seinen Brillengläsern, seine Augen waren nicht zu sehen. “Sieh mal! Die gesamte Freak-Gruppe hat mir geschrieben!”

“Ich habe dich gebeten …”

“Okay”, gab Liam sich geschlagen. “Die außerordentlich klugen Kinder der Begabtenförderung üben sich in Kommunikation.”

“Das ist schon besser.” Sierra unterdrückte ein Lächeln.

“Für dich sind auch ein paar Mails gekommen”, erzählte er ihr, während er schon dabei war, auf die Nachrichten zu antworten. Seine kleinen Finger flitzten geschickt über die Tastatur. Die Ein-Finger-Methode hatte Liam komplett übersprungen, wie all die anderen Kinder in seiner Klasse auch. Mit einem Computer umzugehen war für ihn selbstverständlich, gerade, als ob er schon mit dem nötigen Wissen auf die Welt gekommen wäre. Da es sich dabei um ein vollkommen normales Phänomen handelte, war Sierra einigermaßen beruhigt.

“Die lese ich später”, antwortete sie. Da sie nicht viele Freunde hatte, erwartete sie ohnehin nur den üblichen Penisverlängerungskram. Wie war sie nur auf deren Liste geraten?

“Sie werden bei einem richtigen Raketenstart dabei sein!”, schrie Liam ohne eine Spur von Neid in der Stimme. “Wow!”

“In der Tat, wow”, stimmte Sierra ihm zu. Sie sah sich in dem Raum um, der laut Meg ursprünglich ein Herrenzimmer gewesen war. Alte Bücher standen fein säuberlich in den Regalen. Es gab einen Kamin aus Naturstein, in dem das Feuerholz bereits aufgeschichtet war. Sierra entdeckte ein Streichholz auf dem Kaminsims und machte ein Feuer.

Ein Läuten ertönte vom Computer.

“Du hast gerade eine IM von Tante Meg bekommen”, verkündete Liam.

Wo hatte er eigentlich dieses Tante Meg her? Bisher hatte er sie noch kein einziges Mal getroffen, geschweige denn eine persönliche Beziehung zu ihr aufgebaut.

“IM?”, wunderte Sierra sich.

“Instant Message”, erklärte Liam. “Da solltest du wohl mal besser gleich nachschauen. Aber beeil dich, ich habe noch einen Haufen Mails zu beantworten.”

Also nahm Sierra sich den Stuhl, den Liam nur sehr ungern herausrückte, und las Megs Nachricht.

Travis hat mir erzählt, dass dein Auto kaputt ist. Nimm meinen Blazer. Die Schlüssel sind in der Zuckerdose neben der Teekanne.

Sofort meldete sich Sierras Stolz. Danke, antwortete sie viel langsamer, als Liam getippt hätte, aber wahrscheinlich werde ich dein Auto nicht brauchen. Mein Wagen ist nur … Sie hielt inne. Ihr Auto war nur was? Alt? … etwas müde, tippte sie, zufrieden mit der Wortwahl.

Die Batterien vom Blazer werden leer sein, bis ich wiederkomme, wenn das Auto nicht gefahren wird. Megs Antwort kam unverzüglich, sie war offensichtlich so schnell wie Liam.

Wird dir Travis alles berichten, was ich so treibe?, schrieb Sierra. Dabei machte sie so viele Fehler, dass sie immer wieder von vorn beginnen musste, und das ärgerte sie.

Ja, antwortete Meg. Weil ich vorhabe, jedes kleinste Detail aus ihm herauszupressen.

Sierra seufzte. Das wird aber nicht sonderlich spannend werden, antwortete sie langsam, aber ohne einen Fehler zu machen. Sie war aus der Übung. Wenn sie darauf hoffte, einen besseren Job als in einer Kneipe zu finden, musste sie schleunigst ihre Computerkenntnisse aufbessern.

Abschließend schickte Meg ein Smiley und ein Gute Nacht, Schwesterchen. (Das wollte ich schon immer mal sagen.)

Sierra biss sich auf die Lippen. Gute Nacht, hämmerte sie in die Tasten und stand auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr über dem Kamin, in dem das Feuer loderte.

Warum hatte sie es überhaupt angemacht? Sie war hundemüde und musste nun entweder einen Eimer Wasser über das Feuer schütten oder warten, bis es von selbst ausging. Da die erste Methode eine große Sauerei zur Folge hätte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.

“Beeil dich”, sagte sie zu Liam, der sich in der Sekunde, in der Sierra aufgestanden war, wieder auf den Stuhl hatte plumpsen lassen. “In einer halben Stunde ist Schlafenszeit.”

“Aber ich habe einen Mittagsschlaf gemacht”, erklärte Liam, während er gleichzeitig tippte.

“Mach bald Schluss.” Sierra verließ das Arbeitszimmer, ging die Treppe hoch in Liams Schlafzimmer und suchte seinen Lieblingspyjama, der noch in einem der Koffer sein musste. Sie wollte den Pyjama ein paar Minuten auf die Heizung legen, um ihn aufzuwärmen.

Irgendetwas zog sie jedoch zum Fenster. Und dann sah sie, dass in Travis’ Wohnwagen die Lichter brannten und sein Auto daneben parkte. Anscheinend war er nicht lange in der Stadt oder wo auch immer gewesen.

Warum machte sie der Gedanke so fröhlich?

1919

Hannah stand im Türrahmen von Tobias’ Zimmer und betrachtete ihren schlafenden Sohn. Er sah so friedlich aus, wie er dalag. Aber sie wusste, dass ihn manchmal schlimme Albträume quälten. Gestern erst war er in den frühen Morgenstunden in ihr Bett gekrabbelt, hatte sich so nah an sie gekuschelt, wie sein Kleiner-Jungen-Stolz es zuließ, und geflüstert, dass sie niemals sterben dürfe.

Das hatte sie so aus der Fassung gebracht, dass sie einen Moment nicht sprechen konnte.

Als sie ihn jetzt so daliegen sah, verspürte sie den Wunsch, ihn aufzuwecken, ganz fest an sich zu drücken und ihn davor zu bewahren, kleine Jungen zu sehen, die es nicht gab.

Er war einsam, das war alles. Tobias brauchte andere Kinder um sich. Zwar besuchte er eine weit entfernt liegende Schule, wenn sie nicht wegen Schneefalls geschlossen blieb, aber es gab nur ein Klassenzimmer und insgesamt sieben Schüler, die alle älter waren als er.

Vielleicht sollte sie wirklich mit ihm zurück nach Montana ziehen. Dort hatte er Cousins und Cousinen. Und sie würden in einer Stadt wohnen, wo es Läden gab und eine Bibliothek und sogar ein Lichtspielhaus. Im Frühjahr könnte er Fahrrad fahren lernen und mit anderen Jungs Baseball spielen.

Hannah fühlte einen furchtbaren Druck in ihrer Brust. Gabe hätte gewollt, dass sein Sohn so wie er auf der Ranch aufwuchs, ein Teil dieses gefährlichen, rauen Landstrichs wurde und lernte, auf seinem Pferd verirrte Rinder einzufangen. Natürlich hatte Gabe nicht damit gerechnet, jung zu sterben. Nach dem Krieg hatte er mit Hannah eine große Familie gründen wollen. Dann hätte Tobias viele Spielkameraden gehabt.

Eine Träne lief über Hannahs Wange, die sie hastig wegwischte.

Gabe war tot, und sie würde keine weiteren Kinder mehr bekommen.

Sie hörte Doss die Treppe hochsteigen. Eigentlich wollte sie nicht von ihm im Schlafzimmer ihres Sohnes gesehen werden. Er fand, dass sie sich viel zu viele Sorgen um Tobias machte und ihn keine Sekunde aus den Augen ließ.

Aber wie sollte ein Mann verstehen, was es hieß, Mutter zu sein und ein Kind großzuziehen?

Hannah schloss ihre Augen und rührte sich nicht.

Kurz darauf blieb Doss hinter ihr stehen. Sie konnte fühlen, wie unsicher er war, aber auch welche Hitze und Kraft von seinem Körper ausging.

“Lass das Kind schlafen, Hannah”, sagte er leise.

Vorsichtig schloss sie die Tür und drehte sich in dem dunklen Flur zu ihm um. Er trug ein Buch unter dem Arm und eine Laterne in der anderen Hand.

“Es ist, weil er einsam ist”, erklärte sie.

Und Doss verstand sofort, dass sie über Tobias’ Halluzinationen sprach. “Kinder erfinden nun mal Sachen”, sagte er. “Und einsam zu sein gehört zum Leben. Dieses Tal muss der Mensch durchschreiten und nicht davor weglaufen.”

Ein McKettrick lief niemals davon, das musste Doss nicht ausdrücklich betonen und sie auch nicht. Allerdings war sie keine McKettrick, zumindest keine geborene. Oh, sie schrieb zwar diesen Namen, wann immer sie etwas unterzeichnen musste, aber sie hatte an dem Tag aufgehört, sich als eine McKettrick zu fühlen, an dem sie Gabe zu Grabe getragen hatten.

Warum, das wusste Hannah nicht. Gabe war so stolz auf seinen Namen gewesen, so wie alle anderen McKettricks auch.

“Hast du dir jemals gewünscht, woanders zu leben?”, hörte Hannah sich fragen.

“Nein”, erwiderte Doss so schnell und so ernst, dass sie fast glaubte, er hätte ihre Gedanken gelesen. “Ich gehöre hierher.”

“Aber die anderen – deine Onkel und Cousinen –, sie sind nicht geblieben …”

“Frag jeden Einzelnen von ihnen nach seiner Heimat, und jeder wird dir antworten, dass es die Triple M Ranch ist.”

Hannah wollte noch was sagen, doch sie hielt inne und nickte. “Gute Nacht, Doss”, sagte sie.

Er neigte den Kopf, ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Aber Hannah blieb noch lange allein in der Dunkelheit stehen.

Mit Gabe war sie auf der Ranch so glücklich gewesen, sogar noch, als er in die Army eingetreten war. Denn sie hatte nie auch nur eine Sekunde lang daran gezweifelt, dass er zurückkommen würde, mit einem Seesack über der Schulter und pfeifend. Diese Vorstellung war sie tausendmal in ihrem Kopf durchgegangen, hatte sich ausgemalt, wie sie ihm entgegenlaufen und sich in seine Arme werfen würde.

Ohne ihn könnte sie genauso gut auf dem kalten, kahlen Mond leben.

Mit Tränen in den Augen ging sie langsam zum anderen Ende des Flurs auf den Raum zu, in den Gabe sie in ihrer Hochzeitsnacht getragen hatte. Er selbst war in diesem großen Bett gezeugt und geboren worden, genau wie Tobias. Und wie all die anderen Kinder, die sie gehabt hätte, wenn Gabe noch am Leben wäre.

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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