Die Herren der Unterwelt - Teil 4-6 (3in1)

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SCHWARZES FLÜSTERN

Sabin ist der Träger des Zweifels. Der Liebe hat er abgeschworen, seit sein Dämon die letzte Frau, die Sabin begehrte, vor Jahren regelrecht in den Tod getrieben hat. Seither kämpft er nur noch an der Seite der anderen Lords gegen die Jäger, Sterbliche, die die Dämonen bannen und die Lords danach töten wollen.

Auf einem der Feldzüge gegen die Jäger lernt Sabin in Ägypten jedoch Gwen kennen. Ihr, die halb Harpyie und halb Engel ist und demnach eine dunkle und eine helle Seite in sich vereint, kann der vom Zweifel gepeinigte Herr der Unterwelt nicht widerstehen. Doch gelingt es der Halbtochter Luzifers, ihre zerstörerische Kraft zu bannen? Und kann sie darüber hinaus den Dämon des Zweifels in Sabin zum Schweigen bringen?

SCHWARZE LEIDENSCHAFT

Sie trug keine Schuhe, und als sie mit nackten Füßen über einen Stein stolperte und hinfiel, ergoss sich das dunkle Haar über ihr Gesicht. Ihre Hände zitterten, als sie sich eine Strähne aus der Stirn strich.

Schon seit längerem fühlt sich Aeron von einer unsichtbaren Macht beobachtet. Der unsterbliche Krieger und Hüter des Zorn-Dämons fürchtet, es könnte sich um einen gefallenen Engel handeln - gesandt, um ihn zu töten. Umso verwirrter ist Aeron, als plötzlich eine wunderschöne Frau aus Fleisch und Blut vor ihm steht. Olivia offenbart ihm, dass sie dem Himmel entsagt und das Leben einer Sterblichen gewählt hat, weil sie nicht ihn umbringen, sondern sein Herz für sich gewinnen möchte.

SCHWARZE LÜGEN

Er darf alles, nur eins ist ihm bei Todesqualen verboten: die Wahrheit zu sagen. Gideon ist der fünfte Herr der Unterwelt, und in ihm haust der Dämon der Lüge.
Und so wie er selbst Wahres nicht benennen darf, so erkennt er bei anderen sofort die Lüge. Bis er auf Scarlet trifft, eine ebenfalls unsterbliche Seele. Sie behauptet, seine Frau zu sein: der Mensch, den er einst geheiratet und leidenschaftlich geliebt hat. Doch so wenig Gideon sich erinnern kann, so wenig deutet darauf hin, dass Scarlet lügt.
Im Gegenteil: In ihrer Gegenwart flammt in Gideon ein längst vergessenes Verlangen neu auf. Doch er darf ihm nicht nachgeben, denn damit würde er Scarlet in tödliche Gefahr bringen …


  • Erscheinungstag 16.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769291
  • Seitenanzahl 1456
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Gena Showalter

Die Herren der Unterwelt - Teil 4-6 (3in1)

1. KAPITEL

Sabin, der Hüter des Dämons Zweifel, stand in den Katakomben einer antiken Pyramide – schwitzend, keuchend, die Hände mit dem Blut seines Feindes getränkt, den Körper mit Schnittwunden und Blutergüssen übersät, während er das Blutbad betrachtete, das ihn umgab. Ein Blutbad, an dessen Entstehung er nicht ganz unbeteiligt war.

Fackeln flackerten, genau wie die Schatten an den Steinwänden. Wände, an denen nun blutrote Spritzer klebten, hinabrannen ... sich in einer Lache sammelten. Der Sandboden sah aus wie eine feuchte dunkle Paste. Vor einer halben Stunde war er noch honigbraun gewesen, seine Körner hatten gefunkelt und sich unter ihren Schritten zerstreut. Jetzt lagen überall Leichen in dem engen Gang. Der Geruch des Todes hing schon in der Luft.

Neun seiner Feinde hatten den Angriff überlebt. Nachdem sie ihnen die Waffen abgenommen hatten, hatten sie sie in einer Ecke gefesselt. Die meisten zitterten vor Angst. Nur wenige standen mit breiten Schultern, erhobenem Kinn und hasserfülltem Blick dort und weigerten sich trotz ihrer Niederlage, klein beizugeben. Verdammt bewundernswert.

Schade, dass ihr Mut gebrochen werden musste.

Mutige Männer plauderten ihre Geheimnisse nicht aus, aber Sabin wollte ihre Geheimnisse erfahren.

Er war ein Krieger, der tat, was getan werden musste, zum richtigen Zeitpunkt und gleichgültig, was von ihm verlangt wurde. Töten, foltern, verführen. Er zögerte auch nicht, seinen Männern dasselbe abzuverlangen. Bei den Jägern – Sterbliche, die fanden, dass er und die anderen Herren der Unterwelt sich perfekt als Sündenböcke für alles irdische Übel eigneten – ging es einzig darum, zu siegen. Denn nur wenn sie den Krieg gewännen, könnten seine Freunde irgendwann in Frieden leben. Frieden, den sie verdienten. Frieden, den er ihnen von Herzen wünschte.

Er hörte flache, unregelmäßige Atemzüge. Seine, die seiner Freunde, die seiner Feinde. Jeder von ihnen hatte bis ans Ende seiner Kräfte gekämpft. Es war ein Kampf von Gut gegen Böse gewesen, und das Böse hatte gesiegt. Oder vielmehr das, was diese Jäger als das Böse bezeichneten. Er und diejenigen, die durch die Umstände zu seinen Brüdern geworden waren, dachten da anders.

Zugegeben, vor langer Zeit hatten sie die Büchse der Pandora geöffnet und die Dämonen befreit. Doch sie hatten von den Göttern ihre Strafe erhalten: Jeder Krieger musste einen dieser abscheulichen Dämonen aufnehmen. Und zwar auf ewig. Es stimmte zwar, dass sie einst die Sklaven ihrer neuen dämonischen Hälfte gewesen waren – zerstörerische und brutale Mörder ohne Gewissen. Aber sie hatten die Kontrolle wiedererlangt und waren in den wichtigsten Bereichen Menschen. Meistens zumindest.

Manchmal kämpften die Dämonen, siegten und ... zerstörten.

Dennoch. Wir verdienen es zu leben, dachte er. Wie jeder andere litten sie, wenn ihre Freunde verletzt wurden, und wie jeder andere lasen sie Bücher, sahen sich Filme an, spendeten für gute Zwecke. Verliebten sich. Aber die Jäger würden sie niemals so sehen. Sie waren davon überzeugt, dass die Welt ohne die Herren ein besserer Ort wäre. Eine Utopie, besinnlich und perfekt. Sie glaubten, dass man alle Sünden, die je begangen worden waren, den Dämonen anlasten konnte. Vielleicht weil sie dumm wie Kuhmist waren. Oder weil sie ihr Leben hassten und jemanden brauchten, dem sie dafür die Schuld geben konnten. So oder so – die Jäger zu töten war Sabins wichtigste Aufgabe geworden. Seine Utopie war nämlich ein Leben ohne sie.

Deshalb hatten er und die anderen die Annehmlichkeiten ihres Budapester Zuhauses vorübergehend aufgegeben und die vergangenen drei Wochen damit zugebracht, jede gottverdämmte Pyramide Ägyptens nach vergessenen Artefakten zu durchsuchen, die ihnen helfen sollten, die Büchse der Pandora wiederzufinden – den Gegenstand, mit dem die Jäger sie vernichten wollten. Schließlich hatten er und seine Freunde ins Schwarze getroffen.

„Amun“, sagte Sabin und zeigte auf den Krieger in der dunklen Ecke ihm gegenüber. Wie immer verschmolz er mit dem Schatten. Sabin wies mit einer grimmigen Kopfbewegung auf die Gefangenen. „Du weißt, was du zu tun hast.“

Amun, der Hüter der Geheimnisse, nickte bedrohlich, ehe er losging. Wie immer schwieg er, als hätte er Angst, die schrecklichen Geheimnisse, die er über die Jahrhunderte in sich gesammelt hatte, würden aus ihm herausplatzen, wenn er auch nur ein Wort sagte.

Als sie den massigen Krieger sahen, der ihre Kameraden mit einer Leichtigkeit in zwei Hälften gerissen hatte, als würde er mit einem Messer Seide zerschneiden, machten die verbliebenen Jäger einen Schritt zurück. Sogar die mutigen. Klug von ihnen.

Amun war groß, schlank und muskulös. Er hatte einen Gang, der zugleich entschlossen und anmutig wirkte. Entschlossenheit ohne Anmut hätte ihn zu einem Nullachtfünfzehn-Krieger gemacht. Weil er aber beides hatte, strahlte er diese stille Wildheit aus, die man für gewöhnlich nur bei Raubtieren sieht, die ihre Beute zwischen den Fängen nach Hause tragen.

Als er vor den Jägern stand, hielt er inne. Er musterte die ausgedünnte Menge. Dann machte er einen Satz nach vorn und packte den Mann in der Mitte an der Kehle. Er hob ihn so hoch, dass sie sich auf Augenhöhe befanden. Der Mensch strampelte mit den Beinen und schlug mit den Händen gegen Amuns Handgelenke, während er immer blasser wurde.

„Lass ihn runter, du elender Dämon“, rief einer der Jäger und zerrte an der Hüfte seines Kameraden. „Du hast so viele Unschuldige getötet und schon so viele Leben zerstört!“

Amun blieb unbeeindruckt. Wie sie alle.

„Er ist ein guter Mann“, schrie ein anderer. „Er hat es nicht verdient zu sterben. Und schon gar nicht durch die Hand des Bösen!“

Gideon, der blauhaarige, kohläugige Hüter der Lügen, war im Nu an Amuns Seite und trieb die Aufständischen zurück. „Wenn du ihn noch einmal berührst, küsse ich dich windelweich.“ Er zückte zwei gezackte Messer, an deren Klingen noch Blut klebte.

„Küssen“ bedeutete in Gideons verdrehter Welt „prügeln“. Oder war es „töten“? Sabin hatte den Überblick darüber verloren, was im Lügen-Code was bedeutete.

Einen Moment lang herrschte irritiertes Schweigen, während die Jäger versuchten, die Bedeutung von Gideons Worten zu verstehen. Noch ehe sie so weit waren, hörte Amuns Opfer auf zu zappeln. Amun ließ den schlaffen Körper fallen, der reglos auf dem Boden landete.

Lange rührte sich Amun nicht vom Fleck. Niemand berührte ihn. Nicht mal die Jäger. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihren Kameraden wiederzubeleben. Sie wussten nicht, dass es zu spät war. Dass Amun den Verstand des Mannes gelöscht hatte und der neue Besitzer intimster Geheimnisse war. Vielleicht sogar von Erinnerungen. Er hatte Sabin nie erzählt, wie es funktionierte, und Sabin hatte nie danach gefragt.

Langsam drehte Amun sich um. Seine Bewegungen wirkten steif. Sein dunkler Blick traf für einen düsteren, qualvollen Moment auf Sabins. Er konnte nicht verhehlen, wie sehr es ihn schmerzte, eine neue Stimme in seinem Kopf zu hören. Dann blinzelte Amun, versteckte den Schmerz wie schon tausende Male zuvor und ging langsam auf die gegenüberliegende Wand zu. Sabin beobachtete ihn und zwang sich, ruhig und entschlossen zu bleiben. Ich werde mich nicht schuldig fühlen. Das muss getan werden.

Die Wand sah genauso aus wie all die anderen – zerklüftete Steine, die aufeinandergestapelt worden waren und schräg anstiegen –, und dennoch spreizte Amun die Finger, legte eine Hand auf den siebten Stein von unten und die andere mit geschlossenen Fingern auf den fünften Stein von oben. Synchron bewegte er eine Hand nach links und die andere nach rechts.

Die Steine drehten sich mit.

Wie gebannt beobachtete Sabin das Geschehen. Er war immer wieder erstaunt, wie viel Amun innerhalb weniger Sekunden in Erfahrung bringen konnte.

Als die Steine in ihrer neuen Position einrasteten, bildete sich in ihrer Mitte ein Riss, der sich nach oben und unten ausbreitete – bis zu einer schmalen Öffnung, die Sabin erst jetzt wahrnahm. Ein Teil der Wand wich zurück, immer weiter zurück, bis er schließlich langsam zur Seite rückte. Dahinter kam eine Türöffnung zum Vorschein, breit genug, dass eine ganze Armee massiger Bestien, wie er eine war, hindurchgelangt wären.

Während die Öffnung immer größer wurde, wehte kühle Luft durch die Katakomben. Das Feuer der Fackeln knisterte. Beeilung, beschwor Sabin die Steine. Hatte sich jemals etwas so provozierend langsam bewegt?

„Warten auf der anderen Seite noch mehr Jäger?“, fragte er, nahm dabei seine Sig Sauer aus dem Hüftholster und überprüfte das Magazin. Noch drei Kugeln. Er holte Munition aus seiner Tasche und lud nach. Der Schalldämpfer blieb, wo er war.

Amun nickte und hielt sieben Finger hoch, bevor er sich an dem immer größer werdenden Spalt in Wachposition stellte.

Sieben Jäger gegen zehn Herren. Ausgenommen Amun, denn der wäre schon bald viel zu abgelenkt von der neuen Stimme in seinem Kopf und nicht in der Lage zu kämpfen. Doch jeder wusste, dass Amun trotzdem (schweigend) verlangen würde, in die Aktion eingeplant zu werden. Dennoch arme Jäger, dachte Sabin, sie haben keine Chance. „Wissen sie, dass wir hier sind?“

Ein düsteres Kopfschütteln.

Dann gab es keine Kameras, die jeden ihrer Schritte überwacht hätten. Hervorragend.

„Sieben Jäger – das ist ein Kinderspiel“, kommentierte Lucien, der Hüter des Todes, als er an der gegenüberliegenden Wand herabsank. Er war blass, und seine verschiedenfarbigen Augen glänzten ... fiebrig? „Macht ohne mich weiter. Ich werde schwächer. Außerdem muss ich sowieso bald wieder Seelen begleiten. Und ich muss noch unsere Gefangenen in den Kerker in Buda werfen.“

Dank seines Dämons konnte sich Lucien allein mit der Kraft seiner Gedanken von einem Ort zum nächsten bewegen. Meist war er gezwungen, die Toten ins Jenseits zu führen. Das hieß jedoch nicht, dass er unbesiegbar war. Sabin zog die Augenbrauen hoch und sah zu ihm hinüber. Die Narben auf seinem Gesicht traten deutlicher hervor als sonst, seine Nase war kaum noch als solche zu erkennen. Er hatte eine Schussverletzung an der Schulter, eine im Bauch, und dem roten Fleck nach zu urteilen, der sich auf seinem Rücken ausbreitete, war seine Niere getroffen worden.

„Bist du in Ordnung, Mann?“

Lucien lächelte. „Ich werd’s überleben. Auch wenn ich mir morgen wahrscheinlich wünsche, tot zu sein. Ein paar Organe sind geschreddert.“

Autsch. Davon würde er sich erst mal erholen müssen. „Wenigstens musst du deine Arme und Beine nicht wiederherstellen.“

Aus dem Augenwinkel sah er Amun Handzeichen geben.

„Nicht nur, dass keine Kameras installiert sind, sie befinden sich außerdem in einer Kammer mit schalldichten Wänden“, übersetzte Sabin. „Das hier ist früher mal ein Gefängnis gewesen, und die Sklavenhalter wollten nicht, dass man ihre Knechte schreien hörte. Die Jäger haben keine Ahnung, dass wir hier sind. Es dürfte leicht werden, sie zu überfallen.“

„Für einen Angriff aus dem Hinterhalt braucht ihr mich ja nicht. Ich bleibe hier bei Lucien“, sagte Reyes, ließ sich auf den Boden fallen und lehnte sich ermattet gegen einen Stein. Reyes’ dämonischer Partner war Schmerz. Physische Qual bereitete ihm Freude, und Verletzungen gaben ihm Kraft. Während des Kampfes. Danach war er genauso geschwächt wie die anderen. Momentan war sein Körper von allen am stärksten geschunden: Seine Wange war so stark geschwollen, dass sogar das Auge in Mitleidenschaft gezogen wurde. „Außerdem muss jemand die Gefangenen bewachen.“

Dann also sieben gegen acht. Arme Jäger. Sabin nahm an, dass Reyes hierbleiben wollte, um Lucien zu beschützen. Denn Lucien konnte nur mit seinem Körper in die Geisterwelt eintreten, wenn er genügend Kraft hatte, und das war augenblicklich eher nicht der Fall.

„Eure Frauen werden mir die Hölle heißmachen“, murmelte Sabin. Die beiden waren frisch verliebt, und sowohl Anya als auch Danika hatten Sabin vor dem Aufbruch nach Ägypten um etwas gebeten. „Bring mir meinen Mann heil zurück“, hatten sie gesagt.

Wenn ihr Mann in diesem desolaten Zustand nach Hause kam, würde Danika Sabin ansehen und enttäuscht den Kopf schütteln, um dann sogleich zu Reyes zu eilen und seine Wunden zu versorgen. Sabin würde sich dreckiger fühlen als der Matsch auf seinen Stiefeln. Anya würde ihm die gleichen Schussverletzungen zufügen, die Lucien davongetragen hatte, und sich dann um Lucien kümmern. Sabin müsste Schmerzen erleiden. Starke Schmerzen.

Seufzend ließ er den Blick über die übrigen Krieger schweifen und versuchte zu entscheiden, wer fit genug war, um mitzukommen, und wer zurückbleiben musste. Maddox – mit dem Dämon der Gewalt – war der wildeste Kämpfer, den er kannte. Im Augenblick war er genauso blutgetränkt und atemlos wie Sabin, aber er hatte sich schon zu Amun gestellt und war bereit für den Einsatz. Seine Frau wäre genauso unzufrieden mit Sabin wie Danika und Anya.

Sabins Blick glitt zu der anmutigen Cameo. Sie war die Hüterin des Elends und die einzige Frau unter ihnen. Was ihr an Körpergröße fehlte, kompensierte sie mit ihrer Grausamkeit. Allerdings brauchte sie nie handgreiflich zu werden – es genügte, wenn sie zu reden anfing. Denn die Menschen konnten den gesammelten Kummer der Welt, der in ihrer Stimme lag, nicht ertragen und begingen meistens schnell Selbstmord. Jemand hatte ihren Hals verletzt und drei tiefe Wunden hinterlassen. Doch das konnte sie offenbar nicht aufhalten, denn kaum hatte sie ihre Machete zu Ende gesäubert, stellte sie sich zu Amun und Maddox.

Sabins Blick wanderte noch ein Stück weiter. Paris war der Hüter der Promiskuität. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er der Heiterste unter ihnen gewesen war. Nun wirkte er mit jedem Tag, der verstrich, härter und rastloser. Sabin hatte keine Ahnung, was diese Veränderung verursacht haben mochte. Aber was es auch war, in diesem Moment lauerte Paris vor den Jägern, knurrte wütend und war dermaßen auf Krieg eingestellt, dass er vor grausamer Energie regelrecht zitterte. Sabin war fast sicher, dass Paris trotz der zwei klaffenden Wunden in seinem rechten Bein um keine Verschnaufpause bitten würde.

Neben ihm stand Aeron, Hüter des Zorns. Die Götter hatten ihn erst vor Kurzem von einem Blutrausch-Fluch befreit. Vorher war niemand, der sich in seiner Nähe befunden hatte, sicher gewesen. Er hatte gelebt, um zu verletzen und zu töten. In Augenblicken wie diesem war es immer noch so, das wusste Sabin. Heute hatte Aeron gekämpft, als befände er sich nach wie vor in diesem Rausch. Er hatte jeden in seiner Reichweite gnadenlos verprügelt – fast schon zerfleischt. Das war gut, nur ... Wie stark würde dieser Blutrausch nach dem nächsten Kampf sein? Sabin befürchtete, dass sie Legion rufen müssten, die kleine, blutdürstige Dämonin, die Aeron wie einen Gott anbetete und die Einzige war, die ihn in seinen dunkelsten Stunden besänftigen konnte. Nur leider befand sie sich zurzeit in der Hölle, wo sie sich für die Krieger aufmerksam umsah. Denn Sabin hielt sich gern auf dem Laufenden, er musste wissen, was in der Unterwelt geschah. Wissen war Macht, und man ahnte nie, wozu man es mal brauchte.

Unversehens rammte Aeron einem Jäger die Faust gegen die Schläfe und verwandelte den Menschen in einbewusstloses Häufchen.

Sabin sah ihn irritiert an. „Wofür war das denn?“

„Er wollte uns angreifen.“

Das war zwar stark zu bezweifeln, aber trotzdem durchtrennte Paris die unsichtbaren Fesseln, die ihn bis zu diesem Moment zurückgehalten hatten, und machte sich über die restlichen Gefangenen her – systematisch verprügelte er einen Jäger nach dem anderen, bis alle am Boden lagen.

„Jetzt müssten sie bis auf Weiteres so still sein wie Amun.“ Paris keuchte.

Seufzend richtete Sabin seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen Krieger. Auf Strider, Hüter der Niederlage. Der Mann konnte nicht verlieren, ohne unsägliche Schmerzen zu erleiden. Deshalb sorgte er dafür, dass er gewann. Immer. Und sicher, um sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten, holte er gerade die Kugel heraus, die ihn in die Seite getroffen hatte. Gut. Auf ihn konnte Sabin sich stets verlassen.

Kane, Hüter der Katastrophe, stellte sich vor ihn und duckte sich, als plötzlich Geröll von der Decke fiel und Staub aufwirbelte. Mehrere Krieger husteten.

„Äh, Kane“, begann Sabin, „bleib du doch am besten auch hier. Du könntest Reyes bei der Bewachung der Gefangenen helfen.“ Das war ein fadenscheiniger Vorwand, und jeder wusste es.

In dem Schweigen, das auf seinen Vorschlag folgte, ertönte nur das Geräusch der stetig zur Seite gleitenden Steinmauer, die über den Sand schabte. Dann nickte Kane kurz. Er hasste es, wenn man ihn außen vor ließ, das wusste Sabin. Doch seine Anwesenheit verursachte manchmal mehr Probleme, als dass sie welche löste. Und wie immer stellte Sabin den Sieg über die Gefühle seiner Freunde. Das machte er nicht gern, und er täte es auch nicht in jeder Situation. Aber irgendjemand musste mit kühlem Verstand vorgehen – sonst würden sie immer den Kürzeren ziehen.

Ohne Kane würde es in dem bevorstehenden Kampf sieben gegen sieben stehen. Arme Jäger, dachte Sabin wieder. Sie haben immer noch keine Chance. „Will noch jemand hierbleiben?“

Das einstimmige „Nein“ hallte von den Wänden der Kammer wider. In den unterschiedlichen Klangfarben schwang Ungeduld mit. Eine Ungeduld, die auch Sabin verspürte.

Solange sie die Büchse der Pandora nicht gefunden hatten, waren diese Auseinandersetzungen unumgänglich. Aber ohne diese gottverdammten Artefakte, die ihnen den Weg wiesen, konnten sie sie nicht finden. Und da eine der vier Reliquien vermutlich hier in Ägypten lag, war dieser Kampf wichtiger als die meisten anderen. Sabin würde es nicht zulassen, dass die Jäger auch nur ein Artefakt in die Finger bekämen. Denn die Büchse konnte Sabin und alle, die ihm nahestanden, vernichten, indem sie ihnen die Dämonen aus dem Körper zog und nichts als leblose Hüllen übrig ließ.

Trotz seines Vertrauens in einen siegreichen Tag musste er hart für den Sieg arbeiten, das wusste Sabin. Denn die Jäger wurden von Sabins Erzfeind Galen angeführt, einem getarnten, dämonbesessenen Unsterblichen. Und dadurch waren die sogenannten „Beschützer alles Guten und Rechten“ in Dinge eingeweiht, in die sie nicht hätten eingeweiht sein sollen. Zum Beispiel wussten sie, wie man die Herren am besten ablenkte ... wie man sie am besten einfing ... wie man sie am besten vernichtete.

Endlich blieb die Steinwand stehen. Amun blickte in den Gang und gab ein Handzeichen – die Luft war rein, es konnte losgehen. Niemand bewegte sich. Sabins und Luciens Männer hatten nach Jahrtausenden der Trennung gerade erst wieder angefangen, zusammen zu kämpfen. Sie waren alles andere als aufeinander eingespielt.

„Bringen wir die Sache jetzt hinter uns, oder wollen wir hier herumstehen und darauf warten, dass sie uns finden?“, murmelte Aeron. „Ich bin bereit.“

„Sieh dich doch an. Du bist so was von lustlos und fertig“, meinte Gideon und grinste süffisant. „Nicht gerade beeindruckend.“

Zeit, die Führung zu übernehmen, dachte Sabin. Er erwog, wie sie am besten vorgingen. Über die vergangenen Jahrhunderte war er immer achtlos in die Schlacht gezogen, beherrscht von dem einen Gedanken: töten. Doch die Jäger hatte das nur wenig gekümmert. Ihre Anzahl war nicht etwa geschrumpft, sondern gestiegen, und, um ehrlich zu sein, auch ihre Entschlossenheit und ihr Hass wuchsen. Es war höchste Zeit für eine neue Art der Kriegsführung. Er musste seine Ressourcen und Schwächen kennen, ehe er angriff.

„Ich gehe voran, weil ich am wenigsten verletzt bin.“ Er krümmte den Finger um den Abzug seiner Waffe, ehe er sie widerstrebend ins Holster steckte. „Ich will, dass ihr euch zusammentut: immer ein weniger Verletzter mit einem stärker Verletzten. Und dann arbeitet ihr zusammen. Der stärker Verletzte unterstützt den Gesünderen, der angreift. Lasst so viele wie möglich am Leben“, befahl er. „Ich weiß, dass ihr das nicht wollt, weil es eurem Instinkt widerstrebt. Aber keine Sorge. Sie werden noch früh genug sterben. Sobald wir den Anführer ausgemacht und uns seine Geheimnisse zu eigen gemacht haben, sind die anderen nutzlos für uns. Dann könnt ihr mit ihnen machen, was ihr wollt.“

Das Trio, das ihm den Weg versperrt hatte, machte nun Platz, sodass er ungehindert in den Gang schlüpfen konnte. Schnell reihten sich die anderen hinter ihm ein. Ihre Schritte waren nicht lauter als ein verhaltenes Flüstern. Batteriebetriebene Lampen beleuchteten die Wände, die mit Hieroglyphen übersät waren. Sabin sah nur eine Sekunde lang hin, doch das genügte, damit sich die Bilder in sein Gedächtnis brannten. Sie zeigten, wie ein Gefangener nach dem anderen zu einer grausamen Hinrichtung getrieben wurde: Man riss ihnen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust.

In der abgestandenen, staubigen Luft roch es nach Mensch. Er nahm Parfüm, Schweiß und Essensgerüche wahr. Wie lange waren die Jäger schon hier? Was machten sie hier? Hatten sie das Artefakt schon gefunden?

Als ihm die Fragen durch den Kopf gingen, stürzte sich sein Dämon darauf. Zweifel konnte nicht anders. Ganz offensichtlich wissen sie mehr als du. Vielleicht reicht es sogar, um dich zu Fall zu bringen. Gut möglich, dass deine Freunde heute Nacht ihren letzten Atemzug tun.

Der Dämon des Zweifels konnte nicht lügen, nicht ohne dass Sabin das Bewusstsein verlor. Er konnte nur Hohn und negative Vermutungen einsetzen, um seine Opfer zu überwältigen. Sabin hatte nie verstanden, warum ein böser Geist aus der Hölle sich die Täuschung nicht zunutze machen konnte. Die beste Erklärung, die ihm eingefallen war, war, dass sein Dämon selbst Opfer eines Fluchs war. Aber er hatte es schon längst akzeptiert. Nur dass Sabin sich nicht erlauben würde, in dieser Nacht ins Wanken zu geraten. Mach nur so weiter, und ich verbringe die nächste Woche in meinem Zimmer und lese, damit ich nicht so viel nachdenke.

Aber ich brauche Nahrung, lautete die gewinselte Antwort. Die Sorge, die er auslöste, war die größte Nahrungsquelle des Dämons.

Bald.

Beeil dich.

Sabin hob eine Hand, blieb stehen, und die Krieger hinter ihm taten es ihm gleich. Vor ihnen lag eine Kammer, deren Tür offen stand. Sie hörten das Echo von Stimmen und Schritten und das Dröhnen einer Maschine.

Die Jäger waren völlig abgelenkt und forderten sie geradezu dazu auf, sie aus dem Hinterhalt anzugreifen. Dafür bin ich genau der Richtige.

Wirklich?, begann der Dämon, ohne an Sabins Drohung zu denken. Das letzte Mal, als ich das überprüft habe ...

Vergiss mich. Ich habe dir wie versprochen Nahrung besorgt.

In seinem Kopf ertönte ein freudiger Aufschrei, und dann öffnete Zweifel seinen Geist für die Jäger in der Pyramide, indem er ihnen alle erdenklichen zerstörerischen Gedanken zuflüsterte. Alles umsonst... was, wenn du falschliegst... nicht stark genug ... könnte bald sterben ...

Die Gespräche erstarben. Es hörte sich so an, als wimmerte jemand.

Sabin hielt einen Finger hoch, dann noch einen. Als er den dritten Finger hob, setzten er und die Krieger sich mit lautem Kampfgeschrei in Bewegung.

2. KAPITEL

Gwendolyn die Schüchterne presste sich gegen die Rückwand ihrer Glaszelle, als die Horde der zu großen, zu muskulösen und zu blutverschmierten Krieger in die Kammer stürmten, die sie mehr als ein Jahr lang geliebt und gehasst hatte. Geliebt, weil in der Kammer zu sein bedeutete, dass sie ihre Zelle hatte verlassen dürfen und so etwas wie Freiheit verspürte. Gehasst, weil sie all die schrecklichen Foltertaten hatte mit ansehen müssen, die hier verübt worden waren.

Die Männer, die jene Taten verübt hatten, stießen jetzt entsetzte Schreie aus und ließen ihre Petrischalen fallen, ihre Nadeln, ihre Fläschchen und die verschiedensten Werkzeuge. Glas zersplitterte. Wildes Gebrüll schwoll an, als die Eindringlinge mit eingeübten Drohgebärden vorwärts stürzten und heftig um sich schlugen und traten. Ihre Opfer fielen um wie Pappfiguren. Keine Frage, wer diesen Kampf gewinnen würde.

Gwen zitterte. Sie fragte sich, was mit ihr und den anderen geschah, wenn sich der Staub legte. Die Krieger waren eindeutig keine Menschen, genau wie sie, genau wie all die Frauen, die in den Zellen ringsum eingesperrt waren. Sie waren zu brutal, zu stark, zu Gott weiß was, um sterblich zu sein. Aber was genau sie waren, wusste sie nicht. Und warum waren sie bloß hier? Was wollten sie?

Sie hatte im vergangenen Jahr so viele Enttäuschungen erfahren, dass sie gar nicht zu hoffen wagte, dass die Krieger gekommen waren, um sie zu retten. Würde man sie und die anderen hier verrotten lassen? Oder würden diese Männer an ihnen herumforschen und sie missbrauchen, wie die abscheulichen Menschen es getan hatten?

„Tötet sie!“, rief eine ihrer Mitgefangenen den Kriegern entgegen. Beim Klang ihrer harten, wütenden Stimme schlang Gwen sich unwillkürlich die Arme um die Taille. „Sie sollen genauso leiden, wie wir gelitten haben.“

Das Glas, das die Frauen von der Außenwelt trennte, war dick und kugelsicher. Und doch war jedes Leid in der Kammer und in den anderen Zellen wie ein lauter Knall in Gwens Ohren.

Sie wusste, wie sie den Lärm abschirmen konnte – das hatten ihre Schwestern sie schon als kleines Mädchen gelehrt –, aber sie wollte die Niederlage ihrer Entführer unbedingt hören. Ihre schmerzerfüllten Laute waren wie Schlaflieder für sie. Beruhigend und süß.

Doch so stark die Krieger offenbar auch waren, sie versetzten keinem der Menschen den Todesstoß. Seltsamerweise verwundeten sie sie bloß und schlugen sie bewusstlos, bevor sie sich auf den nächsten stürzten. Und nach gefühlten – viel zu kurzen – Sekunden, die wahrscheinlich aber mehrere Minuten gewesen waren, stand nur noch ein Mensch auf den Beinen. Der schlimmste von ihnen.

Einer der Krieger ging auf ihn zu. Zwar verfügten alle Angreifer über tödliche Fähigkeiten, aber der hier hatte am schmutzigsten gekämpft. Er hatte in erster Linie auf die Leistengegend und die Kehle gezielt. Bereit für den letzten Schlag hob er den Arm, doch dann blickte er in Gwens aufgerissene Augen und hielt inne. Langsam ließ er den Arm sinken.

Ihr stockte der Atem. Braune blutverschmierte Haare klebten an seinem Kopf. Seine Augen hatten die Farbe von Brandy und leuchteten zugleich blutrot. Unmöglich. Das bildete sie sich bestimmt nur ein. Sein Gesicht war so grob, das es aus Granit hätte gehauen sein können. Jeder Gesichtszug schien Zerstörung zu versprechen, und trotzdem hatte es fast etwas ... Jungenhaftes. Ein verblüffender Gegensatz.

Das Hemd hing ihm in Fetzen vom Leib und enthüllte bei jeder seiner Bewegungen gebräunte Haut und schlanke Muskeln. Die Sonne! Wie sehr Gwen sie vermisste, sich nach ihr sehnte. Ein violetter Schmetterling schlang sich um die rechte Seite seines Brustkorbs und tauchte zaghaft in den Bund seiner Hose ein. Die Flügel liefen spitz zu, was die Figur zugleich weiblich und männlich wirken ließ. Warum ein Schmetterling?, fragte Gwen sich. Seltsam, dass sich ein starker, bösartiger Krieger so ein Motiv aussuchte. Aber was auch dahintersteckte, der Anblick beruhigte sie.

„Helft uns“, sagte sie und betete, dass der Unsterbliche sie durch das schalldichte Glas hören konnte. Doch falls er sie hörte, ließ er es sich nicht anmerken.

„Befreit uns.“ Noch immer keine Reaktion.

Was, wenn sie euch hierlassen? Oder schlimmer: wenn sie aus demselben Grund hier sind wie die Menschen?

Ihr Kopf war plötzlich voll von Zweifeln. Sie runzelte die Stirn und wurde blass. Die Ängste waren nicht aus der Luft gegriffen; noch vor wenigen Momenten hatte sie sich dasselbe gefragt. Aber jetzt war es irgendwie anders ... fremd. Das waren nicht ihre Gedanken, nicht von ihrer inneren Stimme gesprochen. Wie ... was ... ?

Spitze weiße Zähne bohrten sich in die Unterlippe des Mannes, als er sich sichtlich wütend die Hände an die Schläfen presste.

Was, wenn ...

„Aufhören!“, brüllte er.

Der Gedanke, der sich gerade in ihrem Kopf hatte formen wollen, verpuffte plötzlich. Irritiert blinzelte Gwen. Der Krieger schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde noch intensiver.

Für ihren verhassten Foltermeister war das die Gelegenheit zu handeln. Er machte einen Schritt auf den Krieger zu.

Gwen fuhr zusammen und schrie: „Pass auf!“

Die Aufmerksamkeit nach wie vor auf Gwen gerichtet, streckte der granitgesichtige Krieger einen Arm aus und packte den Menschen am Hals, wodurch er ihn zugleich würgte und auf Abstand hielt. Der Mensch – sein Name war Chris – ruderte panisch mit den Armen. Obwohl er nicht älter war als fünfundzwanzig, war er dennoch der Anführer der Wärter und Wissenschaftler hier. Er war der Mann, den sie mehr hasste als die Gefangenschaft.

„Alles, was ich tue, tue ich für das Allgemeinwohl.“ Das hatte er am liebsten gesagt – kurz bevor er eine der anderen Frauen direkt vor ihren Augen vergewaltigt hatte. Er hätte sie auch künstlich befruchten können, aber er hatte es vorgezogen, sie durch den erzwungenen Geschlechtsakt zu erniedrigen. „Ich wünschte, ich hätte dich vor mir“, hatte er oft hinzugefügt. „Jede dieser Frauen ist nur ein Ersatz für dich.“

Trotz seines Verlangens hatte er sie nie angerührt, weil er sich zu sehr vor ihr gefürchtet hatte. Genau wie die anderen. Sie wussten, wen sie vor sich hatten. An dem Tag, als die Männer Gwen entführt hatten, hatten sie sie in Aktion gesehen. Eine Frau braucht nur aus Versehen ein paar Menschen zu Tode zu prügeln, und schon hat sie ihren Ruf weg, dachte Gwen. Anstatt sie zu töten, hatten sie sie eingesperrt und mit verschiedenen Drogen im Belüftungssystem experimentiert, in der Hoffnung, sie lange genug außer Gefecht setzen zu können. Bisher hatten sie zwar keinen Erfolg gehabt, aber auch nicht aufgegeben.

„Sabin, nicht“, sagte eine hübsche dunkelhaarige Frau und legte dem rotäugigen Krieger die Hand auf die Schulter. Ihr Tonfall war so bedrückt, dass Gwen sich krümmte. „Wie du uns gesagt hast: Wir brauchen ihn vielleicht noch.“

Sabin. Ein starker Name. Hatte was von einer Waffe. Passte zu ihm.

Ob die beiden ein Paar waren?

Endlich nahm er den vereinnahmenden Blick von ihr, und sie konnte wieder atmen. Sabin ließ Chris los, und der Bastard fiel bewusstlos zu Boden. Dass er noch lebte, wusste Gwen, weil sie das Blut durch seine Adern und die Luft in seinen Lungen rauschen hörte.

„Was sind das für Frauen?“, fragte ein blonder Krieger. Er hatte funkelnde blaue Augen und ein schönes Gesicht, das Leidenschaft und Sicherheit ausstrahlte. Aber er war nicht derjenige, neben dem sich Gwen in Gedanken plötzlich zusammenrollte und friedlich schlief. Tief. Sicher. Endlich.

All die Monate hatte sie Angst gehabt zu schlafen, weil sie gewusst hatte, dass Chris darauf gelauert hatte, sie in einem günstigen Moment zu vergewaltigen. Deshalb hatte sie immer nur kurz und leicht geschlummert, ohne jemals ihre Deckung aufzugeben. Manchmal hatte sie sich dazu zwingen müssen, sich nicht einfach dem bösen Mann hinzugeben, um als Gegenleistung endlich die Augen schließen und im schwarzen Vergessen versinken zu können.

Ein schwarzhaariger Mann mit violetten Augen trat vor und betrachtete die Zellen rings um Gwens. „Gütige Götter. Die dort drüben ist ja schwanger.“

„Diese auch.“ Der diese Worte sprach, hatte bunte Haare, blasse Haut und so stahlblaue Augen wie sein blonder Freund, nur dass er dunklere Schatten um die Augen hatte. „Welche Bestien halten denn schwangere Frauen unter solchen Bedingungen gefangen? Das ist erbärmlich, sogar für Jäger.“

Die gefangenen Frauen schlugen gegen das Glas und flehten um Hilfe, darum, befreit zu werden.

„Kann irgendwer hören, was sie sagen?“, fragte der Berg von einem Mann.

„Ja, ich“, erwiderte Gwen, ohne lange zu überlegen.

Sabin drehte sich zu ihr um. In seinen braunen Augen loderte es nicht mehr rot. Er taxierte sie, prüfte sie mit seinem Blick.

Ein Schauer rieselte ihr den Rücken hinab. Konnte er sie hören? Ihre Augen wurden größer, als er zu ihrer Zelle herüberkam und dabei sein Messer in die Scheide steckte. Durch ihre hochsensiblen Sinne nahm sie einen leisen Hauch Schweiß, Zitrone und Minze wahr. Gwen atmete tief ein und genoss jede Nuance dieses Dufts. Monatelang hatte sie nichts als Chris und sein aufdringliches Aftershave gerochen, seine beißenden Drogen und die Angst der anderen Frauen.

„Du kannst uns hören?“ Sabins Stimmfarbe war genauso rau wie sein Gesicht und hätte ihre Nerven eigentlich wie Sandpapier aufreiben müssen, aber aus irgendeinem Grund beruhigte sie sie wie eine Liebkosung.

Zögerlich nickte Gwen.

„Und sie?“ Er zeigte auf die anderen Gefangenen.

Sie schüttelte den Kopf. „Kannst du mich denn hören?“

Nun schüttelte er den Kopf. „Ich lese von deinen Lippen.“

Oh. Das bedeutete, dass er sie die ganze Zeit intensiv beobachtet hatte, sogar als sie es nicht bemerkt hatte. Es war ihr nicht unangenehm.

„Wie bekommen wir das Glas auf?“, wollte er wissen.

Sie presste die Lippen zusammen und wagte, einen kurzen Blick auf die schwer bewaffneten, blutverschmierten Raubtiere hinter ihm zu werfen. Sollte sie es ihm verraten? Was, wenn sie ihre Mitgefangenen vergewaltigen wollten, so wie die anderen Männer es getan hatten? So wie sie es befürchtet hatte?

Sein harter Gesichtsausdruck wurde weicher. „Wir sind nicht gekommen, um euch etwas anzutun. Ich gebe dir mein Wort. Wir wollen euch nur befreien.“

Sie kannte ihn nicht und wusste, dass sie ihm lieber nicht vertrauen sollte. Dennoch stand Gwen auf und schleppte sich aufweichen Knien zur Glaswand. Auf diese kurze Distanz sah sie, dass Sabin sie weit überragte und seine Augen überhaupt nicht braun waren. Vielmehr waren sie eine Symphonie der Farben: Bernsteingelb, Kaffeebraun und Kastanienrot. Zum Glück war das rote Glimmen noch immer weg. Hatte sie es sich tatsächlich nur eingebildet?

„Frau?“, sagte er.

Wenn er die Zelle wie versprochen öffnete, wenn sie den Mut aufbringen konnte und nicht auf der Stelle erstarrte, wie es ihre Art war – dann konnte sie endlich fliehen. Die Hoffnung, die sie sich zuvor versagt hatte, wurde plötzlich lebendig, geradezu quälend. Einzig der Gedanke, dass sie ihre möglichen Retter unabsichtlich auf grausame und brutale Art und Weise vernichtete, schmälerte Gwens Freude.

Mach dir keine Sorgen. Solange sie nicht versuchen, dir was anzutun, bleibt deine Bestie eingesperrt. Aber eine falsche Bewegung, und...

Das Risiko muss ich eingehen, dachte sie und sagte: „Steine.“

Er runzelte die Stirn. „Steige?“

Sie musste einen dicken Kloß herunterschlucken, als sie den Arm hob und mit einem ihrer Fingernägel – verglichen mit den Nägeln eines Menschen war es eher eine Kralle – das Wort STEINE in das Glas ritzte. Kaum hatte sie einen Buchstaben geschrieben, verschwand er auch schon wieder. Verdammtes Götterglas. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie die Menschen darangekommen waren.

Er wartete. Dann runzelte er wieder die Stirn, während er seine Aufmerksamkeit offensichtlich auf ihre zu langen, zu spitzen Fingernägel richtete. Ob er sich gerade fragte, was für ein Geschöpf sie war?

Dann fragte Sabin: „Steine?“, und ihre Blicke kreuzten sich.

Sie nickte.

Er drehte sich um die eigene Achse und suchte die gesamte Kammer ab. Obwohl es nur wenige Sekunden dauerte, hatte Gwen den Eindruck, er hätte sich jeden Zentimeter genau eingeprägt und fände sich auch im Stockdunkeln zurecht.

Die Krieger stellten sich hinter ihm auf und sahen sie erwartungsvoll an. Unter die Erwartung mischten sich noch andere Gefühle: Neugierde, Misstrauen, Hass – auf sie? – und sogar Lust. Gwen wich einen Schritt zurück, dann noch einen.

Sie würde den Hass der Lust immer vorziehen. Ihre Beine zitterten so heftig, dass sie befürchtete, sie würden ihr den Dienst versagen. Bleib ruhig. Du darfst nicht in Panik geraten. Es geschehen schlimme Dinge, wenn du in Panik gerätst.

Wie wehrte man das Verlangen anderer ab? Sie konnte ihren Körper nicht zusätzlich bedecken. Während der Gefangenschaft hatten die Entführer ihr die Jeans und das T-Shirt weggenommen und ihr stattdessen ein weißes Trägertop und einen kurzen Rock gegeben – das erleichterte den „Zugriff“. So hatten sich die elenden Schweine ausgedrückt. Einer der Träger war vor Monaten gerissen, und das Top klaffte auseinander. Gwen hatte es unter dem Arm zusammengeknotet, um irgendwie ihre Brust zu bedecken.

„Umdrehen“, sagte Sabin plötzlich.

Ohne nachzudenken, wirbelte Gwen herum, und ihr langes rotes Haar flog ihr auf den Rücken. Ihr Atem ging stoßweise, und ihr traten Schweißperlen auf die Stirn. Warum wollte er sie von hinten sehen? Damit er sie leichter überwältigen konnte?

Noch eine schwere Pause. „Ich meinte nicht dich, Frau.“ Dieses Mal war Sabins Stimme weich und sanft.

„Ach komm schon“, beschwerte sich jemand. Sie erkannte den respektlosen Tonfall des blonden Mannes mit den blauen Augen. „Du meinst doch nicht ernsthaft ...“

„Ihr macht ihr Angst.“

Gwen blickte über die Schulter.

„Aber sie ...“, begann der stark Tätowierte.

Sabin fiel auch ihm ins Wort. „Wollt ihr Antworten oder nicht? Ich habe gesagt, umdrehen!“

Ein paar Seufzer ertönten, dann scharrende Geräusche.

„Frau.“

Langsam drehte sie sich wieder um. Alle Krieger hatten Sabins Befehl befolgt und wandten ihr nun den Rücken zu.

Sabin legte eine Hand auf das Glas. Sie war groß, frei von Narben und wirkte ruhig, war jedoch von blutigen Kratzern übersät. „Welche Steine?“

Sie zeigte auf eine Steingruppe in einem Kasten hinter ihm. Die Steine waren klein, etwa faustgroß, auf jeden war eine andere Art zu sterben gemalt worden. Die wichtigsten waren Enthauptung, Entfernen der Gliedmaßen, Erstechen, ein Speer durch den Bauch und ein Feuer, das am Körper eines an einen Baum genagelten Mannes emporkletterte.

„Gut, das ist gut. Aber was mache ich damit?“

Das Verlangen nach der Freiheit – sie war zum Greifen nah – machte sie atemlos, als sie pantomimisch erklärte, dass die Steine in Löchern platziert werden mussten, wie Schlüssel in Schlössern.

„Spielt es eine Rolle, welcher Stein wohin kommt?“

Sie nickte und zeigte dann auf jeden einzelnen Stein und auf die Zelle, die er öffnete. Sie hatte den Einsatz der Steine fürchten gelernt, da sie jedes Mal unfreiwillige Zeugin einer weiteren Vergewaltigung geworden war. Seufzend begann Gwen, das Wort SCHLÜSSEL ins Glas zu ritzen, als Sabin seine Faust in den Kasten rammte, um an die Steine zu gelangen. Das hätten sonst vielleicht zehn Menschen mit vereinten Kräften geschafft, aber bei ihm wirkte es völlig mühelos.

Seine Hand war schwer verletzt, mehrere Schnitte zogen sich von den Fingerknöcheln bis zum Handgelenk. Es bildeten sich rote Perlen, die er wegwischte, als bedeuteten sie nichts. Zu dem Zeitpunkt hatten die Verletzungen bereits zu heilen begonnen, und die zerrissene Haut wuchs wieder zusammen. Oh ja. Er war irgendetwas viel Größeres als ein Mensch. Kein Elb, denn seine Ohren waren perfekt abgerundet. Kein Vampir, denn er hatte keine langen Eckzähne. Also eine männliche Sirene? Seine Stimme war voll und köstlich genug, ja. Aber vielleicht zu rau.

„Nehmt euch einen Stein“, rief er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Sofort wirbelten die Krieger herum. Aus Sorge, ein Blick auf die anderen könnte ihre Angst zu sehr schüren und die Bestie in ihr wecken, konzentrierte Gwen sich darauf, nur Sabin anzusehen. Du hast alles im Griff, du machst das gut. Sie durfte – und würde – nicht unsicher werden. Sie bereute schon viel zu viel.

Warum konnte sie nicht so sein wie ihre Schwestern? Warum konnte sie nicht mutig und stark sein und sich so annehmen, wie sie war? Sie hätten sich sogar ein Bein oder einen Arm abgeschnitten, um zu entkommen – und zwar schon längst. Sie hätten zuerst eine Faust durch das Glas und dann durch Chris’ Brust gestoßen. Danach hätten sie vor seinen Augen sein Herz verspeist und dabei gelacht.

Plötzlich überkam das Heimweh sie. Wenn ihr Exfreund Tyson ihren Schwestern von der Entführung berichtet hätte – was er vermutlich nicht getan hatte, denn er fürchtete sich viel zu sehr vor ihnen –, dann hätten sie nach ihr gesucht und nicht aufgegeben, ehe sie sie gefunden hätten. Denn sie liebten sie trotz ihrer Schwächen und wollten nur das Beste für sie. Wie enttäuscht sie sein würden, wenn sie von ihrer Gefangenschaft erfuhren. Gwen hatte nicht nur sich verraten, sondern ihre gesamte Art. Schon als Kind hatte sie bei Konflikten die Flucht ergriffen, was ihr den erniedrigenden Beinamen „Gwendolyn die Schüchterne“ eingebracht hatte.

Sie merkte, dass ihre Handflächen feucht waren, und wischte sie an den Oberschenkeln ab.

Sabin kommandierte die Männer und sagte ihnen, welche Steine in welche Löcher gehörten. In einigen Fällen irrte er sich, doch Gwen blieb unbesorgt. Sie würden es herausfinden. Bei dem Stein, der zu ihrer Zelle gehörte, lag er jedoch sofort richtig, und als ein Krieger – ein blauhaariger gepiercter Punk – ihn in die Hand nehmen wollte, legte Sabin ihm seine starken, sonnengebräunten Finger ums Handgelenk und hielt ihn zurück.

Der Blauhaarige sah Sabin fest in die Augen. Sabin schüttelte den Kopf und sagte: „Meiner.“

Der Punk grinste. „Wir hassen, was wir sehen, nicht wahr?“

Sabin zog nur die Augenbrauen hoch.

Gwen blinzelte irritiert. Sabin hasste es, sie anzusehen?

Eine Frau nach der anderen wurde befreit. Einige weinten, andere versuchten aus der Kammer zu fliehen. Aber die Männer ließen sie nicht weit kommen, und Gwen war überrascht, wie sanft sie die wild kämpfenden Frauen in den Armen wiegten. Der hübscheste Mann der Gruppe – der mit den bunten Haaren – näherte sich jeder einzelnen Frau und murmelte leise: „Schlaf, mein Liebling.“

Erschreckenderweise gehorchten sie ihm und sanken in die schützenden Arme der Krieger.

Sabin ging in die Hocke und nahm Gwens Stein, auf dem der bei lebendigem Leib angezündete Mann abgebildet war. Nachdem Sabin sich aufgerichtet hatte, warf er den Stein in die Luft und fing ihn mit Leichtigkeit wieder auf. „Lauf nicht weg. In Ordnung? Ich bin müde und möchte nicht hinter dir herlaufen müssen, aber ich werde es tun, wenn du mich dazu zwingst. Und ich habe Angst, dass ich dir aus Versehen wehtue.“

Da sind wir schon zu zweit, dachte sie.

„Nein ... lass sie nicht frei.“ Chris stöhnte auf einmal. Wie lange war er schon wach? Er hob den Kopf und spuckte Dreck aus. Unter seinen Augen hatten sich Blutergüsse gebildet. „Gefährlich. Tödlich.“

„Cameo.“ Mehr sagte Sabin nicht.

Die Kriegerin wusste sofort Bescheid. Sie ging zu dem Menschen hinüber, packte ihn am Hemd und zog ihn mit Leichtigkeit auf die Füße. Mit der freien Hand hielt sie ihm einen Dolch an die Kehle. Entweder war er zu schwach, oder er hatte zu große Angst – auf jeden Fall wehrte er sich nicht.

Gwen hoffte inständig, dass es die Angst war, die ihn in Schach hielt. Sie starrte auf die Messerspitze, als könnte sie sie allein mit ihrer Willenskraft dazu bringen, die Kehle dieses Bastards aufzuschlitzen und ihm unvergessliche Qualen zuzufügen.

Ja, dachte sie wie hypnotisiert. Ja, ja, ja. Tu es. Bitte, tu es. Schneide ihn, lass ihn leiden.

„Was soll ich mit ihm machen?“, fragte Cameo Sabin.

„Setz ihn außer Gefecht, aber lass ihn am Leben.“

Enttäuscht ließ Gwen die Schultern sinken. Doch mit der Enttäuschung kam eine verblüffende Erkenntnis: Obwohl sie ihre Gefühle im Griff hatte, war sie trotzdem kurz davor, ihre innere Bestie von der Leine zu lassen. All diese Gedanken an Schmerz und Leid waren nicht ihre eigenen. Unmöglich. Gefährlich, hatte Chris gesagt. Tödlich. Und er hatte recht. Du darfst nicht die Kontrolle verlieren.

„Aber du kannst ihm ruhig etwas wehtun, wenn du magst“, fügte Sabin hinzu und sah Gwen mit zusammengekniffenen Augen an. War er ... wütend? Auf sie? Aber warum? Was hatte sie ihm denn getan?

„Lass das Mädchen nicht frei“, wiederholte Chris. Ein Zittern fuhr durch seinen Körper. Er wich zurück, aber Cameo, die offensichtlich stärker war, als sie aussah, riss ihn zurück. „Bitte nicht.“

„Vielleicht solltest du die Rothaarige in ihrer Zelle lassen“, schlug die zierliche Kriegerin vor. „Zumindest fürs Erste. Nur für alle Fälle.“

Sabin hob die Hand mit dem Stein und hielt inne, kurz bevor er ihn in die Mulde neben Gwens Käfig legte. „Er ist ein Jäger. Ein Lügner. Und ich denke, er hat sie verletzt und will verhindern, dass sie uns alles erzählt.“

Gwen sah ihn voller Schrecken und Ehrfurcht an. Er war nicht wütend auf sie, sondern auf Chris – einen Jäger? – und darauf, was er ihr angetan hatte. Er meinte wirklich, was er gesagt hatte. Er würde ihr nicht wehtun. Er wollte sie in Freiheit sehen. In Sicherheit.

„Habe ich recht?“, fragte Sabin sie. „Hat er dir wehgetan?“

Die Demütigung trieb ihr die Hitze in die Wangen, als sie nickte. Emotional hatte er sie geradezu zerstört.

Sabin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Er wird es bereuen. Das verspreche ich dir.“

Langsam verflog die Verlegenheit. Ihre Mutter, die sie vor fast zwei Jahren enterbt hatte, hätte Gwen lieber tot als geschwächt gesehen, aber dieser Mann – dieser Fremde – wollte sie rächen.

Chris schluckte nervös. „Hört mir zu. Bitte. Ja, ich bin euer Feind, und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ihr nicht auch meine Feinde seid. Das seid ihr. Ich hasse euch mit jeder Faser meines Körpers. Aber wenn ihr sie gehen lasst, bringt sie uns alle um. Das schwöre ich.“

„Wirst du wirklich versuchen, uns umzubringen, kleiner Rotschopf?“, fragte Sabin noch sanfter als zuvor.

Gwen, die von den Menschen immer nur „Nutte“ oder „Dreckstück“ genannt worden war, spürte, wie der süße Kosename einer nach Rosen duftenden Sommerbrise gleich durch ihren Geist wehte. In den wenigen gemeinsamen Minuten hatte dieser Mann es geschafft, ihr die eine Sache zu schenken, von der sie seit ihrer Entführung geträumt hatte: Er war wie der weiße Ritter, der fest entschlossen ist, den bösen Drachen zu töten. Zugegeben – einst hatte sie gedacht, dieser weiße Ritter käme in Gestalt von Tyson oder des Vaters, den sie nie kennengelernt hatte. Trotzdem: Es geschah nicht jeden Tag, dass ein Traum wahr wurde.

„Rotschopf?“

Das Wort riss Gwen aus den Gedanken. Was hatte er gefragt? Ach ja, ob sie versuchen würde, ihn und seine Freunde umzubringen. Sie befeuchtete sich die Lippen und schüttelte den Kopf. Wenn ihre Bestie das Ruder übernahm, würde sie es nicht nur versuchen. Sie würde es schaffen. Ich habe die Kontrolle. Größtenteils. Ihnen wird nichts geschehen.

„Dachte ich auch nicht.“ Mit einer flinken Bewegung legte Sabin den Stein in die richtige Position.

Gwens Herz hämmerte so hart in ihrer Brust, dass sie fast glaubte, es müsste ihr die Rippen brechen. Langsam hob sich das Glas ... hob sich weiter ... gleich ... gleich ... Und dann war zwischen ihr und Sabin nichts als die pure Luft. Der Duft von Zitrone und Minze wurde intensiver. Die Kälte, an die Gwen sich mit der Zeit gewöhnt hatte, wich einer Decke aus Wärme, die sich um ihren Körper zu legen schien.

Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Frei. Sie war wirklich frei.

Sabin atmete scharf ein. „Meine Götter. Du bist unglaublich.“

Sie ertappte sich dabei, wie sie auf ihn zuging und einen Arm ausstreckte. Sie sehnte sich nach dem Hautkontakt, der ihr all die Monate verwehrt worden war. Eine einzige Berührung war alles, was sie brauchte. Und dann würde sie nach Hause gehen. Endlich.

Nach Hause.

„Nutte!“, schrie Chris, der versuchte, sich aus Cameos Griff zu befreien. „Bleib weg von mir. Haltet sie von mir fern. Sie ist ein Ungeheuer!“

Unvermittelt blieb sie stehen, und ihr Blick wanderte zu dem erbärmlichen Menschen, der für all das Leid und die Qual verantwortlich war, die sie während des vergangenen Jahres erlitten hatte. Ganz zu schweigen davon, was er ihren Mitgefangenen angetan hatte. Ihre Fingernägel verwandelten sich in messerscharfe Krallen. Kleine, scheinbar hauchdünne Flügel entfalteten sich auf ihrem Rücken, zerrissen dabei den Baumwollstoff ihres Tops und flatterten wild. Das Blut in ihren Adern verdünnte sich, raste durch jeden Teil ihres Körpers, schnell, so schnell, und ihr Blick wurde zum Infrarotblick – sämtliche Farben verschwanden, sie sah nur noch die Wärme von Körpern.

In dem Augenblick wurde ihr klar, dass sie ihre Bestie – ihre dunkle Seite – nicht einmal im Ansatz unter Kontrolle gehabt hatte. Sie hatte sich die ganze Zeit in ihr gewunden und nur so lange stillgehalten, bis sie die Möglichkeit zum Angriff hatte ...

Nur Chris, nur Chris, bitte, Götter, nur Chris. Dieses Mantra wiederholte sie immer und immer wieder im Geiste, auf dass es den Blutrausch ihrer rachedurstigen Bestie linderte. Nur Chris, lass alle anderen am Leben, greif nur Chris an.

Doch tief in sich wusste sie, dass die Zahl der Todesopfer längst feststand.

3. KAPITEL

Von dem Moment an, als Sabin die niedliche Rothaarige in der gläsernen Zelle gesehen hatte, war er unfähig gewesen, den Blick von ihr abzuwenden. Unfähig zu atmen, unfähig zu denken. Ihre langen Haare waren üppig gelockt. Zwischen dicken rubinroten Locken lugten mehrere blonde hervor. Ihre Augenbrauen waren von einem dunklen Kastanienbraun, aber ebenso schön. Sie hatte eine Stupsnase, und ihre Wangen waren so rund wie die eines Engels. Aber ihre Augen ... die waren ein Fest für die Sinne: bernsteinfarben mit grauen funkelnden Ringen. Hypnotisierend. Ringsherum bildeten schwarze Wimpern einen dekadenten Rahmen.

Halogenlampen hingen von Haken an den Wänden und tauchten sie in helles Licht. Während es bei anderen ihre Makel enthüllt hätte, brachte es bei ihr nicht nur den Schmutz zum Vorschein, der ihre Haut in Streifen überzog, sondern verlieh ihr einen gesunden Glanz. Sie war zierlich, hatte kleine, runde Brüste, eine schmale Hüfte und Beine, die lang genug waren, um sie um ihn zu schlingen und sich so während der turbulentesten Ritte festzuhalten.

Hör auf so zu denken. Du weißt es doch besser. Ja, allerdings. Seine letzte Geliebte, Darla, hatte sich das Leben genommen. Und er hatte sich geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen. Aber zu der Rothaarigen hatte er sich augenblicklich hingezogen gefühlt. Genau wie sein Dämon, auch wenn Zweifel sie aus einem anderen Grund wollte. Er hatte ihre Beklemmung gespürt und zielgerichtet versucht, in ihren Kopf zu gelangen, um sich an ihren tiefsten Ängsten zu weiden.

Aber sie war kein Mensch, das hatten sie beide schnell gemerkt, und aus dem Grund gelang es Zweifel nicht, ihre Gedanken zu hören, solange sie sie nicht artikulierte. Das hieß jedoch nicht, dass sie vor ihm sicher war. Oh nein. Zweifel wusste mit einer Situation zu wachsen und sein Gift in angemessener Weise zu versprühen. Mehr noch: Der Dämongenoss die Herausforderung und strengte sich umso mehr an, um die Zwischentöne dieser Frau zu hören und jeden Funken Hoffnung in ihr zu zerstören.

Was war sie? In den vielen Tausend Jahren seiner Existenz war er schon so manchem unsterblichen Geschöpf begegnet, und trotzdem konnte er sie nicht einordnen. Auf jeden Fall wirkte sie menschlich. Zart, schwach. Zerbrechlich. Doch diebersteinsilberfarbenen Augen verrieten sie. Und die Krallen. Er stellte sich vor, wie sie sich in seinen Rücken bohrten ...

Warum hatten die Jäger sie gefangen genommen? Sabin fürchtete sich vor der Antwort. Drei der sechs eben befreiten Frauen waren eindeutig schwanger, und das ließ im Grunde nur eine Erklärung zu: Seine Feinde wollten eine neue Generation von Jägern gründen. Und zwar von unsterblichen Jägern. Sabin sah, dass zwei Sirenen Narben am Hals hatten. Offenbar war ihnen der Kehlkopf entfernt worden. Außerdem entdeckte er eine blasse Vampirfrau, der die Reißzähne gezogen worden waren, eine Gorgone, der man die Schlangenhaare abrasiert hatte, und eine Tochter von Amor, die man geblendet hatte – wohl um zu verhindern, dass sie einen Feind mit ihrem Liebeszauber verführte.

Wie grausam die Jäger mit diesen wunderbaren Geschöpfen umgegangen waren. Was hatten sie nur dem Rotschopf angetan, dem wunderbarsten von allen? Trotz knappem Top und kurzem Rock konnte Sabin weder Narben noch Blutergüsse ausmachen, die auf eine Misshandlung hingedeutet hätten. Aber das hieß gar nichts. Bei den meisten Unsterblichen verheilten Wunden schnell.

Ich will sie. Sie sah zwar unsagbar müde aus, doch wenn sie ihm, ihrem Retter, dankbar zulächelte ... Er hätte angesichts ihrer Schönheit vergehen können.

Ich will sie auch, flüsterte sein Dämon ihm zu.

Du kannst sie nicht haben. Was bedeutete, dass sie auch für ihn tabu war. Erinnerst du dich an Darla? Obwohl sie so stark und selbstsicher war, hast du es geschafft, sie zu brechen.

Er hörte ein schadenfrohes Lachen. Ich weiß. Das war doch lustig, oder?

Sabin ballte die Hände zu Fäusten, hob die Arme jedoch nicht. Verfluchter Dämon. Irgendwann zerbrach jeder unter den schweren Sorgen, die seine andere, seine dunklere Hälfte andauernd nährte und an denen sie sich labte. Er gab Frauen Gedanken ein wie: Du bist nicht attraktiv genug. Du bist nicht schlau genug. Wie könnte dich jemals irgendein Mann lieben?

„Sabin“, ertönte Aerons Stimme. „Wir sind so weit.“

Er streckte die Hand aus und winkte die Frau zu sich. „Komm.“

Doch sein Rotschopf drückte sich gegen die Wand am anderen Ende der Kammer. Ihr Körper zitterte vor wieder aufkeimender Angst. Er hatte erwartet, dass sie – trotz seiner Warnung – davonlaufen würde. Doch er hatte nicht mit solchem ... Schrecken gerechnet.

„Ich habe es dir doch versprochen“, sagte er sanft. „Wir wollen dir nicht wehtun.“

Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Und wie er sie so ansah, vertiefte sich der goldene Glanz in ihren Augen, verdunkelte sich, lief ein tiefes Schwarz in das Weiße.

„Was zum Teufel ...“

Von einer Sekunde auf die nächste war sie verschwunden. Als wäre sie nie da gewesen. Er wirbelte herum und sah sich suchend in der Kammer um. Er entdeckte sie nicht. Dann stieß der einzige Jäger, der noch auf den Beinen war, urplötzlich einen panischen Schrei aus – einen Schrei, der abrupt abbrach, als sein Körper in sich zusammensank und auf den sandigen Boden fiel, wo sich sogleich eine Blutlache bildete.

„Die Frau.“ Sabin keuchte und umklammerte seinen Dolch, fest entschlossen, sie vor der unbekannten Macht zu beschützen, die soeben den Jäger getötet hatte, den sie hatten verhören wollen. Er sah sie immer noch nicht. Wenn sie wie Lucien mithilfe eines Gedanken verschwinden konnte, war sie in Sicherheit. Zwar auch außer Reichweite für ihn, aber in Sicherheit. Konnte sie das? War sie weg?

„Hinter dir“, sagte Cameo, und ausnahmsweise klang sie eher erschrocken als elend.

„Meine C.götter“, stammelte Paris. „Ich habe nicht gesehen, dass sie sich bewegt hat, und trotzdem ...“

„Sie hat doch nicht ... Hat sie ... Wie hätte sie denn ...“ Maddox rieb sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er nicht glauben, was er sah.

Wieder wirbelte Sabin herum. Und da war sie, zurück in ihrer Zelle. Sie saß auf dem Boden, die Knie an die Brust gezogen, der Mund blutverschmiert, eine ... Luftröhre? ... in einer Hand. Sie hatte dem Mann die Kehle herausgerissen – oder ausgebissen?

Ihre Augen hatten wieder ihre normale Farbe angenommen, bernsteinfarben mit grauen Ringen, doch ihr Blick war dermaßen leer und abwesend, dass Sabin befürchtete, der Schock über ihre Tat hätte ihren Geist betäubt. Auch ihr Gesicht entbehrte jeglichen Ausdrucks. Ihre Haut war jetzt so blass, dass er die blauen Venen darunter erkennen konnte. Und sie zitterte, schaukelte vor und zurück und murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Was. Zur. Hölle?

Der Jäger hatte sie ein Ungeheuer genannt. Sabin hatte ihm nicht geglaubt. Jedenfalls nicht zu jenem Zeitpunkt.

Nun ging er zu ihr in die Zelle. Auch wenn er nicht wusste, was er tun sollte, war ihm zweierlei klar: Er konnte sie weder in dieser Verfassung zurücklassen, noch konnte er sie wieder einsperren. Erstens hatte sie keinen seiner Freunde angegriffen. Und zweitens würde sie, flink wie sie war, entwischen, ehe sich das Glas geschlossen hatte, und ihm dafür, dass er sein Versprechen gebrochen hatte, ernsthaften Schaden zufügen.

„Sabin, Mann“, warnte Gideon ihn. „Vielleicht willst du es dir ja nicht noch mal überlegen, ob du wirklich da reingehen willst. Mal wieder hat ein Jäger gelogen.“

Ausnahmsweise die Wahrheit gesagt, hieß das also. „Weißt du, womit wir es hier zu tun haben?“

„Nein.“ Ja. „Sie ist keine Harpyie, keine Ausgeburt des Teufels, die nicht ein Jahr unbehelligt auf der Erde verbracht hat. Ich habe bisher noch nie mit ihnen zu tun gehabt, und ich weiß nicht, dass sie eine Armee Sterblicher binnen Sekunden töten können.“

Da Gideon kein wahres Wort sagen konnte, ohne sich schon bald den Tod zu wünschen, weil er körperliche Höllenqualen litt und von Schmerzen geschüttelt wurde, wusste Sabin, dass alles, was er sagte, gelogen war. Das hieß, dass der Krieger sehr wohl schon einer Harpyie begegnet war und dass Harpyien natürlich Ausgeburten des Teufels waren und selbst Vertreter seiner Art innerhalb weniger Sekunden vernichten konnten.

„Wann?“, fragte er.

Gideon wusste, was er meinte. „Weißt du noch, als ich nicht in Gefangenschaft gewesen bin?“

Aha. Gideon hatte mal drei Monate lang die Foltertechniken der Jäger aushalten müssen.

„Keine hat das halbe Lager getötet, ehe irgendein Alarm ausgelöst werden konnte. Sie flog nicht aus unbekannten Gründen davon, und die überlebenden Jäger verbrachten die nächsten Tage nicht damit, die gesamte Art der Harpyien zu verfluchen.“

„Moment. Harpyie? Das glaube ich nicht. Sie ist nicht hässlich.“ Der Einwand kam von Strider, dem König im Aussprechen offensichtlicher Fakten. „Wie sollte sie eine Harpyie sein?

„Du weißt genauso gut wie wir, dass die Mythen der Menschen manchmal verzerrt sind. Nur weil Harpyien laut der Legenden hässlich sind, heißt das nicht, dass sie es auch wirklich sind. Und jetzt, alle raus.“ Sabin begann seine Waffen hinter sich auf den Boden zu werfen. „Ich kümmere mich um sie.“

Ein mehrstimmiger Protest wurde laut.

„Ich bekomme das schon hin.“ Das hoffte er zumindest.

Vielleicht aber auch nicht...

Ach halt die Klappe, verdammt noch mal.

„Sie wird ...“

„... mit uns kommen“, fiel Sabin Maddox ins Wort. Er konnte sie nicht hierlassen. Sie war eine viel zu kostbare Waffe – eine Waffe, die gegen ihn eingesetzt werden konnte oder von ihm. Ja, dachte er, und seine Augen wurden größer. Ja. „Und zwar lebendig.“

„Zum Teufel, nein“, protestierte Maddox. „Ich will keine Harpyie in Ashlyns Nähe haben.“

„Du hast doch gesehen, was sie getan hat. Sie ...“

Maddox fiel ihm ins Wort: „Ja, allerdings, und genau deshalb will ich sie nicht in der Nähe meiner schwangeren Menschenfrau haben. Die Harpyie bleibt hier.“

Noch ein Grund, der Liebe aus dem Weg zu gehen, dachte Sabin. Sie verwandelt sogar den härtesten Krieger in einen Schwächling. „Sie muss diese Männer genauso hassen wie wir. Sie kann uns helfen.“

Maddox blieb stur. „Nein.“

„Ich übernehme die Verantwortung für sie, und ich werde dafür sorgen, dass sie ihre Klauen nicht ausfährt.“ Auch das konnte er nur hoffen.

„Wenn du sie willst, gehört sie dir“, meinte Strider. Er war immer auf seiner Seite. Guter Mann. „Maddox wird auch einverstanden sein, weil du Ashlyn nie drängst, in die Stadt zu gehen und sich nach möglichen Hinweisen in den Gesprächen der Jäger umzuhören, egal wie sehr du es auch möchtest.“

Maddox kniff die Augen zusammen. „Wir müssen sie irgendwie bändigen.“

„Nein. Ich übernehme das.“ Sabin gefiel der Gedanke nicht, dass irgendein anderer sie berührte. Egal auf welche Weise. Er redete sich ein, dass es an der Folter lag, die sie höchstwahrscheinlich hatte erleiden müssen, an dem entsetzlichen Missbrauch, und dass sie zornig auf jeden reagieren könnte, der versuchte, sie anzufassen, aber ...

Im Grunde wusste er, dass das nichts war als eine faule Ausrede. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und ein Mann, der sich für eine Frau interessierte, konnte das Objekt seiner Begierde nicht einfach aufgeben. Selbst wenn dieser Mann den Frauen abgeschworen hatte.

Cameo trat neben ihn, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. „Paris kann sich um sie kümmern. Mit seiner Finesse kann er selbst die grausamsten Frauen in gute Stimmung versetzen. Du dagegen eher weniger, und wir sind eindeutig darauf angewiesen, dass diese hier gute Laune hat.“

Paris, der jede Frau jederzeit verführen konnte, Unsterbliche wie Menschen? Paris, der Sex zum Überleben brauchte? Sabin biss fest die Zähne zusammen, als er es sich, ohne es zu wollen, vorstellte. Nackte, ineinander verschlungene Körper, die Hand des Kriegers, mit der er in das zerzauste Haar der Harpyie griff, Glückseligkeit auf ihrem Gesicht.

Es wäre besser für sie. Es wäre wahrscheinlich für sie alle besser, wie Cameo gesagt hatte. Die Harpyie wäre geneigter, ihnen im Kampf gegen die Jäger zu helfen, wenn sie an der Seite ihres Liebsten kämpfen konnte – und Sabin war jetzt fest entschlossen, sie zur Unterstützung zu bewegen. Natürlich könnte Paris mehr als nur einmal mit ihr ins Bett steigen. Doch irgendwann würde er sie betrügen, weil er Sex mit verschiedenen Frauen brauchte, um zu überleben, und das würde sie vermutlich in Rage versetzen. So sehr, dass sie sich am Ende womöglich noch dazu entschloss, die Jäger zu unterstützen.

Eine ganz schlechte Idee, beschloss er, und zwar nicht nur, weil er es so wollte.

„Gebt mir fünf Minuten. Wenn sie mich umbringt, kann Paris sich ja an ihr versuchen.“ Sein trockener Tonfall löste nicht das leiseste Gelächter aus.

„Lass wenigstens zu, dass Paris sie in Tiefschlaf versetzt so wie die anderen“, beharrte Cameo.

Sabin schüttelte den Kopf. „Wenn sie zu früh aufwacht, bekommt sie nur Angst und greift euch am Ende noch an. Ich muss erst an sie herankommen. Und jetzt raus mit euch. Lasst mich arbeiten.“

Eine Weile geschah nichts. Dann hörte Sabin, wie sie sich schlurfend in Bewegung setzten, schwerer als sonst, da die Krieger die anderen Frauen heraustrugen. Und dann war er mit dem Rotschopf allein. Oder war die korrekte Bezeichnung ihrer Haarfarbe eher Rotblond? Wahrscheinlich. Sie saß immer noch zusammengekauert da, murmelte immer noch vor sich hin, hielt immer noch die Luftröhre umklammert.

Na, du bist aber ein schlechtes kleines Mädchen, hm?, rief der Dämon und schleuderte die Worte direkt in den Kopf der Harpyie. Und du weißt bestimmt auch, was mit schlechten kleinen Mädchen passiert, nicht wahr?

Lass sie in Ruhe. Bitte!, flehte Sabin den Dämon an. Sie hat unseren Feind getötet und damit verhindert, dass sie weiter nach der Büchse suchen – und sie am Ende finden.

Bei dem Wort „Büchse“ schrie Zweifel auf. Der Dämon hatte tausend Jahre in der Dunkelheit und dem Chaos der Büchse der Pandora verbracht und wollte nicht zurückkehren. Er täte alles, um diesem Schicksal zu entkommen.

Sabin konnte nicht mehr ohne Zweifel existieren. Er war ein fester Teil von ihm geworden. Und sosehr er ihn auch manchmal hasste, er hätte lieber einen Lungenflügel geopfert als den Dämon. Ersteren konnte er schließlich erneuern.

Nur ein paar Minuten Ruhe, fügte er hinzu. Bitte.

Oh, sehr gerne.

Zufrieden mit dem Ausgang seiner Verhandlung, trat Sabin in die Zelle ein. Er bückte sich, sodass er sich mit der Frau auf Augenhöhe befand.

„Tut mir leid, tut mir leid“, wiederholte sie, als spürte sie seine Gegenwart. Aber sie sah ihn nicht an, sondern starrte weiter blind geradeaus. „Habe ich dich getötet?“

„Nein, nein, es geht mir gut.“ Das arme Ding wusste ja gar nicht, was es getan hatte oder was es sagte. „Du hast etwas Gutes getan und einen durch und durch schlechten Mann umgebracht.“

„Schlecht. Ja, ich bin sehr schlecht.“ Sie schlang ihre Arme fester um die Knie.

„Nein, er war schlecht.“ Langsam streckte er die Hand aus. „Ich möchte dir helfen. In Ordnung?“ Vorsichtig drückte er seine Finger unter ihre und öffnete ihre Hand. Das blutige Überbleibsel fiel herunter. Sabin fing es mit der anderen Hand auf, um es dann über seine Schulter weit wegzuwerfen. „Und, so ist es doch besser, hm?“

Glücklicherweise löste sein Handeln keinen weiteren Wutanfall aus. Sie atmete nur schwer.

„Wie heißt du?“, fragte er.

„W...was?“

Immer noch auf ruhige Bewegungen bedacht, strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinters Ohr. Sie genoss die Berührung sichtlich und schmiegte die Wange an seine Handfläche. Er verharrte in der Liebkosung und genoss es, ihre weiche Haut zu spüren, während er tief in sich den schmalen Grat der Gefahr erkannte, auf dem er sich bewegte. Seinem Interesse für sie nachzugeben und sich nach mehr zu sehnen hieß, sie zu heillosem Elend zu verurteilen – so wie er es mit Darla getan hatte. Dennoch zog er seine Hand nicht zurück; auch nicht, als sie sein Handgelenk packte und seine Hand durch ihr seidiges Haar führte. Es war so offensichtlich, dass sie gestreichelt werden wollte. Er kraulte ihr den Kopf. Sie seufzte genießerisch.

Sabin konnte sich nicht erinnern, jemals so ... zärtlich zu einer Frau gewesen zu sein, selbst zu Darla nicht. So viel sie ihm auch bedeutet hatte, er hatte dem Sieg stets größere Bedeutung beigemessen als ihrem Wohlergehen. Doch diese Frau berührte ihn in diesem Augenblick irgendwie. Sie war so verloren und einsam – das waren Gefühle, die ihm sehr vertraut waren. Er hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen.

Siehst du? Du sehnst dich schon nach mehr.

Stirnrunzelnd zwang er sich, den Arm fallen zu lassen.

Ein zarter Schrei der Verzweiflung entwich ihr, und auf einmal wurde es noch schwerer, den kleinen Abstand beizubehalten, der zwischen ihnen bestand. Wie hatte dieses bedürftige Geschöpf den Menschen so brutal niedermetzeln können? Es erschien ihm unmöglich, und hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er die Geschichte nicht geglaubt. Nicht dass es viel zu sehen gegeben hätte, so schnell wie sie sich bewegt hatte.

Vielleicht wurde sie wie er und seine Freunde von einer dunklen Macht beherrscht. Vielleicht konnte sie sie nicht davon abhalten, ihren Körper wie eine Marionette zu steuern. In dem Moment, als ihm dieser Gedanke in den Sinn kam, wusste Sabin auch schon, dass er richtig geraten hatte. Wie ihre Augen die Farbe gewechselt hatten. Mit welchem Entsetzen sie ihre Tat realisiert hatte ...

Wenn Maddox sich in einem Wutanfall seines Dämons verlor, gingen die gleichen Veränderungen in ihm vor. Sie konnte nichts für das, was sie tat, und hasste sich vermutlich dafür, der kleine Liebling.

„Wie ist dein Name, Rotschopf?“

Sie spitzte die Lippen und runzelte die Stirn – ein Spiegelbild seiner Mimik. „Name?“

„Ja. Name. Wie heißt du?“

Sie blinzelte. „Wie ich heiße.“ Das leicht Raue in ihrer Stimme verblasste allmählich und ließ eine Erkenntnis aufkeimen. „Wie ich ... ach so. Gwendolyn. Gwen. Ja, das ist mein Name.“

Gwendolyn. Gwen. „Ein hübscher Name für eine hübsche Frau.“

Ein Hauch von Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und sie blinzelte wieder – dieses Mal richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Sie schenkte ihm ein zögerliches Lächeln, das begrüßend, erleichtert und hoffnungsvoll wirkte. „Du bist Sabin.“

Wie sensibel war eigentlich ihr Hörsinn? „Ja.“

„Du hast mir nichts getan. Auch nicht, als ich ...“ In ihrer Stimme schwang Verwunderung mit, Verwunderung und Reue.

„Nein, ich habe dir nichts getan.“ Er hätte gern hinzugefügt: Und das werde ich auch nie. Aber er war sich nicht sicher, ob das stimmte. In seinem Streben nach dem endgültigen Sieg über die Jäger hatte er einen guten Mann verloren, einen großartigen Freund. Er hatte sich von zahllosen beinah tödlichen Verletzungen erholt und viele Geliebte begraben. Falls nötig, würde er der Sache auch diese kleine Biene opfern, ob er sie begehrte oder nicht.

Außer du wirst weich, meldete sich plötzlich Zweifel zu Wort.

Das wird nicht passieren. Das war ein Schwur. Er weigerte sich, etwas anderes zu glauben. Und es war eine Bestärkung dessen, was er schon längst wusste: Er war kein ehrenwerter Mann. Er würde sie benutzen.

Gwens Blick glitt an ihm vorbei, und ihr Lächeln erstarb. „Wo sind deine Männer? Sie standen genau dort. Ich habe doch nicht ... ich ... habe ich ...“

„Nein, du hast ihnen nichts getan. Sie warten direkt vor der Kammer, das schwöre ich.“

Vor Erleichterung ließ sie die Schultern sinken. „Danke.“ Offenbar sprach sie mit sich selbst. „Ich ... oh Himmel.“

Sie muss den Jäger entdeckt haben, den sie getötet hat, dachte er.

Sie wurde wieder blass. „Er hat ... so viel Blut ... wie konnte ich nur ...“

Sabin lehnte sich zur Seite, um ihr die Sicht zu versperren. „Hast du Durst? Oder Hunger?“

Die außergewöhnlichen Augen richteten sich auf ihn. Sie leuchteten gierig. „Du hast etwas zu essen? Richtiges Essen?“

Bei diesem Blick spannte sich jeder Muskel seines Körpers an. Es hatte schon fast etwas Euphorisches. Womöglich spielte sie ihm nur vor, an seinem Angebot interessiert zu sein, damit er sich entspannte und sie leichter entkommen konnte. Musst du wie dein Dämon sein und jeden und alles anzweifeln?

„Ich habe Energieriegel“, erwiderte er. „Ich weiß nicht, ob man das als richtiges Essen einstufen kann, aber sie halten einen bei Kräften.“ Nicht dass sie noch mehr Kraft brauchte.

Sie schloss die Augen und seufzte verträumt. „Energieriegel, das klingt göttlich. Ich habe seit über einem Jahr nichts gegessen, aber ich habe es mir oft vorgestellt. Immer und immer wieder. Schokolade und Kuchen, Eis und Erdnussbutter.

Ein ganzes Jahr ohne den kleinsten Krümel? „Sie haben euch nichts gegeben?“

Sie öffnete die dicht bewimperten Augen. Sie nickte weder, noch bestätigte sie seinen Verdacht, doch das brauchte sie auch nicht. Die Wahrheit lag klar erkennbar in ihrem grimmigen Gesichtsausdruck.

Sobald er die Jäger verhört hätte, würde jeder einzelne, den er in diesen Katakomben gefunden hatte, sterben. Durch seine Hand. Er würde sich Zeit lassen und jeden Schnitt genießen, jeden Tropfen Blut, der vergossen wurde. Dieses Mädchen war eine Harpyie, die Ausgeburt des Teufels, wie Gideon gesagt hatte, doch selbst sie verdiente es nicht, die nagende Qual des Hungerns auszuhalten. „Und wie hast du überlebt? Ich weiß, dass du unsterblich bist, aber sogar die Unsterblichen brauchen Nahrung, um bei Kräften zu bleiben.“

„Die haben irgendwas in das Belüftungssystem gespeist. Eine spezielle Chemikalie, die uns am Leben halten und gefügig machen sollte.“

„Hat bei dir wohl nicht ganz funktioniert, was?“

„Nein.“ Sie leckte sich hungrig die Lippen. „Hast du nicht was von Energieriegeln gesagt?“

„Wir müssen die Kammer verlassen, um sie zu holen. Kannst du das?“ Oder besser: Würde sie es tun? Er bezweifelte, dass er sie zu irgendetwas zwingen konnte, ohne am Ende blutüberströmt und mit gebrochenen Knochen dazuliegen – vielleicht sogar tot. Er fragte sich, wie die Jäger sie eingefangen und hierher gebracht hatten, ohne sie zu töten.

Kurz zögerte sie. Dann sagte sie: „Ja.“

Wieder bewegte Sabin sich langsam, nahm sie beim Arm und half ihr auf die Füße. Sie taumelte. Nein, wurde ihm im nächsten Moment klar, sie kuschelte sich an ihn, suchte engeren Kontakt zu seinem Körper. Er war wie erstarrt, fest entschlossen, sich der Berührung zu entziehen – auf Abstand halten, ich muss sie auf Abstand halten. Und als sie seufzte, drang ihr Atem durch die Schnitte in seinem Hemd bis an seine nackte Brust.

Nun schloss er verzückt die Augen. Er legte sogar einen Arm um ihre Taille, um sie dichter an sich zu ziehen. Vertrauensselig legte sie den Kopf an seinen Hals.

„Davon habe ich auch geträumt“, flüsterte sie. „So warm. So stark.“

Er schluckte den Kloß herunter, der ihm plötzlich im Hals zu stecken schien, und spürte, wie Zweifel in ihm unruhiger wurde und verzweifelt an den Gitterstäben seines Käfigs rüttelte. Er wollte raus und die Behaglichkeit ausmerzen, die Gwen bei Sabin verspürte.

Zu viel Vertrauen, sagte der Dämon, als wäre das eine Krankheit.

Genau die richtige Dosis, fand Sabin. Es gefiel ihm, dass eine Frau ihn als Prinz des Lichts betrachtete und nicht als König der Dunkelheit, vor dem sie schreiend davonlaufen müsste. Ihm gefiel, dass sie ihm erlaubt hatte, ihren Schmerz zu lindern.

Trotzdem war es dumm von ihr, das musste er zugeben. Sabin war niemandes Held. Er war der größte Feind eines jeden.

Ich will mit ihr sprechen!, verlangte sein Dämon und klang dabei wie ein Kind, dem ein besonderes Vergnügen vorenthalten wird.

Ruhe. Wenn Gwen an ihm zweifelte, konnte das leicht die todbringende Harpyie wecken und seine Männer in Gefahr bringen. Und das würde Sabin nicht zulassen. Sie waren ihm viel zu wichtig. Er brauchte sie.

Er musste auf Abstand gehen. Also ließ er die Arme fallen und machte einen Schritt zur Seite. „Nicht anfassen.“ Die Worte waren nur ein Krächzen und klangen härter, als er beabsichtigt hatte. Sie wurde blass. „Jetzt komm. Lass uns von hier verschwinden.“

4. KAPITEL

Die Frau würde ihn umbringen, und das nicht etwa, weil sie stärker und bösartiger war als er. Das war sie zweifelsohne. Er hatte noch keinem Menschen die Kehle herausgebissen, und dass Gwen es getan hatte, imponierte ihm mächtig. Sie hatte es geschafft, die Herren der Unterwelt wie Marshmellow-Männchen dastehen zu lassen.

Zwei ganze Tage waren vergangen, seit Sabin und seine Leute sie aus der Pyramide gerettet hatten. Und erst beim Anblick der Sonne hatte Gwen zufrieden gewirkt. Bis dahin hatte sie sich nicht entspannt. Oder gegessen. Die Energieriegel, auf die sie so scharf gewesen war, hatte sie nur sehnsüchtig angesehen, bevor sie den Kopf geschüttelt und sich weggedreht hatte. Sie benutzte nicht mal die tragbare Dusche, die Lucien auf Sabins Bitte hin für sie besorgt hatte.

Sie traute ihnen nicht. Offensichtlich wollte sie nicht das Risiko eingehen, vergiftet zu werden, wollte sich nicht der Verletzlichkeit des Schlafes oder der Nacktheit aussetzen. Und das war verständlich. Aber, verdammt noch mal, in ihm brodelte das Verlangen, sie zu all diesen Dingen zu zwingen. Zu ihrem Besten. Ohne das Dreckszeug, das in ihre Zelle gepumpt worden war, musste sie den Hunger bis in jede Faser ihres Körpers spüren. Sie musste erschöpft sein, und schmutzig wie sie war – von den letzten zwei Tagen sowie von der gesamten Zeit ihrer Gefangenschaft, was seltsam war, weil die anderen Frauen sauber waren –, konnte sie sich unmöglich wohlfühlen. Dennoch, sie zu zwingen war keine Option. Sabin wollte seine Luftröhre gern noch ein bisschen behalten.

Das Einzige, das sie von ihm angenommen hatte, war Kleidung. Seine Kleidung. Ein Camouflage-T-Shirt und eine Tarnhose. Die Sachen schlackerten an ihrem Körper, obwohl sie Ärmel, Hosenbund und Beine umgekrempelt hatte. Und trotzdem fand er, dass er noch keine schönere Frau gesehen hatte. Die wilden rostbraunen Locken, die Geh-mit-mir-ins-Bett-Lippen – das alles machte sie zur Sünde schlechthin. Und zu wissen, dass der Stoff, den sie trug, schon seinen Körper berührt hatte ...

Ich muss mein selbst auferlegtes Zölibat beenden. Und zwar bald.

Sobald sie in Buda ankämen, würde er genau das tun. Sich eine Frau suchen, die nichts als ein bisschen Spaß wollte, und, nun ja, ihr diesen Spaß bereiten. Niemand würde verletzt werden, weil er nicht bei der Frau bleiben würde. Aber vielleicht bekam er so einen klaren Kopf und wusste dann endlich, wie er mit Gwen umgehen sollte.

Was ihn außerdem beschäftigte, war die Tatsache, dass Gwen sich in die Ecke seines Zeltes gesetzt hatte und ihn anstarrte – egal, wer hereinkam. Ihn. Als stellte er jetzt die größte Bedrohung für sie dar. Gut, er hatte sie vor zwei Tagen in der Höhle angefahren, als er ihr gesagt hatte, dass sie ihn nicht anfassen sollte. Aber er hatte auch dafür gesorgt, dass sie auf dem Weg durch die Wüste zu ihrem Lager auf den Beinen geblieben war. Er war bei ihr geblieben und hatte sie beschützt, während die anderen Krieger zurück in die Pyramide gegangen waren, um nachzusehen, ob sie bei der ersten Begehung etwas übersehen hatten. Hatte er diese tötenden Blicke wirklich verdient?

Vielleicht...

Halt’s Maul, Zweifel! Ich lege keinen Wert auf deine Meinung.

Keine Ahnung, warum dich interessiert, was sie denkt. Du hast Frauen doch noch nie gutgetan, hab ich recht? Schon komisch, dass ich dich ausgerechnet jetzt an Darla erinnern muss.

Auf dem sandigen Boden hockend, knallte Sabin den Deckel seiner Waffenkiste kräftig zu, schloss sie ab und wandte sich dann der Tasche mit Essen zu, die Paris in seinem Auftrag gebracht hatte.

Darla, Darla, Darla, sang der Dämon.

„Wie gesagt, halt endlich dein verdammtes Maul, du dreckiges Stück Scheiße! Ich hab die Schnauze voll von dir.“

Gwen, die immer noch in der gegenüberliegenden Ecke saß, zuckte zusammen. „Aber ich habe doch gar nichts gesagt.“

Er hatte lange Zeit mit Sterblichen zusammengelebt und gelernt, nur in Gedanken mit Zweifel zu kommunizieren. Dass er das jetzt – in Anwesenheit dieser schreckhaften und doch todbringenden Frau – vergessen hatte, war ... demütigend.

„Ich habe nicht mit dir gesprochen“, murmelte er.

Blasser als gewöhnlich schlang sie sich die Arme um die Taille. „Und mit wem dann? Wir sind doch allein.“

Er antwortete nicht. Es ging nicht. Nicht ohne zu lügen. Da Zweifels Unfähigkeit zu lügen vor langer Zeit auf Sabin übergegriffen hatte, musste er bei der Wahrheit bleiben oder weglaufen, wenn er während der nächsten Tage nicht bewusstlos herumliegen wollte.

Zum Glück bestand Gwen nicht auf einer Antwort. „Ich möchte nach Hause“, sagte sie leise.

„Ich weiß.“

Am Vortag hatte Paris alle befreiten Frauen zu ihrer Gefangenschaft befragt. Wie sie vermutet hatten, waren sie entführt, vergewaltigt, geschwängert worden. Man hatte ihnen gesagt, dass man ihnen ihre Babys wegnehmen und zu Kämpfern gegen das Böse ausbilden würde. Danach hatte Lucien alle außer Gwen – die Paris nichts verraten hatte – zu ihren Familien gebracht, die sie hoffentlich vor den Jägern verstecken und ihnen den Frieden und die Behaglichkeit schenken würden, die sie während ihrer Gefangenschaft entbehrt hatten.

Gwen hatte darum gebeten, zu einem verlassenen Eisstrich in Alaska gebracht zu werden. Obwohl sie nicht kooperiert hatte, hatte Lucien ihr die Hand gereicht, und Sabin war dazwischen gegangen.

„Wie ich in der Höhle gesagt habe: Sie bleibt bei mir“, hatte er gesagt.

Gwen keuchte. „Nein! Ich will gehen.“

„Tut mir leid. Das geht nicht.“ Er weigerte sich, sie anzusehen, aus Angst, dass er dann schwach wurde und sie freiließ. Und das hätte er getan, obwohl sie ihm mit ihrer Kraft, Geschwindigkeit und Grausamkeit dabei helfen konnte, den Krieg zu gewinnen und somit seine Freunde zu retten.

Bei den Göttern, er träumte schon seit unzähligen Jahren von einem Ende, von einem siegreichen Ende. Er konnte Gwens Bedürfnisse und Wünsche nicht über diesen Sieg stellen.

Dafür wollte er Galen – die Person, die er am meisten auf der Welt hasste – viel zu gern geschlagen und eingekerkert sehen.

Galen, der einst vergessene Herr, war der Mann, der die Krieger überredet hatte, mit ihm zusammen die Büchse der Pandora zu stehlen und zu öffnen. Er war außerdem der Mann, der geplant hatte, sie zu töten und dann die Dämonen einzufangen, die sie einst befreit hatten, um auf diese Art in den Augen der Götter zum Held aufzusteigen. Doch die Dinge waren nicht so gelaufen, wie der Bastard gehofft hatte. Und auch Galen war dazu verdammt worden, einen Dämon zu beherbergen – Hoffnung.

Wenn die Sache damit nur erledigt gewesen wäre. Doch als zusätzliche Strafe hatte man sie alle aus dem Himmel verbannt. Galen – immer noch entschlossen, die Männer zu vernichten, die ihn als Freund bezeichnet hatten – hatte schnell eine Armee wütender Sterblicher um sich versammelt, die sogenannten Jäger. Und die Blutfehde hatte ihren Anfang genommen. Es war eine Fehde, die mit jedem Jahr heftiger wurde. Wenn Gwen Sabin auch nur im Geringsten helfen konnte, war sie zu kostbar, um freigelassen zu werden. Was sie natürlich ganz anders sah.

„Bitte“, hatte sie ihn angefleht. „Bitte.“

„Ich werde dich eines Tages nach Hause bringen“, hatte er ihr versprochen. „Du könntest uns, unserer Sache nützlich sein.“

„Aber ich will euch gar nicht helfen. Ich will einfach nur nach Hause.“

„Tut mir leid. Aber wie gesagt: Das geht erst mal nicht.“

„Mistkerl“, murmelte sie. Dann war sie wie erstarrt. Fast, als hätte sie es nicht laut sagen wollen und nun dächte, er würde sich auf sie stürzen und sie schlagen. Als er es nicht tat, entspannte sie sich etwas. „Dann habe ich also einen Entführer gegen den anderen eingetauscht oder was? Du hast mir versprochen, mir nicht wehzutun.“ Sie klang so sanft, so sanft. Fast schon traurig und resigniert, und das ... verletzte ihn. „Lass mich einfach gehen. Bitte.“

Offensichtlich hatte sie Angst. Vor ihm, vor seinen Freunden. Vor sich und ihren tödlichen Fähigkeiten. Sonst hätte sie sicherlich versucht, ihn loszuwerden oder um ihre Freilassung zu feilschen. Aber das hatte sie kein einziges Mal getan. Fürchtete sie sich davor, was sie mit ihr machen würden, wenn sie sie schnappten? Oder davor, was sie ihnen antäte?

Oder, wie Zweifel ihm im Dunkel der Nacht so gern zuflüsterte: Hatte sie viel hinterhältigere Pläne? War sie ein Köder, eine außergewöhnlich überzeugende Falle der Jäger? Eine Falle, die ihn zerstören sollte?

Unmöglich, erwiderte Sabin jedes Mal scharf. Solche Schüchternheit konnte niemand vortäuschen. Das Zittern, die Weigerung zu essen – das alles bedeutete, dass ihre Ängste – worin auch immer sie bestanden – echt waren. Und je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, umso größer würden diese Ängste und Zweifel sein. Irgendwann würde sie nichts anderes mehr kennen, an nichts anderes mehr denken. Sie würde jedes Wort infrage stellen, das ihr über die Lippen kam, genau wie jedes Wort, das ihm über die Lippen kam. Sie würde jedes Handeln und alle Beweggründe hinterfragen.

Sabin seufzte. Andere hier stellten sein Handeln schon jetzt infrage, und dafür war sein Dämon nicht verantwortlich. Als Gwen ihre Bitte vorgebracht hatte, hatte sich Luciens Miene verhärtet – was eine Seltenheit war, denn Lucien war stets darauf bedacht, seine Gefühle zu verbergen. Nachdem er Paris befohlen hatte, sie zu bewachen, hatte er Sabin und sich in ihre Unterkunft in Kairo gebracht, wo sie in Ruhe geredet hatten. Weit weg von den anderen. Weg von Gwen.

Das Gespräch hatte sich zu einem zehnminütigen Streit entwickelt. Und weil Sabin beim Beamen immer übel wurde, war er nicht gerade in der besten Stimmung gewesen.

„Sie ist gefährlich“, begann Lucien.

„Sie ist stark.“

„Sie ist ein Killer.“

„Hallo? Genauso wie wir. Der Unterschied ist nur, dass sie besser ist als wir.“

Lucien zog die Augenbrauen hoch. „Woher willst du das wissen? Du hast nur gesehen, wie sie einen Mann getötet hat.“

„Und trotzdem weigerst du dich wegen genau dieses Mordes, sie in unser Zuhause zu lassen – trotz der Tatsache, dass sie unseren Feind umgebracht hat. Sieh doch, die Jäger kennen unsere Gesichter. Sie halten unentwegt Ausschau nach uns. Aber die Einzigen, die sie kennen, sind jetzt tot oder eingesperrt. Sie ist unser Trojanisches Pferd. Unsere Version des Köders. Die Jäger werden sie mit offenen Armen empfangen, und sie wird ihnen das Licht auspusten.“

„Oder uns“, murmelte Lucien, doch Sabin wusste, dass er über seine Worte nachdachte. „Sie wirkt nur einfach so ... mutlos.“

„Ich weiß.“

„Und in deiner Gegenwart wird das nur schlimmer werden.“

„Auch das ist mir klar“, erwiderte Sabin.

„Wie kannst du dann in Erwägung ziehen, sie als Kriegerin einzusetzen?“

„Glaub mir, ich habe das Für und Wider sorgfältig abgewogen. Mutlos oder nicht, mit durch mich gebrochenem Geist oder ohne – sie hat die Fähigkeit zu zerstören. Und das können wir uns zunutze machen.“

„Sabin ...“

„Sie kommt mit uns und damit basta. Sie gehört mir.“ Er hatte sie nicht als sein Eigentum beanspruchen wollen, jedenfalls nicht so. Schließlich brauchte er nicht noch mehr Verantwortung – schon gar nicht für eine schöne, zögerliche Frau, die zu besitzen er nicht mal zu hoffen wagen durfte. Doch das war der einzige Weg. Lucien, Maddox und Reyes hatten Frauen in ihr Zuhause gebracht, und deshalb konnten sie es ihm nicht verwehren.

Er hätte ihr das nicht antun sollen, hätte sie einfach freilassen sollen – ihnen beiden zuliebe. Doch wie er sich immer wieder ins Gedächtnis rief: Er hatte seinen Krieg gegen die Jäger über alles andere gestellt, sogar über seinen besten Freund, Baden, den Hüter des Misstrauens. Jetzt war er tot, für immer fort. Er konnte für Gwen keine Ausnahme machen. Sie würde mit nach Budapest kommen, ob es ihr gefiel oder nicht.

Doch zuerst würde er ihr etwas zu essen geben.

Er hockte sich vor sie, sodass sie sich auf Augenhöhe befanden, und fing an, kleine Küchlein und mit Schinken und Käse überbackene Kekse auszupacken. Er pikste einen Strohhalm in eine Saftpackung. Götter, er vermisste die selbst gekochten Mahlzeiten, die Ashlyn zubereitete, und die Gourmetgerichte, die Anya sich aus Budas Fünfsternerestaurants „borgte“.

„Bist du schon mal geflogen?“, erkundigte er sich.

„W-was interessiert dich das?“ Sie hob das Kinn, und in ihren Augen loderten gelbe Flammen. Doch dieser feurige Blick galt nicht ihm, sondern dem Essen, das er neben sich auf einem Pappteller anrichtete. Dessen war Sabin sich bewusst.

Aber ihm gefiel sie, wenn sie temperamentvoll wurde. Er zog es definitiv der stoischen Billigung vor, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte. „Ich noch nicht. Ich will nur sichergehen, dass du mich nicht ...“ Mist. Wie sollte er diesen Satz beenden, ohne sie daran zu erinnern, was sie mit dem Jäger gemacht hatte?

„Vor lauter Angst angreifst“, beendete sie den Satz für ihn und errötete vor Verlegenheit. „Im Gegensatz zu dir lüge ich nicht. Wenn du mich in ein Flugzeug setzt, das nicht nach Alaska fliegt, stehen die Chancen sehr gut, dass du meine ... dunklere Hälfte kennenlernst.“ Die letzten Worte sprach sie gedämpft.

Er kniff die Augen zusammen, als er über ihre Worte nachdachte. Er knüllte die Plastikverpackungen zusammen, die rings um ihn verteilt lagen, und stopfte sie in einen Müllbeutel aus Stoff. „Was meinst du mit ‚im Gegensatz zu dir‘? Ich habe dich nie angelogen.“ Dass er noch immer bei Bewusstsein war, war der eindeutige Beweis dafür.

„Du hast gesagt, du wolltest mich nicht verletzen.“

Er spürte, dass sein Wangenmuskel zuckte. „Und das habe ich auch nicht. Auch jetzt nicht.“

„Mich hier festzuhalten heißt, mich zu verletzen. Du hast gesagt, du würdest mich befreien.“

„Ich habe dich befreit. Aus der Pyramide.“ Er zuckte verlegen die Schultern. „Und solange du körperlich unversehrt bist, betrachte ich dich als unverletzt.“ Ihm entwich ein Seufzer. „Ist es wirklich so schlimm, in meiner Nähe zu sein?“

Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.

Autsch. „Ist ja auch egal. Du wirst dich früher oder später an mich gewöhnen müssen. Wir zwei werden nämlich viel Zeit miteinander verbringen.“

„Aber warum? Du hast gesagt, ich könnte euch nützlich sein; das habe ich nicht vergessen. Aber ich verstehe nicht, was ich deiner Meinung nach tun könnte.“

Vielleicht sollte ich ihr einfach alles erzählen, dachte er. Das könnte sie mir und der Sache gegenüber milde stimmen. Es könnte sie aber auch so sehr verängstigen, dass sie schließlich davonlief. Wäre er fähig, sie aufzuhalten?

Aber nicht zu wissen, was er von ihr wollte, musste eine Art Folter sein. Und Gwen hatte wirklich genug gelitten. „Ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst“, sagte er. „Wenn du etwas isst.“

„Nein. Ich ... ich kann nicht.“

Sabin hob den Teller hoch und führte ihn in einem Kreis durch die Luft. Vollkommen bezaubert verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Als er sicher war, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, nahm er sich ein Küchlein und biss die Hälfte davon ab.

„Kann nicht“, wiederholte sie und klang dabei genauso, wie sie aussah: fasziniert.

Er schluckte, bevor er sich jeden noch so kleinen Klecks Sahne von den Lippen leckte. „Siehst du. Ich lebe noch. Kein Gift.“

Zögernd, als könnte sie sich einfach nicht mehr anders helfen, streckte Gwen die Hand aus. Sabin legte ihr den Nachtisch in die Hand, und sofort riss sie es an ihre Brust.

Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagte. Sie beäugte ihn einfach nur wachsam.

„Ist dieses Essen eine Art Bezahlung dafür, damit ich dir zuhöre?“, fragte sie.

„Nein.“ Sie sollte nicht denken, dass Bestechung eine akzeptable Methode war. „Ich will nur, dass es dir gut geht.“

„Ach so“, erwiderte sie, offensichtlich enttäuscht.

Warum Enttäuschung?

Zweifel tanzte fast, so stark war sein Verlangen, aus Sabins Kopf in Gwens zu kriechen. Lange konnte Sabin ihn nicht mehr bändigen. Aber eine falsche Andeutung von dem Dämon, und Gwen würde das winzige Häppchen auf den Boden werfen, davon war Sabin überzeugt.

Iss es, projizierte er in ihren Kopf. Bitte, iss es. Zwar gab es nahrhaftere Snacks, aber in diesem Augenblick wäre er schon glücklich gewesen, wenn sie einen Löffel voller Sand gegessen hätte.

Endlich hob sie den Kuchen hoch und knabberte zögerlich am Rand. Ihre langen dunklen Wimpern berührten sich, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie versprühte pure Ekstase – wie andere sie nur beim Orgasmus erleben.

Seine körperliche Reaktion kam sofort. Jeder Muskel verhärtete sich; sein Herzschlag beschleunigte sich; seine Handflächen brannten darauf, sie zu berühren. Meine Götter, sie ist wundervoll. Wahrscheinlich das Erlesenste, das er je betrachtet hatte – ein Genuss für die Sinne und die glückselige Dekadenz schlechthin.

Eine Sekunde später war auch der Rest des Kuchens in ihrem Mund verschwunden, und ihre Wangen füllten sich. Während sie kaute, streckte sie die Hand aus und befahl ihm damit stumm, ihr noch ein Küchlein zu geben. Er tat es, ohne zu zögern.

„Soll ich die Hälfte abbeißen?“, bot er an, bevor er losließ.

In ihren Augen erschien ein schwarzer Wirbel, der das Gold überlagerte.

Wohl nicht. Er hob defensiv die Hände, und sie stopfte sich den zweiten Kuchen in den Mund. Das Schwarz verschwand, und das Gold kehrte zurück. Krümel fielen ihr aus dem Mundwinkel.

„Durst?“ Er hielt die Saftpackung hoch.

Wieder streckte sie die Hand aus, und ihr Winken bedeutete ihm, sich zu beeilen.

Innerhalb weniger Sekunden hatte sie das Saftpäckchen bis auf den letzten Tropfen geleert.

„Mach langsamer, sonst wird dir noch schlecht.“

Mit einem Mal kehrte das Schwarz in ihre Augen zurück. Doch zumindest lief es nicht in das Weiße über, so wie es nur wenige Momente vor ihrem Übergriff auf den Jäger geschehen war. Sabin schob den Teller zu ihr, und sie verspeiste das restliche Essen.

Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und lächelte noch mal ihr zufriedenes Lächeln. Ihre Wangen waren rosig. Und vor seinen Augen füllten sich ihre Rundungen. Ihre Brüste schienen zu schwellen. Taille und Hüfte weiteten sich auf die perfekten Maße. Sündhaft. Schmerzhaft war er sich seiner Erektion bewusst, die immer noch beträchtlich war.

Aufhören. Sofort. Vermutlich würde seine Erregung ihr Angst machen, weshalb er in der Hocke verweilte – Knie zusammen, Brust nach vorn.

Und wenn es ihr gefällt? Was, wenn sie dich bittet, zu ihr zu kommen und sie zu küssen? Sie zu berühren?

Klappe.

In dem Moment wurde Gwen blass. Ihr Lächeln erstarb, wich einem Stirnrunzeln.

„Was ist mit dir?“, fragte er.

Ohne ein Wort zu sagen, riss sie die untere Zeltklappe auf, lehnte sich hinaus und würgte. Jeder Tropfen und jeder Krümel verließen ihren Magen wieder.

Seufzend stand er auf und holte einen Lappen. Nachdem er ihn mit dem Inhalt einer Wasserflasche befeuchtet hatte, gab er ihn ihr in die Hand. Nach einer Weile kehrte Gwen ins Zelt zurück und wischte sich mit zittriger Hand den Mund ab.

„Ich hätte es wissen müssen“, murmelte sie und kauerte sich wieder in ihrer vorherigen Stellung zusammen. Beine an die Brust gezogen und Arme fest darum geschlungen.

Hätte es wissen müssen und nicht so schnell essen dürfen? Ah, ja. Weil er sie gewarnt hatte.

Sabin räusperte sich und beschloss, es mit dem Essen noch mal zu versuchen, sobald sich ihr Magen beruhigt hatte. Jetzt sollten sie erst mal ihr Gespräch fortsetzen. Immerhin hatte sie ihren Teil der Abmachung erfüllt und etwas gegessen.

„Du wolltest wissen, wofür ich dich brauche. Tja, ich brauche deine Hilfe, um die Männer zu finden und zu töten, die verantwortlich sind für deine ... Misshandlung.“ Schön langsam. Bloß nicht mit schmerzhaften Erinnerungen ihre dunkle Seite wecken. Doch er konnte das Thema nicht umgehen. „Die anderen ... sie haben uns erzählt, was die Menschen getan haben. Die Fruchtbarkeitsdrogen, die Vergewaltigungen. Dass früher noch mehr Frauen in den Zellen eingesperrt gewesen sind. Frauen, die auch vergewaltigt worden sind und denen man ihre Babys weggenommen hat. Einige schienen zu denken, dass es schon seit vielen Jahren so verlief.“

Gwen hatte sich bereits mit dem Rücken gegen die sandfarbene Zeltwand gepresst. Und trotzdem versuchte sie, noch weiter zurückzurutschen, als müsste sie vor seinen Worten und den Vorstellungen und Erinnerungen fliehen, die sie heraufbeschworen.

Sabin war selbst erschrocken, als er die Schauergeschichten gehört hatte. Er mochte zur Hälfte ein Dämon sein, aber niemals hatte er jemandem etwas so Grausames angetan wie die Jäger den Frauen in der Höhle.

„Diese Männer sind abscheulich“, fuhr er fort. „Sie müssen vernichtet werden.“

„Ja.“ Sie löste einen Arm aus der Umklammerung und zeichnete kleine Kreise in den Schmutz. „Aber ich ... wurde nicht ...“ Die Worte kamen so zaghaft aus ihrem Mund, dass Sabin sich anstrengen müsste, um sie zu verstehen.

„Du wurdest nicht was? Vergewaltigt?“

Während sie sich auf die Unterlippe biss – eine nervöse Angewohnheit von ihr? –, nickte sie. „Er hatte zu große Angst, meine Zelle zu öffnen, deshalb hat er mich in Ruhe gelassen. Zumindest körperlich. Er ... hat die anderen vor meinen Augen missbraucht.“ In ihrer Stimme schwangen Schuldgefühle mit.

Aha. Sie fühlte sich verantwortlich.

Sabin verspürte nur Erleichterung. Der Gedanke daran, dass dieses elfenhafte Geschöpf festgehalten wurde, ihre Beine auseinandergedrückt, während sie weinte und um Gnade flehte – Gnade, die nie gewährt worden wäre ... Er presste sich die Hände an die Hüften, während sich seine Fingernägel zu Krallen verlängerten und durch den Stoff seines Tarnanzugs schnitten.

Wenn ich wieder in Budapest bin, werden die Jäger in meinem Kerker ungeahnte Qualen erleiden, dachte er bestimmt zum tausendsten Mal. Er hatte schon viele Menschen gefoltert und betrachtete es als notwendigen Teil seines Krieges. Aber dieses Mal würde er es so richtig genießen.

„Aber warum hat er dich dann behalten, wenn er doch Angst vor dir hatte?“

„Weil er die Hoffnung nicht aufgab, dass mich die richtigen Drogen gefügig machen würden.“

Wo seine Krallen auf die nackte Haut trafen, traten Blutstropfen hervor.

Er war sicher, dass Gwen in der ständigen Panik gelebt hatte, dass genau das eines Tages geschehen könnte. „Du kannst dich rächen, Gwen. Du kannst die anderen Frauen rächen. Ich kann dir dabei helfen.“

Sie hob die Lider. Der Sand, mit dem sie gespielt hatte, war vergessen. Und dann schien sich der Blick aus diesen bernsteingelben Kugeln direkt in seine Seele zu bohren. „Das kannst du auch. Uns rächen, meine ich. Offensichtlich haben diese Männer auch dir etwas angetan. Du bist doch hergekommen, um gegen sie zu kämpfen?“

„Ja, sie haben mir und den meinen etwas angetan, und, ja, ich bin hergekommen, um gegen sie zu kämpfen. Aber das heißt nicht, dass ich sie allein vernichten kann.“ Sonst hätte er es schon längst getan.

„Was haben sie dir angetan?“

„Sie haben meinen besten Freund umgebracht. Und sie hoffen, jeden umbringen zu können, der mir wichtig ist – und alles nur, weil sie die Lügen ihres Anführers glauben. Ich versuche schon seit Jahrhunderten, sie auszumerzen“, gestand er. Die Tatsache, dass sich die Jäger immer noch vermehrten, schmerzte ihn wie ein Dolch zwischen den Rippen. „Aber wenn ich einen töte, nehmen fünf neue seinen Platz ein.“

Als sie bei dem Wort Jahrhunderte‘ nicht blinzelte, wurde ihm klar, dass sie wusste, dass auch er unsterblich war. Aber wusste sie, was er war?

Das hat sie auf keinen Fall erraten. Wie fast alle Frauen in deinem Leben würde sie verachten, was du bist. Wie könnte sie auch anders? Sieh sie dir an. So süß, so sanft. Kein Zeichen von Hass. Noch nicht. Die letzten Worte waren wie ein Singsang.

Zweifel. Sein ständiger Begleiter. Das Päckchen, das er zu tragen hatte.

„Woher weiß ich, dass du keiner von ihnen bist?“, fragte sie hitzig. „Woher weiß ich, dass dies nicht einfach nur ein weiterer Versuch ist, mich zur Kooperation zu bewegen? Ich helfe dir, deinen Feind zu bekämpfen, und du vergewaltigst mich. Ich werde schwanger, und du stiehlst mir mein Kind.“

Zweifel. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von seinem Dämon?

Bevor er sich eine Antwort überlegen konnte, fügte sie mit fester Stimme hinzu: „Ich habe dich beim Kampf gegen diese Männer beobachtet. Du hast sie verletzt, hast behauptet, sie zu hassen, aber du hast sie nicht getötet. Du hast sie am Leben gelassen. So verhält sich kein Krieger, der seinen Feind auslöschen will.“

Während sie sprach, kam ihm eine Idee. Er wusste einen Weg, sich zu beweisen. „Und wenn wir sie töten würden – wärst du dann überzeugt davon, dass wir sie hassen?“

Noch mehr Knabbern an der sinnlichen Unterlippe. Ihre Zähne waren weiß und gerade und ein bisschen spitzer als die eines Menschen. Wenn man sie küsste, floss wahrscheinlich Blut, doch ein Teil von ihm ahnte, dass es jeden Tropfen wert wäre. „Ich ... vielleicht.“

Vielleicht war besser als nichts. „Lucien“, rief er, ohne seine Aufmerksamkeit von ihr zu wenden.

Ihre Augen wurden größer, und sie versuchte erneut, sich zurückzuziehen. „Was machst du denn? Hör auf ...“

Lucien trat durch den Zelteingang und sah erwartungsvoll zwischen den beiden hin und her. „Ja?“

„Bring mir einen Gefangenen aus Buda. Egal, welchen.“

Lucien zog neugierig die Augenbrauen hoch, doch er erwiderte nichts. Er ging einfach.

„Ich kann dir nicht helfen, Sabin“, sagte Gwen gequält und um Verständnis flehend. „Wirklich nicht. Es gibt keinen Grund, zu tun, was auch immer du vorhast. Ich hätte dich nicht so anschreien sollen. Okay? Das gebe ich zu. Ich hätte dich nicht mit meinen Zweifeln beleidigen sollen. Aber ich kann wirklich gegen niemanden kämpfen. Wenn ich Angst habe, erstarre ich. Und dann falle ich in Ohnmacht. Wenn ich wieder zu mir komme, sind alle um mich herum tot.“ Sie schluckte und kniff für einige Sekunden die Augen zusammen. „Wenn ich erst mal anfange zu töten, kann ich nicht mehr aufhören. Das ist nicht gerade die Art Krieger, auf die du dich verlassen kannst.“

„Mich hast du nicht umgebracht“, erinnerte er sie. „Und meine Freunde auch nicht.“

„Ich weiß ehrlich nicht, wie ich mich zurückgehalten habe. Das ist vorher noch nie passiert. Ich wüsste nicht, wie ich das noch mal schaffen sollte.“ Sie wurde blass.

Lucien war mit einem zappelnden Jäger im Schlepptau zurückgekehrt.

Sabin griff hinter sich, zog einen Dolch hervor und stand mit entschlossener Miene auf.

Als Gwen das glänzende Silber sah, keuchte sie erschrocken. „W...was hast du vor?“

„Ist dieser Mann einer von deinen Peinigern?“, fragte er Gwen, die jetzt am ganzen Körper zitterte.

Schweigen. Ihr Blick wanderte ängstlich von einem Mann zum nächsten. Sie wusste genau, was im nächsten Moment geschehen würde, aber sie befanden sich nicht in der Hitze eines Gefechts. Es wäre ein kaltblütiger Mord.

Der Jäger trat und schlug nach Lucien. Als er damit nicht die ersehnte Freiheit erlangte, begann er zu schluchzen. „Lasst mich gehen, lasst mich gehen, lasst mich gehen. Bitte. Ich habe nur getan, was man mir befohlen hat. Ich wollte die Frauen nicht verletzen. Das alles war doch für das große Ganze.“

„Sei still“, befahl Sabin. Diesmal wäre er derjenige, der keine Gnade zeigen würde. „Aber du hast keine von ihnen gerettet, oder?“

„Ich werde nicht länger versuchen, euch zu töten. Das schwöre ich!“

„Gwendolyn.“ Sabins Stimme war hart, erbarmungslos, ein Grollen – verglichen mit dem Flehen des Jägers. „Eine Antwort. Bitte. Ist dieser Mann einer von deinen Peinigern?“

Ein kurzes Nicken.

Ohne ein Wort der Warnung von sich zu geben, schnitt er dem Jäger die Kehle durch.

5. KAPITEL

Sabin hatte vor ihren Augen einen Menschen getötet. Mehrere Stunden waren vergangen, seit sie den Ort des Geschehens verlassen hatten, doch der Anblick dieses Menschen, der erst auf die Knie und dann aufs Gesicht gefallen war, zunächst noch ein Gurgeln von sich gegeben hatte und dann still gewesen war, so still – dieser Anblick wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Gwen hatte gewusst, dass in Sabin etwas Wildes schlummerte – die gleiche Art von Wildheit, die auch sie zu einem Mord getrieben hatte. Sie hatte gewusst, dass er hart, brutal und gänzlich unberührt von weicheren Gefühlen war. Seine Augen verrieten ihn. Dunkel und kalt, schlichtweg berechnend wirkte sein Blick oft. Als er sie vor zwei Tagen aus der Zelle geführt hatte, war ihr aufgefallen, dass er seine Umgebung permanent beobachtete und entschied, wen und was er zu seinem eigenen Vorteil gebrauchen konnte. Alles andere waren Überbleibsel für ihn.

Sie musste ein Überbleibsel gewesen sein. Vorgestern. Jetzt wollte er ihre Hilfe.

Doch Gwen konnte nicht vergessen, dass er sie bei ihrer ersten Begegnung von sich gestoßen hatte. Wie peinlich ihr das gewesen war! Eine einzige Berührung seiner schwieligen Fingerspitzen, und sie hatte sich an die Seite eines Mannes geworfen, der nichts von ihr wollte. Aber er war so warm gewesen, seine Haut schien vor Energie förmlich zu summen, und sie hatte schon so lange keinen Körperkontakt mehr gehabt, dass sie sich nicht anders hatte helfen können.

„Nicht anfassen“, hatte er gesagt und dabei ausgesehen, als wäre er durchaus in der Lage, sie niederzumetzeln, falls sie es wagte, die Hand noch einmal nach ihm auszustrecken.

Als er sie so grausam behandelt hatte, war ihr klar geworden, dass ihre Retter Fremde für sie waren, deren Absichten womöglich genauso schändlich waren wie die ihrer Entführer. Deshalb war sie auf Abstand geblieben und hatte die vergangenen zwei Tage genutzt, um sie genau zu beobachten und ihre Privatgespräche zu belauschen. Sie konnte es wieder mental steuern und hielt den Geräuschpegel auf einem erträglichen Niveau, sodass sie den Männern, die nicht belauscht werden wollten, zuhören konnte, ohne angestrengt das Gesicht zu verziehen und sich damit zu verraten.

Ein Gespräch, das am Morgen stattgefunden hatte, ging ihr immer wieder durch den Kopf.

„ Wir sind schon seit fast einem Monat hier, und es gibt immer noch keine Spur von einem Artefakt. Wie viele Pyramiden müssen wir denn noch durchsuchen, bevor wir etwas finden? Ich dachte, diese letzte Pyramide wäre der Jackpot – immerhin sind Jäger dort gewesen, aber...“

Wieder hatten die Männer von einem Jäger gesprochen. Chris hatten seine Helfer auch so bezeichnet. Warum?

„ Ich weiß, ich weiß. All die Arbeit, und wir sind der Büchse keinen Schritt näher gekommen.“

Artefakt? Büchse?

„Sollen wir zusammenpacken?“

„Das könnten wir. Bis uns unser Auge einen weiteren Hinweis gibt, sind wir richtungslos.“

Seltsame Formulierung. Ihr Auge könne Hinweise geben? Worauf? Und wessen Auge meinten sie? Vielleicht Luciens? Ihr war aufgefallen, dass er ein blaues und ein braunes Auge hatte.

„Hoffentlich hat Galen auch noch nichts gefunden. Also, außer einem Speer, der sich in sein Herz gebohrt hat. Den zu finden, dabei würde ich ihm sogar helfen.“

Wer war Galen? Spielte es eine Rolle? Diese Krieger waren ... seltsam. Die Hälfte von ihnen sprach, als wären sie direkt dem Mittelalter entsprungen. Die andere Hälfte hätte auch einer Straßengang angehören können. Trotzdem liebten sie einander, so viel stand fest. Sie kümmerten sich umeinander, lachten entweder miteinander und machten Witze, oder sie hielten sich gegenseitig den Rücken frei.

Drei Männer und die Kriegerin, Cameo, waren in Sabins Zelt geschlichen, während Sabin mit Lucien fort gewesen war. Jeder hatte ihr die gleiche Botschaft überbracht: Wenn du dem Krieger etwas antust, wirst du leiden. Sie hatten ihre Antwort nicht abgewartet, sondern waren einfach wieder hinausgestapft. Aber die Stimme der Frau ... Gwen schauderte auch im Nachhinein. Sie hatte schon allein beim Zuhören gelitten.

Sie hatte so viel Zeit allein im Zelt verbracht, dass sie hätte fliehen können. Vermutlich hätte sie es versuchen sollen. Doch die endlose Wüste, die brennende Sonne und was auch immer sie sonst noch umgab, die Vorstellung hatte Gwen zurückgehalten. Und die Angst natürlich.

Auch wenn sie in den Eisbergen von Alaska aufgewachsen war, wäre sie mit dem Sand und der Sonne zurechtgekommen. Das hoffte sie jedenfalls. Es war das Unbekannte, das sie einschüchterte. Was, wenn sie auf einen bösartigen Stamm traf? Oder auf ein Rudel hungriger Tiere? Oder auf eine andere Gruppe heimtückischer Männer?

Außerdem war ihr Handeln der Auslöser für ihren unfreiwilligen Aufenthalt in diesem gläsernen Käfig gewesen, als sie ihrem damaligen Freund Tyson spontan in einen anderen Staat gefolgt war. Trotzdem. Hätten die Krieger ihr wehgetan, hätte Gwen die Flucht riskiert – was wieder nur eine Hoffnung war. Aber sie hatten sie nicht angerührt, in keiner Weise. Und sie war froh darüber. Wirklich. Dass Sabin sein Wort gehalten hatte – nicht anfassen –, war ein Geschenk des Himmels. Ehrlich.

„Alles in Ordnung?“ Der Krieger namens Strider ließ sich in den vornehmen Ledersessel neben ihr fallen. Sie saßen in einem Privatflugzeug hoch über den Wolken, und es gab mittelschwere Turbulenzen.

Überraschenderweise machte ihr das keine Angst.

Gwen unterdrückte ein bitteres Lachen. Ein Schatten konnte sie dazu bringen, sich zu verstecken, aber ein markerschütterndes Rütteln, bei dem man befürchten musste abzustürzen, entlockte ihr bloß ein Gähnen. Vielleicht weil sie selbst fliegen konnte, irgendwie jedenfalls – auch wenn sie diese Fähigkeit schon ewig nicht mehr eingesetzt hatte. Vielleicht auch weil ein Flugzeugabsturz, verglichen mit dem, was sie in dem vergangenen Jahr durchgemacht hatte, ein Spaziergang für sie wäre.

„Du bist blass“, fügte er hinzu, als sie stumm blieb. Er zog eine Packung scharfer Zimtbonbons aus der Tasche, schob sich eine Handvoll in den Mund und bot Gwen welche an. Bei dem Geruch von Zimt lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Du musst etwas essen.“

Zumindest versteckte sie sich nicht vor ihm. Trotzdem. Was war los mit diesen Männern, dass sie meinten, ihr ständig Junkfood unter die Nase halten zu müssen? „Nein, danke. Es geht mir gut.“ Sie hatte sich noch nicht von den Küchlein erholt.

Nicht dass sie bereute, sie gegessen zu haben. Der Geschmack des Zuckers, das volle Gefühl im Magen – es war himmlisch gewesen, zumindest ein paar kostbare Sekunden lang. Doch sie hatte ja gewusst, dass sie nichts essen durfte, was ihr jemand schenkte. Wie alle anderen Harpyien war sie von den Göttern mit einem Fluch belegt worden, der bewirkte, dass sie nur Nahrung zu sich nehmen konnte, die sie entweder gestohlen oder sich verdient hatte. Das war die Buße für Verbrechen, die ihre Vorfahren begangen hatten. Absolut unfair also. Aber sie konnte nichts dagegen tun.

Außer verhungern natürlich.

Sie hatte genauso große Angst vor den Konsequenzen, die ein Diebstahl nach sich zog, wie vor den Forderungen, mit denen die Männer womöglich aufwarten würden, damit sie sich ein paar kostbare Bissen verdienen konnte.

„Sicher?“, hakte er nach, bevor er sich noch mehr Bonbons in den Mund warf. „Die hier sind zwar klein, aber sie brennen wie die Hölle.“ Von allen Männern ging er am sanftesten mit ihr um. Ihm lag ihr Wohlergehen besonders am Herzen. Seine strahlend blauen Augen sahen sie niemals geringschätzig an – oder wütend, so wie Sabins manchmal.

Sabin. Immer kehrten ihre Gedanken zu ihm zurück.

Unwillkürlich sah sie zu ihm. Er lag auf dem Sofa ihr gegenüber, hatte die Augen geschlossen, und seine Wimpern warfen spitze Schatten auf seine scharf konturierten Wangen. Er trug einen Tarnanzug, eine silberne Kette um den Hals und ein ledernes Herrenarmband. Gwen war sich sehr sicher, dass er auf den Zusatz „Herren“ großen Wert legen würde. Seine Gesichtszüge waren schläfrig entspannt. Wie konnte jemand nur zugleich so jungenhaft und so unbarmherzig aussehen?

Das war ein Rätsel, das sie lösen wollte. Wenn es ihr gelang, würde sie vielleicht endlich aufhören, immer wieder nach ihm zu suchen. Denn es vergingen keine fünf Minuten, ohne dass sie sich fragte, wo er war und was er tat. Am Morgen hatte er seine Sachen gepackt und letzte Reisevorbereitungen getroffen, während sie sich ausgemalt hatte, wie sie ihre Fingernägel in seinen Rücken bohrte und ihn in den Hals biss. Nicht um ihn zu verletzen, sondern um sich zu beglücken!

Sie hatte über die Jahre schon den einen oder anderen Liebhaber gehabt, aber solche Gedanken hatten sie noch nie geplagt. Sie war ein sanftes Geschöpf, verdammt noch mal, sogar im Bett. Es lag an ihm. Seine Mir-ist-alles-egal-außer-wie-ich-meinen-Krieg-gewinne-Einstellung rief diese ... Finsternis in ihr hervor. Ja, so musste es sein.

Was er getan hatte, hätte sie anwidern müssen – einem Menschen einfach die Kehle durchzuschneiden ... Zumindest hätte sie ihn anschreien sollen, damit er aufhörte; sie hätte protestieren sollen. Doch ein Teil von ihr – diese finstere Seite, das Ungeheuer, dem sie nicht entfliehen konnte – hatte genau gewusst, was passieren würde, und war froh darüber gewesen. Sie hatte gewollt, dass der Mensch starb. Selbst jetzt noch verspürte sie einen Funken Dankbarkeit Sabin gegenüber. Für die wunderbar grausame Art, auf die er für Gerechtigkeit gesorgt hatte.

Das war der einzige Grund gewesen, aus dem sie freiwillig in dieses Flugzeug gestiegen war. Ein Flugzeug, das nicht nach Alaska flog, sondern nach Budapest. Das und die respektvolle Distanz, die die Krieger zu ihr hielten. Ach ja, und diese köstlichen Küchlein – auch wenn Gwen der süßen Versuchung nicht noch einmal erliegen wollte.

Aber vielleicht sollte sie genau das tun. Vielleicht sollte sie sich wie eine erwachsene Frau benehmen, einfach eins stehlen und das Risiko einer Bestrafung in Kauf nehmen. Ihre Fähigkeiten waren zwar etwas eingerostet, aber nun, da sie nicht mehr in ihrer Zelle saß, schmerzte der Hunger schier unerträglich, und körperlich wurde sie zusehends schwächer. Und selbst wenn die Krieger sie verletzten, hätte das ein Gutes. Denn dann würde Gwen endlich aktiv werden und nach Hause fliegen.

Allerdings musste sie sich schnell entscheiden. Schon bald hätte sie nicht mehr die Kraft und die geistige Klarheit, sich ein Häppchen zu stehlen – geschweige denn eine komplette Mahlzeit –, und sie hätte definitiv nicht mehr die Kraft fortzugehen. Das machte das Ganze noch schlimmer: Sie musste nicht nur gegen den Hunger kämpfen, sondern auch gegen die Lethargie.

Sie war nicht etwa dazu verflucht, für immer wach zu bleiben oder so, aber vor anderen zu schlafen verstieß gegen den Verhaltenskodex der Harpyien. Und zwar aus gutem Grund! Im Schlaf war man verwundbar, das perfekte Ziel für einen Angriff, oder besser gesagt für eine Entführung. Ihre Schwestern hielten sich nicht an viele Regeln, jedoch hatten sie nie gegen diese verstoßen. Und Gwen wollte es auch nicht tun. Nicht noch mal. Sie hatte ihrer Familie schon genug Schande bereitet.

Doch ohne Nahrung und Schlaf ging es mit ihrer Gesundheit weiterhin bergab. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Harpyie würde das Kommando übernehmen, wild entschlossen, sie zum Wohlbefinden zu zwingen.

Die Harpyie. Obwohl sie in ein und demselben Körper lebten, betrachtete Gwen sie als einzelnes Wesen. Die Harpyie tötete gern, sie nicht. Die Harpyie bevorzugte die Dunkelheit, sie das Licht. Die Harpyie liebte das Tohuwabohu, sie die Ruhe. Ich kann sie nicht ranlassen.

Auf der Suche nach den kleinen mit Creme gefüllten Kuchen ließ Gwen den Blick durch das Flugzeug schweifen. Doch ihr Blick blieb an Amun hängen. Er war der düsterste unter den Kriegern und jemand, den sie noch nie hatte sprechen hören. Er krümmte sich auf dem Sitz, der am weitesten von ihr entfernt war, hatte die Hände an die Schläfen gelegt und stöhnte, als hätte er unerträgliche Schmerzen. Paris, der mit den braunen und schwarzen Haaren – der Verführer, als den sie ihn wegen seiner azurblauen Augen und der blassen Haut einstufte – saß neben ihm und schaute nachdenklich aus dem Fenster.

Ihnen gegenüber saß Aeron, der Krieger, der von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen bedeckt war. Auch er war still, stoisch. Die drei hätten Pressesprecher für das Elend sein können. Und ich dachte, mir ginge es schlecht. Was ist nur mit ihnen los?, fragte Gwen sich. Ob sie wussten, wo die Küchlein waren?

„Gwendolyn?“

Striders Stimme riss sie mit einem Schlag aus den Gedanken. „Ja?“

„Hörst du mir zu?“

„Ah, tut mir leid.“ Hatte er sie etwas gefragt?

Das Flugzeug flog durch ein weiteres Luftloch. Eine mit Sand verschmutzte Locke fiel Strider in die Stirn, und er wischte sie sich aus dem Gesicht. Der Bewegung folgte eine verführerische Zimtbrise. Gwens Magen knurrte. „Ich weiß, dass du nichts essen willst“, sagte er, „aber hast du denn keinen Durst? Möchtest du etwas trinken?“

Ja, bitte. Ja. Ihr Mund wurde noch wässriger. „Nein, danke.“

„Nimm wenigstens eine Flasche Wasser. Sie ist versiegelt, du brauchst also keine Angst zu haben, dass wir sie irgendwie präpariert haben.“ Er zauberte eine glänzende, eiskalte Flasche aus dem Becherhalter neben sich hervor und hielt sie ihr vors Gesicht. War sie schon die ganze Zeit da gewesen?

Stumm schluchzte Gwen. Es sah so köstlich aus ... „Vielleicht später“, brachte sie krächzend hervor.

Er zuckte die Schultern, als wäre es ihm egal, aber aus seinen Augen sprach die Enttäuschung. „Ich geb’s auf.“

Es gab doch bestimmt irgendetwas in der Nähe, das sie stehlen könnte. Wieder sah sie sich suchend im Flugzeug um und entdeckte diesmal das halb ausgetrunkene Glas Wasser mit Kirschgeschmack, das neben Sabin stand. Sie leckte sich die Lippen. Sabin wird den Verlust schon verkraften. Sobald Strider aufstand, würde sie das Glas schnappen. Zum Teufel mit den Konsequenzen.

Vielleicht. Nein, bestimmt. Doch jetzt war er noch da, und sie konnte die Zeit genauso gut nutzen und ein paar Antworten von ihm bekommen – und sich ihren Schneid zurückkaufen. „Warum fliegen wir eigentlich?“, fragte sie. „Ich habe diesen Lucien mit einer der anderen Frauen verschwinden sehen. Wir hätten Budapest doch binnen weniger Sekunden erreichen können.“

„Einige von uns vertragen das Beamen nicht so gut.“ Sein Blick wanderte zu Sabin.

„Einige von euch sind also Babys?“ Die Worte waren draußen, ehe sie sie zurückhalten konnte. So etwas sagte Gwen eigentlich nur zu ihren Schwestern, den einzigen Geschöpfen auf der Welt, bei denen sie sie selbst sein konnte, ohne Angst vor Schuldzuweisungen haben zu müssen. Bianka, Taliyah und Kaia verstanden sie, liebten sie und täten alles, um sie zu beschützen.

Aber Strider schien durch ihre Worte alles andere als verärgert zu sein. Im Gegenteil. Er amüsierte sich königlich und brach in schallendes Gelächter aus. „Ja, so ähnlich, auch wenn Sabin, Reyes und Paris sich lieber einreden, sie würden sich ein Virus einfangen, sobald Lucien sie irgendwohin beamt.“

Die Zwillinge Bianka und Kaia waren genauso. Sie glaubten lieber, mit einem Gebrechen geschlagen zu sein, als sich eine Schwäche einzugestehen. Taliyah war kalt wie Eis und doppelt so hart, sie reagierte oft einfach gar nicht. Auf nichts.

Allmählich legte sich Striders Belustigung, und er musterte Gwen intensiv. „Du bist anders, als ich erwartet habe.“

Behaupte dich. Winde dich nicht heraus. „Wie meinst du das?“

„Na ja ... warte: Wirst du meine Worte als Angriff werten?“

Und die Kontrolle verlieren? Das war es wohl, was er hatte fragen wollen. Offenbar hatte er genauso viel Angst vor ihrer dunklen Seite wie sie. „Nein.“ Vielleicht.

Sein intensiver Blick wurde noch eindringlicher, während er die Glaubwürdigkeit ihrer Antwort abwog. Anscheinend hatte er ihren entschlossenen Gesichtsausdruck gesehen, denn er nickte. „Ich glaube, ich habe es schon mal gesagt, aber nach dem bisschen, was ich über Harpyien weiß, sind es hässliche Kreaturen mit missgestalteten Gesichtern und scharfen Schnäbeln. Und die untere Hälfte ihres Körpers sieht aus wie bei einem Vogel. Sie sind boshaft und unbarmherzig. Aber du ... bist nichts von alledem.“

Hatte er schon vergessen, was sie mit Chris gemacht hatte?

Sie sah zu Sabin, der sich nicht gerührt hatte. Er atmete tief und gleichmäßig, und sein Zitronen-Minze-Duft drang zu ihr herüber. Hatte er Strider nicht daran erinnert, dass nicht alle Legenden zwingend wahr waren? „Wir haben einen schlechten Ruf, das ist alles.“

„Nein, dahinter steckt mehr.“

Für sie, ja. Aber das konnte sie ihm ja schlecht sagen. Ihre Schwestern – die Glücklichen – hatten Gestaltwandler als Väter. Taliyahs Vater war eine Schlange, und der Vater der Zwillinge ein Phoenix. Ihrer hingegen war ein Engel – eine Tatsache, über die sie nicht sprechen durfte. Niemals. Engel waren zu rein, zu gut für ihre Art, um respektiert zu werden, und Gwen hatte schon genügend Schwächen. Wie immer, wenn sie an ihren Vater dachte, legte sie sich die Hand flach aufs Herz.

Obwohl die Harpyien eine matriarchalische Gesellschaft waren, war es den Vätern gestattet, ihre Kinder zu sehen. Die Väter ihrer Schwestern hatten sich entschieden, am Leben ihrer Töchter teilzuhaben. Gwens Vater hatte erst gar nicht die Chance dazu bekommen. Ihre Mutter hatte es ihm untersagt. Sie hatte Gwen gerade mal seine markantesten Wesenszüge aufgezählt – als Warnung davor, wie sie werden würde, wenn sie sich nicht vorsah. Dann wäre sie zu moralisch, um sich ihr Essen zu stehlen, unfähig zu lügen und mehr um das Wohl anderer besorgt als um das eigene. Doch selbst nachdem Tabitha sich von Gwen losgesagt hatte, indem sie sie einen „hoffnungslosen Fall“ genannt hatte, hatte Gwens Vater nicht versucht, mit ihr in Kontakt zu treten. Wusste er überhaupt, dass es sie gab? Ein Gefühl der Sehnsucht überkam Gwen.

Ihr gesamtes Leben über hatte sie von ihrem Vater geträumt, der alles und jeden niederkämpfte, um zu ihr zu gelangen; um sie in seine Arme zu schließen und mit ihr davonzufliegen. Es waren Träume von seiner Liebe und Zuwendung. Träume von einem Leben bei ihm im Himmel, für immer und ewig beschützt vor dem Bösen der Welt und der eigenen dunklen Seite.

Sie seufzte. Wenn von ihrer Art die Rede war, wurde immer nur ein Name erwähnt: Luzifer. Er war stark, verschlagen, brutal – kurzum, ein Feind, den sich niemand wünschte. Die Leute legten sich nicht so schnell mit ihr oder den anderen an, wenn sie glaubten, der Prinz der Dunkelheit würde seine Waffen auf sie richten.

Und um ehrlich zu sein, wenn sie ihn zu ihrer Familie zählte, log sie nicht einmal. Luzifer war ihr Urgroßvater. Der Großvater ihrer Mutter. Gwen war ihm nie begegnet, denn sein Jahr auf der Erde war lange vor ihrer Geburt beendet gewesen, und sie hoffte inständig, dass sie einander nie über den Weg liefen. Allein der Gedanke daran jagte ihr Schauer über den Rücken.

Während sie sorgfältig ihre nächsten Worte wählte, atmete sie tief ein und nahm dabei Striders Holzrauch-Aroma sowie den köstlichen Zimtduft auf. Traurigerweise reichte er nicht im Ansatz an Sabins Duft heran. „Menschen verpassen allem, was sie nicht verstehen können, eine negative Assoziation“, meinte sie. „In ihrer Vorstellung siegt das Gute immer über das Böse. Deshalb ist alles, was stärker ist als sie, böse. Und natürlich ist das Böse hässlich.“

„Wie wahr.“ Sein Ton klang überaus verständnisvoll.

Der Zeitpunkt ist genauso gut oder schlecht wie jeder andere, um herauszufinden, was genau er versteht, dachte sie. „Ich weiß, dass du unsterblich bist, so wie ich“, begann sie, „aber mir ist noch nicht ganz klar, was du eigentlich bist.“

Er rutschte unruhig auf seinem Sessel herum und warf seinen Freunden Hilfe suchende Blicke zu. Jeder, der zugehört hatte, sah schnell weg. Strider seufzte, ein Echo ihres Seufzers von vor wenigen Minuten. „Früher waren wir Gotteskrieger.“

Früher, aber jetzt nicht mehr. „Aber was ...“

„Wie alt bist du?“, fiel er ihr ins Wort.

Gwen hätte gern gegen den abrupten Themenwechsel protestiert. Doch feige, wie sie war, überlegte sie stattdessen, was dafür- und was dagegen sprach, die Wahrheit zu sagen. Sie stellte sich die drei Fragen, die jede Harpyienmutter ihre Tochter lehrte: Konnte die Information gegen sie verwendet werden? Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Information für sich behielt? Wäre eine Lüge ausreichend, wenn nicht sogar besser?

Kein Nachteil, entschied Gwen. Aber auch kein Vorteil, doch das war ihr egal. „Siebenundzwanzig.“

Seine Augenbraue zuckte, und er blinzelte zur ihr hinüber. „Siebenundzwanzighundert Jahre, richtig?“

Wenn er mit Taliyah spräche, ja. „Nein. Einfach nur siebenundzwanzig ganz gewöhnliche Jahre.“

„Aber du meinst nicht Menschenjahre, oder?“

„Nein. Ich meine Hundejahre“, erwiderte sie trocken und presste dann fest die Lippen aufeinander. Was war nur mit ihr los, dass sie plötzlich derartige Bemerkungen machte? Doch Strider schien das gar nichts auszumachen. Er wirkte eher verblüfft. Hätte Sabin genauso reagiert, wenn er wach gewesen wäre?

„Was ist so schwer daran, mir mein Alter zu glauben?“ Während die Frage wie ein Echo zwischen ihnen in der Luft hing, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der Gwen erbleichen ließ. „Sehe ich etwa alt aus?“

„Nein, nein. Natürlich nicht. Aber du bist unsterblich. Und stark.“

Und starke Unsterbliche konnten nicht jung sein, oder was? Moment. Er hielt sie für stark? Freude füllte ihre Brust. In der Vergangenheit war dieses Wort immer nur benutzt worden, um ihre Schwestern zu beschreiben. „Ja, aber ich bin trotzdem erst siebenundzwanzig.“

Er streckte die Hand aus ... um was zu machen? Gwen wusste es nicht, und es kümmerte sie auch nicht. Sie kauerte sich in ihrem Sessel zusammen. Während sie sich von Anfang an nach einer Berührung von Sabin gesehnt hatte – warum, warum, warum? – und sich am Morgen sogar ausgemalt hatte, wie sie all diese ungezogenen Dinge mit ihm anstellte, war die Vorstellung, dass jemand anderes sie berührte, für sie vollkommen reizlos.

Strider ließ den Arm zurück an die Seite fallen.

Sie entspannte sich, und ihr Blick schweifte abermals zu Sabin. Sein Gesicht war jetzt gerötet, er biss die Zähne fest aufeinander. Schlechte Träume? Tobten gerade alle Menschen, die er je getötet hatte, in seinen Gedanken und quälten ihn? Vielleicht war es ja ein Segen, dass Gwen sich nicht erlaubte zu schlafen. Sie hatte solche Albträume schon selbst erlebt und jede einzelne Sekunde gehasst.

„Sind alle Harpyien so jung wie du?“, fragte Strider und zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Konnte diese Information gegen sie verwendet werden? Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Antwort für sich behielt? Wäre eine Lüge ausreichend, wenn nicht sogar besser? „Nein“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Meine drei Schwestern sind ein ganzes Stück älter. Aber auch schöner und stärker.“ Sie liebte sie viel zu sehr, um eifersüchtig zu sein. „Sie hätten sich nicht entführen lassen. Niemand schafft es, sie zu etwas zu bewegen, das sie nicht wollen. Sie haben vor nichts Angst.“

Okay, jetzt musste sie den Mund halten. Je mehr sie redete, desto stärker kamen ihre Fehler und Grenzen ans Tageslicht. Es wäre besser, wenn diese Männer glaubten, dass auch sie mutig war – wenn auch nur ein bisschen. Aber warum kann ich nicht wie meine Schwestern sein? Warum laufe ich vor der Gefahr weg, während sie sich auf sie stürzen? Wenn eine von ihnen sich für Sabin interessiert hätte, hätte sie seine Distanzierung als Herausforderung verstanden und ihn verführt.

Moment. Stopp! Das war ja verrückt. Sie interessierte sich nicht für Sabin. Er sah gut aus, ja, und sie hatte sich vorgestellt, mit ihm zu schlafen. Aber das war nur aus ihrer Dankbarkeit entsprungen. Er hatte sie befreit und einen ihrer Feinde getötet. Und, ja, er brachte sie durcheinander. Er war die personifizierte Härte und Gewalt, und dennoch hatte er ihr nicht wehgetan. Aber sich eingestehen, dass sie sich zu einem unsterblichen Krieger hingezogen fühlte? Niemals.

Wenn Gwen sich wieder auf einen Mann einließ, würde sie sich einen aufmerksamen, rücksichtsvollen Kandidaten aussuchen, der ihre dunkle Seite in keiner Weise ansprach. Einen aufmerksamen, rücksichtsvollen Mann, der an Ausschusssitzungen teilnahm und nicht an Schwertspielen. Einen aufmerksamen, rücksichtsvollen Mann, der ihr das Gefühl gab, sie trotz ihrer Schwächen zu schätzen und zu akzeptieren. Jemanden, der ihr das Gefühl gab, normal zu sein.

Das war alles, was sie je gewollt hatte.

Sabin konzentrierte sich auf Gwen. Und zwar seit sie an Bord des Flugzeugs waren. Na gut. Von dem Moment an, als er ihr begegnet war. Er hatte gemeint, sie könnte sich nicht entspannen, weil er sie einschüchterte. Deshalb gab er vor zu schlafen. Offenbar hatte er richtiggelegen, denn sie ließ ihre Abwehr fallen und öffnete sich. Strider gegenüber.

Das irritierte ihn zutiefst.

Dennoch wagte er nicht, die Augen ganz zu öffnen. Auch nicht, als Strider versucht hatte, sie zu berühren, und Sabin seinem Freund am liebsten seine Faust in die Nase gerammt hätte, auf dass der Knorpel das Hirngewebe zerstörte. Ihr Gespräch faszinierte ihn.

Das Mädchen – und genau das war sie mit ihren gottverdammten zarten siebenundzwanzig Jahren, gegen die er wie Vater Zeit aussah – hielt sich in jedweder Hinsicht für eine Versagerin und ihre Schwestern für Vorbilder. Hübscher? Unwahrscheinlich. Stärker? Ihn schauderte. Sie hätten sich nicht entführen lassen? Jedem konnte unwissentlich Schaden zugefügt werden. Auch ihm. Sie hatten vor nichts Angst? In jedem schlummerte eine tiefe dunkle Angst. Selbst in Sabin. Seine Versagensängste waren genauso groß wie Gideons Spinnenphobie.

Aber Gwens Schüchternheit und ihr Entsetzen über ihre Tat an jenem Tag in den Katakomben hatten ihn bereits ahnen lassen, dass sie an ihrer Stärke und an ihren Fähigkeiten zweifelte – allerdings hatte er keine Ahnung gehabt, wie tief verwurzelt diese Zweifel waren. Wie sie sich mit ihren Schwestern verglich, offenbarte, dass ein Zweifel den nächsten jagte. Die Frau war voll davon. Und in seiner Nähe würde es nicht unbedingt besser werden.

Alle Partnerinnen, die er in der Vergangenheit gehabt hatte, waren selbstbewusste Frauen und über fünfunddreißig gewesen, verflucht noch mal. Er hatte sich aus genau diesem Grund für sie entschieden – wegen ihres Selbstvertrauens. Doch sie hatten sich schnell verändert, weil sein Dämon die scharfen Krallen der Unsicherheit in sie gebohrt und ihnen tiefe Wunden zugefügt hatte. Ein paar, wie Darla, hatten sich sogar das Leben genommen, da sie die permanente kritische Prüfung ihres Aussehens, ihres Verstandes oder der sie umgebenden Menschen nicht mehr ertragen hatten. Nach Darla hatte er den Frauen und Beziehungen ein für alle Mal entsagt.

Dann hatte er Gwen gesehen. Er begehrte sie – oh, und wie er sie begehrte. Vielleicht kann ich mir eine Nacht mit ihr gestatten und das irgendwie vor mir rechtfertigen, dachte er. Doch er bezweifelte, dass ihm eine Nacht reichen würde. Nicht mit ihr. Dafür gab es zu viele Möglichkeiten, sie zu nehmen, zu viele Dinge, die er mit diesem wohlgeformten kleinen Körper anstellen wollte.

Ihre sinnliche Schönheit entflammte ihn jedes Mal, wenn er sie sah. Dann lief ihm förmlich das Wasser im Mund zusammen, und sein Körper schmerzte. Ihre Unsicherheit weckte seinen Beschützerinstinkt genauso wie die Zerstörungswut seines Dämons. Ihr Sonnenduft, der unter dem Schmutz verborgen lag, den sie sich noch abwaschen musste, waberte unentwegt zu ihm herüber und beschwor ihn, näher zu kommen ... immer näher ...

Nachzugeben hätte bedeutet, sie zu vernichten. Vergiss das nicht.

Vielleicht werde ich ja gut sein. Vielleicht lasse ich sie in Frieden.

Bei diesem Gedanken biss Sabin sich so fest auf die Zunge, dass er Blut schmeckte. Der Dämon wollte erreichen, dass er seine bösartige Absicht anzweifelte. Darauf bin ich ein einziges Mal hereingefallen, aber das passiert mir bestimmt nicht wieder.

„Das machst du oft“, sagte Strider zu Gwendolyn und riss Sabin damit aus den Grübeleien.

„Was?“ Ihre Stimme klang atemlos und heiser. Zuerst hatte Sabin gedacht, ihre dunkle Seite wäre für dieses Timbre verantwortlich. Aber nein, die Heiserkeit war eine Eigenart von ihr. Und Sex pur.

„Sabin ansehen. Gefällt er dir?“

Offensichtlich schockiert, keuchte sie. „Natürlich nicht!“

Sabin musste sich beherrschen, um sie nicht finster anzustarren. Ein kleines Zögern wäre nett gewesen.

Strider lachte. „Ich glaube, schon. Und soll ich dir was verraten? Ich kenne ihn seit vielen Tausend Jahren – ich kenne also schmutzige Details.“

„Und?“, erwiderte sie scheinbar desinteressiert.

„Und ... ich habe kein Problem damit, darüber zu reden. Ich meine, wenn du deine Meinung über ihn ändern solltest, würde ich mich euch beiden gegenüber wie ein Freund verhalten.

Dein Freund will dir das Wasser abgraben, murmelte Zweifel, vielleicht will er sie ja für sich. Ihm hiernach noch zu vertrauen wäre nicht gerade klug.

Einen Moment lang verspürte Sabin Unbehagen, doch dann schüttelte er das Gefühl ab. Er warnt sie um ihretwillen. Und um meinetwillen. Genau wie er gesagt hat. Und jetzt halt die Klappe.

„Ich will nichts mit ihm zu tun haben, glaub mir.“

„Dann macht es dir ja bestimmt nichts aus, wenn ich weggehe, ohne dir zu verraten, was ich weiß.“ Durch die schmalen Schlitze seiner Augen beobachtete Sabin, wie Strider aufstand.

Gwen packte ihn am Handgelenk und zog ihn zurück auf den Sessel. „Warte.“

Sabin musste sich an den Armlehnen festkrallen, um nicht aufzuspringen und sie auseinanderzureißen.

„Erzähl es mir“, verlangte sie und ließ den Krieger los.

Langsam machte Strider es sich wieder in seinem Sessel bequem. Er grinste. Selbst bei seiner eingeschränkten Sicht konnte Sabin das helle Leuchten von Striders Zähnen sehen. Plötzlich hätte er am liebsten selbst gegrinst. Gwen war neugierig auf ihn.

Wahrscheinlich will sie nur herausfinden, wie sie dich am besten töten kann.

Schnauze, verdammt!

„Willst du irgendwas Besonderes wissen?“, fragte Strider.

„Warum ist er so ... distanziert?“ Sie sah immer noch zu ihm herüber. Er spürte ihren stechenden Blick auf sich. „Ich meine, ist er zu jedem so, oder kann ich mir was darauf einbilden?“

„Keine Sorge. Es liegt nicht an dir. Er ist zu allen Frauen so. Das muss er. Weißt du, sein Dämon ist ...“

„Dämon?“ Gwen spie das Wort förmlich aus. Sie setzte sich kerzengerade auf, und ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. „Hast du gerade ‚Dämon‘ gesagt?“

„Oh, äh ... habe ich das?“ Wieder sah Strider sich Hilfe suchend im Flugzeug um. „Nein, nein. Ich glaube, ich habe ‚Seemann‘ gesagt.“

„Nein, du hast ‚Dämon‘ gesagt. Dämonen. Dämonen und Jäger und das Schmetterlingstattoo. Ich hätte in der Sekunde darauf kommen müssen, als ich die Tätowierung gesehen habe, aber ihr habt so nett gewirkt. Ich meine, ihr habt mir kein Haar gekrümmt, und außerdem gibt es Tausende Leute, die einen Schmetterling eintätowiert haben.“ Jetzt sah sie sich panisch im Flugzeug um und musterte die Krieger offenbar mit ganz anderen Augen. In der nächsten Sekunde stand sie auch schon, sprang an Strider vorbei und stolperte rückwärts in Richtung Toilette.

Gwen streckte die Arme nach vorn, als könnte die kümmerliche Geste jeden auf Abstand halten. „J...jetzt verstehe ich. Ihr seid die Herren, stimmt’s? Unsterbliche Krieger, die von den Göttern auf die Erde verbannt wurden. Meine Schwestern haben mir Gutenachtgeschichten über eure grausamen Taten und Eroberungszüge erzählt.“

„Gwen“, sagte Strider beschwichtigend. „Beruhig dich. Bitte.“

„Ihr habt Pandora getötet. Eine unschuldige Frau. Ihr habt das antike Griechenland niedergebrannt und dadurch die Straßen mit Blut und Schreien gefüllt. Ihr habt Menschen gefoltert, habt ihnen bei lebendigem Leib die Gliedmaßen abgerissen.

Striders Miene verhärtete sich. „Diese Menschen hatten es nicht anders verdient. Sie haben unseren Freund getötet und versucht, uns umzubringen.“

„Wenn sie schreit, werden wundervolle Dinge geschehen“, sagte Gideon grimmig, während er sich neben Strider stellte. „Versuch nicht, sie außer Gefecht zu setzen. Ich helfe dir auch nicht.“

„Warte. Bevor wir es auf die harte Tour machen und dabei vielleicht unsere Kehlen verlieren, sollten wir etwas anderes versuchen. Paris!“, sagte Strider, wobei er Gwen keine Sekunde lang aus den Augen ließ. „Wir brauchen dich hier.“

Entschlossen trat Paris zu ihnen, just in dem Augenblick, als Sabin aus seinem vorgetäuschten Schlaf erwachte und aufsprang.

„Gwen“, sagte er in der Hoffnung, sie mit Worten beruhigen zu können, ehe sich Paris ans Werk machte. Doch sie hatte Schwierigkeiten zu atmen, und die Hysterie hatte sich wie ein Schleier über ihr Gesicht gelegt. „Lass uns reden, über ...“

„Dämonen ... rings um mich herum.“ Sie öffnete den Mund und schrie. Und schrie und schrie und schrie.

6. KAPITEL

Dämonen. Die Herren der Unterwelt. Einst geliebte Krieger der Götter, nun verschmäht und eine Plage auf Erden. Jeder Mann trug einen Dämon in seinem Körper, einen Dämon, der so abscheulich war, dass es selbst der Hölle nicht gelungen war, ihn zu halten. Dämonen wie Krankheit, Tod, Elend, Schmerz und Gewalt. Und ich bin mit ihnen in einem kleinen Flugzeug gefangen, dachte Gwen, und ihre Hysterie erreichte einen neuen Höhepunkt.

Das Flugzeug ruckelte und schaukelte und verlor alarmierend schnell an Höhe. Doch das konnte die Herren nicht aufhalten. Sie hatten sie eingekreist und kamen langsam näher. Gwen schlug das Herz hart in ihrer Brust, und das Blut rauschte so schnell durch ihre Venen, dass ihre Ohren sausten. Wenn das Ohrensausen doch nur das wilde Kreischen der Harpyie übertönt hätte ... Aber so viel Glück hatte sie nicht. In ihrem Kopf toste eine schrille Symphonie, die sich ständig veränderte, die ihr den Verstand raubte und sie hinabwarf ... hinab ... in eine schwarze Leere, in der Tod und Zerstörung regierten.

So brutal und mächtig, wie diese Krieger waren, hätte sie ahnen müssen, dass sie von Dämonen besessen waren. Die roten Augen, als sie Sabin zum ersten Mal gesehen hatte ... das Schmetterlingstattoo über seinen Rippen ...

Ich bin so blöd.

Obwohl Gwen die Männer in den vergangenen Tagen intensiv beobachtet hatte, war sie wohl zu müde gewesen, zu hungrig und zu erleichtert über ihre Befreiung, um zu bemerken, dass die anderen die gleiche Tätowierung hatten – an welcher Körperstelle auch immer. Entweder das, oder Sabins Erscheinung hatte sie zu stark abgelenkt. Genau, wenn sie richtig darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass die Krieger in ihrer Gegenwart immer voll bekleidet gewesen waren. Und sie hatte geglaubt, sie hätten Mitleid für ihr Schicksal empfunden und sie nicht verängstigen wollen, indem sie zu viel Haut zeigten! Doch jetzt erkannte sie die Wahrheit. Sie hatten einfach nur ihr Zeichen versteckt.

Welcher Dämon wohl Sabin beherrscht?, fragte sie sich. Welchen Dämon hatte sie beobachtet? Welcher Dämon hatte sie mit jedem Wort und jeder Handlung fasziniert? Welchen Dämon hatte sie in Gedanken geküsst und gestreichelt, sich an ihm festgehalten und sich unter ihm gewunden?

Wie konnten ihre Schwestern diese Prinzen des Bösen nur verehren? Na ja, oder zumindest ihre Vorstellung von ihnen? Soweit Gwen wusste, waren sie ihnen nie begegnet. Aber wer hätte diese Begegnung wohl überlebt? Diese Männer kannten weder Gnade noch Reue. Sie waren zu jeder düsteren Tat fähig und befanden sich in einem endlosen Krieg, der sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart erstreckte, von Meer zu Meer, von Tod zu Tod.

Jedes Mal, wenn man ihr von ihnen erzählt hatte, war ihre Angst vor Raubtieren, die bei Nacht umherschlichen, und vor Unholden, die sich im Sonnenlicht versteckten, um ein Vielfaches gewachsen. In jener Zeit hatte Gwen begonnen, das Raubtier in sich zu fürchten. Denn genau aus diesem Grund hatte man ihr diese Geschichten überhaupt erst erzählt: damit sie die Krieger nachahmen könnte. Während Gwen bei dem Gedanken daran am liebsten weggerannt wäre, hatte die Harpyie jedes einzelne Wort aufgesaugt, bereit, sich zu beweisen.

Ich muss fliehen. Ich kann nicht länger hierbleiben. Dabei kann nichts Gutes herauskommen. Entweder töten sie mich als Nächstes, oder meine Harpyie wird noch härter kämpfen, um wie sie zu sein. Womöglich wäre sie in den Händen ihres verhassten Feindes besser drangewesen.

„Du musst aufhören zu schreien, Gwen.“

Die harsche, vertraute Stimme drang durch das sumpfige Chaos in ihrem Kopf, doch das Kreischen ging weiter.

„Bring sie zum Schweigen, Sabin. Mir bluten schon die Ohren.“

„Das hilft nicht, Arschloch. Gwendolyn, du musst dich beruhigen, sonst verletzt du uns. Willst du uns wehtun, mein Schatz? Willst du uns umbringen, nachdem wir dich gerettet und aufgenommen haben? In uns mögen Dämonen wohnen, aber wir sind nicht böse. Ich denke, das haben wir dir bewiesen. Haben wir dich und die anderen nicht besser behandelt als eure Entführer? Habe ich dich vor Wut geschlagen? Oder dich bedrängt? Nein.“

Was er sagte, stimmte. Aber konnte sie einem Dämon trauen? Sie liebten es doch zu lügen. Genauso wie Harpyien, meldete sich in ihr die Stimme der Vernunft. Einerseits wollte Gwen ihm vertrauen, andererseits wollte sie am liebsten aus dem Flugzeug springen. Aus dem immer noch ruckelnden und abwärts trudelnden Flugzeug.

Also gut, es war Zeit, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Sie war seit zwei Tagen bei ihnen. Sie war am Leben und wohlauf, hatte nicht mal einen einzigen Kratzer. Wenn sie sich nicht bald beruhigte, würde die Harpyie sich losreißen, das Ruder übernehmen und verheerenden Schaden anrichten. Höchstwahrscheinlich würde sie bei dem unvermeidlichen Absturz den Piloten und vielleicht sogar sich selbst töten. War sie wirklich so dumm, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, nachdem sie die Gefangenschaft und die Herren überlebt hatte?

Logik gefunden.

Während sie allmählich ruhiger wurde, verstummte ihr gellendes Kreischen. Alle standen wie versteinert da. Gwen atmete ein und aus – oder versuchte es zumindest, denn ihre Kehle fühlte sich geschwollen an, irgendwie blockiert – und nahm erst jetzt den Alarm aus dem Cockpit wahr. Ehe sie erneut in Panik geraten konnte, flog das Flugzeug wieder ruhiger. Dann kehrte Stille ein.

„Gut gemacht. Jetzt zurück mit euch, Jungs. Ich habe sie.“ Sabin klang nicht überzeugt, sondern nur entschlossen.

Allmählich nahm sie das Licht wieder wahr und kurz darauf die Farben. Um sie herum malte das richtige Leben sein Bild. Heilige Hölle. Sie hatte den Infrarotblick gehabt, ohne es zu wissen. Die Harpyie war so kurz davor gewesen auszubrechen, es war so unfassbar knapp gewesen. Ein Wunder, dass es nicht geschehen war.

Gwen stand immer noch im hinteren Teil des Flugzeugs zwischen den roten Ledersesseln. Nur Sabin war vor ihr stehen geblieben. Die anderen waren zurückgewichen, hatten sich jedoch nicht abgewandt. Aus Angst? Oder weil sie ihren Anführer beschützten?

Sabins dunkler Blick ruhte auf ihr. Er war noch wilder als in den Katakomben, als er seine Dolche auf Männer geworfen hatte, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie Jäger gewesen waren. Er hielt die Hände hoch, die Handflächen nach vorn. „Du musst dich noch etwas mehr beruhigen.“

Ach ja?, dachte sie trocken. Vielleicht gelang es ihr ja, wenn sie konzentriert durch die Nase atmete, aber es ging einfach noch nicht. Schwindel ergriff Besitz von ihr, während die Schwärze erneut in ihr Blickfeld trat.

„Wie kann ich dir helfen, Gwen?“ Sie hörte seine Schritte, als er zu ihr kam. Seine Wärme strömte in ihren Körper.

„Luft“, brachte sie schließlich heraus.

Sabin legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sanft nach unten. Ihre Beine waren zu schwach, als dass sie einen Widerstand hätten bieten können, und so fiel sie direkt in einen der Sessel. „Ich brauche Luft.“

Ohne zu zögern, fiel Sabin auf die Knie. Er drängte seinen großen Körper zwischen ihre Beine und nahm ihr Gesicht in die Hände, wodurch er sie zwang, ihm in die Augen zu sehen. Seine braunen Augen, mit denen er sie eindringlich ansah, wurden zum neuen Zentrum ihrer Welt, zum Anker in einem tosenden Sturm.

„Nimm meine.“ Mit dem verhornten Daumen streichelte er zärtlich ihre Wange und raute sie leicht an. „Ja?“

Nimm seine ... was?, fragte sie sich, und dann war es ihr plötzlich egal. Ihre Brust! Sie zog sich so stark zusammen, dass Knochen und Muskeln eingeklemmt wurden. Ein scharfer Schmerz fuhr ihr durch die Rippen bis ins Herz, das einen Moment lang stehen zu bleiben schien. Gwen zuckte zusammen.

„Du läufst blau an, mein Schatz. Ich werde jetzt meinen Mund auf deinen legen und dir meine Luft schenken. In Ordnung?

Was, wenn das ein Trick ist? Was, wenn ...

Ruhe! Selbst in ihrer Benommenheit wusste sie, dass das schaurige, geisterhafte Flüstern nicht von ihr kam. Zum Glück folgte es ihrem Befehl und schwieg. Wenn sich doch nur ihre Lunge wieder öffnen würde. „Ich ... ich ...“

„Du brauchst mich. Also lass es mich tun.“ Falls er Angst vor ihrer Reaktion hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und zog Gwen zu sich heran, während er sich gleichzeitig weiter vorbeugte. Sie pressten die Lippen aufeinander – ein heißes Durcheinander. Seine warme Zunge war zwischen ihren Zähnen, und dann floss warme, minzige Luft ihre Kehle hinunter.

Instinktiv schlang sie die Arme um ihn, hielt ihn gefangen, drückte seine Brust eng an ihre, Härte gegen Weichheit. Seine Kette war kalt, das spürte sie sogar durch ihr Hemd, und sie japste. Gierig nahm sie seinen Atem auf. „Mehr.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er blies ihr in den Mund, und eine weitere warme, beruhigende Brise wehte durch ihren Körper. Der Schwindel nahm etwas ab, der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich, die Dunkelheit wich wieder dem Licht. Der wilde Tanz ihres Herzens verwandelte sich in einen langsamen Walzer.

Das Bedürfnis, ihn zu küssen, richtig zu küssen und seinen Geschmack kennenzulernen, erfüllte sie vollständig. Seine Herkunft – vergessen. Seine Vergangenheit – fiel nicht ins Gewicht. Ihr Publikum – verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Es gab nur noch sie zwei. Nur noch das Hier und Jetzt zählte. Er hatte sie beruhigt, gerettet, gezähmt, und jetzt, wie sie hier in seinen Armen lag, machte sich das richtige Leben davon, und die Fantasie von ihnen beiden tänzelte durch ihren Kopf. Eng umschlungene, angespannte Körper. Haut, glitschig vom Schweiß. Forschende Hände. Suchende Münder.

Sie fuhr ihm durch das seidige Haar und leckte vorsichtig seine Zunge. Zitrone. Er schmeckte nach süßen Zitronen und einem Hauch Kirsche. Ihr entfuhr ein Stöhnen. Die Wirklichkeit war ja so viel dekadenter, als sie sich hatte träumen lassen. So berauschend, so ... himmlisch. Pur und gut und alles, was eine Frau von einem Liebhaber verlangen konnte. Also neigte sie den Kopf zur Seite und tat es noch einmal, versank immer tiefer und forderte schweigend mehr.

„Sabin“, flüsterte sie atemlos. Sie hätte ihn am liebsten gelobt, ihm vielleicht sogar gedankt. Niemand hatte es je geschafft, dass sie sich so beschützt fühlte, so verehrt, so sicher, so bedürftig, so unglaublich bedürftig. Nicht mit so etwas Einfachem wie mit einem Kuss. Einem Kuss, der keinen Raum für Angst ließ. Womöglich könnte sie loslassen, vielleicht sogar sie selbst sein und sich nicht länger um ihre dunkle Seite sorgen ... und darum, ihn zu verletzen. „Gib mir mehr davon.

Statt zu gehorchen, riss er den Kopf zurück und befreite sich aus ihrer Umarmung, sodass kein Körperkontakt mehr zwischen ihnen bestand. Berühr mich noch mal!, hätte sie am liebsten geschrien. Ihr Körper brauchte ihn, brauchte die Nähe.

„Sabin“, wiederholte sie und musterte ihn. Er atmete schwer, zitterte, war blass – aber alles nicht aus Leidenschaft. In seinen Augen tanzte kein Feuer, sondern Entschlossenheit.

Er hat meinen Kuss nicht erwidert. Plötzlich wurde es ihr klar. Der Nebel des Verlangens lichtete sich – genauso wie kurz zuvor der Schwindel – und ließ die harte Wirklichkeit zurück, die sie idiotischerweise vergessen hatte. Um sie herum tobten Stimmen.

„... habe ich nicht kommen sehen.“

„Hättest du aber.“

„Nicht den Kuss, du Idiot. Die Beruhigung. Ihre Augen hatten sich schon verwandelt, und sie hatte die Krallen ausgefahren. Sie stand unmittelbar davor, anzugreifen. Ich meine: Hallo? Bin ich der Einzige, der sich noch daran erinnert, was mit dem Jäger passiert ist, der ihr zu nah gekommen ist?“

„Vielleicht ist Sabin ein Tor zum Himmel so wie Danika“, kommentierte jemand trocken. „Vielleicht sah die Harpyie ein paar Engel, während sie die Mund-zu-Mund-Therapie bekam.“

Die Männer lachten.

Gwens Wangen wurden heiß. Die Hälfte von dem, was sie sagten, entzog sich ihrem Verständnis. Die andere Hälfte beschämte sie. Sie hatte einen Mann geküsst, einen Dämon, der ganz offensichtlich nichts mit ihr zu tun haben wollte – und sie hatte es vor Zeugen getan.

„Ignorier sie einfach“, meinte Sabin, dessen Stimme so kehlig war, dass sie an ihrem Trommelfell kratzte. „Konzentrier dich auf mich.“

Ihre Blicke prallten aufeinander, Braun auf Gold. Sie rutschte so weit in ihrem Sessel zurück wie möglich, um den größtmöglichen Abstand zwischen ihnen herzustellen.

„Hast du immer noch Angst vor mir?“, fragte er und neigte dabei den Kopf zur Seite.

Sie hob das Kinn. „Nein.“ Ja. Sie hatte Angst vor den Gefühlen, die er in ihr ausgelöst hatte. Angst davor, dass es erneut bedeutungslos würde, was er war. Angst davor, dass er sie niemals so begehren würde, wie sie ihn auf einmal begehrte. Angst davor, dass dieser wunderbare Beschützer nichts mehr war als ein Trugbild, unter dessen Oberfläche das Böse wartete – bereit, sie mit Haut und Haar zu verschlingen.

Du bist ja so ein Feigling. Wie zum Teufel hatte sie ihn so küssen können?

Er zog eine Augenbraue hoch. „Du würdest mich doch nicht anlügen, oder?“

„Ich lüge nie, erinnerst du dich nicht?“ Ironischerweise war das eine Lüge.

„Gut. Jetzt hör mir gut zu. Ich werde dieses Gespräch nämlich nicht zweimal führen. In meinem Körper lebt ein Dämon, ja.“ Er umfasste ihre Armlehnen so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Er ist da, weil ich vor vielen Jahrhunderten dummerweise dabei geholfen habe, die Büchse der Pandora zu öffnen, und damit die Geister befreit habe, die in ihr lebten. Zur Strafe verdammten die Götter mich und alle anderen Krieger, die du in diesem Flugzeug siehst, einen davon in uns zu tragen. Anfangs konnte ich diesen Dämon nicht kontrollieren und machte einige ... schlimme Dinge, wie du es genannt hast. Aber das ist schon viele Tausend Jahre her, und inzwischen habe ich die Kontrolle. Die anderen auch. Wie ich dir in der Zelle schon gesagt habe: Du hast von uns nichts zu befürchten. Hast du mich verstanden, Rotschopf?“

Rotschopf. Vorhin, während ihrer Panikattacke, hatte er sie anders genannt. Liebling? Nein. Tyson hatte sie immer Liebling genannt. Schätzchen? Nein. Aber nah dran. Mein Schatz? Ja! Ja, das war es. Sie blinzelte überrascht. Und erfreut. Dieser harte Krieger, der einem Menschen, ohne zu zögern, die Kehle durchschneiden konnte, hatte sie als seinen kostbaren Schatz bezeichnet.

Warum also hatte er ihren Kuss nicht erwidert?

„Wir haben unser Flugziel erreicht, Jungs“, ertönte eine unbekannte, vor Erleichterung triefende Stimme durch die Lautsprecher. Der Pilot, nahm sie an und fühlte sich auf einmal schuldig, solchen Ärger verursacht zu haben. „Bereitet euch auf die Landung vor.“

Sabin blieb, wo er war. Wie ein unbezwingbarer Fels zwischen ihren Beinen. „Glaubst du mir, Gwen? Wirst du immer noch freiwillig mit in unser Zuhause kommen?“

„Freiwillig war es nie.“

„Aber du hast nie versucht zu fliehen.“

„Hätte ich einem fremden Land ganz allein trotzen sollen, ohne Proviant?“

Er runzelte die Stirn. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie geschickt du bist. Und wir haben dir immer wieder Essen angeboten. Aus irgendeinem Grund will ein Teil von dir bei uns sein, sonst wärst du nicht hier. Du weißt es, und ich weiß es auch.“

Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen. Aber ... warum? Warum wollte ein Teil von ihr bleiben? Damals oder jetzt?

Du kennst die Antwort auf diese Frage, auch wenn du versucht hast, es zu leugnen. Er. Sabin. Nicht an ihm interessiert? Ha! Sie sah ihn sich genau an und bemerkte die feinen Linien der Anspannung, sah die Fältchen um seine Augen, die spitzen Schatten, die seine Wimpern warfen, den Wangenmuskel, der zuckte. Der unregelmäßige Pulsschlag, der jetzt so laut in ihren Ohren pochte. Vielleicht fühlte er sich genauso zu ihr hingezogen und bekämpfte es bloß – genau wie sie. Der Gedanke machte sie glücklich.

Hatte er eine Frau, die in Budapest auf ihn wartete? Eine Ehefrau?

Gwen ballte die Hände zu Fäusten, und ihre Fingernägel gruben sich tief in ihr Fleisch. Das Glücksgefühl verschwand. Das ist unwichtig. Du solltest ihn nicht begehren.

„Gwen. Wirst du mitkommen?“

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, war gleichermaßen ein Schlag und eine Liebkosung. Das irritierte sie, ließ Gwen erzittern. Es gefiel ihr, dass er Wert auf ihre Zusammenarbeit legte, obwohl sie den Verdacht hegte, dass er versuchen würde, ihr seinen Willen aufzuzwingen, wenn sie sich weigerte. „Vielleicht hätte ich wirklich weglaufen sollen.“

„Und wohin? In ein Leben voller Reue? In ein Leben, das von dem Wunsch beherrscht wird, dass du dich doch bloß gegen die gewehrt hättest, die dich verletzt haben? Ich biete dir eine Chance, mir dabei zu helfen, die Jäger zu töten. Und nur damit du es weißt: Sie zu töten wird nicht der einzige Gewinn sein.“

„Wie meinst du das?“

„Ich kann dir dabei helfen, deine Bestie genauso in den Griff zu bekommen wie ich. Ich kann dir helfen, sie für eine gute Sache einzusetzen. Willst du nicht endlich die Kontrolle haben?“

Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur drei Dinge gewollt: ihren Vater treffen, sich den Respekt ihrer Familie verdienen und lernen, die Kontrolle über ihre Harpyie zu bekommen. Wenn Sabin sein Versprechen hielt, würde sie nach all diesen Jahren endlich eines dieser drei Dinge erreichen. Vermutlich schoss er über das Ziel hinaus, und das Ganze war zum Scheitern verurteilt, aber es war eine Versuchung, der sie nicht widerstehen konnte.

„Ich werde mit dir gehen“, sagte sie. „Ich werde dir so gut helfen, wie ich nur kann.“

Er sprühte förmlich vor Erleichterung, als er die Augen schloss und lächelte. „Danke.“

Das Lächeln ließ ihn wieder jungenhaft erscheinen. Während sie sich im Anblick seines kantigen und doch weichen Gesichts verlor, ging ein heftiger Ruck durch das Flugzeug. Sabin wurde zurückgeschleudert, sie vorwärts. Zu ihrer Freude – Bestürzung – wurde der Abstand zwischen ihnen nicht größer.

„Unter einer Bedingung“, fügte sie hinzu, als sie sich wieder auf ihre Plätze gesetzt hatten.

Misstrauisch fragte er: „Was?“

„Du musst meine Schwestern einladen.“ Vielleicht nicht sofort. Ihre momentane Verfassung war ihr peinlich. Gwen wollte natürlich nicht, dass ihre Schwestern sie so sahen oder erfuhren, was ihr zugestoßen war. Aber sie vermisste sie so schrecklich und wusste genau, dass ihr Heimweh ihre Verlegenheit schon bald überwiegen würde.

„Deine Schwestern einladen? Willst du sagen, ich soll mit noch mehr von deiner Sorte klarkommen?“

„In deiner Stimme sollte lieber Freude mitschwingen als Ekel“, erwiderte sie verletzt. „Meine Schwestern haben Männer schon aus nichtigeren Gründen kastriert.“

Sabin drückte sich auf die Nasenwurzel. „Sicher. Lad sie ein. Die Götter mögen uns alle retten.“

7. KAPITEL

Paris saß in gebeugter Haltung auf dem Rücksitz eines Cadillac Escalade, und Strider steuerte den Wagen, ohne auf irgendwelche Geschwindigkeitsbeschränkungen zu achten. Obwohl die Sonne auf die Innenstadt von Budapest schien, konnte Paris es nicht sehen. Die Fenster waren so stark verdunkelt, dass man in der Fahrgastzelle nur düstere Schemen wahrnahm. Kurz vor ihrer Abreise aus Ägypten hatte Anya, Luciens Frau und die weniger bedeutsame Göttin der Anarchie, das Auto die Götter wissen wem gestohlen – zusammen mit einem passenden Zweitwagen und einem Bentley für sich selbst.

„Ihr braucht mir nicht zu danken“, hatte sie gesagt und ironisch gegrinst. „Eure entsetzten Gesichter sind Geschenk genug. Aber wenn ich mich mal selbst loben darf: Sind das nicht coole Flitzer? Und diese Ausstattung ... Sehen wir der Wahrheit doch mal ins Gesicht: Ihr brauchtet dringend eine Veränderung, und diese Reifen sind dafür bestens geeignet.“

Leider war Paris im gleichen Wagen gelandet wie Amun, der sich den Kopf hielt, als würde er gleich explodieren. Und dann waren da noch Aeron, der seinen grimmigen Blick nicht abstellen konnte – der Kerl brauchte sofort seine kleine Dämonenfreundin Legion –, und Sabin und seine Harpyie.

Sabin konnte den Blick nicht von der gefährlichen Kehlen fressenden Frau abwenden und war ihr ganz offensichtlich verfallen, seit sie ihn im Flugzeug geküsst hatte. Verständlich, sicher. Sie war unvergleichlich reizvoll, mit diesen goldenen Augen, die fast so rein waren wie Diamanten, mit diesen Lippen, die so rot waren, wie Evas Apfel gewesen sein musste, und mit einem Körper, der das Wort „Versuchung“ neu definierte. Und dieses rotblonde Haar war ein Wunder für sich. Aber weil sie eine Harpyie war, die sie zudem im feindlichen Lager gefunden hatten, durfte man ihr auf gar keinen Fall trauen.

Vielleicht war sie wie die anderen Gefangenen missbraucht worden. Vielleicht verachtete sie die Jäger so sehr wie er. Vielleicht ...

Vielleicht reichte das nicht, um ihr zu vertrauen. Nicht mehr. Immerhin war es möglich, dass sie ein Köder war, eine hübsche Falle, die die Jäger aufgestellt und die die Herren mit offenen Armen empfangen hatten.

Paris wollte nicht, dass Sabin wie er endete und sich mit jeder Faser seines Körpers nach einer Feindin sehnte, sie aber nicht haben konnte.

Vor einer Minute, einer Stunde, einem Monat, einem Jahr – er wusste es nicht, die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr – hatten die Jäger ihn aus dem Hinterhalt angegriffen und eingesperrt. Da er den Dämon der Promiskuität beherbergte, brauchte Paris Sex, um zu überleben. Sex jeden Tag, mindestens einmal, jedoch niemals mit derselben Frau. In seiner Zelle war er – an eine fahrbare Krankentrage gefesselt – so schwach geworden, dass ihn allein das Augenöffnen schrecklich gequält hatte. Weil sie ihn aber nicht töten wollten, bevor sie die Büchse der Pandora gefunden hatten – denn ohne sie hätte der Tod seines Körper den Dämon befreit, der dann ungehindert durch die weite Welt gestreift wäre –, hatten sie sie zu ihm hineingeschickt. Sienna. Die einfache Sienna mit den Sommersprossen auf der Nase, den schmalen Händen und der natürlichen Sinnlichkeit.

Sie hatte ihn verführt und ihm in rasender Geschwindigkeit seine Kraft zurückgegeben. Und zum ersten Mal, seit er sich seinen Körper mit dem Dämon teilte, hatte Paris bei ein und derselben Frau zum zweiten Mal eine Erektion bekommen. In diesem Moment hatte er gewusst, dass sie zu ihm gehörte. Er hatte gewusst, dass sie Sein war – sein Grund zu atmen und der Grund, weshalb ihm in all den Jahrtausenden der Tod erspart geblieben war. Doch ihre Leute hatten sie erschossen, nachdem Paris mit ihr geflohen war.

Sie war in seinen Armen gestorben.

Jetzt war Paris immer noch gezwungen, jeden Tag eine neue Frau ins Bett zu bekommen. Und wenn er keine Frau finden konnte, musste halt ein Mann genügen, auch wenn er sich nie für Männer interessiert hatte. Für den Dämon der Promiskuität war Sex eben Sex. Eine Tatsache, die ihn vor langer Zeit in eine Spirale der Scham gestoßen hatte.

Doch inzwischen musste er sich das Gesicht von Sienna vor Augen rufen, um erregt zu werden, ganz egal wie attraktiv sein Betthäschen war. Er musste dieses Bild festhalten, um die Sache zu Ende bringen zu können, weil jede Zelle seines Körpers wusste, dass die Person, die unter ihm lag, die falsche war. Falscher Duft, falsche Rundungen, falsche Stimme, falsche Haptik. Alles war falsch.

Heute wäre es genauso. Und morgen auch. Und am Tag danach und an dem danach auch. Bis in alle Ewigkeit. Für ihn war kein Ende in Sicht. Außer dem Tod, aber er verdiente den Tod noch nicht. Nicht bevor Sienna gerächt war. Nur, wäre sie das überhaupt jemals?

Du hast sie nicht geliebt. Das ist doch Wahnsinn.

Weise Worte. Von seinem Dämon? Von ihm selbst? Er wusste es nicht mehr. Er konnte die eine Stimme nicht mehr von der anderen unterscheiden. Sie waren ein und dieselbe, zwei Hälften eines Ganzen. Und beide steckten mitten in einer Zerreißprobe, die jederzeit damit enden konnte, dass einer von beiden den falschen Schritt tat.

Bis dahin ...

Paris strich über den Beutel in seiner Hosentasche, in der er die getrocknete Ambrosia aufbewahrte, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war noch da. Mittlerweile trug er das wirksame Zeug immer und überall mit sich herum. Nur für den Fall, dass er es brauchte – was häufiger der Fall war, als dass er es nicht brauchte.

Nur wenn Ambrosia in den Wein gemischt wurde, tat der Alkohol, was man von ihm erwartete, und betäubte ihn. Wenn auch nur für kurze Zeit. Doch es erschien Paris so, als müsse er jeden Tag die Dosis erhöhen, um den gleichen Rausch zu erleben.

Er hätte nur seinen Freund bitten müssen, mehr zu stehlen. Die Götter wussten, dass er ein paar friedliche Stunden verdiente, eine Chance, sich zu verlieren. Danach fühlte er sich belebt, stärker und bereit, seinen Feind zu bekämpfen.

Denk jetzt nicht daran. Sobald sie die Burg erreichten, hätte er einen Job zu erledigen. Das kam zuerst, musste zuerst kommen. Er zwang sich, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren und die Gedanken auszublenden. Die farbenfrohen Paläste hatten sie hinter sich gelassen, genau wie die Menschen, die quer über die Straßen liefen. Stattdessen sah er dicht bewaldete Hügel, verlassen und vergessen.

Der Escalade fuhr über eine Felskante und einen dieser Hügel hinauf. Sie wichen den Bäumen und den kleinen Geschenken aus, die er und die anderen für jeden Jäger hinterlassen hatten, der so dumm war, herzukommen, um sie zu erschießen. Mal wieder.

Vor etwa einem Monat hatten sie sein Zuhause gestürmt und ausgebombt. Ein Zuhause, in dem er seit Jahrhunderten gelebt hatte. Die Krieger waren gezwungen gewesen, sich schnell aufzuraffen und auf die nächste Reise zu gehen, um in eine weitere Schlacht zu ziehen. Sie hatten neue Möbel und neue Geräte gebraucht. Das gefiel ihm nicht. In seinem Leben hatte es in der letzten Zeit so viele Veränderungen gegeben – Frauen auf der Burg, die Rückkehr einer alten Freund-Feindschaft, den Ausbruch des Krieges –, dass er nicht viel mehr ertragen konnte.

Endlich kam die Burg in Sicht, ein gewaltiges Monstrum aus Schatten und Stein. Efeu kletterte an den zerklüfteten Wänden empor und verwischte die Grenze zwischen der Burg und ihrer Umgebung so stark, dass man kaum noch sagen konnte, wo das eine anfing und das andere endete. Das Einzige, das sie klar voneinander trennte, war das Eisentor, das nun das Gebäude umgab. Eine neue, weitere Sicherheitsvorkehrung.

Plötzlich lag Ungeduld in der kühlen Luft. Sie spannten die Muskeln an, hielten den Atem an. Gleich da ...

Torin, der aus dem Innern der Burg mittels Monitoren und Sensoren beobachtete, was draußen geschah, öffnete das Tor. Als sie langsam auf den großen gewölbten Haupteingang zusteuerten, drückte Aeron seine Armlehne so fest, dass sie kaputtging.

„Bist wohl ein klitzekleines bisschen aufgeregt, hm?“, kommentierte Strider das Missgeschick und sah ihn über den Rückspiegel an.

Aeron antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er die Frage nicht einmal gehört. Auf seinem tätowierten Gesicht spiegelten sich Entschlossenheit und Wut. Es zeigte nicht den milden Ausdruck, den es normalerweise hatte, kurz bevor er Legion traf.

Sobald der Wagen hielt, sprangen sie heraus. Das gleißende Sonnenlicht knallte auf Paris’ Körper und ließ ihn unter seinem T-Shirt und der Jeans schwitzen. Götter, so heiß war es doch nicht mal in der Hölle, oder?

Kaum waren alle ausgestiegen, stellte sich die kleine Harpyie etwas abseits neben sie. Sie schlang sich die zierlichen Arme um die Taille, machte große Augen und war blass um die Nase. Sabin verfolgte jede ihrer Bewegungen. Er sah nicht einmal weg, als er eine Tasche aus dem Kofferraum hievte, wobei ihm eine andere auf die Füße fiel.

Wie konnte etwas so Teuflisches wie eine Harpyie nur so schüchtern sein? Das war einfach nicht möglich. Es passte nicht zusammen. Sie war wie zwei Stücke aus unterschiedlichen Puzzles, und in diesem Moment dachte Paris, dass sie ihr auf dem Weg zur Burg lieber die Augen hätten verbinden sollen.

Eine späte Einsicht. Aber wir können ihr ja immer noch die Zunge herausschneiden, damit sie nichts ausplaudert, dachte er. Und vielleicht noch die Hände abhacken, um sie am Zeichnen oder Schreiben zu hindern.

Wer bist du?

Vor Sienna war er jemand gewesen, der alles getan hätte, um eine Frau zu beschützen. Dass es jetzt anders war und er sie tatsächlich verletzen wollte, hätte ihn eigentlich mit Schuldgefühlen erfüllen sollen. Stattdessen war er wütend darüber, dass er seine Freunde nicht besser vor ihr beschützt hatte. Jegliche Bedrohung musste eliminiert werden. Über die Jahre hatten die anderen Krieger immer wieder versucht, ihn davon zu überzeugen, doch er hatte sich standhaft geweigert. Jetzt verstand er es.

Doch es war zu spät, ihr irgendetwas anzutun. Sabin ließ es nicht zu. Der Typ ist ja nicht zurechnungsfähig, dachte Paris. Selbst bevor sich zwischen Luciens und Sabins Gruppen diese tiefe Kluft aufgetan hatte, hatte Paris noch nie erlebt, dass Sabin jemals so versessen auf eine Frau gewesen war. Was nicht unbedingt gut war. Wenn die Schüchternheit des Mädchens nicht bloß gespielt war, würde Sabin sie zerstören und ihr mit der Zeit immer mehr Selbstbewusstsein rauben.

Maddox stieg aus dem zweiten Escalade. Paris nahm ihn am Rand seines Sichtfelds wie einen dunklen Blitz wahr. Der Hüter der Gewalt machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Tasche auszuladen, sondern stapfte schnell die Stufen zur Veranda hinauf. Die Tür schwang auf, und seine schwangere Frau flog förmlich nach draußen – sie lachte und weinte gleichzeitig. Ashlyn sprang ihm in die Arme, und er wirbelte sie durch die Luft. Sekunden später waren sie in einem heißen Kuss verschmolzen.

Es fiel Paris schwer, sich den grausamen Maddox als Vater vorzustellen – selbst wenn das Baby zur Hälfte ein Dämon wäre, wie die Herren.

Als Nächstes kam Danika. Sie blieb an der Tür stehen und suchte mit ihrem Blick nach Reyes. Als die hübsche Blondine ihn entdeckte, juchzte sie vor Freude. Und als wäre dieses Juchzen eine Art Paarungsruf, umfasste Reyes die Klinge seines Dolchs und ging dann zu ihr hinüber.

Vom Dämon des Schmerzes besessen, konnte Reyes keine Freude ohne körperliches Leid empfinden. Bevor er Danika begegnet war, hatte er sich rund um die Uhr Verletzungen zufügen müssen, um zu funktionieren. Während ihres Aufenthalts in Kairo hatte er sich kein einziges Mal selbst verletzen müssen. Von Danika getrennt zu sein sei Schmerz genug, hatte er gesagt. Jetzt, da sie wieder beisammen waren, musste er sich wieder schneiden, doch Paris glaubte nicht, dass es einen von beiden störte.

Fest nahm Reyes sie in die Arme, und die zwei verschwanden in der Festung. Nur Danikas Kichern, das immer noch zu hören war, bewies Paris, dass sie eben noch da gewesen waren.

Als er plötzlich einen Schmerz in der Brust fühlte, rieb er sich die Stelle und betete, es würde wieder vergehen. Doch er wusste es besser. Nicht bevor er seine Dosis Ambrosia getrunken hätte. Jedes Mal, wenn er in der Nähe der so offensichtlich verliebten Pärchen war, keimte dieser Schmerz in ihm auf und blieb – wie ein Parasit, der das Leben aus ihm heraussaugte –, bis er sich einen ordentlichen Rausch angetrunken hatte.

Von Lucien, der sich lieber nach Hause gebeamt hatte, als stundenlang in dem Flugzeug zu sitzen, war nichts zu sehen. Er und Anya hatten sich vermutlich in sein Zimmer eingeschlossen. Wenigstens zwei, die Rücksicht nahmen.

Er bemerkte, dass die Harpyie die Paare genauso intensiv beobachtet hatte wie er. Weil sie fasziniert war oder weil sie hoffte, die Information gegen sie verwenden zu können?

Sonst waren keine Frauen in der Burg, den Göttern sei Dank. Niemand, den Paris verführen und schließlich verletzen konnte, wenn er sie für eine andere fallen ließ. Gilly, Danikas junge Freundin, lebte jetzt in einem Apartment in der Stadt. Das Mädchen hatte seinen Freiraum gewollt. Und sie hatten so getan, als gäben sie ihn ihr – dabei war ihr neues Zuhause mit Torins Überwachungssystem verbunden. Danikas Großmutter, Mutter und Schwester hatten die Burg ebenfalls wieder verlassen und waren in die USA zurückgeflogen.

„Komm“, forderte Sabin die Harpyie auf. Als sie sich nicht in Bewegung setzte, zog er sie an seine Seite.

„Die Frauen ...“, flüsterte sie.

„... sind glücklich.“ In jeder einzelnen Silbe lag feste Überzeugung. „Wären sie nicht so ungeduldig gewesen, endlich wieder ihre Männer bei sich zu haben, hätten sie sich dir auch vorgestellt.“

„Wissen sie ...?“ Wieder hatte sie Probleme, den Satz zu beenden.

„Oh ja. Sie wissen, dass ihre Männer von Dämonen besessen sind. Und jetzt komm.“ Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr mitzukommen.

Sie zögerte immer noch. „Wohin bringst du mich?“

Sabin drückte sich mit der freien Hand auf die Nasenwurzel. Das tat er seit Kurzem häufiger. „Komm mit rein oder lass es. Aber ich werde nicht hier draußen warten, bis du dich entschieden hast.“

Wütende Schritte folgten, eine ins Schloss knallende Tür.

Jeden anderen hätte er einfach hochgehoben und wie einen Sack über seine Schulter gelegt, dachte Paris. Aber ihr gestattete er, selbst zu entscheiden. Schlau von ihm.

Die Harpyie sah nach links und rechts, und Paris bereitete sich gedanklich auf eine Verfolgungsjagd vor. Zwar glaubte er nicht, sie fangen zu können, falls sie sich entschloss, sich zu verwandeln und zu fliegen – so wie in der Höhle –, aber er war bereit, sich zu verteidigen, falls es nötig war.

In diesem Moment wurde es ihm bewusst. Das hier war eine günstige Gelegenheit für sie, zu verschwinden. Aber es war nicht die einzige. Auch als sie das Flugzeug bestiegen hatten, wäre es möglich gewesen, oder als sie mit ihnen in der Wüste kampiert hatte. Warum hatte sie all diese Chancen nicht genutzt? Warum nicht, wenn sie kein Köder und nur hier war, um sie auszuspionieren?

Obwohl sie es geleugnet hatte, war auch Sienna ein Köder gewesen. Sie hatte ihn genauso geküsst wie vergiftet – und sie war nur ein Mensch gewesen. Welchen Schaden könnte erst diese Harpyie anrichten?

Soll Sabin sich fürs Erste damit auseinandersetzen. Du hast genug um die Ohren.

Endlich beschloss sie, Sabin zu folgen, und ging mit zögernden Schritten in die Burg.

„Die Gefangenen müssen verhört werden“, sagte Paris in die Runde.

Cameo strich sich die dunklen Haare über die Schulter und bückte sich, um ihre Tasche aufzuheben. Niemand eilte ihr zu Hilfe. Sie behandelten sie genauso wie die männlichen Krieger, weil sie es so wollte. Wenigstens hatte er sich das immer eingeredet. Paris hatte nie versucht, sie anders zu behandeln, weil er nie mit ihr hatte schlafen wollen. Vielleicht hätte es ihr gefallen, hin und wieder ein wenig verwöhnt zu werden.

„Vielleicht morgen“, erwiderte sie, und ihre traurige Stimme brachte sein Trommelfell fast zum Platzen. „Ich muss mich ausruhen.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren – den Göttern sei Dank –, marschierte sie hinein.

Paris kannte Frauen gut genug, um zu wissen, dass sie log. Ihre Augen hatten gefunkelt, ihre Wangen waren leicht gerötet gewesen. Sie hatte erregt gewirkt, nicht müde. Mit wem wollte sie sich wohl treffen?

Sie war in letzter Zeit viel mit Torin zusammen gewesen und ... Paris blinzelte. Nein, sicher nicht. Torin konnte niemanden berühren, ohne ihn mit einer Krankheit zu infizieren – und der Berührte steckte wiederum jeden an, dem er begegnete, wodurch eine Epidemie ausgelöst wurde. Auch ein Unsterblicher war davor nicht gefeit. Er würde zwar nicht sterben, aber so werden wie Torin und nicht in der Lage sein, einen anderen zu berühren, ohne dass es schwerwiegende Folgen hätte.

Aber es war auch egal, was zwischen ihnen lief. Er hatte etwas zu erledigen. „Sonst jemand?“, wandte sich Paris an die restlichen Krieger. Er wollte diesen Mist am liebsten sofort hinter sich bringen. Je eher er damit fertig war, Informationen aus den Jägern herauszuprügein, desto schneller konnte er sich in seinem Zimmer einschließen und vergessen, dass er am Leben war.

Strider pfiff gedankenverloren und tat, als hätte er ihn nicht gehört, während er auf den Eingang zuging.

Was war hier los? Niemand hatte mehr Spaß an Gewalt als Strider. „Hey, Strider. Ich weiß, dass du mich gehört hast. Hilf mir bei den Verhören, ja?“

„Ach komm schon. Warte wenigstens bis morgen. Sie können uns ja nicht weglaufen. Ich muss mich auch ein bisschen erholen. Wie Cameo. Morgen in aller Frühe bin ich bereit. Das schwöre ich bei den Göttern.“

Paris seufzte. „Na gut. Geh schon.“ Waren also Cameo und Strider ein Paar? „Was ist mit dir, Amun?“

Amun nickte, geriet dadurch aber dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass er stöhnend auf der untersten Verandastufe zusammenbrach.

Keine Sekunde verging, und Strider war an seiner Seite und legte ihm den Arm um die Taille. „Onkel Strider ist da, mach dir keine Sorgen.“ Er hievte den sonst so stoischen Krieger auf die Füße. Er hätte ihn im Notfall auch getragen, aber solange Strider ihn stützte, konnte Amun einen Fuß vor den anderen setzen, ohne allzu oft zu stolpern.

„Ich helfe dir mit den Jägern“, bot Aeron an und ging auf Paris zu.

Damit hätte Paris niemals gerechnet. „Was ist mit Legion? Das Mädchen vermisst dich bestimmt.“

Aeron schüttelte den Kopf. Unter den raspelkurzen Haaren glänzte seine Kopfhaut im Sonnenlicht. „Sie hätte schon längst auf meinen Schultern gesessen, wenn sie hier wäre.“

„Tut mir leid.“ Niemand wusste besser als Paris, wie es sich anfühlte, wenn man eine bestimmte Frau vermisste. Auch wenn er zugeben musste, dass er ziemlich überrascht gewesen war, als er herausgefunden hatte, dass der kleine Dämon tatsächlich eine Frau war.

„Es ist besser so.“ Mit einer seiner geäderten Hände rieb sich Aeron über das müde Gesicht. „Irgendetwas hat mich ... beobachtet. Irgendetwas Mächtiges. Es hat eine Woche vor unserem Aufbruch nach Ägypten angefangen.“

Paris’ Magen zog sich zusammen. „Tolle Idee, eine Information wie diese vor uns geheim zu halten. Du hättest uns davon erzählen müssen, gleich nachdem du es das erste Mal bemerkt hast. Genauso wie du uns vor Monaten, als du von deiner himmlischen Vorladung zurückgekehrt bist, hättest erzählen sollen, was mit den Titanen passiert ist. Wer auch immer dich beobachtet, hat womöglich die Jäger von unserer Reise unterrichtet. Wir hätten ...“

„Du hast recht, und ich entschuldige mich dafür. Aber ich glaube nicht, dass diese Macht für die Jäger arbeitet.“

„Und warum nicht?“, hakte Paris nach, der das Thema nicht einfach ad acta legen wollte.

„Ich kenne das Gefühl dieser hasserfüllten, richtenden Augen auf meinem Körper, aber so ist es diesmal nicht. Dieser Beobachter ist ... neugierig.“

Er entspannte sich etwas. „Vielleicht ist es ja ein Gott.“

„Glaube ich auch nicht. Legion hat keine Angst vor den Göttern, aber sie hat eine Heidenangst vor diesem Unbekannten. Das ist ein Grund dafür, warum sie so scharf darauf ist, für Sabins Aufklärungsarbeiten in die Hölle zu gehen. Sie meinte, sie kommt wieder, wenn der Beobachter weg ist.“

Aeron klang besorgt. Paris verstand nicht ganz, warum. Legion mochte ein kleiner Dämon mit einer Schwäche für Diademe sein – was sie erst vor Kurzem entdeckt hatten, als sie Anya eins geklaut hatte und damit wie ein stolzer Schwan durch die Burg gestakst war –, aber sie konnte gut auf sich selbst aufpassen.

Paris drehte sich aufmerksam im Kreis. „Ist dein Schatten hier? In diesem Moment, meine ich?“ Als wenn sie noch einen Feind brauchten! „Vielleicht kann ich was oder wer auch immer es ist ja verführen und von dir weglocken.“ Und es umbringen. Man wusste ja nicht, was es schon alles in Erfahrung gebracht hatte.

Aeron schüttelte abermals den Kopf. „Ich glaube ehrlich nicht, dass es uns schaden will.“

Paris schwieg und stieß langsam den angehaltenen Atem aus. „Na gut. Wir befassen uns später damit. Sag mir Bescheid, wenn es wiederkommt. Im Augenblick müssen wir uns um einen Kerker voller Scheißkerle kümmern.“

„Du klingst jeden Tag menschlicher, weißt du das eigentlich?“ Das sagte Aeron ihm nicht zum ersten Mal, aber ausnahmsweise klang es mal nicht geringschätzig. Ein pfeifendes Geräusch ertönte, als er eine Machete aus der Schlaufe auf seinem Rücken zog. „Vielleicht wehren sich die Jäger ja.“

„Nur wenn wir Glück haben.“

Torin, der Hüter der Krankheit, saß an seinem Tisch. Doch statt auf die Monitore zu schauen, die ihn mit der Außenwelt verbanden, starrte er unverwandt auf die Zimmertür. Er hatte die Geländewagen in die Auffahrt einbiegen sehen und war sofort erregt gewesen. Er hatte die Krieger beim Aussteigen beobachtet und sich berühren müssen, um den plötzlichen Schmerz zu lindern. Er beobachtete, wie einer nach dem anderen die Burg betrat. Jeden Moment könnte ...

Cameo schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür mit einem leisen Klicken. Sie sperrte ab und wandte ihm einige Sekunden lang den Rücken zu. Die langen dunklen Haare, die sich in den Spitzen lockten, fielen ihr auf die Taille.

Einmal hatte sie ihm erlaubt, die Enden einiger Strähnen zwischen seinen bloßen Fingern zu zwirbeln, vorsichtig, ganz vorsichtig, um ja nicht ihre Haut zu berühren. Zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren hatte er wieder richtig eine Frau berührt. Er wäre fast gekommen, allein dadurch, dass er die seidigen Strähnen an seinen nackten Fingern spürte. Doch diese kleine Berührung war alles, was sie erlaubt hatte; alles, was sie erlauben und was er je riskieren konnte.

Im Grunde war er sogar überrascht, dass sie überhaupt so leichtsinnig gewesen waren. Wenn er die Handschuhe anhatte, dann sicher. Dann war die Gefahr, sie zu infizieren, gleich null. Aber Locken auf blanker Haut, Seide gegen Wärme, Frau gegen Mann? Das erforderte Mut und Vertrauen ihrerseits und Verzweiflung und Dummheit seinerseits. Zwar waren Haare keine Haut, aber was, wenn er ausgerutscht wäre? Was, wenn sie auf ihn gefallen wäre? Aus irgendeinem Grund war keiner von ihnen fähig gewesen, den Konsequenzen eine Bedeutung beizumessen.

Als er das letzte Mal eine Frau berührt hatte, war ein komplettes Dorf gestorben. Man hatte von der Pest gesprochen. Das war es, was durch seine Venen strömte und in seinem Kopf lachte. Noch Jahre nach der Tragödie hatte Torin sich die Haut so lange geschrubbt, bis das schwarze Blut aus ihm herausgeflossen war. Aber es hatte sich als unmöglich herausgestellt, sich von dem Virus zu reinigen.

Im Laufe der folgenden Jahrhunderte hatte er gelernt, das permanente Gefühl der Unreinheit und Verpestung hinter einem Lächeln und trockenem Humor zu verstecken, aber er hatte nie die Sehnsucht nach dem unterdrücken können, was ihm nie zuteil werden würde: eine Beziehung. Cameo verstand ihn wenigstens. Sie wusste, womit er zu kämpfen hatte, was er tun konnte und was nicht, und sie bat ihn nicht um mehr.

Er wünschte, sie würde ihn um mehr bitten, und hasste sich dafür.

Langsam drehte sie sich zu ihm um. Ihre Lippen waren rot und feucht, als hätte sie darauf herumgekaut, und ihre Wangen rosig. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter schnellen, flachen Atemzügen. Sein eigener Atem schmerzte ihn in der Kehle.

„Wir sind wieder da“, flüsterte sie atemlos.

Er blieb sitzen und zog die Augenbrauen hoch, als kümmerte ihn das alles nicht. „Bist du unverletzt?“

„Ja.“

„Gut. Zieh deine Sachen aus.“

Seit er vor einigen Monaten ihr Haar berührt hatte, waren sie beste Freunde geworden. Mit beiderseitigem Nutzen. Ein Sich-mit-einem-Sicherheitsabstand-Selbstbefriedigen-während-der-andere-dasselbe-tat-Nutzen, aber nichtsdestoweniger ein Nutzen. Es machte alles höllisch kompliziert. Das Hier und Jetzt... die Zukunft. Eines Tages wollte sie bestimmt einen Liebhaber, der sie richtig berühren konnte, der mit ihr schlafen, sich in ihr bewegen, sie küssen und schmecken und sich um ihren Körper schlingen konnte, und Torin müsste Platz machen und dürfte den Bastard nicht töten.

Aber bis dahin ...

Sie war seinem Befehl nicht gefolgt.

„Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt“, sagte er. „Ich möchte, dass du dich ausziehst.“

Später würde sie ihn dafür bestrafen, dass er sie so herumkommandierte. Er kannte sie gut und wusste, wie sehr sie beweisen wollte, dass sie genauso mächtig war wie die männlichen Krieger. Jetzt befand sie sich in einem Zwiespalt. Er nahm den süßen Duft ihrer Erregung wahr. Cameo würde nicht mehr lange widerstehen können.

Tatsächlich griff sie mit zittrigen Fingern zum Saum ihres Hemdes und zog es sich über den Kopf. Ein schwarzer Spitzen-BH kam zum Vorschein. Sein Lieblingsstück.

„So gefällst du mir“, sagte er lobend.

Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und blickte auf seine Erektion, die die Hose nicht verbarg. „Ich habe dir befohlen, nackt zu sein, wenn ich herkomme. Du warst kein braver Junge.“

Er hatte sich an ihre traurige Stimme gewöhnt und krümmte sich nicht mehr wie die anderen vor seelischen Schmerzen. Weder innerlich noch äußerlich. Die Stimme war Teil ihrer Persönlichkeit – Kriegerin im Kern, wunderschönes Unglück, ungewollter Albtraum. Für ihn war sie eine gefühlvolle Melodie, die in seiner Seele ihr Echo fand.

Torin stand auf, die Muskeln angespannt. „Wann bin ich schon gut?“

Ihre Pupillen weiteten sich, und ihre Brustwarzen wurden hart. Sie mochte es, wenn er sie herausforderte. Vielleicht weil sie wusste, dass der Wert einer Sache stieg, je härter man dafür kämpfen musste.

Er wünschte nur, er hätte die Kraft, einen Kampf mit ihr zu gewinnen – einmal, nur ein einziges Mal. Am Ende gewann immer sie. Er hatte zu wenig Erfahrung mit Frauen und war zu sehr darauf aus, sie ins Schwitzen zu bringen. Aber er bot immer eine gute Vorführung.

„Ich werde mich ausziehen, wenn du nackt bist“, sagte er heiser. „Keine Sekunde früher.“ Starke Worte, die er vielleicht gar nicht wahr machen konnte.

„Das werden wir ja sehen ...“ Ihre schwarzen Haare rauschten leise, als sie zu seinem Kleiderschrank schlenderte. Sie stellte einen Fuß auf den Stuhl vor sich und verschlang Torin regelrecht mit ihrem Blick. Noch nie war das Öffnen eines Schuhs so sexy gewesen. Dem ersten Stiefel, den sie ihm zuwarf, wich er mit einer kleinen Kopfbewegung aus. Der zweite traf ihn hart auf der Brust. Aber den Blick von ihr abzuwenden, um den Aufprall zu vermeiden, das kam für ihn nicht infrage. Nicht mal für eine Sekunde.

Raschel. Die Hose glitt hinunter. Sie stieg aus ihr heraus.

Ein Slip aus schwarzer Spitze, passend zu ihrem BH. Perfektion. Überall Waffen. Reizvoll.

Ihre Brüste waren klein und keck, und er wusste, dass ihre Brustwarzen wie Rosenknospen aussahen. Über dem rechten Hüftknochen hatte sie eine ovalförmige Mulde. Was hätte er dafür gegeben, einmal darüberzulecken ... Doch was ihn am meisten faszinierte, war der glänzende Schmetterling, der ihre Hüfte umschlang.

Wenn man sie nur von einer Seite ansah oder von vorn, war es schier unmöglich zu sagen, was das für ein schimmerndes, glühendes Muster war. Nur wenn sie ihm den Rücken zuwandte, nahm es Gestalt an. Wie sehr er sich danach sehnte, mit der Zunge über jede Flügelspitze und jede Linie zu fahren.

Er hatte eine entsprechende Tätowierung auf dem Bauch, allerdings war seine onyxfarben und von einem roten Rand eingefasst. Alle Krieger hatten ein Schmetterlingstattoo. Doch bei jedem schimmerte dieses Dämonenzeichen an einer anderen Stelle. Und bisher hatte er sich noch nie danach gesehnt, die Tätowierungen eines anderen mit Händen, Lippen und seinem Körper zu berühren.

Als Cameo ihre Waffen abgelegt hatte, türmte sich neben ihr ein kleiner Haufen auf. Sie sah Torin an und zog eine Augenbraue hoch. „Du bist dran.“ Ihre Stimme zitterte. Traf das, was gleich geschehen sollte, sie mehr, als sie ihn wissen lassen wollte?

Selbstgerecht schöpfte er daraus Trost. „Du bist nicht nackt.“

„Könnte ich aber.“

Er hätte die Sache beenden sollen, sie wegschicken sollen, hätte irgendetwas unternehmen sollen, weil sie beide wussten, dass sie niemals weitergehen könnten als jetzt und dass es ihnen niemals reichen würde, aber ... er zog sich aus.

Wie immer an diesem Punkt raubte es Cameo hörbar den Atem, als sie seine Erektion sah. „Sag mir, was du mit mir anstellen willst“, befahl sie ihm und streichelte bereits ihre Brüste. „Und lass kein Detail aus.“

Er gehorchte ihr, und ihre Finger bewegten sich über ihren Körper, als wären es seine. Erst als sie zweimal gekommen war, berührte er sich, und sie dirigierte seine Bewegungen. Doch keinen Moment lang vergaß er, dass er niemals mehr bekäme; dass ihm niemals mehr gehören würde.

8. KAPITEL

Ich will ein eigenes Zimmer.“
„Nein.“
„Einfach so? Ohne zu zögern?“

„Genau. Du bleibst hier.“ Die Worte „bei mir“ auszusprechen verbot er sich, aber er brauchte sie auch gar nicht auszusprechen. Es war auch so klar genug. „Ich lebe noch nicht lange in Buda und war noch nicht oft in diesem Zimmer, aber es gehört mir.“ Genauso wie du. Wieder nicht ausgesprochen und trotzdem da.

Gwen saß auf der Kante eines fremdartigen und doch opulenten Bettes in einem fremdartigen und beängstigend maskulin eingerichteten Schlafzimmer in einer fremdartigen und massiven Burg mit einem gar nicht fremdartigen und faszinierenden Mann, den sie auf gewisse Art und Weise geküsst hatte und gern wieder geküsst hätte, jedoch nicht küssen konnte, weil er nichts von ihr wollte. Und eigentlich war auch nicht sie diejenige, die sich nach diesem Kuss sehnte, sondern die Harpyie. Zumindest redete Gwen sich das ein. Die Harpyie mochte die Gefahr und das Düstere, der dämonische Sabin traf bestimmt genau ihren Geschmack.

Gwen hingegen mochte biedere Sicherheit, auch wenn es langweilig war.

Sie beobachtete den absolut nicht biederen Sabin dabei, wie er mit Bewegungen, die genauso steif waren wie eben gerade sein Tonfall, seine Tasche auspackte. Seine distanzierte Art ist für uns beide am besten, sagte Gwen sich. Und natürlich war es das Beste für die Harpyie. Den berauschenden und Wut auslösenden Sabin noch einmal zu küssen wäre alles andere als klug gewesen. Er war zu ernst, ein zu großes Rätsel für sie und ihr Bedürfnis nach Ruhe. Aber zum Teufel, er war sexy – obwohl er offensichtlich stark verärgert war, glich das Auspacken seiner Tasche einem Vorspiel. Wie sich seine Muskeln bewegten ...

Hör auf, ihn anzusehen. Ist ja eher unwahrscheinlich, dass du eine Beziehung mit ihm anfangen kannst. Wer hatte was von einer Beziehung gesagt? Aus Furcht vor ihrer düsteren Seite hatte Gwen immer zu den Frauen gehört, die sich von einem Mann nahmen, was sie brauchten, und danach schnell verschwanden. Ihre sechsmonatige Beziehung mit Tyson war schon ungewöhnlich gewesen.

Was Tyson jetzt wohl machte? Ob er eine neue Freundin hatte? Vielleicht sogar eine Ehefrau? Und wie erginge es ihr, wenn dem so wäre? Dachte er manchmal an sie? Fragte er sich, wo sie war oder warum man sie entführt hatte? Wahrscheinlich sollte sie ihn anrufen.

Konzentriere dich auf das aktuelle Problem. „Wieso muss ich mit in dein Zimmer einziehen?“, stellte sie Sabin zur Rede.

„Ist sicherer so.“

Für wen? Für sie? Oder für seine Freunde? Der Gedanke deprimierte sie, obwohl es natürlich auch gut war, dass die Männer Angst vor ihr hatten. Denn dann würden sie sie in Frieden lassen. Aber gab es wirklich Dämonen, denen es zu gefährlich war, mit ihr Zeit zu verbringen? Eigentlich ein Witz! „Ich habe dir doch schon versprochen, in Budapest zu bleiben. Ich werde nicht weglaufen.“

„Egal.“

Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Seine knappen Antworten gingen ihr auf die Nerven. „Hast du auch eine Freundin, so wie die anderen? Oder eine Frau?“ Schlampe, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. „Ich bin sicher, dass sie bei dieser Entscheidung gern mitreden möchte.“

„Hab ich nicht. Und wenn doch, wäre es egal.“

Sie sah ihn fassungslos an. Bestimmt hatte sie sich verhört. „Es wäre egal? Warum? Sind deine Freundinnen es nicht wert, dass du nett zu ihnen bist und Rücksicht auf sie nimmst?“

Mit einer Hand umklammerte er einen Samtbeutel mit ... Wurfsternen? Sie klimperten Unheil verheißend, als er sie zu einer Truhe brachte und darin einschloss. Einen zweiten Samtbeutel ließ er an seiner Taille befestigt. „Ich habe noch nie eine Frau betrogen. Ich bin immer treu. Aber der Krieg kommt vor den Gefühlen jedes anderen. Und zwar immer.“

Wow. Krieg vor Liebe. Er war zweifellos der unromantischste Mann, dem sie je begegnet war. Sogar noch unromantischer als ihr Urgroßvater, der ihre Urgroßmutter nach der Geburt von Gwens Großmutter lachend in den Flammentod geschickt hatte. Gwen neigte den Kopf zur Seite, während sie Sabin noch intensiver musterte. „Würdest du deine Freundin betrügen, wenn es dir helfen würde, den Krieg zu gewinnen?“

Zurück an seinem Koffer, nahm er ein Paar Kampfstiefel heraus. „Was spielt das für eine Rolle?“

„Ich bin einfach neugierig.“

„Dann ja.“

Sie blinzelte überrascht. Erstens hatte sie in seiner Stimme kein Bedauern gehört. Und zweitens hatte er nicht gezögert. „Ja wie Ja, das würde ich‘?“

„Ja. Würde ich. Wenn das den Sieg bedeutete, würde ich sie betrügen.“

Doppel-Wow. Seine Ehrlichkeit ... war deprimierend. Er war ein Dämon, aber irgendwie hatte sie mehr von ihm erwartet – oder gewollt? Sie wäre niemals fähig, mit einem Mann zusammen zu sein, der bereit war, sie zu betrügen. Nicht dass sie vorhatte, mit Sabin zusammenzukommen.

Gwen wollte das Ein und Alles eines Mannes sein. Immer. Im Teilen war sie noch nie gut gewesen, es widersprach jedem Instinkt, den sie und die anderen Vertreter ihrer Art hatten. Deshalb hatte sie ihre Ängste schließlich überwunden und sich auf eine Beziehung mit Tyson eingelassen.

Soweit sie wusste, war er ihr treu gewesen. Der Sex war gut gewesen, wenn auch etwas fade. Denn während sie sich erfolgreich eingeredet hatte, einer Beziehung gewachsen zu sein, hatte sie gewusst, dass es katastrophale Folgen hätte, wenn sie sich in sexuellen Genüssen verlor. Wenigstens hatte er sie geliebt, und sie hatte geglaubt, für ihn dasselbe zu empfinden. Doch jetzt, nach all den Monaten der Trennung, wurde ihr klar, dass sie nur geliebt hatte, für was er stand: Normalität. Und dass sie sich so ähnlich waren. Er arbeitete für die Bundessteuerbehörde und wurde von seinen Mitmenschen gehasst. Sie war eine Harpyie, die die Konfrontation hasste und von ihren Artverwandten bemitleidet wurde. Doch das allein reichte nicht aus, um zusammenzubleiben. Nicht für immer.

Gwen hatte das Gefühl, dass sie bei Sabin irgendwie loslassen konnte. Er war weder in der Höhle noch im Flugzeug vor ihrer Harpyie zurückgewichen. Und stark wie er war, könnte er mehr aushalten als ein Mensch. Doch obwohl er sowohl mutig als auch unsterblich war, bezweifelte sie, dass er alles ertragen könnte, mit dem sie ihn konfrontieren würde. Niemand könnte das.

Trotzdem ertappte sie sich bei dem Gedanken daran, wie er wohl im Bett wäre. Nicht fade, so viel konnte sie sich denken. Er wäre skrupellos und würde dasselbe von seiner Geliebten verlangen. Aber wie viel würde er überhaupt annehmen können?

„Du bist also nicht verheiratet, aber bist du im Augenblick denn auch Single?“, fragte sie mit krächzender Stimme weiter. Gwen konnte sich nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der so verrückt war, sich mit ihm einzulassen. Ja, er sah gut aus. Ja, allein seine Küsse öffneten einer Frau das Tor zum Himmel. Doch vorübergehendes Vergnügen mit ihm würde nur mit Herzschmerz enden. Und sie war sicher nicht die Einzige, die das erkannt hatte.

„Was soll die Fragerei?“

„Ich will nur unangenehmes Schweigen vermeiden.“ Eine Lüge. Anscheinend log sie in letzter Zeit nur noch. Sie war – trotz allem – immer noch neugierig auf diesen Krieger, der sie gerettet hatte.

„Die Stille ist nicht unangenehm“, murmelte er und hatte den Kopf fast in der Tasche.

„Bist du jetzt Single oder nicht?“

„Du hast mir besser gefallen, als du vor allem Angst hattest“, erwiderte er.

Sie musste feststellen, dass sie in seiner Gegenwart tatsächlich weniger schüchtern als sonst war. Die Liebe zu sehen, die seine Freunde für ihre Frauen empfanden, hatte sie irgendwie ermutigt. Zumindest für den Augenblick. „Und? Single?“

Er kapitulierte seufzend. „Ja, ich bin Single.“

„Hab ich mir gedacht“, murmelte sie. Seine letzte Freundin hatte ihm bestimmt den Laufpass gegeben. „Na ja, aber das heißt trotzdem nicht, dass wir uns ein Bett teilen. Du wirst dir einen anderen Schlafplatz suchen müssen, weil ich nämlich das Bett nehme.“ Mutige Worte. Hoffentlich durchschaute er ihren Bluff nicht.

„Keine Sorge. Ich schlafe auf dem Boden.“ Er warf einige zerknitterte Hemden in den Wäschesack in seinem Schrank. Ein dämonischer Krieger, der Wäsche sortiert, dachte Gwen. Das ist doch mal etwas, das man nicht jeden Tag sieht.

„Und was ist, wenn ich dir nicht glaube, dass du auch wirklich dort bleibst?“

Er lachte. Schaurig. „Dein Pech. Ich werde dich nicht die ganze Nacht allein lassen.“

Das klang nicht gerade beruhigend. Er hatte weder geschworen, sich von ihr fernzuhalten, noch behauptet, keinen Sex mit ihr haben zu wollen.

Oder?

Und wollte sie überhaupt, dass er es versprach?

Sie musterte sein Profil. Ihr Blick schweifte über seine Nase. Sie war ein wenig länger als der Durchschnitt, wirkte aber genau deshalb majestätisch. Die Wangenknochen zeichneten sich scharf ab, sein Kinn war kantig. Insgesamt hatte er ein ziemlich grobes Gesicht ohne ein Zeichen der Jungenhaftigkeit, die sie sich manchmal zu sehen eingebildet hatte.

Aber seine Augen waren von himmlisch schönen, fast weiblichen Wimpern eingerahmt. Sie waren so dicht, dass seine Augen wirkten wie mit Ruß umrandet.

Sie schlang sich die Arme um die Taille, riss den Blick von diesem faszinierenden Gesicht und richtete ihn auf den Körper. Diese Muskeln ... Auch davon war sie – schon wieder – fasziniert. In seinem Bizeps pulsierten die Venen, als er sein Rasierzeug hochhob. Die schwarzen Leder- und Metallösen seines Herrenarmbands umarmten sein kräftiges Handgelenk. Seine langen Beine fraßen die wenigen Meter zum Badezimmer regelrecht. Gwen hoffte, dass er sein Hemd ausziehen musste, sodass sie noch mehr von seinen sexy Muskeln sah. Vielleicht sogar noch mehr von dem Schmetterlingstattoo, das sich über seinen Brustkorb ausdehnte und von dem eine Flügelspitze in seinem Hosenbund verschwand.

„Jetzt bin ich dran und frage dich aus“, sagte er von der Badezimmertür aus. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen. „Wieso bist du nicht davongelaufen? Oder hast es wenigstens mal versucht? Ich weiß, du hast gesagt, du wolltest dich nicht mitten in der Wüste dem Unbekannten stellen. Das verstehe ich ja noch irgendwie. Aber dann hast du unser kleines Dämonengeheimnis gelüftet und bist immer noch geblieben. Du hast mir sogar deine Hilfe angeboten.“

Gute Frage. In dem Moment, als das Flugzeug gelandet war, hatte sie tatsächlich erwogen, einfach in den Wald zu rennen, und dann noch einmal, als der Geländewagen gehalten hatte. Doch im nächsten Moment waren die Frauen aus der Burg gekommen und hatten sich – ganz offensichtlich schwer verliebt – ihren Männern an den Hals geworfen. Gwen hatte innegehalten. Die Dämonenkrieger waren sanft und zärtlich zu ihnen gewesen. Absolut ehrfürchtig, so als schätzten sie sie.

Das hatte sie mehr als alles andere dazu gebracht, ihr Urteil über die Dämonen zu revidieren.

Diese Männer waren das komplette Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte, und auf ihre eigene Art ehrenwert – jedenfalls bis jetzt – und beinah freundlich. Anscheinend wollten sie sie beschützen. Besser gesagt: Sie schauten sie nicht enttäuscht und mit dem unverhohlenen Wunsch an, dass sie stärker, mutiger und grausamer sein sollte.

„Es ist der Engel in ihr“, hatte ihre Mutter jedes Mal geringschätzig gesagt, wenn Gwen sich geweigert hatte, einen Unschuldigen zu verletzen. „Es war dumm von mir, mit ihm zu schlafen.“ Ihre Schwestern waren ihr stets zu Hilfe geeilt, denn sie liebten sie über alles. Doch Gwen wusste, dass selbst Bianka, Kaia und Taliyah sie für schwach hielten. Sie konnte es in ihren Augen sehen.

Würde mein Vater mich kennen, wäre er stolz auf mich, dachte sie abwehrend. Er hätte bei solcher Gutmütigkeit bestimmt applaudiert.

„Und?“, drängte Sabin.

„Ich könnte dir genauso antworten wie du mir die ganze Zeit“, erwiderte sie und hob das Kinn. Ich bin stark. Ich kann mich selbst verteidigen. „Warum ich nicht vor dir weggelaufen bin? Darum.“ Da. Schluck ein bisschen von deinem eigenen Gift.

Sabin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Das finde ich nicht komisch.“

„Ach nein? Ich auch nicht!“ Das ist es. Das ist der richtige Weg.

„Mein Schatz, sprich mit mir.“

Wie er das Kosewort aussprach ... als wären ein Streicheln, eine Fantasie und ein Fluch zusammen in einem Eclair verarbeitet worden, in einem gestohlenen, natürlich. „Bei dir fühle ich mich sicher“, gab sie schließlich zu. Warum sie sich für die Wahrheit entschieden hatte, wusste sie nicht. „Zufrieden?“

Sein spöttisches Lachen überraschte sie. „Das ist lächerlich. Du kennst mich doch nicht mal. Aber wenn du wirklich so dumm bist, warum wolltest du dann ein eigenes Zimmer? Und warum hast du mich so ausgefragt?“

Ihre Wangen brannten vor Hitze. Sie war so dumm. „Warum habe ich nur das Gefühl, dass du mir ausreden willst zu bleiben, obwohl ich allein auf deinen Wunsch hier bin? Willst du mich dazu bringen wegzurennen oder was?“

Ein kurzes Kopfschütteln.

„Kannst du dann bitte wenigstens so tun, als wärest du nett? Und zwar die ganze Zeit?“

„Nein.“

Auch diesmal hatte er nicht gezögert. Das machte sie allmählich wirklich wütend. „Na schön. Dann erklär mir bitte wenigstens, weshalb du in einer Sekunde nett bist und in der nächsten so grausam?“

Es sah so aus, als würde er die Zähne fest aufeinanderbeißen. „Ich bin nicht gut für dich. Mir zu vertrauen würde dich nur verletzen.“

Und das wollte er nicht? „Warum sagst du das?“

Keine Antwort.

„Wegen deines Dämons“, beharrte sie. „Welcher Dämon wohnt in dir?“

„Spielt keine Rolle.“

Also wieder keine Antwort. Aber es gäbe auch keine Antwort, die einen Sinn ergeben hätte. Außer vielleicht, dass er log und ihr in Wahrheit sehr wohl wehtun wollte, weil er ein Dämon war und Dämonen so was nun mal taten. Aber er konnte gar nicht durch und durch böse sein. Er liebte seine Freunde aufrichtig. Das spürte Gwen jedes Mal, wenn er sie ansah.

„Sag mir noch mal, wie ich dir deiner Meinung nach helfen kann“, bat sie, nur um ihn daran zu erinnern, dass er etwas von ihr wollte und dass sie ihm nicht helfen musste, wenn sie nicht wollte. „Sag mir, warum ich hierbleiben soll.“

Ausnahmsweise schien er jetzt gern zu antworten. „Um meine Feinde zu töten, die Jäger.“

Sie konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. „Und du glaubst wirklich, dass ich zu so etwas fähig bin? Mit Absicht?“, fügte sie schnell hinzu, um nicht noch mal daran erinnert zu werden, was sie unabsichtlich in den ägyptischen Katakomben getan hatte.

Sein finsterer Blick fixierte sie und schien sie wie eine scharfe Klinge zu durchdringen. „Ich denke, unter den richtigen Umständen bist du so gut wie zu allem fähig.“

Richtige Umstände. Auch bekannt als Todesangst haben, auch bekannt als In-Rage-Sein. Er brächte es fertig. Er würde sie einer Gefahr aussetzen oder sie so lange ärgern, bis sie völlig die Kontrolle verlor. Hauptsache, er gewann seinen Krieg. „Und was ist mit ‚Ich bringe dir bei, deine Harpyie zu kontrollieren‘?“

„Ich habe gesagt, ich würde es versuchen. Nicht, dass ich es schaffe.“

Nie würde es einen besseren Grund geben, einen Fluchtversuch zu unternehmen, als jetzt. Sabin war bei Weitem gefährlicher, als sie gedacht hatte. Aber sie konnte ihn jetzt nicht verlassen, wo sie doch gerade erst gemerkt hatte, dass ein Teil von ihr ihm helfen wollte. Nicht beim Töten, sie wollte nicht an der eigentlichen Schlacht teilnehmen. Aber es gefiel ihr nicht, dass da draußen Männer wie Chris herumliefen, die womöglich Jagd auf andere unsterbliche Frauen machten. Wenn sie die Chance bekam, sie aufzuhalten, war es dann nicht ihre Pflicht, sie zu ergreifen?

„Hast du keine Angst um dein Leben?“, fragte sie. „Wenn ich der Harpyie nachgebe, bist du danach vielleicht nicht mehr am Leben, um dich an den Jägern zu erfreuen, denen ich den Garaus gemacht habe. Auch Unsterbliche können ‚unter den richtigen Umständen‘ getötet werden.“

„Das Risiko nehme ich in Kauf. Wie gesagt: Sie haben meinen besten Freund umgebracht, Baden, den Hüter des Argwohns. Er war ein großartiger Mann, der es nicht verdient hatte, so zu sterben.“

„Wie ist er denn gestorben?“ Nach allem, was sie ihren Zellengenossinnen angetan hatten, befürchtete Gwen das Schlimmste.

„Sie schickten eine Frau, die ihn verführen sollte, und mitten im Akt griffen sie ihn aus dem Hinterhalt an und köpften ihn. Aber falls du einen aktuelleren Grund brauchst: Die Jäger geben mir und meinen Brüdern die Schuld an jeder Krankheit, mit der sie sich infizieren, an dem Tod, der einen geliebten Menschen dahinrafft, an jeder Lüge, die erzählt, und an jeder Gewalttat, die verübt wird. Sie haben Menschen gequält, die mir – dumm wie ich war – etwas bedeutet haben, und sie werden alles tun, um mich ins Grab zu bringen. Alles. Jeden und alles zerstören, und mich weiterhin als das Böse bezeichnen.“

„Oh.“ Das war alles, was ihr als Erwiderung einfiel.

„Ja. Oh. Denkst du immer noch, du bist nicht fähig, mir zu helfen?“

Sabin war gefesselt von der reizenden Frau, die da vor ihm saß. Dieses rotblonde Haar, das ihre Arme umspielte und ihr bis auf den Schoß reichte. Diese goldenen, mit glänzendem Silber gesprenkelten Augen, die hell leuchteten. Diese rosige Farbe, die auf den runden Wangen brannte.

Aber mehr noch als ihr Aussehen mochte er dieses neu entdeckte Temperament – auch wenn er vor wenigen Minuten noch das Gegenteil behauptet hatte. Stärke war verdammt sexy. Vor allem Stärke, die nicht selbstverständlich war. Obwohl Gwen von Natur aus schüchtern war und Angst vor ihm und vor diesem Haus hatte, sogar vor ihrem eigenen Schatten, saß sie ruhig auf seinem Bett und fragte ihn mit erhobenem Kopf aus, weil sie sich weigerte, klein beizugeben. Sie war wirklich ein außergewöhnliches Geschöpf.

Sofern sie nicht die beste Schauspielerin der Welt ist.

Zweifel. Sabin presste die Lippen aufeinander. Gwen war keine Schauspielerin. Sie war von den Jägern eingesperrt und gequält worden; sie half ihnen nicht. Du irritierst mich mit deinen Verdächtigungen.

Vielleicht kann ich dir und deinen Freunden das Leben retten. Besser auf der Hut sein als tot. Immerhin ist Danika damals auch unter dem Deckmantel der Rettung zu uns gekommen und hat in Wahrheit die Jäger mit Informationen versorgt.

Sabin schluckte.

Lass mich an die Harpyie ran! Ich breche sie und finde die Wahrheit heraus.

Er rief sich Reyes und Danika vor Augen. Sie waren glücklich und verliebt. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass sich schlechte Absichten in gute verwandeln konnten. Du hältst die Klappe. Klar? Er hingegen ...

Er sah Gwen mit dem – zweifelsfreien – Wissen an, dass ihm kein so märchenhaftes Ende vergönnt war wie Reyes. Eine Frau konnte sich daran gewöhnen, zuzusehen, wie ein Mann sich schnitt. Aber nicht daran, jeglichen Respekt vor sich zu verlieren. Und Gwen war schon gefährlich nah an diesem Punkt.

Was sonst hatte sie zu dem Mädchen gemacht, das sie war? Oder vielmehr, zu der Frau? Schließlich war sie älter als Ashlyn und Danika.

Er wollte mehr von ihr wissen, jedes Detail ihres Lebens erfahren. Familie, Freunde, Liebhaber. Und sie wollte auch mehr über ihn wissen. Diese Entdeckung freute ihn sogar mehr, als gut war. Sogar viel mehr, als gut war. Am liebsten hätte er all ihre Fragen beantwortet und alles ausgeplaudert, aber er wusste, wie gefährlich das war. Sein Ärger auf sich machte ihn bissiger, als er es sonst war. Bissiger, aber nicht weniger erregt.

Allein wie er hier so stand, verspürte er ein heißes Verlangen. Er wollte ihre Haare zwischen den Fingern spüren, wollte diesen sinnlichen Körper unter sich zittern sehen – und auf sich –, wollte ihre Lustschreie hören.

Um sich daran zu hindern, die Hand nach ihr auszustrecken, verschränkte er die Arme vor der Brust, wobei der Stoff seines Hemdes spannte. Ihr Blick schweifte tiefer und ruhte auf seinem linken Bizeps. Verflucht. Wenn sie ihn genauso wollte wie er sie, würden sie schon bald in große Schwierigkeiten geraten. In beglückende, ach so falsche Schwierigkeiten.

Wieder zerrte sein Dämon an seinen Ketten. Er wollte unbedingt in ihren Kopf eindringen und ihn mit Zweifeln füllen. Sein Geflüster hatte sogar schon begonnen: Du bist nicht gut genug, nicht hübsch genug, nicht stark genug. Sabin musste alle erdenkliche Kraft aufbringen, um die Sätze in seinem eigenen Kopf zu halten. Wenn sie ihre Gedanken erreichten ...

Er wusste, wie er den Dämon bekämpfen und die Gedanken unterdrücken konnte. Sie nicht. Sie würde daran zerbrechen, genau wie es der Dämon wollte.

Warum konnte sie seine Qualen nicht lindern so wie Ashlyn bei Maddox? Wieso konnte sie seine dunkle Seite nicht bezaubern so wie Anya bei Lucien? Weshalb konnte sie das Verlangen nach dem Bösen nicht zügeln so wie Danika bei Reyes? Stattdessen machte sie die Bestie in ihm erst richtig wild.

„Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir so helfen kann, wie du möchtest, aber es tut mir leid, dass du so einen Verlust erlitten hast“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag aufrichtiges Bedauern.

„Danke.“ Wie ... süß. Er runzelte die Stirn. Sie musste ihr Herz und ihre Gefühle besser schützen. Seinetwegen verletzt zu werden wäre nicht gut für sie. Er stutzte. Jetzt dachte er schon wie ein Liebhaber. Apropos ... „Hast du einen Freund?“

„Früher schon. Vorher.“

Vor ihrer Entführung, vermutete er. Wie hatte die Beziehung funktioniert? Hatte sich der arme Mann genau überlegen müssen, was er sagte und tat, damit er die Bestie in ihr nicht weckte? „Vermisst du ihn?“ Sie hatte traurig geklungen.

„Das habe ich mal, ja.“

Okay, das ... ärgerte ihn. „Hat er dich betrogen? Hast du mir deshalb all diese albernen Fragen gestellt?“

„Albern?“ Wütend befeuchtete sie sich die Lippen, und er sah ihre rosafarbene Zungenspitze. Sofort war er erregt, als er sie sich woanders vorstellte. Auf seinem Körper. In Höhe des Bauchnabels. „Nein, er hat mich nicht betrogen. Er war aufrichtig.“

Aus irgendeinem Grund schürte der Vergleich seinen Ärger. „Ich bin auch aufrichtig. Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich nicht gelogen habe, als es darum ging, was ich vorhabe, und dass ich es auch nicht tun werde. Ich kann nicht.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Was meinst du mit: ‚Ich kann nicht‘?“

„Nichts“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Genauso wie Gwen auf ihr Herz aufpassen musste, musste er besser auf seine Worte achten.

„Deine Bereitschaft, nicht zu betrügen, macht dich keinen Deut besser als meinen Menschen. Tyson wäre mir unter keinen Umständen untreu geworden. Er hat mich geliebt.“

Ihr Mensch? Ihr Mensch! „Sein Name ist Tyson? Ich sage es dir ja nur ungern, aber du bist mit einer Hühnchenfleisch-Marke zusammen gewesen. Und was sein Ehrgefühl angeht, wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. Ich wette, er hat sein Ding in dem Moment in eine andere gesteckt, als du ihm den Rücken zugekehrt hast. Und wenn er dich so geliebt hat, wie du es sagst, warum hat er dann nicht versucht, dich zu finden?“ Sabin fluchte stumm und presste die Lippen aufeinander. Diese schrecklichen Worte waren nicht seine gewesen, sondern die seines Dämons. Er sorgte immer wieder dafür, dass die Bestie sich nicht in ihre Gedanken schlich, aber jetzt hatte sie einen anderen Weg gefunden, zu entkommen.

Gwen wurde blass. „W-wahrscheinlich hat er es versucht.“

Schuld und Schamgefühle überschatteten seine Wut. Trotz ihres mutigen Auftretens war Gwen immer noch zerbrechlich. Doch der Vorfall hatte nur seinen Verdacht bestätigt: ein paar schäbige Zweifel, und sie war kurz davor, zu zerbrechen. Er musste sich von ihr fernhalten.

Doch konnte er das überhaupt? Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Er hatte es sogar so arrangiert, dass sie in seinem Zimmer schlief. Mit ihm. Allein. Dämlich! Aber das war der einzige Weg, sie zu beschützen – vor den anderen und vor ihr selbst. Und dummerweise gefiel ihm der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein. Er genoss ihre Gegenwart. Mehr noch als schön war sie witzig – wenn sie nicht gerade ängstlich und still war – und unglaublich süß.

Er fragte sich, ob alle Harpyien so verführerisch waren wie Gwen. Vermutlich würde er es schon bald herausfinden, denn immerhin hatte er ihr versprochen, ihre Schwestern einzuladen. Natürlich war es zunächst ein unfreiwilliges Versprechen gewesen. Denn mehr Harpyien bedeuteten größere Gefahr. Mehr Ärger. Doch dann war ihm klar geworden, dass mehr Harpyien auch mehr Waffen gegen die Jäger bedeuteten. Irgendwie wollte Sabin ihre Schwestern davon überzeugen, ihm zu helfen, die Männer zu töten, die ihre geliebte Gwen verletzt hatten.

Falls sie sie lieben, warf der Dämon ein. Haben sie überhaupt nach ihr gesucht, während sie eingesperrt gewesen ist?

Verdammt. Daran hatte er nicht gedacht. Gwen hatte ein Jahr lang in der gläsernen Zelle gesessen. Sie hatten sie nicht gefunden, nicht gerettet. Ebenso wenig wie dieser Versager Tyson.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Wenn die Schwestern ihm nicht helfen wollten, auch gut. Er hatte ja Gwen. Er wusste aus erster Hand, wozu sie fähig war.

„Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe“, zwang er sich zu sagen – er hasste es, sich zu entschuldigen – und ging auf die Tür zu. „Du willst ein Zimmer für dich? Einverstanden. Ich gebe dir ein paar Stunden. Aber wage es nicht, diesen Raum zu verlassen. Ich lasse dir etwas zu essen hochbringen.“

Sie stöhnte vor offensichtlicher Vorfreude und vor Verlangen auf, sagte jedoch: „Bemüh dich nicht. Ich werde es sowieso nicht anrühren.“

Er blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Je öfter er sie ansah, umso schneller würde er ihr gegenüber weich werden. „Du wirst anfangen zu essen, Gwen. Verstehst du? Ich will nicht, dass du denkst, ich bin wie deine Entführer und lasse dich bewusst hungern.“

„Das denke ich nicht“, erwiderte sie stur. „Aber ich werde nichts essen. Und du lässt mich einfach hier, wo mich jederzeit die Dämonen holen können? Wohin gehst du?“

„Ich bin auch ein Dämon“, sagte er, ihre zweite Frage ignorierend. Darin wurde er langsam gut.

„Ich weiß.“ Ihre Stimme klang zögerlich und war kaum zu hören.

Sein Magen zog sich zusammen. Sie wusste es, aber es war ihr egal? Er hatte noch nie stärkere Worte gehört. „Ich bin in der Nähe, wenn du mich brauchst. Ruf einfach. Nein, ich habe eine bessere Idee: Ich schicke Anya her, damit sie dir Gesellschaft leistet. Sie und Lucien hatten jetzt schon mehrere Stunden, um ... ihr Wiedersehen zu feiern. Sie wird auf dich aufpassen.“ Und Gwen zum Essen bringen, wenn nötig, dachte er. Wenn jemand einen anderen davon überzeugen konnte, etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun wollte, dann war es die listige Anya. „Rühr dich nicht vom Fleck.“

Erst als er die Tür hinter sich geschlossen und Gwen in seinem Zimmer eingesperrt hatte, damit sie sich nicht doch noch entschloss, das Risiko einzugehen, einem seiner Freunde über den Weg zu laufen, oder in der Burg herumzuschnüffeln oder sogar ein Telefon zu suchen, mit dem sie die Jäger anrufen konnte – sie arbeitet nicht für sie, verflucht! –, erst da dämmerte Sabin, dass er kurz davorstand, eine Harpyie wissentlich mit der Göttin der Anarchie zusammenzubringen. Na prima. Er konnte von Glück sagen, wenn ihm am nächsten Morgen noch der Kopf auf den Schultern saß.

9. KAPITEL

Als Sabin durch die Burg stapfte, hörte er gequälte Schreie, die von den Kerkern aufstiegen und von den Wänden widerhallten. Jemand verhörte die Gefangenen. Er hätte auch da unten sein und helfen sollen, aber zuerst musste er mit Anya sprechen.

Ja, er merkte, dass er eine Frau vor seine Pflichten stellte, aber das tat er nur, um sicherzustellen, dass es Gwen gut ging. Und es sollte nicht allzu lange dauern. Trotzdem versprach er sich, dass er es nie wieder tun würde. Das nächste Mal, wenn die eine oder andere Folter wartete, wäre er der Erste in der Schlange, zum Teufel mit Gwen.

Dennoch. Gwen allein zu lassen fühlte sich seltsamerweise ... falsch an. Ein Teil von ihm, ein großer Teil – verdammt, ein sehr großer Teil – fand, er sollte bei ihr sein, ihr die Angst nehmen und ihr versichern, dass alles gut würde.

Ich kann einer Frau nichts als Unglück versprechen, dachte er finster. Vor allem einer Frau, die ich unbedingt noch einmal küssen will.

Der Kuss im Flugzeug hatte ihn fast umgebracht. Noch nie hatte er etwas Süßeres gekostet. Nie hatte etwas ein derartiges Potenzial zu mehr gehabt. Doch sich zu gestatten, den Kuss zu erwidern, hätte bedeutet, Zweifel aus seinem eisenharten Griff zu entlassen, und dann hätte der Dämon mentales Blut geleckt. An diesem Ausgang der Ereignisse brauchte Sabin nicht zu zweifeln. Gwen befand sich bereits in einem zerbrechlichen Zustand; sie hatte Angst davor, wer und was sie war. Ein zweiter Kuss wäre der Inbegriff der Dummheit.

Und warum, zum Teufel, hatte er die Dinge noch verschlimmert und ihr die Erinnerung an ihren Ex verdorben? Wie erbärmlich war es gewesen, ihr zu sagen, dass der Mann, dem sie vertraut hatte, ihr auf keinen Fall treu gewesen sein konnte? Da spielte es auch keine Rolle, dass sein Dämon ihm diese Worte eingeflüstert hatte. Schlimmer noch: Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs Zweifels Entschlossenheit, Gwens schwaches Selbstvertrauen vollends zu zerstören. Vielleicht weil Sabin sie zur verbotenen Frucht gemacht hatte, indem er dem Dämon unaufhörlich befahl, sich von ihr fernzuhalten.

Aber es gab keine Alternative. Wenn er aufhörte, den Dämon zu kontrollieren, würde Gwens ohnehin schon instabiles Selbstbewusstsein in sich zusammenfallen. Ihr Vertrauen würde ausgelöscht werden. Und das konnte er nicht zulassen. Er musste seine Geheimwaffe beschützen. Auch wenn das natürlich nicht der einzige Grund war, weshalb er sich um Gwens seelischen Zustand sorgte.

Er musste einfach nur herausfinden, wie er sie am besten benutzen konnte. Vielleicht könnte er sie ja dazu bringen, sich den Jägern zum Schein anzuschließen, um diese dann von innen heraus zu überwältigen. Dieser Plan klang vielversprechend.

Die Jäger machten sich diese Strategie seit Abertausenden von Jahren zunutze, Baden war ihr bisher größter Erfolg. Die Zeit war längst dafür reif, dass die Jäger mit ihren eigenen Waffen geschlagen wurden.

Aber konnte es ihm gelingen, Gwen davon zu überzeugen?

Die Frage quälte ihn, während er durch die Burg ging. Die Buntglasfenster warfen farbenfrohe Prismen durch den Flur und machten den Staub sichtbar, der durch die Luft tänzelte.

Sabin lebte noch nicht lange hier. Aber sogar er wusste, dass die neuen weiblichen Mitbewohner diesem Ort Leben eingehaucht hatten. Ihre Dekorationen hatten irgendwie den Trübsinn verscheucht, der bei seinem ersten Besuch noch hier geherrscht hatte. Ashlyn hatte die Möbel ausgesucht. Sabin hatte von so etwas keine Ahnung, aber er vermutete, dass es teure Stücke waren, denn sie erinnerten ihn an die Jahre, die er im viktorianischen England verbracht hatte.

Die Möbel waren auch nicht mehr rot lackiert, um die Blutstropfen zu kaschieren, die Reyes nach seinen obligatorischen Selbstverletzungen verlor. Jetzt standen hier eine cremeweiße Sitzecke, ein Sessel in kräftigem Violett, ein Karussellpferd und ein Tisch aus Walnussholz und Marmor.

Anya hatte die ... Extras besorgt. Den Kaugummiautomaten in der Ecke, die Strip-Stange, der er ausweichen musste, und den Arcade-Spielautomaten neben der Treppe.

Danika hatte die Bilder gemalt, die die Wände säumten. Einige zeigten Engel, die durch den Himmel flogen, andere Dämonen, die durch die Hölle schlichen, aber alle stellten Visionen dar, die sie – als das Allsehende Auge – einst gehabt hatte. Durch diese Gemälde lernten sie mehr über die Geister in sich und über die Götter, von denen sie jetzt kontrolliert wurden.

Natürlich hatte Anya die Bilder von Himmel und Hölle durch noch mehr Extras ergänzt. Zum Beispiel durch Bilder, die nackte Männer zeigten. Zu jedermanns Entsetzen war es ihr gelungen, sie vor dem Bombenangriff der Jäger in Sicherheit zu bringen. Nur ein einziges Mal hatte Sabin versucht, sie abzuhängen. Am nächsten Tag hatte er ein Aktgemälde von sich an der Wand vorgefunden. Wie die Göttin es geschafft hatte, es so schnell – und so akkurat – anzufertigen, war ihm nach wie vor ein Rätsel. Aber er würde es nie wieder wagen, eines ihrer Bilder abzunehmen.

Sabin bog um eine Ecke und ging durch die offen stehende Tür in den Gemeinschaftsraum, von wo aus er die zweite Treppe zu Luciens und Anyas Zimmer hinaufgehen wollte. Aus dem Augenwinkel sah er eine große, schlanke Gestalt. Er blieb an der Tür stehen und entdeckte Anya. Mit dem ultraknappen Lederkleid und den hohen, mit Nieten besetzten Stiefeln war sie so perfekt, wie eine Frau nur sein konnte. Ohne den kleinsten Makel. Abgesehen von ihrem verschrobenen Sinn für Humor.

Im Augenblick spielte sie mit ihrem Freund William das Videospiel „Guitar Hero“. Ihr Kopf bewegte sich ruckartig zum unregelmäßigen Takt, sodass die Haarsträhnen nur so flogen. William war unsterblich und – wie die Herren – vor langer Zeit aus dem Himmel verbannt worden. Während sie die Welt mit ihren Missetaten fast zerstört hatten, bestand sein Verbrechen darin, die falsche Frau verführt zu haben. Oder zwei Frauen. Oder drei...tausend. Wie Paris hatte er mit jeder Frau geschlafen, die ihn gewollt hatte, ob verheiratet oder nicht. Sogar mit der Götterkönigin. König Zeus hatte sie in flagranti erwischt und war, wie William zu sagen pflegte, „ausgeflippt“.

Nun hing sein Schicksal an einem Buch, an einem Buch, das Anya ihm gestohlen hatte und aus dem sie ihm hin und wieder eine Handvoll Seiten zurückgab. Einem Buch, das angeblich prophezeite, dass ihn ein Fluch befiele – der mit einer Frau verbunden war.

Während der Krieger Schlagzeug spielte, beäugte er erwartungsgemäß Anyas Po, als wäre er ein Bonbon und als wäre William selbst jemand, der lange nichts Süßes mehr bekommen hatte. „Das könnte ich den ganzen Tag machen“, sagte er schwärmerisch und wackelte dabei mit den Augenbrauen.

„Achte auf den Rhythmus“, ermahnte Anya ihn. „Du hältst fast nie den Takt und ziehst deine Band damit runter.“

Eine Pause entstand, dann brachen beide in Gelächter aus.

„Lob ihn nicht, Gilly! Er hat nicht sein Bestes gegeben. Nur ein Mädchen mit einem Hang zu ... ach, vergiss es. Sag ihm einfach nur, wie schrecklich er ist!“ Anya wirbelte durch die Luft, jedoch ohne langsamer Gitarre zu spielen.

Gilly war hier? Sabin sah sich um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Dann bemerkte er die Kopfhörer, die Anya und William trugen. Sie spielten also online mit Gilly.

Sabin lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ungeduldig darauf, dass das Lied endlich vorbei war. „Wo ist Lucien?“

Weder Anya noch William schraken zusammen oder zeigten irgendwie sonst, dass sie von seiner Anwesenheit überrascht waren.

„Er begleitet Seelen“, entgegnete Anya und warf die Gitarre aufs Sofa. „Ja! Ich habe fünfundneunzig Prozent geschafft. Gilly, du hast achtundneunzig, und der arme William hat nur sechsundfünfzig.“ Pause. „Was habe ich dir gesagt? Lobe nie den Mann, der uns die gute Laune verdorben hat. Ja, du auch. Bis zum nächsten Mal, chica.“ Sie nahm den Kopfhörer ab und warf ihn neben die Gitarre. Dann griff sie nach einer Pappschachtel voller Käseecken und begann zu essen, wobei sie genießerisch die Augen schloss.

Sabin lief das Wasser im Mund zusammen. Käseecken – sein Lieblingsessen. Irgendwie musste sie gewusst haben, dass er herkommen würde; sie wollte ihn quälen, dieser Plagegeist. „Gib mir ein Stück ab“, verlangte er.

„Hol dir doch deine eigenen“, erwiderte sie.

William warf seine Drumsticks in die Luft, fing sie wieder auf und legte sie auf das Schlagzeug. „Egal wie sehr ich den Takt nicht halte, ich mache trotzdem ganz zauberhafte Musik.“

„Ha! Ich habe dich die ganze Zeit getragen.“ Anya verschlang die restlichen Käseecken und sah Sabin dabei amüsiert an. Anschließend warf sie sich aufs Sofa und ließ die Beine über eine Armlehne baumeln. „Also, Sabilein, ich habe dich schon gesucht. Lucien sagt, wir hätten eine Harpyie im Haus!“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände. „Ich verehre Harpyien. Sie sind so herrlich ungezogen.“

Er unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass sie ihn nicht gesucht, sondern Videospiele gespielt hatte. „Herrlich ungezogen? Du hast nicht miterlebt, wie sie einem Jäger die Kehle herausgerissen hat.“

„Nein, leider nicht.“ Sie verzog den Mund zum vertrauten Schmollen. „Ich verpasse immer die lustigen Momente, wenn ich babysitten muss, Willy.“

William verdrehte die Augen. „Vielen Dank auch, Annie. Ich bin hiergeblieben, habe dir Gesellschaft geleistet und geholfen, auf die Frauen aufzupassen, und du wünschst dir, du hättest beim Kämpfen dabei sein können. Das war ’ne ziemlich heftige Ohrfeige. Sie hätte mich beinah zerfetzt.“

Anya streckte den Arm aus und tätschelte seine Hand. „Nimm dir einen Moment, um dich zu sammeln. Inzwischen plaudert Mommy ein bisschen mit Zweifel-Popeifel. Okayyy?“

Williams Mundwinkel zuckten. „Dann bin ich jetzt der Daddy?“

„Nur wenn du sterben willst“, mischte Sabin sich ein.

Laut lachend ging William zu dem HDTV-Bildschirm von knapp zwei Metern Durchmesser und ließ sich in den vornehmen Liegesessel fallen, der direkt davor stand. Drei Sekunden später war eine Sexorgie in vollem Gange, unterlegt von reichlich Gestöhne. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte Paris diese Filme geliebt. Doch in den Wochen vor ihrem Ausflug nach Ägypten hatte nur noch William sie sich angesehen.

„Erzähl mir alles über die Harpyie“, forderte Anya Sabin auf und lehnte sich mit leuchtendem Gesicht zu ihm hinüber. „Ich sterbe vor Neugier.“

„Die Harpyie hat einen Namen.“ Schwang da Verärgerung in seiner Stimme mit? Bestimmt nicht. Was kümmerte es ihn schon, wenn jemand von ihr als „die Harpyie“ sprach? So sprach er doch selbst von ihr. „Sie heißt Gwendolyn. Oder Gwen.“

„Gwendolyn, Gwendolyn. Gwen.“ Anya tippte sich mit ihrem langen, scharfen Fingernagel ans Kinn. „Tut mir leid, kommt mir nicht bekannt vor.“

„Goldene Augen, rote Haare. Na ja, rotblonde Haare.“

Ihre strahlend blauen Augen begannen plötzlich zu funkeln. „Hm. Das ist interessant.“

„Was? Die Haarfarbe?“ Er hatte es doch gewusst! Er wollte ihre Haare mit den Händen durchwühlen, sie festhalten, sie auf dem Kopfkissen ausbreiten und auf seinen Oberschenkeln.

„Nein. Dass du sie so genau beschreibst.“ Sie lachte amüsiert. „Ist der kleine Sabin etwa verknallt?“

Verärgert biss er die Zähne aufeinander, als ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Wurde er rot? Wurde er verdammt noch mal rot?

„Oooh. Wie hübsch. Seht mal, wer sich verliebt hat, während er all diese Pyramiden abgesucht hat. Was weißt du sonst noch von ihr?“

„Sie hat drei Schwestern, aber ich weiß nicht, wie sie heißen.“ Er sprach mit rauer Stimme, die Anya eine einzige Warnung sein sollte. Er war nicht verliebt.

„Na ja, dann finde es heraus“, erwiderte sie, offenkundig verständnislos angesichts dessen, dass er es nicht schon längst getan hatte.

„Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest es herausfinden. Du musst ihr ein bisschen Gesellschaft leisten.“ Sie beschützen, hätte er am liebsten gesagt. Damit sie sicher ist. Moment. Ein Teil von ihm wollte um etwas bitten? Im Ernst? „Aber William bleibt hier. William darf nicht in ihre Nähe kommen.“

Leder rieb gegen Jeansstoff, als William sich in dem Sessel umdrehte. Er glühte förmlich vor Lust auf ein Machtspiel. „Warum darf ich nicht in ihre Nähe? Ist sie hübsch? Ich wette, sie ist hübsch.“

Sabin ignorierte ihn. Sonst hätte er William umbringen müssen, und das wiederum hätte Anya traurig gemacht. Und Anya traurig zu machen war gleichbedeutend damit, seinen Kopf in eine Guillotine zu legen.

In Momenten wie diesen sehnte sich Sabin nach der stumpfen Routine des Kämpfens und Trainierens, die sein Leben vor der Wiedervereinigung der Herren bestimmt hatte. Damals hatte er fünf Mitbewohner gehabt und keine nervenden Frauen – außer Cameo, aber die zählte nicht – oder ihre immergeilen Freunde, mit denen man sich herumschlagen musste. „Und versuch auch, sie zum Essen zu bringen“, fügte er hinzu. „Sie ist jetzt schon mehrere Tage bei mir, aber bisher hat sie nur etwas Kuchen gegessen, den sie sofort wieder erbrochen hat.“

„Erstens habe ich nie gesagt, dass ich für deine Frau den Babysitter spiele. Und zweitens wird sie auf keinen Fall etwas essen. Sie ist eine Harpyie.“ Anyas Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn für einen Vollidioten hielt.

Vielleicht hatte sie recht. „Wovon redest du?“

„Sie essen nur das, was sie stehlen oder sich verdienen. Oh Mann. Wenn du ihr etwas zu essen anbietest, muss sie es ablehnen. Ansonsten muss sie ... Trommelwirbel, bitte ...kotzen.

Er winkte abwehrend mit der Hand. „Das ist ja lächerlich.“

„Nein, das ist ihr Lebensstil.“

Aber das ... das war doch nicht ... verdammt. Was maßte er sich an, zu sagen, etwas sei unmöglich? Seit Jahren hatte Reyes Maddox um Mitternacht in den Bauch stechen und hatte Lucien die tote Seele des Kriegers in die Hölle begleiten müssen – nur damit er am nächsten Morgen in einen verheilten Körper hatte zurückkehren können, um das Ganze am nächsten Abend zu wiederholen. Und an allen folgenden Abenden.

„Dann hilf ihr bitte dabei, etwas zu stehlen. Bitte. Ist Bagatelldiebstahl nicht deine Stärke?“ Später würde er dafür sorgen, dass etwas zu essen in seinem Zimmer lag, das sie leicht stibitzen konnte.

Plötzlich drang ein schriller Schmerzensschrei durch die Wände, ein Geräusch, das wie Balsam für Sabins Seele war. Die Vernehmung der Jäger hatte gerade eine neue Phase erreicht. Ich sollte dabei sein und helfen. Stattdessen blieb er wie angewurzelt stehen und wartete neugierig auf weitere Antworten. „Was muss ich sonst noch über sie wissen?“

Nachdenklich stand Anya auf, ging zum Billardtisch und nahm eine der Kugeln aus einer Tasche. Sie warf sie in die Luft, fing sie auf und warf sie wieder hoch. „Mal sehen, mal sehen. Harpyien können sich so schnell bewegen, dass das menschliche Auge – oder in unserem Fall das unsterbliche Auge – keine einzige Bewegung wahrnehmen kann. Sie lieben es, andere zu quälen und zu bestrafen.“

Beides hatte er aus nächster Nähe miterlebt. Die Geschwindigkeit, mit der sie den Jäger getötet hatte, die Brutalität, mit der sie ihn angegriffen hatte – mehr brauchte man über Folter und Strafe nicht zu wissen. Dennoch verwandelte Gwen sich jedes Mal in ein zitterndes Häufchen Elend, wenn Sabin den Angriff auf die übrigen Jäger erwähnte, die sie so schlecht behandelt hatten.

„Wie jede andere Art können Harpyien besondere Begabungen haben. Einige können vorhersagen, wann eine bestimmte Person stirbt. Andere können die Seele aus einem toten Körper ziehen und ins Jenseits bringen. Zu schade, dass nicht viel mehr von ihnen dieses Talent haben – dann könnten sie meinem Schatz eine Menge Arbeit abnehmen. Einige können auch zwischen den Zeiten hin und her reisen.“

Besaß Gwen eine besondere Begabung?

Jedes Mal, wenn er etwas über sie oder ihre Herkunft erfuhr, tauchten tausend neue Fragen auf.

„Aber mach dir um deine Frau keine Sorgen“, fügte Anya hinzu, als läse sie seine Gedanken. „Solche Fähigkeiten entwickeln sich erst im hohen Alter. Also nicht bevor sie einige Hundert Jahre alt ist – oder waren es einige Tausend? Weiß ich nicht mehr – sie hat ihre Begabung vermutlich noch nicht entdeckt.“

Gut zu wissen. „Sind sie böse? Kann man ihnen trauen?“

„Böse? Hängt von deiner Definition ab. Vertrauen?“ Auf ihrem Mund breitete sich ein Lächeln aus, so als würde sie die nächsten Worte genießen. „Kein bisschen.“

Nicht gut für sein Vorhaben. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die süße, unschuldige Gwen ihm etwas vormachte. „Nach allem, was Lucien dir erzählt hat: Denkst du, Gwen könnte mit den Jägern zusammenarbeiten?“ Das hatte er nicht fragen wollen; er glaubte wahrhaftig nicht, dass sie zu so etwas fähig war. Der einzige Grund, warum dieser Gedanke in seinem Kopf herumschwirrte, war Zweifel. Zweifel, für den Vertrauen und Beteuerungen abscheuliche Flüche waren.

„Nee“, meinte Anya. „Ich meine, ihr habt sie doch eingesperrt vorgefunden. Keine lebende Harpyie ließe sich freiwillig in einen Käfig einsperren. Gefangen zu sein bedeutet, verhöhnt und als unwürdig betrachtet zu werden.“

Wie würden ihre Schwestern sie dann wohl behandeln, wenn sie zu Besuch kämen? Er würde ihnen nicht erlauben, sie zu bestrafen. Und verdammt, er hatte sie in sein Zimmer eingeschlossen. In ein geräumiges Zimmer, das dennoch ein Gefängnis war. Stellte sie ihn nun mit den Jägern auf eine Stufe? Ihm drehte sich fast der Magen um.

„Wirst du bei ihr bleiben? Bitte?“

„Ich zerstöre ja nur ungern deine Illusionen, Zuckerschnütchen, aber wenn sie nicht hier sein will, werde selbst ich sie nicht aufhalten können. Niemand kann das.“

Wieder war ein spitzer Schrei zu hören, gefolgt von einem unsterblichen Lachen. „Bitte“, wiederholte er. „Sie hat Angst und braucht eine Freundin.“

„Angst.“ Anya lachte. Doch als Sabin ernst blieb, verstummte ihre Lachen allmählich. „Du nimmst mich doch auf den Arm, oder? Harpyien haben niemals Angst.“

„Wann habe ich jemals so etwas wie Humor gezeigt?“

Da sie Rätsel hasste, schüttelte Anya den Kopf. „Du hast mich so weit. Also gut. Ich werde Babysitter spielen, aber nur weil ich neugierig bin. Und ich sage dir: Eine verängstigte Harpyie ist ein Widerspruch in sich.“

Sie würde schon bald merken, dass sie sich irrte. „Danke. Du hast was gut bei mir.“

„Allerdings.“ Anya lächelte milde. Zu milde. „Ach, und wenn sie nach dir fragt, werde ich ihr alles erzählen, was ich weiß. Jedes Detail. Und ich meine wirklich jedes.“

Sogleich packte ihn die Panik. Gwen war jetzt schon vor ihm auf der Hut. Wenn sie auch nur die Hälfte von dem erfuhr, was er in der Vergangenheit getan hatte, würde sie ihm nie und nimmer helfen oder vertrauen und ihn nie wieder mit dieser betörenden Mischung aus Verlangen und Unsicherheit ansehen.

„Abgemacht“, stimmte Sabin düster zu. „Aber dir sollte unbedingt mal jemand den Hintern versohlen.“

„Noch jemand? Lucien hat’s mir heute Morgen schon ordentlich besorgt.“

Sabin musste sich eingestehen, dass Anya ihm rhetorisch immer überlegen sein würde. „Aber sei ... vorsichtig mit ihr. Und wenn auch nur ein Funken Gnade in deinem bezaubernden Körper steckt, sag ihr nicht, dass Zweifel in mir wohnt. Sie hat auch so schon Angst vor mir.“

Seufzend machte er kehrt und stieg hinab in den Kerker.

„Wo sind sie?“, wollte Paris wissen.

Als Antwort erhielt er ein qualvolles Stöhnen.

Es kam ihnen so vor, als hätten sie sie schon tagelang verhört, und das ohne nennenswerte Ergebnisse. Aerons Dämon Zorn rief lauter kranke Vorstellungen in seine Gedanken – so sehr wollte er diesen Mann für seine Sünden bestrafen. Bald würde Aeron sich nicht mehr zurückhalten können. Und wenn das geschah, bekam er gar keine Antwort mehr. Deshalb war er bereit aufzuhören, sich und die anderen Krieger neu zu sortieren und es am nächsten Tag noch mal zu versuchen. Die restlichen Jäger – zwei hatten sie aus Versehen umgebracht – würden sie solange sich selbst und ihren Gedanken überlassen. Was würde wohl mit ihnen geschehen? Manchmal war die Ungewissheit wirksamer als die Realität. Manchmal.

Doch Paris sah nicht aus, als wollte er aufhören. Der Mann war besessen – von mehr als nur seinem Dämon. Er hatte diesen Menschen Dinge angetan, die selbst Aeron, so kaltblütig er auch war, nicht ertragen hatte. Aber andererseits war Aeron auch nicht so wie sonst.

Vor Monaten hatten die Götter ihm aufgetragen, Danika Ford und ihre Familie zu töten, und er hatte emsig gegen den Blutrausch angekämpft, der ihn immer mehr vereinnahmt hatte. Gegen die Bilder dieser süßen Tode, die in seine Gedanken eindrangen: seine Hände, die ihnen die Kehlen zudrückten, seine Augen, die das Blut aus ihren Körpern laufen sahen, seine Ohren, die ihre letzten, gurgelnden Atemzüge vernahmen. Götter, er hatte sich mehr danach gesehnt als nach allem anderen auf der Welt.

Als das Verlangen endlich von ihm abgelassen hatte – obwohl er immer noch nicht wusste, warum –, hatte er sich davor gefürchtet, zu töten. Er hatte Angst, sich wieder in das Ungeheuer zu verwandeln, das er gewesen war. Dann waren er und die anderen Krieger nach Ägypten abgereist, und ein Krieg war ausgebrochen. Er war unfähig gewesen, die Hände bei sich zu behalten, und die Mordlust, vor der er sich so gefürchtet hatte, war zurückgekehrt und hatte ihn angetrieben.

Glücklicherweise hatte er sich beruhigt, ohne einem seiner Freunde etwas anzutun. Doch was, wenn es anders gekommen wäre? Damit hätte er nicht leben können. Einzig Legion war in der Lage, ihn zu beruhigen, und im Augenblick musste er ohne ihre Gesellschaft zurechtkommen.

Er ballte die Fäuste. Wer auch immer, was auch immer ihn beobachtete, er oder es musste damit aufhören- sonst kam Legion nicht zurück. Schade, dass diese unsichtbaren, durchdringenden Augen nicht in diesem Augenblick auf ihn schauten. Er war blutverschmiert und hatte einen zusammengeknüllten Lumpen in der Tasche – einen Lumpen, in den er den Finger eines der beiden toten Jäger gewickelt hatte. Dieser Anblick hätte den Voyeur womöglich für alle Zeit vertrieben.

Zuerst hatte er gedacht, es wäre Anya, die sich einen Scherz erlaubte. So etwas Ähnliches hatte sie schon einmal mit Lucien gemacht. Aber Legion fürchtete sich nicht vor Anya. Neben Lucien war sie vermutlich die einzige Bewohnerin der Burg, die das von sich behaupten konnte.

„Eine letzte Chance, um meine Frage zu beantworten“, sagte Paris ruhig und tippte mit dem Dolch gegen die blasse Wange des Jägers. „Wo sind die Kinder?“

Greg, sein Opfer, wimmerte. Speichel lief ihm aus dem Mund.

Er und Paris hatten die Jäger isoliert, sie hatten jeden in eine Zelle gesteckt. Auf diese Art brachten die Schreie, die sie dem einen entlockten, die anderen um den Verstand, weil sie sich zwangsläufig fragten, was die Herren ihren Gefährten gerade antaten. Die Gerüche von Urin, Schweiß und Blut, die die Luft anreicherten, taten ihr Übriges.

„Ich weiß es nicht.“ Greg heulte. „Sie haben es mir nicht gesagt. Ich schwöre bei Gott, dass sie mir nichts gesagt haben.“

Scharniere quietschten. Schritte hallten wider. Dann schlenderte Sabin in die Zelle. Sein Gesicht war starr vor Entschlossenheit. Jetzt wurde es richtig blutig. Niemand war entschlossener als Sabin. Mit einem Dämon wie Zweifel war die Entschlossenheit vermutlich das Einzige, das ihn nicht verrückt werden ließ.

„Was habt ihr herausgefunden?“, fragte er. Er zog einen Samtbeutel hervor, den er im Hosenbund getragen hatte, und legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Als er den Stoff langsam aufrollte, kamen glänzende Metallwerkzeuge zum Vorschein.

Greg schluchzte.

„Die einzige neue Information ist, dass unser alter Freund Galen“, Aeron sprach den Namen höhnisch aus und grinste, „von jemandem unterstützt wird, der sich – du wirst es nicht glauben – Misstrauen nennt.“

Sabin war wie erstarrt, während ihm die Worte offensichtlich durch den Kopf gingen. „Unmöglich. Wir haben Badens abgetrennten Kopf gefunden.“

„Genau.“ Kein Unsterblicher hätte das überlebt. Ein Kopf war nichts, das erneuert werden konnte. Andere Körperteile schon, aber nicht der Kopf. „Außerdem wissen wir, dass sein Dämon auf der Erde umherstreift und durch den Verlust seines Wirtes verrückt geworden ist. Ohne die Büchse der Pandora ist es unmöglich, ihn zu finden.“

„Es beleidigt mich, dass solche Worte überhaupt gesprochen wurden. Du hast den Jäger für seine Lüge natürlich bestraft, nicht wahr?“

„Natürlich“, kam Paris Aeron zufrieden grinsend zuvor. „Er ist derjenige, der seine eigene Zunge verspeisen durfte.“

„Wir sollten den hier in den Käfig sperren“, schlug Aeron vor. In den Zwangskäfig. Es war ein altes, mächtiges Artefakt – und zwar eines, das ihnen angeblich bei ihrer Suche nach der Büchse behilflich sein sollte. Jeder, den sie dort hineinsteckten, musste tun, was die Krieger ihm befahlen. Ausnahmslos. Na ja, beinah ausnahmslos. Als Aeron vom Blutrausch gepackt worden war, hatte er den Himmel angefleht, ihn in den Käfig zu setzen und ihm zu befehlen, sich von den Ford-Frauen fernzuhalten.

Autor

Gena Showalter
<p>Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.</p>
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