Die Klinik unter grünen Palmen

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Nach einer schweren Verletzung wird Chirurgin Mina nie wieder operieren können. Alles scheint verloren – bis ihr bester Freund Dr. Kiah Langdon vorschlägt, dass sie in seiner Inselklinik unterrichtet. Doch unter dem karibischen Himmel gerät ihre Freundschaft in Gefahr …


  • Erscheinungstag 12.12.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532570
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Als es unerwartet an der Tür klingelte, hob Dr. Mina Haraldson den Kopf vom Kissen. Sie hatte sich mit einem dicken Quilt zugedeckt, und nur der laufende Fernseher erhellte das Wohnzimmer. Benommen registrierte sie, dass gerade irgendetwas passiert war, doch sie hatte keine Ahnung, was, bis es erneut klingelte.

Sie brauchte nicht zu öffnen, denn sie hatte kein Essen oder sonst irgendetwas bestellt. Da sie ihre Eltern nicht mehr gebraucht hatte, waren diese nach Florida abgereist, wo sie normalerweise den Winter verbrachten. Ihr Bruder Braden war zu Hause in British Columbia. Erst vor vierundzwanzig Stunden hatte sie wie jeden Freitagabend mit ihm telefoniert. Sie hatte sich fröhlich gegeben und war offenbar überzeugend gewesen, sonst hätte er sie vermutlich ausgequetscht.

Vielleicht sollte sie nun, da sie nicht mehr als Ärztin arbeiten konnte, Schauspielerin werden. Schließlich war eine einhändige Schauspielerin glaubhafter als eine einhändige Ärztin.

Minas Augen füllten ich mit Tränen. Dann legte sie sich wieder hin und zog sich die Decke unters Kinn.

Sie fühlte sich so nutzlos.

Als es zum dritten Mal klingelte, presste sie flüchtig die Lippen zusammen. „Verschwinde!“

Das Wort hallte in ihrem Apartment wider, doch die Person unten in der Eingangshalle konnte es nicht hören und klingelte erneut.

Im nächsten Moment begann auch ihr Telefon zu blinken.

„Oh, verd…!“

Mina wand ihren Arm aus der Decke, um auf dem Boden danach zu tasten. Sie entsperrte den Bildschirm und las die Nachricht. Sofort ging ihr das Herz über.

„Kiah?“

Der anfängliche Schock wich einer so überwältigenden Freude, dass ihr schwindelig wurde. Was machte Kiah hier? Er hatte gesagt, er würde anlässlich der Hochzeit seiner Cousine nach Calgary reisen und anschließend nach Toronto kommen, doch das war erst am Fünfundzwanzigsten. Oder war es der Einundzwanziste?

Was war überhaupt für ein Datum? Was für ein Wochentag?

Mina konnte sich nicht mehr erinnern. Offenbar war ihr jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.

Als sie sich aufsetzen wollte, verfing sie sich in der Decke und musste deshalb beide Hände auf das Kissen stützen. Ein heftiger Schmerz in ihrem Stumpf durchzuckte ihren ganzen Arm, sodass sie fluchend auf die Couch sank und dabei das Telefon fallen ließ.

Obwohl seit dem Unfall ein Jahr vergangen war, gab es immer noch Momente, in denen sie es völlig vergaß. Vielleicht hatte sie sich in ihrem tiefsten Inneren noch nicht damit abgefunden, dass sie ihre linke Hand verloren hatte.

Bei jeder Erinnerung daran setzte ihr Herz einen Schlag aus, und sie wollte es nicht wahrhaben, genau wie an jenem Tag, als sie im Krankenhaus aufgewacht war und von der Amputation erfahren hatte.

Sie konnte das Telefon nicht finden. Schmerzerfüllt hielt sie sich mit der rechten Hand den linken Arm.

Aber es war Kiah, und sie durfte ihn nicht gehen lassen. Er war ihr ältester und bester Freund.

Sie hatte ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.

Mit den Füßen versuchte Mina, sich aus dem Quilt zu befreien. Mit dem Mobiltelefon konnte sie die Haustür unten öffnen, doch sie schaffte es nicht mit einer Hand. Also sprang sie auf und rannte zur Wohnungstür, um auf den Knopf der Gegensprechanlage zu drücken.

„Kiah. Kiah, bist du noch da?“

Da sie nichts hörte, dachte sie einen schrecklichen Moment lang, er wäre gegangen. Dann jedoch antwortete er mit seiner tiefen, melodischen Stimme.

„Natürlich bin ich noch hier, Mädchen. So leicht wirst du mich nicht los.“

Mina lehnte sich an die Wand, ihr war plötzlich schwindelig. Unter Tränen lächelte sie. „Komm rauf.“

Als sie auf den Knopf drückte, wurde ihr bewusst, wie es in ihrem Apartment aussah – auf dem Sofatisch lagen und standen einige benutzte Becher, ein alter Pizzakarton und zusammengeknüllte Papiertaschentücher.

Und sie sah auch nicht besser aus. Wann hatte sie sich zuletzt die Haare gewaschen? Seit mindestens zwei Tagen trug sie dasselbe Sweatshirt und dieselbe unförmige Jogginghose. Für einen Moment schämte sie sich, doch ihre Aufregung und ihre Freude überwogen.

Schließlich war es Kiah.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Wohnungstür und trat in den Flur. Die widersprüchlichsten Gefühle überkamen sie zuerst in heißen und anschließend in kalten Wellen.

Als das Signal des Aufzugs erklang, der sich um die Ecke befand, schien ihre Welt für einige Sekunden stillzustehen, um sich anschließend in Zeitlupe weiterzudrehen. Schließlich kam Kiah um die Ecke – dick angezogen, denn er kam von einer tropischen Insel in den kanadischen Winter.

Im Gehen zog er den Reißverschluss seines Parkas hinunter. Durch den Tränenschleier sah Mina, dass er sich verändert hatte. Er sah älter aus, hatte mehr Fältchen in den Augenwinkeln und einige graue Strähnen an den Schläfen. Aber sein Lächeln war so schön wie eh und je – seine weißen Zähne, die einen faszinierenden Kontrast zu seiner dunklen Haut bildeten, das Grübchen in seiner linken Wange.

Schon bei seinem Anblick löste sich etwas in ihr, und der Nebel, der sie umgeben hatte, lichtete sich.

„Oh, Kiah!“, rief sie, als Kiah vor ihr stand und sie in die Arme nahm. „Ich habe dich so vermisst!“

Und zu ihrer Bestürzung brach sie in Tränen aus.

Kiah hob Mina hoch und trug sie in ihr Apartment, froh, dass sie das Gesicht an seiner Schulter geborgen hatte und deshalb nicht sehen konnte, wie schockiert er war.

Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die alte Mina war immer perfekt gekleidet und selbstbewusst gewesen. Jetzt trug sie formlose Sachen, hatte strähniges Haar und war aschfahl, sodass er sie fast nicht wiedererkannt hätte. Außerdem hatte sie abgenommen.

Und sie schluchzte herzzerreißend. Inzwischen kannten sie sich seit über zwanzig Jahren, und er konnte die Male, die sie geweint hatte, an einer Hand abzählen. Aber selbst in jenen Momenten war sie nicht so aufgelöst gewesen. Sie hatte sich immer zusammengerissen. Dass sie sich nun derart gehen ließ, machte ihm große Angst.

Da er unter Frauen aufgewachsen war, wusste er, was man nicht zu einer schluchzenden Frau sagte. Deshalb setzte er sich mit Mina aufs Sofa und hielt sie fest. „Ich bin ja da, Süße. Ich bin da“, sagte er immer wieder.

Obwohl es ihm das Herz zerriss, sie so zu erleben, war er froh, dass er bei ihr war und sie trösten konnte, so, wie sie all die Jahre für ihn da gewesen war. Genauer gesagt, von der siebten Klasse an. Mrs. Nowacs Klasse.

Damals war er immer noch traumatisiert von dem Tod seines Vaters gewesen und hatte Angst vor der neuen Schule, vor dem neuen Leben gehabt. Von dem Moment an, als er den Fuß in die Moraine Academy setzte, hatte er gewusst, dass er nicht dorthin gehörte und nie gehören würde. Er und seine kleine Schwester Karlene waren nur auf die exklusive Privatschule gekommen, weil Mrs. Burton, die Arbeitgeberin seiner Mutter, ihre Beziehungen hatte spielen lassen und Stipendien für sie bekommen hatte. Und das hatte sie nur getan, weil die Schule in der Nähe ihres Herrenhauses lag und sie wollte, dass ihre Haushälterin ihr morgens zur Verfügung stand und nicht ihre Kinder zur Schule fuhr.

Da es keine Busverbindung gab, hatten sie die knapp sechs Kilometer immer zu Fuß gehen müssen. Die anderen Kinder waren gebracht worden und später selbst gefahren. Schon an ihrem ersten Tag bemerkten sie die spöttischen Blicke der anderen, weil sie keine Markensachen trugen. Er wünschte, sie wären wieder an ihrer alten Schule in Scarborough, wo sie beide im vergangenen Jahr Freunde gefunden hatten.

Nachdem er Karlene zu ihrem Klassenraum gebracht hatte, ging er zu seinem und wartete an der Tür, bis alle sich gesetzt hatten. Dann nahm er auf dem letzten freien Stuhl Platz, wobei er alle Blicke auf sich spürte und das Flüstern hörte.

„Wir haben einen neuen Schüler“, verkündete Mrs. Nowac. „Hezekiah Langdon. Bitte heißt ihn willkommen.“

„Hezekiah?“, spottete der Junge hinter ihm und trat dabei gegen seinen Stuhl. „Was ist das denn für ein dämlicher Name?“

Alle lachten, doch Kiah nahm es kaum wahr. Er wünschte nur, alles wäre so wie früher – bevor sein Vater gestorben und seine Mutter durchgedreht war. Er hatte geglaubt, in Kanada würde es schön werden, doch alles war den Bach hinuntergegangen. Sein Vater war derjenige gewesen, der alles zusammengehalten und ihnen die Liebe und Unterstützung gegeben hatte, die sie gebraucht hatten, während er dem Zorn und der Bitterkeit seiner Frau entgegenzuwirken versuchte.

Und nun, da er gestorben war, war die Welt dunkel und beängstigend.

Verzweifelt wünschte Kiah sich nach Sint Eustatius zurück. Dort wäre er wahrscheinlich am Strand entlanggelaufen oder hätte mit seinen Freunden Kricket gespielt.

„Es ist ein biblischer Name. Hezekiah war ein König von Judäa. Das solltest du eigentlich wissen, Justin. Ist dein Großvater nicht Pastor?“

Kiah hatte das Mädchen vor sich, das sich zu ihm umwandte, nebenbei registriert, aber gedacht, sie würde ihn genauso wie die anderen anstarren und sich über ihn lustig machen. Als er nun hörte, wie sie ihn verteidigte, begegnete er zum ersten Mal ihrem Blick.

Sie war so süß, dass sein Herz einen Schlag aussetzte. Ihre leicht schräg stehenden schokoladenbraunen Augen funkelten, und ihr dunkelblondes Haar umspielte ihr zartes ovales Gesicht. Später hatte sie ihm erzählt, dass sie die Augen von ihrer koreanischen Mutter geerbt hatte und ihre Haare getönt waren. Allerdings hatte sie nicht so dunkles Haar wie ihre Mutter. Mr. Haraldson, ihr Vater, war fast weißblond, und seiner Meinung nach hatte Mina das Erbe ihrer koreanischen Mutter und ihres skandinavischen Vaters perfekt in sich vereint.

„Das reicht jetzt, Mädchen und Jungs“, ermahnte Mrs. Nowac die Klasse, woraufhin Mina sich wieder umdrehte.

„Wir sprechen uns später, Mina Haraldson“, flüsterte Justin daraufhin gerade so laut, dass Mina es hören konnte.

„Versuch’s doch“, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen.

Und obwohl seine Mutter ihm Prügel angedroht hatte, falls er in der Schule Probleme machte, wandte Kiah sich um und warf Justin einen finsteren Blick zu.

„Ja, Justin.“ Er machte sich nicht die Mühe, seinen Akzent zu verbergen. „Versuch’s doch.“

Als Mina sich daraufhin zu ihm umwandte und schalkhaft lächelte, fühlte er sich plötzlich viel besser, als wäre das Leben doch lebenswert.

Sie kam aus einer angesehenen Familie und war in der Schule beliebt, kein Außenseiter wie er. Doch sie gab sich große Mühe, ihn zu integrieren, und nach einer Weile akzeptierten ihre Freundinnen und Freunde ihn auch.

Seine Mutter war nicht begeistert über ihre Freundschaft. Allerdings konnte sie sich ohnehin für nichts begeistern.

„Du solltest keine Zeit mit diesem Mädchen verbringen“, sagte sie mit einer drohenden Geste. „Ihr beide habt nichts gemeinsam, und wenn ihr Vater davon erfährt, wird er nicht glücklich sein.“

„Wir sind nur Freunde“, protestierte er.

„Dann sieh zu, dass es dabei bleibt. Wir wollen hier keinen Ärger.“

Natürlich wusste er, was sie meinte. Die Haraldsons waren reich, genau wie Mrs. Burton, und er war ein dahergelaufener kleiner schwarzer Junge, der Sohn der Haushälterin ihrer Nachbarin. Zu seiner Überraschung war allerdings genau das Gegenteil der Fall gewesen, als Minas Vater von ihrer Freundschaft erfuhr.

Ohne sie und ihre Familie, die ihn behandelten, als würde er dazugehören, wäre er verloren gewesen, und wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre? Anders als seine Mutter waren sie in seinen schlimmsten Momenten immer für ihn da gewesen.

Knapp einen Monat vor seiner ersten Begegnung mit Mina hatte er den tödlichen Herzinfarkt seines Vaters miterlebt, der ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Minas Freundschaft hatte ihm dabei geholfen, dieses traumatische Erlebnis zu verarbeiten, ebenso wie dabei, mit den immer schlimmer werdenden Wutanfällen seiner Mutter umzugehen. Und als seine Schwester gestorben war, war Mina die Erste gewesen, die er angerufen hatte.

Sie war seine beste Freundin, und nun musste er ihr zurückgeben, was sie ihm gegeben hatte.

Als Mina aufhörte zu schluchzen, beugte Kiah sich vor, um die Schachtel mit den Papiertaschentüchern vom Couchtisch zu nehmen. Den benutzten Taschentüchern nach zu urteilen, weinte sie nicht zum ersten Mal. Nachdem er einige herausgezogen hatte, drückte er sie ihr in die Hand. Dabei fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sie den linken Arm so hielt, dass er den Stumpf nicht sah.

Wieder brach es ihm das Herz.

„Tut mir leid“, murmelte sie, während sie sich die Tränen wegwischte.

„Was?“

„Dass ich dir die Ohren voll geheult habe, natürlich.“ Sie barg das Gesicht an seinem Hals. „Dass ich so ein Häufchen Elend bin.“

Er lachte, denn als Häufchen Elend hatten sie bisher immer weinerliche Menschen bezeichnet. Und so war Mina überhaupt nicht.

Und für ihre Tränen hätte sie sich auch nicht zu entschuldigen brauchen. Vielmehr dafür, dass sie ihm nicht erzählt hatte, wie schlecht es ihr ging, und ihn nicht um Hilfe gebeten hatte. Noch während er nach den richtigen Worten suchte, seufzte sie und entspannte sich. Im nächsten Moment nickte sie so unvermittelt ein, dass er sich fragte, wie viel Schlaf sie sich in letzter Zeit gegönnt hatte.

Kiah machte es sich mit ihr im Arm auf dem Sofa bequem. Später würde er sie in ihr Bett verfrachten, aber noch nicht, denn sie schien das hier zu brauchen.

Vorsichtig umfasste er ihren linken Arm und hob ihn hoch, um ihren Stumpf zu betrachten. Ihn wunderte, dass sie keine Kompressionsbandage trug, denn er hatte gelesen, dass es Ödeme verhinderte und wichtig für die spätere Anpassung der Prothese war.

Er wollte sie so vieles fragen, um zu erfahren, wie sie mit dem Verlust ihrer Hand zurechtkam. Er hatte es bereits am Telefon versucht, doch sie hatte immer das Thema gewechselt und nur über ihre Scheidung von dem Schleimer Warren reden wollen. Allein der Gedanke an ihren Ex-Mann brachte ihn auf, aber Kiah verdrängte seine Abneigung. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um wütend zu werden.

Genauso wie es nicht der beste Zeitpunkt für Tränen war, als er ihren Stumpf betrachtete. Das Letzte, was Mina wollte oder brauchte, war sein Mitgefühl.

Sie war immer ehrgeizig, beherrscht und furchtlos gewesen. Und sie hatte immer einen Plan gehabt. Sie in diesem Zustand zu sehen, war fast unerträglich.

Nachdem er ihren Arm etwas höher gehoben und ihn über der Amputationsstelle geküsst hatte, legte er ihn ihr vorsichtig wieder auf den Bauch und zog den Ärmel über den Stumpf.

„Ich bin bei dir, Süße“, flüsterte er, bevor er sie auch auf den Schopf küsste. „Kiah ist bei dir.“

2. KAPITEL

Langsam erwachte Mina aus einem traumlosen Schlaf – dem ersten seit langer Zeit. Obwohl ihr die Augen brannten, fühlte sie sich ausgeruht. Das war so ungewöhnlich, dass sie für eine Weile still liegen musste, um es auszukosten.

Dann erinnerte sie sich.

„Kiah!“

Verdammt, sie musste eingeschlafen sein, nachdem sie ihm am Vorabend die Ohren voll geheult hatte! War er gegangen?

Dann hörte sie leise Reggaeklänge aus dem Wohnzimmer und Geräusche aus der Küche. Und …

„Mmh“, murmelte sie und schlug die Decke zurück. „Gebratener Speck.“

Als sie die Schlafzimmertür öffnete, sah sie ihn am Herd stehen und sich dabei im Rhythmus der Musik bewegen. Lächelnd lehnte sie sich an den Türrahmen, um ihn zu betrachten.

Als würde er es spüren, blickte er über die Schulter. Sein Lächeln wärmte sie innerlich.

„Ah, endlich bist du wach.“ Er deutete mit dem Pfannenwender auf sie. „Schlafmütze.“

„Ja.“ Erneut wurde Mina ihr Aufzug bewusst. „Kann ich vor dem Frühstück noch duschen?“

„Klar“, erwiderte er leichthin. „Aber beeil dich, sonst wird alles kalt.“

„Mache ich.“ Ihr Magen protestierte. Sie nahm den Duft von gebratenen Kochbananen wahr. Es war viel zu lange her, seit sie die Spezialität der Insel zum letzten Mal gegessen hatte. Offenbar hatte Kiah eingekauft, als sie schlief, denn sie hatte nichts zu essen im Haus gehabt.

Während sie unter der Dusche stand und sich die Haare wusch, versuchte sie, nicht daran zu denken, dass er sie nach dem Frühstück ausquetschen würde. Seit dem Unfall hatten sie mindestens alle zwei Wochen telefoniert, und Kiah hatte sie oft nach ihrem Arm gefragt, und zwar sowohl als Freund als auch als Arzt. Sie hatte jedoch nicht über den Verlust ihrer Hand sprechen wollen und war ihm ausgewichen.

Es war einfacher gewesen, ihm zu erzählen, unter welchen Umständen Warren sie verlassen hatte – so peinlich es ihr auch gewesen war, all die schrecklichen Dinge zu wiederholen, die ihr Ex ihr an den Kopf geworfen hatte. Zum Beispiel, dass er sich nicht mehr mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen wollte. Dass ihr Stumpf ihn abstieß und er nicht mehr von ihrer Beziehung profitierte. Erst später hatte sie erfahren, dass er sie sogar schon vor dem Unfall betrogen hatte und sie ohnehin hatte verlassen wollen. Dass er den Verlust ihrer Hand nur als Vorwand benutzte, bewies nur, was für ein Idiot er war.

So hatte sie Kiah lieber von ihrer Auseinandersetzung mit Warren erzählt. Er hatte versucht, die Situation auszunutzen und sie finanziell zu übervorteilen und damit Seiten an sich offenbart, die sie in den Jahren ihrer Ehe ignoriert hatte. Warren hatte sich als Schwindler entpuppt. Es passte zu den Praktiken in seiner Anwaltskanzlei, mit denen er geprahlt hatte, doch sie hätte nie gedacht, dass er sich auch ihr gegenüber so verhalten würde. Zumal er die Scheidung eingereicht hatte.

Zum Glück hatte sein niederträchtiges Verhalten ihr aus der depressiven Phase geholfen, die sie nach dem Verlust ihrer Hand durchlebt hatte. Sie hatte sich eine Anwältin gesucht, die in Toronto als Rottweiler bezeichnet wurde und Warrens früheren Worten zufolge die einzige Kollegin war, der er nie im Familiengericht hatte begegnen wollen. Jalissa Chang hatte für sie alles erkämpft, was ihr zustand, und noch ein bisschen mehr.

Mina war wütend gewesen – vor allem auf sich selbst –, und das hatte ihr Kraft verliehen. Obwohl ihr schon länger bewusst geworden war, dass es zwischen ihnen nicht gut lief, hatte sie die Probleme ignoriert und auf ihre stressigen Jobs geschoben. Inzwischen fragte sie sich allerdings, ob sie sich je wieder auf ihre Menschenkenntnis verlassen konnte.

Warren und sie waren seit ihrem sechzehnten Lebensjahr zusammen gewesen. Warum war ihr nicht schon vor langer Zeit klar geworden, wie egoistisch und unmoralisch er war? Außerdem hatte er immer gesagt, er wäre noch nicht bereit für Kinder und wollte vor allem ihre Karriere nicht gefährden. Im Nachhinein war ihr bewusst, dass er eigentlich nie Kinder gewollt hatte, und damit kam sie nicht so gut zurecht. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht, aber dieser Traum würde angesichts ihres Alters, ihrer Arbeitslosigkeit und ihres Status als Single wohl nicht mehr in Erfüllung gehen.

Genauso wie sie die meisten Pläne, die sie einmal geschmiedet hatte, nicht mehr verwirklichen konnte.

Obwohl sie in ihren dunkelsten Momenten geglaubt hatte, es wäre Warrens gutes Recht, sie zu verlassen, konnte sie ihm seine Gemeinheit nicht verzeihen. Also hatte sie sich auf das Scheidungsverfahren und die Trennungsvereinbarung konzentriert. Das Ganze hatte fast ein Jahr gedauert.

Und dann war ihr alles entglitten.

Sie war noch nie damit klargekommen, wenn sie nichts zu tun hatte. Wenn sie nichts planen oder sich auf nichts freuen konnte.

„Aber jetzt freust du dich auf das Frühstück mit deinem besten Freund“, sagte Mina laut, während sie ihr Haar ausspülte. „Also brauchst du dich heute nicht selbst zu bemitleiden.“

Als sie in frischen Sachen aus dem Schlafzimmer kam, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Prompt verspürte sie einen Anflug von Schuldgefühlen, denn Kiah hatte in der Zwischenzeit aufgeräumt.

In seiner Nähe war ihr Leben immer schöner, und sie würde es für die kurze Zeit seines Besuchs genießen.

„Komm, Faulpelz“, sagte er, während er zwei Teller mit gebratenem Speck, Rührei, Toast und Kochbananen auf den Tisch stellte. „Ich bin am Verhungern.“

„Ich fasse es nicht, dass ausgerechnet du mich so nennst, Mr. Langschläfer.“

„Ha“, sagte er, und zog ihr einen Stuhl heraus. „Die Zeiten sind lange vorbei, nun, da ich mich um Charm kümmere.“ Er verzog das Gesicht, und seine Miene verriet Liebe und Belustigung. „Manchmal trauere ich den Zeiten nach.“

Mina war erleichtert, weil er nicht über ihren Arm oder ihre Scheidung sprach. „Wie geht es Charm? Und Miss Pearl?“

„Charm wächst rasant. Kaum zu glauben, dass sie schon fast zwölf ist. Und Granny geht es gut, wenn man ihr Alter und ihre früheren gesundheitlichen Probleme bedenkt.“

Seine Großmutter hatte kurz nach seiner Qualifikation zum Allgemeinmediziner einen Schlaganfall erlitten, und seit dem vorzeitigen, tragischen Tod seiner Schwester Karlene war er der Vormund für seine Nichte. Ursprünglich war er wegen des schlechten Gesundheitszustands seiner Großmutter nach Sint Eustatius zurückgekehrt, und obwohl diese sich völlig von ihrem Schlaganfall erholt hatte, war er dortgeblieben. Natürlich konnte Mina verstehen, dass es seine Heimat war und er bei seiner Familie sein wollte, doch sie war oft traurig darüber gewesen, dass er nicht mehr nach Kanada zurückgekehrt war.

Sie hatte ihn so vermisst.

„Zwölf ist sie schon?“ Als Charm zur Welt kam, hatte sie in dem Krankenhaus gearbeitet. So lange schien es noch gar nicht her zu sein. „Wahnsinn.“

Kiah, der mit großem Appetit zu essen begonnen hatte, nickte nur. Allerdings war sie sich seiner Blicke bewusst, zumindest bis sie ihre Gabel in die Hand nahm und ebenfalls anfing. Dann entspannte er sich und konzentrierte sich auf seinen Teller.

Beim Essen plauderte er über unverfängliche Dinge. Er erzählte ihr, dass Charm Tanzunterricht nahm und später Sängerin werden wollte, und berichtete ihr von der Hochzeit seiner Cousine am vergangenen Wochenende.

„War deine Mutter auch da?“

Er schüttelte den Kopf und schluckte. „Ich hatte befürchtet, dass sie auftauchen würde, obwohl sie nicht eingeladen war, aber zum Glück war es nicht der Fall. Anscheinend bin ich nicht der Einzige, den sie aus ihrem Leben gestrichen hat.“

„Sicher nicht“, bestätigte sie. Auf keinen Fall würde sie ihn fragen, ob er seine Mutter besuchen würde, während er in Toronto war.

Solange sie ihn kannte, war seine Beziehung zu seiner Mutter schwierig, und er hatte oft gesagt, dass er glaubte, sie hätte eine nicht diagnostizierte Geistesstörung. Ihrer Meinung nach hatte Mrs. Langdon vielmehr psychische Probleme. Zu Außenstehenden konnte sie sehr nett sein, aber ihren Kindern gegenüber war sie egoistisch, gemein und kontrollsüchtig. Sie gehörte zu den Menschen, die anderen ihr Glück nicht gönnten, nur weil sie selbst unglücklich war.

Nach Karlenes Tod und seiner letzten großen Auseinandersetzung mit seiner Mutter hatte Miss Pearl ihre Vermutung bestätigt und zu ihm gesagt: „Ich kenne deine Mutter seit ihrer Kindheit, und ihre Eltern haben ihr immer das Gefühl vermittelt, dass sie der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Dein Vater, Gott hab ihn selig, hat sie nach der Heirat auch so behandelt. Sie musste immer ihren Willen durchsetzen, und wenn sie ihn nicht bekommt, lässt sie ihren Frust an anderen aus.“

Diese schwierige und oft beängstigende Beziehung zu seiner Mutter hatte bei Kiah in vieler Hinsicht Narben hinterlassen.

Aber offenbar wollte er nicht mehr über diese reden, denn er wechselte das Thema. „Ich habe Roydon gefragt, welcher normale Mensch im Januar in Calgary heiratet, und weißt du, was er geantwortet hat?“

„Was?“, fragte Mina.

Das ist doch der beste Zeitpunkt. Ich verbringe meine Flitterwochen an einem warmen Ort, während alle anderen hier sind und frieren. Sie fliegen für zwei Wochen nach Mexiko.“

„Gegen das Argument ist nichts einzuwenden“, sagte sie lachend. So leicht war ihr schon lange nicht mehr ums Herz gewesen. „Die Glücklichen!“

Aber trotz des unverfänglichen Themas war sie nervös, als Kiah mehr von der Hochzeit erzählte, weil sie wusste, dass er ihr bald persönliche Fragen stellen würde.

Er war früher mit dem Essen fertig als sie und lehnte sich zurück, seinen Kaffeebecher in der Hand. Prompt verspannte sie sich.

„Ich möchte mit dir reden.“

Jetzt kommt’s.

Betont lässig spießte Mina ein Stück Schinken auf und deutete mit der Gabel auf ihn. „Worüber?“

„Ich möchte, dass du mit mir nach Sint Eustatius kommst und dort in der Orthopädie arbeitest.“

Fassungslos blickte sie ihn an, die Gabel nur wenige Zentimeter von ihrem Mund entfernt. „Was?“

Offenbar merkte Kiah ihr an, wie schockiert sie war, denn er hob die Hand und beugte sich vor. „Hör mir zu. Es gibt in der Karibik einen neuen Klinikverband, dem Sint Eustatius sich angeschlossen hat. Er gibt neuen Ärzten die Chance, verschiedene Inseln zu besuchen und dort von den Fachärzten zu lernen. Du kannst uns bei den Vorbereitungen helfen, für den Fall, dass wir in das Programm aufgenommen werden.“

Noch immer sah sie ihn völlig entgeistert an, und schließlich stieß er einen ungeduldigen Laut aus.

„Verstehst du es denn nicht? Wir haben hervorragende Ärzte, aber das ist eine ganz neue Welt für uns. Da wir kein Lehrkrankenhaus sind, wissen wir noch nicht genau, wie wir ein umfassendes Ausbildungsprogramm erstellen können. Und du kennst dich auf dem Gebiet hervorragend aus und könntest deine Fachkenntnisse anwenden. Und gleichzeitig könntest du dich chirurgisch weiterbilden. Es wäre nur für einige Monate oder so lange, wie du brauchst, um das Programm zu erstellen.“

Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie, und Zorn flammte in ihr auf.

„Bist du verrückt?“ Mina merkte, dass sie schrie, aber sie konnte nicht anders. Sie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umfiel. „Was kann eine einhändige Ärztin schon ausrichten? Bin ich überhaupt noch Ärztin?“

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