Die Liebe ist ein sinnliches Spiel

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Sir Develin Dundrake liebt das Glückspiel – bis er die Mitgift der jungen Theodora gewinnt. Denn die plötzlich verarmte Lady verlangt von ihm, dass er sie heiratet. Nur zum Schein, aber schon die betörenden Verlockungen der Hochzeitsnacht machen Develin klar, dass er sich diesmal verspielt hat: Sein Herz ist der Einsatz!


  • Erscheinungstag 28.07.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745753356
  • Seitenanzahl 184
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Cumbria, Nordengland, 1814

E inen leisen Fluch auf den Lippen erhob sich Sir Develin Dundrake von dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer von Dundrake Hall. Während er durch den mit Eichenholz getäfelten Raum zu den französischen Türen ging, die auf die Terrasse führten, beobachtete er verwundert, wie eine Frau über den Kiesweg auf seinen Landsitz zumarschierte. Aus ihrer unansehnlichen Aufmachung und der entschlossenen Miene folgerte er, dass es sich um irgendeine Wichtigtuerin aus dem Dorf handelte, die Spenden für einen wohltätigen Zweck sammelte. Weshalb sollte sich auch sonst jemand an einem kalten, nebligen Herbstmorgen wie diesem hinauswagen? Aber fiel dieser Person wirklich nichts Besseres ein, als sich dem Herrenhaus von der Gartenseite zu nähern?

Doch wer sie auch war, und was auch immer sie wollte, es passte ihm gerade gar nicht, belästigt zu werden, ganz gleich, wie edel die Beweggründe auch sein mochten. Er gab bereits eine beträchtliche Summe für eine ganze Reihe von wohltätigen Unternehmungen aus. Überdies hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah wieder hinaus und erschrak fast zu Tode. Die Fremde stand direkt vor der französischen Tür und starrte wie ein Geist durch die Scheiben in sein Arbeitszimmer.

Es handelte sich um einen erstaunlich jungen und keinesfalls hässlichen Geist, ungeachtet der scheußlichen dungfarbenen Pelisse und dem schlaff herabhängenden Strohhut.

Er öffnete die Terrassentür. „Wer sind Sie, und was wollen Sie?“, fragte er barsch.

Die junge Frau zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Er glaubte schon, sie würde den Rückzug antreten, als sie stolz den Kopf hob. Er blickte in ihr ganz und gar nicht reizloses Gesicht und sah, wie sich ihre bogenförmigen Brauen über den sturmgrauen Augen senkten. Die Flügel ihrer schmalen Nase weiteten sich, und sie kniff die prallen Lippen zusammen. „Guten Morgen, Sir Develin. Sie sind doch Sir Develin Dundrake, nicht wahr?“, fragte sie mit überraschend heiserer Stimme.

„Besucher sollten sich am Hauseingang melden“, erwiderte er unfreundlich und vermied es, ihre Frage zu beantworten.

„Habe ich gerade die Ehre, mit Sir Develin Dundrake zu sprechen?“

Lag da etwa Sarkasmus in ihrer Stimme? „Ja, ich bin Sir Develin“, antwortete er ein wenig freundlicher. Falls sie tatsächlich in wohltätiger Mission unterwegs war, wollte er nicht unhöflich sein, auch wenn sie mit ihrer Vorgehensweise die Etikette missachtete.

„Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht am Hauseingang um Einlass gebeten habe“, sagte die junge Frau, wobei ihre Stimme weder Reue noch Bedauern verriet. „Ich hatte vor, zur Vordertür zu laufen, bis ich Sie sah. Da ich in einer sehr persönlichen Angelegenheit zu Ihnen komme, beschloss ich, Sie lieber direkt und ganz privat anzusprechen.“

Das hatte sie also beschlossen. Sie schien nicht zu ahnen, wie wenig er ihre Entschlossenheit zu schätzen wusste. Sein Vater hatte auch eine solche Rigorosität verkörpert. Was die sehr persönliche Angelegenheit anbelangte, war er sich sicher, der jungen Frau nie zuvor begegnet zu sein. Nicht zuletzt hätte er sich an diese großen Augen und an die sinnlichen Lippen erinnert.

Dennoch kam ihm etwas an ihr bekannt vor.

„Dürfte ich vielleicht hineinkommen?“, fragte sie. „Wenn Sie es bevorzugen, können wir natürlich auch hier stehen bleiben. Auf jeden Fall muss und werde ich heute mit Ihnen sprechen, Sir Develin, ganz gleich ob im Garten oder in Ihrem Haus.“

Wie entschlossen diese Frau auch sein mochte, es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, sie von seinem Grundstück entfernen zu lassen. Er hätte sie sogar wegen widerrechtlichen Betretens anzeigen können.

Nichts dergleichen tat er. Was er stattdessen tat, wunderte ihn selbst auch noch im Nachhinein. Er machte die Tür weiter auf und trat zur Seite, um ihr Einlass zu gewähren.

Die junge Frau ging in sein Arbeitszimmer und blieb vor dem Kamin aus Marmor stehen. Darüber hing ein Porträtbild von seinem Vater, das sie fasziniert betrachtete. Auf dem Gemälde hatte Sir Randolf Dundrake eine Hand zur Faust geballt, während die andere auf einem Buch lag, obgleich der Porträtierte nach seiner Schulzeit nie wieder ein Buch gelesen hatte. Der Hintergrund bestand nur aus einem dunklen Vorhang, der das harte blasse Gesicht wie eine Maske wirken ließ. Sein schwarzes Haar war kräftig wie das seines Sohnes und an der hohen Stirn nach hinten gebürstet. Auch die braunen Augen und das Kinn hatte Dev vom Vater geerbt, aber glücklicherweise nicht dessen dünne Lippen und die breite Nase.

Die junge Frau drehte sich zu ihm um. „Das sind nicht Sie.“

„Nein, in der Tat nicht“, bestätigte er und fragte sich, ob er nach dem Butler läuten sollte.

Er ging auf die Klingelschnur zu.

„Ich bin Lady Theodora Markham.“

Du liebe Güte! Dev versuchte, sich zu beruhigen, holte tief Luft und wandte sich ganz langsam zu ihr um. „Wie bitte?“

Er hatte ihren Namen mehr als deutlich vernommen und wollte nur Zeit gewinnen.

„Ich bin Sir John Markhams Tochter. Gewiss erinnern Sie sich an den Namen. Mein Vater verlor vor zwei Wochen beim Spiel in London eine beträchtliche Summe an Sie.“

Ob er sich an den Namen erinnerte? Ganz sicher würde er weder den Namen noch Sir John Markham vergessen! Allerdings hatte Sir John darauf bestanden, das Spiel fortzusetzen, obwohl er zu verlieren begann. Als Dev das Spiel hatte beenden wollen, war der Mann so weit gegangen, ihn einen schlechten Verlierer und Feigling zu nennen. Daraufhin hatten sie weitergespielt, bis der Mann das gesamte Geld verloren hatte, das er bei sich trug, und überdies mehrere Wechsel unterschrieben hatte. Erst als Dev erkannt hatte, dass der Mann niemals aufgeben würde, hatte er nicht mehr auf Sir Johns verächtliche Kommentare geachtet und sich einfach vom Spieltisch entfernt.

Seit jenem Abend hatte er beinahe damit gerechnet, dass Sir John an seiner Türschwelle erscheinen würde, um sich mehr Zeit zur Tilgung der Schulden zu erbitten. Das wäre schon unerfreulich genug gewesen. Doch stattdessen die eigene Tochter als Bittstellerin vorzuschicken, kam Dev geradezu niederträchtig vor.

An seinem Dilemma änderte das nichts. Wie sollte er mit dieser Frau umgehen, die so selbstbewusst und unverblümt auftrat?

Bevor er einen Entschluss fassen konnte, ergriff sie erneut das Wort. „In der Tat verlor mein Vater alles an Sie, was noch von seinem Vermögen übrig war und auch die Summe, die als Mitgift für mich vorgesehen war.“

Obgleich dies eine unwillkommene und belastende Neuigkeit war, bemühte sich Dev um eine unschuldige Miene. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass der Mann nicht aufgehört hatte. „Er hatte die Wahl, zu spielen oder es zu lassen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff ‚Wahl‘ zutreffend ist“, entgegnete Lady Theodora. „Vermutlich ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass er vor einiger Zeit unseren Landsitz verkauft hat, ebenso wie alles Porzellan, die Pferde und die Kutschen, um seine Spielschulden zu bezahlen. Alles, was uns noch blieb, waren ein paar Kleidungsstücke und das Geld, das er in jener Nacht an Sie verlor.“

„Sind Sie gekommen, damit ich ihm die Schulden erlasse?“, fragte Dev, dem diese Lösung die einfachste erschien, um die Frau loszuwerden und sein Gewissen zu beruhigen. „Oder möchten Sie sich von mir Geld leihen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin keine Bettlerin, Sir Develin.“

Verwundert zog er die Brauen zusammen. „Weshalb sind Sie denn sonst gekommen? Wenn es Ihnen darum geht, mir Vorwürfe zu machen, können Sie sich die Mühe sparen. Ich habe Ihrem Vater jede erdenkliche Möglichkeit gegeben, das Spiel zu beenden.“

Sie errötete, wandte aber den festen Blick nicht von ihm ab. „Wie auch immer es dazu gekommen ist, Sie sind der Profiteur der letzten Spieleinsätze meines Vaters.“

Ihm kam ein schrecklicher Gedanke in den Sinn. Viele Männer hatten sich schon wegen geringerer Schulden das Leben genommen. „Warum ist Ihr Vater nicht selbst zu mir gekommen?“

„Er ist auf dem Weg nach Kanada.“

Er atmete erleichtert auf. „Ohne Sie?“

Die Röte ihrer Wangen vertiefte sich. „Er schämte sich zu sehr, um mir von seinen Plänen zu erzählen. Er hinterließ mir einen Brief, in dem er erklärt, weshalb er nach Halifax segelt.“

„Du meine Güte! Und er hat Sie mit Nichts zurückgelassen?“, rief Dev bestürzt.

Lady Theodora straffte die schmalen Schultern. „Er ließ mir meinen Namen und meinen Stolz, Sir Develin, und die Hoffnung auf seine mögliche Rückkehr. Wie dem auch sei, ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über die Handlungsweise meines Vaters zu reden. Ich habe einen geschäftlichen Vorschlag.“

Einen geschäftlichen Vorschlag? Das kam ebenso unerwartet wie ihr Erscheinen.

„Der Großteil der Summe, die Sie von meinem Vater gewonnen haben, war als meine Mitgift vorgesehen“, fuhr sie rasch fort, sodass er keine Gelegenheit hatte, sie mit einer Frage oder einer Bemerkung zu unterbrechen. „Da Sie bereits die Mitgift haben, schlage ich vor, dass Sie jetzt auch die Braut nehmen.“

Dev war ein Mal in seinem Leben bewusstlos geschlagen worden. Jetzt fühlte er sich ähnlich. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich sagte, dass Sie bereits die Mitgift haben und daher auch die Braut nehmen sollten.“

Er konnte noch immer nicht glauben, dass er sie richtig verstand. „Was meinen Sie denn damit?“

Sie blickte ihn fest mit ihren ernsten grauen Augen an und antwortete: „Ich meine, dass Sie mich heiraten sollten, Sir Develin.“

„Heiraten?“

„Ja“, bestätigte sie. „Ich benötige ein Zuhause, und Sie benötigen eine Ehefrau. Sie sind beinahe dreißig Jahre alt, sind reich und attraktiv und tragen einen Titel. Da Sie noch keine Frau zur Braut genommen haben, gehe ich davon aus, dass Sie die Freiheit zu schätzen wissen, zu tun, was Sie wollen und mit wem immer Sie möchten. Da Sie jedoch gut aussehend und reich sind und einen Titel tragen, werden Sie sich derzeit vermutlich kaum vor heiratswilligen Debütantinnen und deren Müttern retten können. Wenn Sie mich heiraten, erhalten Sie als Gegenleistung für die Sicherheit, die für mich damit verbunden ist, eine Ehefrau, die Ihnen den Haushalt führt und sich um die gesellschaftlichen Verpflichtungen kümmert. Meine Familie ist zwar arm, aber das war nicht immer so. Ich bin gut erzogen, gebildet und weiß, was von der Gattin eines Baronets erwartet wird. Aber vor allem würde ich Ihnen Ihre Freiheit lassen. Ich werde nicht danach fragen, wohin Sie gehen und was Sie mit wem tun. Kurz und gut, ich will eine gesicherte Existenz, und Sie könnten das sorgenfreie Leben eines Junggesellen fortsetzen, ohne Schuldgefühle gegenüber Ihrer Ehefrau zu haben und ohne von heiratswilligen Damen belästigt zu werden.“

Dev starrte sie ungläubig an. Diese ernste, unverfrorene und schäbig gekleidete junge Frau, die da vor ihm stand, hatte ihm gerade den unerhörtesten Vorschlag unterbreitet, der ihm je zu Ohren gekommen war! Auch wenn ihre Argumente durchaus schlüssig klangen … Es blieb ein haarsträubender Vorschlag, der überhaupt nicht infrage kam. „Das soll wohl ein schlechter Scherz sein“, sagte er schließlich.

„Sie können sicher sein, dass ich es vollkommen ernst meine“, erwiderte sie ruhig. „Als mittellose Aristokratin bleiben mir nur wenige Möglichkeiten. Ich könnte eine Anstellung als Gouvernante, Lehrerin oder Gesellschafterin annehmen. Doch ich wollte zunächst wissen, ob Sie bereit sind, ein gewisses Maß an Verantwortung für Ihre Handlung zu übernehmen, wenn Sie sich dadurch zugleich einige Schwierigkeiten ersparen.“

Inzwischen hatte er die Fassung zurückgewonnen. „Ich habe Ihren Vater nicht in diese Spielhölle geschleppt oder ihn dazu gezwungen, Karten zu spielen. Ich bin auch nicht derjenige, der Sie völlig mittellos zurückgelassen hat. In dieser Hinsicht ist mein Gewissen rein“, erklärte er, auch wenn das nicht ganz stimmte.

Zwar bedauerte er die Geschehnisse jenes fraglichen Abends, aber deshalb hatte er noch lange nicht die Absicht, sich zeitlebens an diese seltsame Frau zu binden.

Zumindest redete er sich das ein, bis er sich an den letzten Ball erinnerte, den er besucht hatte. Die Frauen hatten sich an ihn herangepirscht wie hungrige Katzen an eine Maus. Seine Einwände schwanden weiter, als er an die Falle dachte, die ihm die Tochter des Duke of Scane oder vielleicht auch deren Mutter hatte stellen wollen.

Gewisse Dinge in seinem derzeitigen Leben schätzte Lady Theodora vollkommen richtig ein. Welche andere Dame würde ihm schon ohne zu murren nach der Heirat seine Freiheiten lassen?

Ihm fiel keine ein.

Doch unabhängig von den Vorzügen ihres Vorschlags hatte sie offenbar einen wichtigen Aspekt außer Acht gelassen. „Nehmen wir einmal an, ich würde auf Ihren abwegigen Vorschlag eingehen. Wie verhält es sich dann mit Kindern, Lady Theodora? Haben Sie das bei Ihrer Planung berücksichtigt? Ich würde einen Erben haben wollen und wenigstens ein weiteres Kind.“

Er hatte gedacht, damit den wunden Punkt getroffen zu haben, aber sie hob nur den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. „Ich bin kein dummes kleines Schulmädchen, Sir Develin. Ich werde tun, was erforderlich ist.“

„Erforderlich? Das klingt nicht sehr verlockend“, bemerkte er trocken.

Sie hob eine Braue. „Nach dem, was man hört, benötigen Sie keine große Ermutigung.“

Er war nicht gewillt, sich für sein natürliches Verlangen zu schämen. „Ich genieße die Freuden des Schlafzimmers und werde mich gewiss nicht dafür entschuldigen.“

„Entschuldigungen werden auch nicht vonnöten sein“, erwiderte sie. „Wie bereits erwähnt, werde ich die Erwartungen an eine Ehefrau erfüllen und gehe davon aus, dass auch Sie Ihren ehelichen Pflichten nachkommen. Was Sie darüber hinaus tun, ist ganz allein Ihre Sache.“

Er schlenderte auf sie zu. „Vorausgesetzt, dass ich in dieses Geschäft einwillige.“

Sie nickte. „Ja, vorausgesetzt, dass Sie einwilligen.“

„Vielleicht könnte ich das ja“, murmelte er, bevor er sie an sich zog und sie auf den Mund küsste.

Thea war so überrascht, dass sie sich im ersten Moment am liebsten von ihm losgerissen und ihm eine Ohrfeige verpasst hätte. Nur dass es eben kein gewaltsamer und unangenehmer Kuss war, sondern ein ausgesprochen verführerischer – zärtlich und verlockend. Außerdem war sie hierhergekommen, damit dieser Mann sie heiratete.

Obendrein war der Mann, der sie küsste, Sir Develin Dundrake. Er war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte – mit diesen dunklen Augen, der feinen Nase und dem entschiedenen Kinn. Sie wusste auch, dass dieser Mann ein gutes Herz hatte, ganz gleich, wie er sich am Spieltisch verhalten hatte.

Sie löste sich nicht aus seiner Umarmung, sondern öffnete die Lippen und ließ zu, dass er ihr einen Zungenkuss gab. Sie wich nicht einmal zurück, als er die Hände unter ihre Pelisse gleiten ließ, um ihre Brüste zu berühren. Stattdessen zog sie ihn noch näher an sich, strich ihm mit einer Hand über den Rücken und spürte das Spiel seiner Muskeln durch den schwarzen Gehrock. Genau davon hatte sie geträumt, seit sie ihn vor Monaten zum ersten Mal erblickt hatte.

Die Realität war allerdings weit überwältigender, zumal er ganz aus der Nähe sogar noch besser aussah. Sie hatte ihn zuvor nur aus der Ferne erblickt. Hier, in seinem imposanten Landhaus, in eleganten Pantalons und maßgeschneidertem Hemd und Gehrock, mit einem kunstvoll gebundenen Krawattentuch, das dunkle lockige Haar leicht zerzaust, war er in der Tat der Inbegriff eines Traummanns.

Er brach den Kuss ab und trat einen Schritt zurück. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen.

Was war es? Überraschung? Verwunderung?

Dann wurde aus dem zaghaften Lächeln ein vergnügtes Grinsen, das ebenso neckisch wie verführerisch war. „Allmählich lerne ich die Vorzüge Ihres Antrags zu schätzen, Mylady.“

Obgleich sie eine lebhafte Fantasie hatte, war sie auf die Wirkung seines Kusses nicht vorbereitet gewesen.

„Sollte ich also zustimmen“, fügte er hinzu, „wann und wo sollen wir heiraten? Ich nehme an, dass Sie sich auch darüber schon Gedanken gemacht haben.“

Im Grunde hatte sie kaum zu hoffen gewagt, dass er ihren Vorschlag in Erwägung zog. Jetzt holte sie tief Luft und antwortete: „Sie sollten mich morgen Früh im Dorfgasthof abholen. Von dort aus können wir nach Gretna Green reisen und sofort heiraten.“

„Verstehe. Und wie soll ich meine plötzliche Eheschließung mit einer Frau erklären, der ich nie zuvor begegnet bin?“

Auch darauf hatte sie eine Antwort parat. „Ich bin in Irland aufgewachsen, bevor mein Vater sein Geld verlor. Soweit ich weiß, sind Sie in den letzten Jahren öfter dorthin gereist. Sie könnten also behaupten, mich in Dublin kennengelernt zu haben. Und mein Familienname lässt sich problemlos im Adelsverzeichnis finden, sofern jemand das überprüfen möchte.“

Sir Develin begab sich sofort zu einem Regal, zog ein Buch heraus und blätterte darin. Dann ließ er die Finger eine bestimmte Seite hinuntergleiten. „Ah ja, da sind Sie, oder zumindest Ihre Familie.“

Er schloss das Buch und schob es zurück in das Regal. „Es überrascht mich, dass Sie bereit sind, einen Mann zu heiraten, den Sie gar nicht kennen.“

„Selbstverständlich habe ich mich erkundigt, bevor ich hierherkam“, erläuterte sie wahrheitsgemäß. „Wie verzweifelt meine Lage auch sein mag, habe ich nicht die Absicht, mich an einen notorischen Spieler, Säufer oder Wüstling zu binden. Sie spielen eher selten, trinken nur maßvoll, und obgleich Sie verschiedene Liebschaften unterhalten haben, sind Sie kein Verführer von Unschuldigen. Und ein Dandy sind Sie auch nicht.“

Und wenn Sie die Straße hinunterschreiten, bewegen Sie sich wie ein Prinz, der jede Schlacht gewinnt, dachte sie, ohne es auszusprechen.

„Sie haben also Erkundigungen über mich eingeholt. Aber vielleicht hege ich nicht den Wunsch, eine Frau zu heiraten, die für mich eine Fremde ist.“

„Was meinen Sie, wie gut die meisten Männer Ihres Standes die Frauen kennen – wirklich kennen, die sie heiraten?“, gab sie zu bedenken. „Geht es dabei nicht meistens nur um die Herkunft, und die Bekanntschaft beschränkt sich auf wenige Begegnungen bei Festivitäten?“

Er musterte sie einen Moment lang, warf einen Blick auf das Porträt und sah sie wieder an. „Sie scheinen alles genau durchdacht zu haben.“

Das hatte sie auch geglaubt, bevor sie Sir Develin leibhaftig gegenüberstand und von ihm geküsst worden war. Jetzt schlug ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Wenn sich diese Unterhaltung noch länger hinzog, würde sie die Fassung verlieren. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als direkt auf den Punkt zu kommen. „Heiraten wir nun oder nicht, Sir Develin?“

Er lächelte zögerlich, als ob er für seine Antwort alle Zeit der Welt hätte. „Darüber darf ich doch gewiss ein wenig nachdenken. Immerhin wird mir nicht jeden Tag ein Heiratsantrag gemacht. Genau genommen handelt es sich um den ersten.“

Seine ebenso belustigte wie herablassende Art reizte ihren Stolz und machte sie zornig.

„Die Angelegenheit mag in Ihren Augen schrecklich amüsant erscheinen, Sir Develin, aber mir ist es sehr ernst. Wenn Sie mir heute keine Antwort geben können, betrachte ich das als Absage.“

„Kein Grund, es so eilig zu haben oder wütend zu werden.“ Er runzelte die Stirn. „Mir steht doch wohl das Recht zu, über Ihren Vorschlag nachzudenken.“

Sie stellte sich darauf ein, dass er ihr eine Absage erteilte und überlegte, was sie darauf entgegnen sollte.

„Ich nehme Ihren Antrag an.“

Sie blickte ihn ungläubig an. „Wirklich?“

Er nickte, und seine braunen Augen funkelten. „Ja, wirklich“, bestätigte er nickend. „Wie Sie vorgeschlagen haben, werde ich Sie morgen Früh im Gasthof von Dundrake abholen. Und jetzt schlage ich vor, dass Sie zum Dinner bleiben.“

Sie war erstaunt, entzückt und erleichtert. In der Furcht, er könne es sich noch anders überlegen, wenn sie blieb, schüttelte sie den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich muss meine Sachen packen“, sagte sie und eilte zur Terrassentür.

„Warten Sie, ich rufe Ihnen eine Kutsche. Heute ist ein scheußliches Wetter, um sich draußen länger als nötig aufzuhalten.“

Eine Hand bereits auf dem Türgriff drehte sie sich halb zu ihm um. „Nein, vielen Dank. Das stört mich nicht. Ich gehe gern zu Fuß. Es ist nicht weit, und ich bin schon auf halbem Wege zum Gasthof, wenn die Kutsche bereitsteht.“

Bevor er noch etwas einwenden konnte, war Thea aus der Tür und überquerte die Terrasse so schnell, wie es ihre Würde erlaubte. Als sie die Treppenstufen erreichte, über die man in den Garten gelangte, begann sie undamenhaft zu rennen. Sie hielt erst an, um zu verschnaufen, als sie den Gartenbereich mit den gepflegten Hecken verlassen und den Wald erreicht hatte, der Sir Develins Anwesen umgab. Gegen eine uralte Eiche gelehnt, blickte sie auf das riesige Herrenhaus mit seinen imposanten Steinreliefs. Doch Thea dachte nicht an das Haus, den schönen Garten oder die edle Einrichtung, die sie im Arbeitszimmer gesehen hatte.

„Er hat zugestimmt!“, flüsterte sie und konnte kaum fassen, was eben geschehen war. „Er hat zugestimmt!“

Sie würde einen vermögenden Mann mit Titel heiraten. Nie wieder würde sie ein Leben in Armut mit Kälte und Hunger führen. Und was noch besser war: Sie hatte nicht auf den Plan zurückgreifen müssen, den sie im Falle einer Ablehnung in Erwägung gezogen hatte.

Und er hatte mehr getan, als nur zuzustimmen. Sie strich sich mit den Fingern über die Lippen, die er so leidenschaftlich geküsst hatte. Offenbar fand er sie begehrenswert, und wenn sie an ihre Hochzeitsnacht dachte …

Es ist vermutlich klüger, sich darüber nicht zu viele Gedanken zu machen, ermahnte sie sich und löste sich von dem Baumstamm, um forschen Schritts in das Dorf zurückzukehren.

Schließlich konnte er seine Meinung noch immer ändern.

Als Dev die Terrassentür erreichte, war Lady Theodora bereits im Nebel verschwunden wie ein Geist oder eine andere übernatürliche Erscheinung.

Möglicherweise ist sie das ja, dachte er sich abwendend. Eine Vision, die durch meine Schuldgefühle und meine Reue heraufbeschworen wurde. Oder war er nur deshalb so verwirrt und aufgeregt, weil er nie zuvor einer so kühnen und entschlossenen Frau begegnet war und auch keiner, die mit einer so zügellosen und ungekünstelten Leidenschaft küsste? Er ging zu dem Serviertisch und schenkte sich ein Glas Brandy ein. Jetzt, da Sir Johns Tochter mit ihren großen grauen Augen und ihren verlockenden Lippen nicht mehr im Zimmer war, würde er gewiss wieder klar denken können.

In einem Punkt hatte sie sicherlich recht. Manchmal fühlte er sich, als ob man ihn in einem Schaufenster zum Verkauf ausstellen würde. Inzwischen fürchtete er sich fast davor, Bälle und Feste zu besuchen. Auch die anderen Argumente, die sie vorgetragen hatte, erschienen ihm schlüssig. Und wie vielen Männern wurde schon die Möglichkeit angeboten, zu heiraten und weiter die Vorzüge des Junggesellenlebens zu genießen?

Ihre unerwartete Leidenschaftlichkeit sprach ebenfalls für sie. Sie hatte nicht mit der eingeübten Leichtigkeit seiner bisherigen Geliebten auf den Kuss reagiert, sondern mit einem unschuldigen Verlangen, das sein eigenes gesteigert hatte.

Doch was würden seine Freunde und der Rest der feinen Gesellschaft sagen, wenn er mit einer Braut auftauchte, die niemand kannte und die viele nicht für eine Schönheit erachten würden? Ihren klugen leuchtenden Augen würden die meisten keine Beachtung schenken, auch nicht dem geschmeidigen wohlgeformten Körper und ihren weichen sinnlichen Lippen.

Sein Anwalt würde zweifellos denken, dass er den Verstand verloren hatte.

Erneut blickte er auf das Porträt über dem Kamin. Dieser harte und selbstgerechte Gentleman hätte Lady Theodora sofort aus dem Haus geworfen und ihr die Hunde auf die Fersen gehetzt, nachdem sie offenbart hatte, wer sie war. Der verzweifelte Blick ihrer großen Augen hätte seinen Vater völlig unbeeindruckt gelassen. Doch bei Dev hatte sie damit nicht nur sein Ehrgefühl, sondern auch sein einsames Herz angesprochen.

Dev leerte ein weiteres Glas, bevor er sich wieder an die Terrassentür stellte und in den durchnässten Garten blickte. In dieser Jahreszeit blühten keine Blumen. Das einzige Grün boten die säuberlich gestutzten Hecken und der Wald, der sich dahinter erstreckte. Es schien, als ob sein Leben sich in einer Erstarrung befände, von der ihn nur die Wärme des Frühlings und des Sommers erlösen konnte.

Er schob den Gedanken beiseite und dachte über seine Entscheidung nach. Lady Theodora zu heiraten würde die Schuldgefühle mindern, die ihn plagten, seit er sich aus Stolz dazu hatte hinreißen lassen, das Spiel mit dem sichtlich verzweifelten Sir John fortzusetzen.

Aber zahlte er für diesen Fehler keinen zu hohen Preis, wenn er sich an eine Frau band, die er weder liebte noch kannte?

Schließlich hätte Lady Theodoras Vater den Spieltisch jederzeit verlassen können. So gesehen fiel Ihr Schicksal nicht in seinen Verantwortungsbereich, und daran würde sich auch nie etwas ändern.

Doch er hatte in ihren Vorschlag eingewilligt, und er schämte sich grenzenlos, weil er falsch gespielt hatte, um Sir John Markham zur Aufgabe zu zwingen.

2. KAPITEL

D arf ich Ihnen was bringen, Miss? Brot und Butter, oder vielleicht eine Tasse Tee?“, fragte das Dienstmädchen, als Thea am nächsten Morgen im Speisezimmer des Gasthofs saß und in den Hof blickte.

Es war ein großer und dennoch gemütlicher Raum mit breiten Sesseln und einem lodernden Kaminfeuer. Gewiss hätte sie sich darin behaglich gefühlt, wenn sie keine Zukunftsängste geplagt hätten. Außerdem war Thea das Getuschel unangenehm. Seit sie vor zwei Tagen mit der Postkutsche aus London angereist war – allein und nur mit einem kleinen Gepäckstück – lenkte sie neugierige Blicke auf sich. Zweifellos würde es noch mehr Gerede geben, wenn Sir Develin tatsächlich kam und sie mitnahm.

„Nein, danke“, antwortete Thea der molligen jungen Frau. Das Haar des Dienstmädchens war unordentlich zu einem losen Knoten zusammengebunden, doch immerhin trug sie eine saubere Schürze.

Das Mädchen nickte in Richtung des Kamins. „Möchten Sie nich’ lieber am Feuer warten?“

Thea schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“ Sie wollte den Hof im Blick behalten, um nach ankommenden Kutschen Ausschau zu halten.

„Sie warten auf eine Kutsche, nich’ wahr? Reisen Sie zurück nach Liverpool? Oder nach London?“

Thea hatte nicht die Absicht, dem Dienstmädchen ihr Ziel zu verraten. Zumal sie gar nicht wusste, was passieren würde. Ganz gleich, was Sir Develin am Vortag gesagt hatte, vielleicht hielt er nicht Wort.

Als Thea schwieg, runzelte die junge Frau die Stirn, zuckte mit den Schultern und entfernte sich. Jetzt konnte Thea wieder in Ruhe das Treiben im Hof beobachten. Trotz der Kälte und des Nebels herrschte an diesem Morgen bereits reger Betrieb. Burschen misteten die Ställe aus und füllten die Tröge auf, Bedienstete reinigten das Kopfsteinpflaster und brachten Brennholz in die Küche. Dampf drang aus der Tür eines Nebengebäudes, bei dem es sich zweifellos um die Wäscherei handelte. Dienstmädchen mit kräftigen Oberarmen trugen große Körbe mit Wäsche hinaus. Thea sah zu, wie ein Fischhändler vor der Küchentür seine Ware feilbot. Der Koch, der sich die Hände an der Schürze abwischte, kam heraus, um die Aale und Süßwasserfische zu begutachten.

Als sie bereits glaubte, dass Sir Develin es sich anders überlegt hatte, bog ein glänzender schwarzer Landauer, der von vier prachtvollen weißen Pferden gezogen wurde, in den Hof ein. Der Kutscher in dunkelgrüner Livree brachte das Gefährt zum Stehen und kletterte vom Bock. Als er die Tür öffnete, fiel Thea ein Stein vom Herzen. In eleganter Reisekleidung und mit schwarzem Hut sprang Sir Develin Dundrake aus der Kutsche.

Thea verlor keine Zeit. Sie umfasste den abgewetzten Griff ihres kleinen Koffers, eilte hinaus und blieb erst wenige Schritte vom Landauer und Sir Develin entfernt stehen. Dabei bemühte sie sich, nicht auf die erstaunten Blicke des Kutschers und der Leute im Hof zu achten.

„Guten Morgen, Sir Develin“, begrüßte sie ihn mit ruhiger Stimme, obgleich sie schrecklich aufgeregt war.

„Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Lady Theodora“, entgegnete er und musterte sie vom Hut bis hinunter zum Saum ihrer Pelisse.

Ihr war bewusst, dass sie unschön gekleidet war, und sein prüfender Blick machte diese unangenehme Tatsache noch peinlicher. Unverzagt erwiderte sie den prüfenden Blick und stellte fest, dass er einen erschöpften Eindruck machte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als ob er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte.

Vielleicht hatte er seine Meinung geändert und war gekommen, um sie davon in Kenntnis zu setzen …

„Wir sollten uns besser auf den Weg machen, wenn wir bis zum Abend unser Ziel erreichen wollen“, sagte er lächelnd und bot ihr den Arm.

Er hält Wort! Er wird mich heiraten!

Sie legte eine Hand auf Sir Develins Unterarm und spürte sofort die festen Muskeln unter dem feinen Stoff.

„Gen Norden!“, befahl er dem Kutscher. „Nach Gretna Green.“

Thea straffte die Schultern, hob das Kinn und stieg in die Kutsche.

Während sie im Landauer holpernd nach Schottland reisten, betrachtete Dev verstohlen die Frau, die ihm schräg gegenübersaß. Sie hatte sich ganz in die Ecke gedrückt, so weit wie möglich von ihm entfernt in dem begrenzten Innenraum der Kutsche. Fürchtete sie etwa, dass er sie hier und jetzt in seinem Landauer verführen würde?

Selbst wenn er in Versuchung gewesen wäre – und ein wenig war das der Fall – seine Müdigkeit lähmte jeden Tatendrang. Er hatte schon in den letzten vierzehn Tagen schlecht geschlafen, aber in der vergangenen Nacht war es noch schlimmer gewesen. Stundenlang war er in seinem Schlafzimmer auf- und abgeschritten und hatte darüber nachgegrübelt, ob es die richtige Entscheidung war, sie zu heiraten. Zu guter Letzt hatten die Argumente seine Einwände überwogen, die sie zugunsten der Eheschließung vorgebracht hatte.

Zumindest fürs Erste.

Bis zum Abschluss der Zeremonie konnte er es sich noch immer anders überlegen – ebenso wie sie.

„Wie lange brauchen wir, um Gretna Green zu erreichen?“, fragte sie plötzlich und hob eine Braue.

„Wenn die Straßen trocken bleiben, sollten wir am Nachmittag dort sein“, antwortete er.

„Ihr Kutscher machte einen überraschten Eindruck, als Sie ihm Gretna Green als Ziel nannten. Haben Sie Ihren Haushalt nicht davon in Kenntnis gesetzt, wohin Sie aufbrechen?“

Wie auch? Er hatte ja nicht einmal gewusst, ob sie wirklich im Gasthof auf ihn wartete, ganz gleich, wie kühn sie am Vortag aufgetreten war. „Ich sagte, dass ich eine Dame treffe.“

„Das ist alles, was Sie Ihren Bediensteten erzählt haben?“

„Mehr mussten sie nicht wissen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Schließlich hätte es gut sein können, dass Sie Ihre Meinung ändern.“

„Ich nicht“, erwiderte sie mit Bestimmtheit, bevor sie wieder aus dem Fenster starrte.

Zweifellos war sie resolut. Das war bei Frauen eher ungewöhnlich, aber wünschte er sich diese Eigenschaft wirklich bei einer Ehefrau? Andererseits hatte sie ihn mit einer Unerschrockenheit geküsst, die er als ziemlich beglückend empfunden hatte. Zimperliches Jungferngetue schien ihr fernzuliegen!

Was die Hochzeitsnacht betrifft … Er wollte nicht darüber nachdenken. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, um die Frau, die er heiraten sollte, genauer in Augenschein zu nehmen.

Sie war nicht wunderschön, aber immerhin hübsch. Ihre Bewegungen waren anmutig, sie war schlank, und selbst die scheußliche Pelisse konnte ihre wohlgestalte Figur nicht verbergen. Ihr Strohhut wirkte ebenso schäbig und billig wie die übrige Kleidung. Er passte eher zu einer einfachen Pächterin.

Mit einem Mal drehte sie den Kopf und sah ihn herausfordernd an. „Hat Ihnen niemals jemand beigebracht, dass es unhöflich ist, andere anzustarren, Sir Develin?“

Wie ein Bursche, der noch grün hinter den Ohren war, errötete er und verfluchte sich dafür. „Sie tragen die hässlichste Kleidung, die ich je bei einer Dame gesehen habe“, sagte er, und seine Verlegenheit ließ ihn schroffer klingen, als er beabsichtigt hatte. „Das war doch bestimmt nicht der einzige Farbton, in dem der Stoff erhältlich war. Er erinnert an Kautabak – ausgespuckten Kautabak.“

Sie wurde nicht rot. Stattdessen blickte sie ihn finster an. „Es war der beste Stoff, den ich mir leisten konnte. Wegen der Farbe war er preiswerter. Ich nehme an, dass sich ein privilegierter Sprössling aus reichem aristokratischen Haus wie Sie nie Gedanken um die Kosten seiner Bekleidung machen muss.“

Er versuchte nicht, sich zu verteidigen, auch weil sie nicht ganz unrecht hatte. Wie viel seine Kleidung kostete, hatte für ihn nie eine Rolle gespielt. „Sobald wir verheiratet sind, brauchen Sie eine bessere Garderobe.“

„Darin stimme ich Ihnen gerne zu. Möchten Sie die Auswahl vielleicht persönlich überwachen?“

„Etwas Langweiligeres kann ich mir kaum vorstellen.“

Sie nickte und blickte wieder aus dem Fenster.

Er sank gegen das Polsterkissen und schloss die Augen. Wenn sie nicht mit mir reden will … Ich sollte die Zeit besser nutzen, um zu überlegen, ob ich das Richtige tue, dachte er schläfrig. Vielleicht wäre es besser, vielleicht …

Thea erwachte aus einem unruhigen Schlaf und versuchte, den steifen Nacken zu lockern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie eingedöst war. Sie war irgendwann nach Sir Develin eingenickt. Ein kurzer Blick bestätigte, dass er noch immer auf dem Sitz gegenüber schlief.

Sie betrachtete das Gesicht des Mannes, den sie heiraten würde. Sir Develin war beinahe dreißig Jahre alt, sah aber viel jünger aus, wenn er schlief – und ihm wie jetzt eine dunkle Locke in die Stirn fiel.

Er war breitschultrig, schlank und groß, und ganz im Gegensatz zu ihr auf das Beste gekleidet. Kein Wunder, dass die Frauen so für ihn schwärmten.

Sie sah an sich herunter. Selbstverständlich hatte er recht. Ihre Kleidung war furchtbar hässlich, und sie hasste es, diese Pelisse zu tragen. Doch was blieb ihr anderes übrig? Wie oft war sie hungrig zu Bett gegangen? Eine neue und angemessene Garderobe wusste sie wahrhaftig mehr zu schätzen, als er ahnte!

Gerade dachte sie darüber nach, welche Summe sie dafür benötigen würde, als die Kutsche ruckelnd zum Stehen kam. Der Kutscher rief laut: „Gretna Green!“

Der Baronet schrak aus dem Schlaf hoch und benötigte einen Moment, um sich zu besinnen. Dann strich er sich die Locke aus der Stirn und fragte erstaunt: „Wir sind schon da?“

„Sie haben eine Weile geschlafen.“

„Oh“, entgegnete er gähnend, während der Kutscher die Tür öffnete, und ein mit Kopfsteinen gepflasterter Hof sichtbar wurde, auf dem munteres Treiben herrschte. Bei dem dahinter liegenden Gasthof handelte es sich um ein großes, mit Efeu bewachsenes Fachwerkgebäude.

Sir Develin stieg aus der Kutsche und streckte Thea eine Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Dabei blickte er sie so ernst an, dass sie fürchtete, er würde gleich seine Rückkehr nach Dundrake Hall verkünden und sie einfach hier zurücklassen.

Sie war nicht so weit gegangen, ihm diesen unerhörten Antrag zu stellen, um jetzt noch zu scheitern! Wild entschlossen presste sie die Lippen zusammen, ergriff seine Hand und achtete nicht auf die unerwartete Wärme, die ihren Körper aufgrund der Berührung erfasste. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schritt sie auf den nächstbesten Einheimischen zu – einen Stallburschen, der einen Korb mit Hafer in Händen hielt. „Wo ist die Schmiede?“

Sie hatte nicht nur alles Erdenkliche über Sir Develin in Erfahrung gebracht, bevor sie nach Dundrake Hall aufgebrochen war, sondern sich auch vergewissert, wie und wo man in Gretna Green heiratete.

Der Bursche grinste, und anstelle der Schneidezähne trat eine große Zahnlücke zum Vorschein. „Durch das Tor, dann rechts. Sie können’s nicht verfehlen.“

„Vielen Dank“, entgegnete sie. Sie blickte über die Schulter zurück zu Sir Develin, der neben der Kutsche stehen geblieben war. „Wollen wir?“

„Ja, wir wollen“, sagte er nach kurzem Zögern.

In späteren Jahren erinnerte sich Thea nur schwach an die eigentliche Hochzeitszeremonie, da es dabei wenig Erinnerungswürdiges gab: Ein kräftiger Mann mit Kugelbauch murmelte ein paar Worte über einem Amboss, der offenkundig schon lange nicht mehr zum Schmieden benutzt wurde. Neben dem ehemaligen Schmied stand ein angetrunkener Zeuge. Anschließend kehrte Thea mit Develin zu dem Gasthof zurück, wo man sie in das Zimmer führte, das ihr Brautgemach werden sollte.

Es handelte sich um ein unerwartet geräumiges Zimmer mit kalkgetünchten Wänden, einer Dachschräge und Flügelfenstern. Ein breites Himmelbett mit sauber wirkenden Decken und Bettvorhängen aus Wollstoff beherrschte den Raum, in dem sich außerdem noch ein Waschtisch mit hübschem Waschgeschirr aus Porzellan befand. Gegenüber der Tür standen ein Stuhl mit hoher Lehne und ein Wandschirm. In dem kleinen Kamin loderte ein Feuer, das angenehme Wärme verströmte. Ihr Blick fiel auf die beiden Koffer neben dem Bett – ein großer aus edlem Material und ihr eigener, der schäbig und klein war.

Die hagere grauhaarige Wirtin bot an, ihnen ein Bad bereiten zu lassen – ein Angebot, das Thea freudig annahm. Die alte Frau verließ das Zimmer, und Dev folgte ihr.

Kaum blieb Thea Zeit, um Luft zu holen, schon ertönte ein lautes Klopfen an der Tür, und zwei Bedienstete traten ein. Ein rothaariger Bursche in weißem Leinenhemd trug einen Zuber in das Zimmer, gefolgt von einer schlanken jungen Frau in einem einfachen Baumwollkleid und weißer Schürze, die zwei große Krüge mit dampfendem Wasser in den Händen hielt. Über ihrer rechten Armbeuge hingen frische Handtücher. Mit einem lauten Knall stellte der Bursche den Zuber vor dem Kamin ab und breitete den Wandschirm davor aus. Während er bereits das Zimmer verließ, füllte das Dienstmädchen den Zuber mit dem heißen Wasser aus den Krügen.

„Seife is’ da drüben“, sagte sie und nickte in Richtung Waschtisch. „Ich bring’ gleich noch ’nen Krug mit kaltem Wasser“, fügte sie hinzu und legte die Handtücher auf einen Schemel, den sie neben den Zuber schob.

„Vielen Dank“, murmelte Thea.

„Welcher is’ denn Ihr Liebster?“, fragte das Mädchen freundlich lächelnd. „Der dünne Kamerad oder der hübsche?“

„Wollen Sie wissen, wer mein Ehemann ist?“

„Ja, wenn Sie nix dagegen ha’m, dass ich frag’.“

„Der Gutaussehende“, entgegnete Thea stolz.

Das Mädchen runzelte die Stirn und warf Thea einen zweifelnden Blick zu. Dann zuckte sie mit den Schultern und verschwand durch die Tür.

Thea trat an den Spiegel, der über dem Waschtisch hing. War es wirklich so unvorstellbar, dass ein Mann wie Sir Develin …?

Sie hielt ihre Haare hoch und drehte den Kopf von links nach rechts. Nein, sie war keine aristokratische Schönheit und würde es auch nie sein. Ihre Augen waren zu groß, die Lippen zu prall und das Kinn zu spitz. Wenigstens war ihre Nase wohlgeformt, aber ein Mann wie Sir Develin hätte gewiss einer Frau den Vorzug gegeben, für die mehr sprach als eine hübsche Nase und eine ansehnliche Figur.

Seufzend begann sie, sich auszuziehen.

Als sie nur noch mit ihrem dünnen Unterkleid bekleidet war, warf sie erneut einen Blick in den Spiegel. Beim nächsten Mal wenn sie nichts als dies anhatte, würde sie sich in der Gegenwart eines Mannes befinden. Von Sir Develin, meinem Ehemann …

Rasch schlüpfte sie aus dem Unterkleid und stieg vorsichtig in den Zuber und setzte sich. Das Wasser war heiß, aber die Temperatur ließ sich gut aushalten. Sie benetzte sich das Gesicht. Wieder klopfte es an der Tür – das musste das Dienstmädchen mit dem kalten Wasser sein. Noch mit geschlossenen Augen rief sie „Herein!“

Autor

Margaret Moore
<p>Margaret Moore ist ein echtes Multitalent. Sie versuchte sich u.a. als Synchronschwimmerin, als Bogenschützin und lernte fechten und tanzen, bevor sie schließlich zum Schreiben kam. Seitdem hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre gefühlvollen historischen Romane erhalten, die überwiegend im Mittelalter spielen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit...
Mehr erfahren
Mira Bongard
Mehr erfahren