Die Liebe vergibt alles

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Überrascht erkennt Schwester Elena, wer der neue Notarzt auf ihrer Station ist: Der attraktive Dr. Brock Madison, dem sie die Schuld am größten Unglück ihres Lebens gibt! Und mit dem plötzlich das größte Glück möglich wäre. Wenn Elena ihm bloß verzeihen könnte …


  • Erscheinungstag 10.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505635
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Punkt drei Uhr nachmittags steckte Elena Sawyer ihre Karte in die Stechuhr, die am Personaleingang zur Notaufnahme des Trinity Medical Center stand.

Gerade noch geschafft! Erleichtert verstaute sie ihre Tasche in ihrem Umkleideschrank und ging zur Schwesternstation, wo die Dienstübergabe stattfand.

„Elena, Sie und Raine übernehmen den Schockraum“, teilte Oberschwester Stacey die Schwestern gerade zum Dienst ein. „Suzette, Sie arbeiten in der Notfallambulanz. Emma, Sie sind heute in Team eins, Dani in Team zwei …“

„Wie war dein langes Wochenende?“ Raine senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, um Staceys Anweisungen nicht zu stören.

„Super“, flüsterte Elena zurück. „Ich werde dir später davon erzählen.“

„Hat noch jemand Fragen?“ Die Oberschwester blickte in die Runde. Niemand meldete sich. „Gut. Wir haben im Moment siebenundzwanzig Patienten hier, von denen noch elf in der Wartezone sitzen. Der Schockraum ist leer, nachdem der letzte Patient auf die Intensivstation gebracht worden ist.

Ich wünsche euch allen einen angenehmen Dienst.“ Stacey legte das Klemmbord beiseite, ein Zeichen, dass die Dienstübergabe beendet war. Die Gruppe löste sich auf, und jeder machte sich an seine Aufgaben.

„Wie geht es Chloe?“, erkundigte Raine sich auf dem Weg zum Schockraum.

„Schon viel besser. Ihre Stentangioplastie ist ohne Komplikationen verlaufen.“

Chloe Jenkins war Elenas letzte und liebste Pflegemutter gewesen. In anderen Pflegefamilien hatte sie zum Teil schlimme Erfahrungen gemacht. Wenn Chloe sich nicht um sie gekümmert hätte, wäre sie vermutlich auf der Straße gelandet. Elena verdankte ihr alles.

„Ich bin froh, dass es ihr wieder besser geht“, sagte Raine aufrichtig.

„Ich auch. Du weißt, wie ich an Chloe hänge.“

Elena war gerade fünfzehn gewesen, als ihre Mutter den zweiten schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Seitdem lebte sie in einem Pflegeheim. Den ersten Zusammenbruch hatte sie gehabt, als Elenas Vater die Familie verließ. Mit der Zeit hatte sich ihr Zustand gebessert, doch Felicitys Tod hatte sie wieder vollkommen zurückgeworfen.

Elena liebte ihre Mutter und besuchte sie jedes Wochenende, auch wenn sie in den ganzen neun Jahren kein einziges Wort mehr gesprochen hatte.

„Du hast die große Neuigkeit verpasst, als du freihattest“, bemerkte Raine.

Elena nahm von der Kollegin, die sie gerade vom Dienst ablöste, den Pager entgegen. Mit hochgezogenen Brauen wandte sie sich an Raine. „Tatsächlich? Bekommen wir alle eine Gehaltserhöhung?“

Raine ließ ein spöttisches Schnauben hören. „Ganz bestimmt nicht. Nein, wir haben einen neuen Notarzt bekommen.“

„Ach so.“ Für Elena war das kein Grund zur Aufregung. Sie kam mit allen Ärzten gut aus, ohne in Schwärmereien zu verfallen wie manche ihrer Kolleginnen. Die meisten Ärzte waren ohnehin verheiratet.

„Elena, ich sage dir, er sieht fantastisch aus! Und er ist Single. Zumindest hat Suzette das behauptet. Sie hat ihn bereits ausgequetscht.“

Sie wurden unterbrochen, als ihre Pager gleichzeitig losgingen.

Weibliches Unfallopfer, dreiundzwanzig Jahre, aus dem Wagen geschleudert, am Unfallort intubiert, Ankunft in zwei Minuten, las Elena auf ihrem Display.

Weibliches Unfallopfer, aus dem Wagen geschleudert. Genau wie Felicity …

Sie schluckte hart. Auch nach neun Jahren überkam sie bei der Erinnerung an den tragischen Unfalltod ihrer Schwester immer noch eine schmerzliche Traurigkeit. Damals war es mit ihr rapide bergab gegangen, wobei der erneute Nervenzusammenbruch ihrer Mutter und die Tatsache, dass ihr Vater sie verlassen hatte, ebenso eine Rolle gespielt hatten. Sie würde Chloe ein Leben lang dankbar sein, dass sie eingegriffen hatte, bevor es zu spät gewesen war.

„Ich frage mich, ob er heute Dienst hat“, hörte sie Raine sagen.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass die Kollegin immer noch von dem neuen Notarzt redete.

„Woher weißt du, dass er Single ist?“, fragte sie.

„Von Suzette. Sie hat sich mit ihm unterhalten. Hast du denn nicht zugehört? Er ist noch jung, gerade dreißig, ein echter Hot-Shot.“

Nein, Elena hatte nicht zugehört. Sie ging zum Instrumentenschrank und zog die Schubladen auf, um sich zu vergewissern, dass die verbrauchten Materialien wieder aufgefüllt waren.

„Dort kommt er“, raunte Raine ihr zu.

Bevor sie sich umdrehen konnten, wurden auch schon die Doppeltüren zur Notfallambulanz aufgestoßen. Zwei Rettungssanitäter brachten das schwer verletzte Unfallopfer herein. Elena nahm ihren Platz an der rechten Seite der Patientin ein, Raine an der linken.

Die Wiederbelebung von Traumapatienten war in Wirklichkeit längst keine so chaotische Angelegenheit, wie es in Fernsehserien oft den Anschein hatte. Jeder hatte seinen festen Platz und seine bestimmten Aufgaben. Elena stand meistens auf der rechten Seite, wo sie die Vitalfunktionen prüfte und eine Ersteinschätzung des Gesamtzustandes abgab.

Während sie die Patientin an den Herzmonitor anschloss, gab der Rettungssanitäter einen kurzen Bericht ab, welche Maßnahmen bereits ergriffen worden waren.

„Verdacht auf Halswirbelfraktur, Gliedmaßen schlaff. Stiff-neck am Unfallort fixiert. Zwei Liter Ringerlösung laufen durch einen peripheren Zugang in die Ellenbogenvene. Mit einem sieben Komma fünf Millimeter Endotrachealtubus intubiert.“

Der neue Arzt stand am Fußende des Bettes, doch Elena achtete nicht weiter auf ihn. Ihr Blick war auf die Patientin geheftet. Sie war älter, als Felicity damals gewesen war, wenn auch nur um zwei Jahre.

Verdacht auf Halswirbelfraktur – wie schrecklich. Wahrscheinlich würde sie für den Rest ihres Lebens gelähmt bleiben. Nachdenklich betrachtete sie das blutüberströmte Gesicht der Patientin. Felicity war noch am Unfallort gestorben. Welches Schicksal – nüchtern betrachtet – war schlimmer?

Elena führte eine rasche Erstuntersuchung durch und sicherte die Vitalfunktionen. Nachdem sie Herz und Lunge abgehorcht hatte, hängte sie sich das Stethoskop um den Hals. „Blutdruckwerte beängstigend niedrig bei sechsundsiebzig zu vierzig, Puls hundertzweiundzwanzig und tachykardisch, Pupillen träge, aber reaktionsfähig, Pupillendurchmesser von gleicher Größe“, meldete sie dem neuen Arzt. Dann wandte sie ihm den Blick zu – und erstarrte.

Brock Madison.

Ein Ring legte sich um ihre Brust. Beinahe vergaß sie zu atmen. Nein, das konnte nicht sein! Sie musste sich täuschen. Immerhin hatte sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht sah dieser Mann nur so aus wie ein älterer Bruder jenes Brock Madison, den sie in Erinnerung hatte.

„Sollen wir mit der Ringerlösung weitermachen, Dr. Madison?“, fragte Raine.

„Ja. Aber vermutlich werden wir auch Blutkonserven brauchen.“

Elena hatte das Gefühl, als würde der Raum sich plötzlich um sie drehen. Sie musste sich an der Seitenstange des Bettes festhalten, um nicht in die Knie zu gehen. Brock Madison war der neue Arzt in der Notaufnahme!

Und er war der Fahrer jenes Wagens, der das Auto ihrer Schwester vor neun Jahren gerammt hatte. Der Mann, der Felicitys Tod verursacht hatte.

Auch für Brock war es ein ziemlicher Schock, Elena Sawyer so überraschend wiederzusehen. Es kostete ihn einige Mühe, seine persönlichen Probleme in den Hintergrund zu stellen und sich auf die junge Traumapatientin vor ihm zu konzentrieren.

„Führen wir ihr zunächst zwei Blutkonserven Rhesus null negativ zu“, ordnete er an. „Wir müssen sie erst stabilisieren, bevor wir sie zur Computertomografie bringen, um das ganze Ausmaß ihrer Verletzungen festzustellen.“

Raine tat, was er verlangte, doch Elena stand immer noch wie angewurzelt da und hielt das Seitengeländer des Bettes umklammert, als würde sie einen Halt brauchen. Sosehr Brock auch Verständnis für ihre Reaktion hatte, hier ging es um das Leben eines Patienten, und er musste sich auf den hundertprozentigen Einsatz des Teams verlassen können.

Er kam auf sie zu. „Elena, wenn Sie nicht in der Lage sind, weiterzumachen, lassen Sie sich bitte von jemandem ablösen“, raunte er ihr mit gesenkter Stimme zu.

Sie hob ruckartig den Kopf. Bei dem flammenden Blick, der ihn traf, wäre er beinahe zurückgeprallt. „Mit mir ist alles vollkommen in Ordnung“, sagte sie, während sie das Bettgeländer losließ. „Wollen Sie die kompletten Laboruntersuchungen?“

„Ja. Wir müssen wissen, ob sie innere Blutungen hat.“ Brock bewunderte sie im Stillen, wie rasch sie sich wieder gefasst hatte. Er hatte gewusst, dass sie eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert hatte, denn er hatte Felicitys jüngere Schwester seit damals verfolgt.

Doch er hatte keine Ahnung davon gehabt, dass sie im Trinity Medical Center arbeitete. Er fand es beinahe ironisch, dass sie die Arbeit in der Notaufnahme gewählt hatte, um Traumapatienten zu versorgen – schwer verletzte Unfallopfer wie ihre Schwester.

Aber hatte er sich nicht selbst aus dem gleichen Grund der Notfallmedizin verschrieben?

Er sah ihr zu, wie sie der Patientin geschickt Blut abnahm. Sie füllte spezielle Glasröhrchen für die Blutgasanalyse, dann noch vier für weitere Blutuntersuchungen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Elena die Dinge wieder im Griff hatte, wandte er sich wieder der Patientin zu, um die er sich große Sorgen machte.

„Ich brauche als Erstes die Hämatokrit- und Hämoglobinwerte“, bat er. „Stellen wir unterdessen sicher, dass wir es nicht noch mit anderen Blutungsquellen zu tun haben.“

Wenige Minuten später gab Elena neue Werte durch. „Blutdruck auf vierundachtzig zu zweiundvierzig gestiegen, Puls hundertsiebzehn und weniger tachykardisch. Wir machen Fortschritte.“

Brock nickte zufrieden. Wenn es ihnen gelang, den Blutdruck auf über neunzig hochzubringen, konnten sie es riskieren, die Patientin zur Computertomografie zu bringen. Falls sie an der Wirbelsäule operiert werden musste, wollte er keine Zeit verlieren. Er wollte aber auch nicht, dass es in der Röhre zum Exitus kam.

„Hier sind die H&H-Ergebnisse“, berichtete Elena. „Hämatokrit sieben Komma acht und Hämoglobin neunundzwanzig.“

„Raine, führen Sie bitte noch zwei Blutkonserven zu“, wies Brock sie an. „Lassen Sie auch die Infusion weiterlaufen. Ich werde auf der Radiologie anrufen, damit alles für die Patientin vorbereitet wird. Sobald der systolische Blutdruck über neunzig ist, kann sie hinübergebracht werden. Eine von Ihnen muss sie begleiten.“

„Ich gehe mit“, erbot Elena sich.

Er nickte ihr flüchtig zu und ging zum nächsten Telefon. Innerhalb kurzer Zeit hatte er alles Nötige mit dem diensthabenden Röntgenarzt geregelt.

Sein Blick fiel wieder auf Elena. Mit ihrem nachtschwarzen Haar, das sie zu einem langen Pferdeschwanz gebunden hatte, den hohen Wangenknochen und der olivfarbenen Haut, einem Erbe ihrer spanischen Mutter, hatte sie sich in den neun Jahren von einem linkischen Teenager zu einer ausgesprochenen Schönheit entwickelt.

Und sie hatte allen Grund, ihn zu hassen.

Alte Schuldgefühle drohten ihn wieder zu überkommen, doch er drängte sie zurück und konzentrierte sich auf die Anzeigen des Monitors. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um sich mit den Geschehnissen von damals auseinanderzusetzen.

„Systolischer Blutdruck auf fünfundneunzig angestiegen“, meldete Elena. „Kann ich sie zur Computertomografie bringen?“

Brock nickte. Elena schien es eilig zu haben. Hastig löste sie die Elektroden, mit denen die Patientin an den Monitor angeschlossen war, und schloss sie stattdessen an das tragbare Gerät an, das beim Transport benutzt wurde. Als sie die Rolltrage aus dem Raum manövrierte, fragte er sich unwillkürlich, ob sie nur deshalb angeboten hatte, die Patientin zur Radiologie zu bringen, um seine Nähe zu meiden.

Vermutlich. Nein, ganz bestimmt sogar.

Er seufzte und rieb sich das Gesicht. Auf keinen Fall wollte er Elena noch mehr Kummer bereiten. Wenn er gewusst hätte, dass sie hier arbeitete, hätte er dafür gesorgt, dass ihre erste Begegnung etwas anders verlief. Doch dann schüttelte er den Kopf.

Wem wollte er etwas vormachen? Es gab nichts, womit er ihr das Wiedersehen hätte erleichtern können. Ihr flammender Blick hatte ihn zutiefst getroffen. Wenn es nicht um seinen Bruder ginge, der seine Unterstützung brauchte, und er nicht einen Zwölfmonatsvertrag hätte, würde er wieder gehen.

„Wie gefällt es Ihnen bei uns, Dr. Madison?“, fragte Raine ihn, während sie den Schockraum aufräumte.

Brock räusperte sich. „Bisher sehr gut. Ich bin froh, dass ich von Minneapolis hierhergekommen bin.“

„Für Minneapolis ist es ein Verlust und für uns eine Bereicherung“, sagte sie mit einem koketten Lächeln.

Raine war recht attraktiv mit ihren rotbraunen Locken und den ausdrucksvollen grünen Augen, doch er hatte keine Antenne für die Signale, die sie aussandte. An Affären hatte er kein Interesse, besonders nicht mit Frauen, die möglicherweise an eine gemeinsame Zukunft dachten.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Wo Elena so lange blieb? Er wollte, dass sie miteinander reden könnten. Irgendwie müsste es doch möglich sein, das gespannte Verhältnis zwischen ihnen zu lockern. Seit Jahren wünschte er sich eine Gelegenheit, um ihr alles zu erklären und seine Schuld wiedergutzumachen, falls dies überhaupt möglich war.

Doch wenn er an ihren vernichtenden Blick dachte, dann wusste er, dass sie ihm diese Chance niemals geben würde. Im Grunde verdiente er es auch gar nicht, dass sie ihm verzieh.

„Wie lange noch?“ Elena warf einen besorgten Blick auf ihre Patientin Jamie Edgar. Ihr Blutdruck sank wieder rapide.

„Zehn Minuten“, war die Antwort der Röntgenassistentin.

Elena erhöhte die Tropfenfolge der Infusion, um den Blutdruck stabil zu halten. Sie war froh, sich mit etwas zu beschäftigen zu können, was sie von Brock Madison ablenkte.

Was hatte sie verbrochen, dass sie das verdiente? Warum hatte sie nach all diesen Jahren plötzlich das Pech, ausgerechnet mit dem Mann zusammenarbeiten zu müssen, den sie aus tiefstem Herzen verachtete?

Während sie sich die schmerzenden Schläfen rieb, glaubte sie Chloes mahnende Stimme zu hören. Brock Madison war nicht schuld an dem Unfall, sondern deine Schwester. Sie hat ihm die Vorfahrt genommen. Es ist bestimmt nicht seine Schuld gewesen, dass Felicity starb.

Irgendwo im hintersten Winkel ihres Bewusstseins wusste Elena, dass Chloe recht hatte. Ihre Schwester war ohne Blinkzeichen direkt vor ihm auf den dicht befahrenen Highway eingebogen.

Doch Brock war zu schnell gefahren, zumindest hatte ein Zeuge das am Unfallort ausgesagt. Brocks Vater war damals bei der Polizei gewesen, und alle Leute hatten geglaubt, dass er seine Beziehungen spielen ließ, um die Wahrheit zu vertuschen und seinen Sohn zu schützen.

Aber was spielte das noch für eine Rolle? Es änderte nichts an der Tatsache, dass er Felicitys Leben zerstört hatte.

„Wir sind fertig“, unterbrach die Röntgenassistentin ihre Gedanken. „Soll ich in der Notaufnahme Bescheid geben, dass Sie mit der Patientin zurückkommen?“

Elena zwang sich zu einem Lächeln. „Das wäre nett, danke.“

Jamies Blutdruck fiel abermals. Eilig schob Elena die Rolltrage durch den Korridor, wobei sie den Monitor keinen Moment aus den Augen ließ. Zum Glück war die Röntgenstation nicht weit von der Notaufnahme entfernt.

„Der Blutdruck sinkt wieder“, meldete sie, als sie in den Schockraum kam.

„Führen Sie ihr noch mal eine Konserve mit null-negativem Blut zu“, bat Brock Madison. „Der Röntgenologe hat mir die Ergebnisse der Computertomografie gerade telefonisch mitgeteilt, und die orthopädischen Chirurgen sind bereits auf dem Weg. Die Patientin hat eine Quetschfraktur der Halswirbelsäule erlitten. Wenn sie sofort operiert wird, besteht die Hoffnung, dass die Schädigung nur gering sein wird.“

Elena war erleichtert, dass es vermutlich zu keiner permanenten Lähmung kommen würde. Sie bereitete die Patientin für die Operation vor, nahm ihr Ringe und Halskette ab und legte sie in einen Umschlag für den Safe.

Wenig später übernahm das Chirurgenteam die Patientin und brachte sie in den Operationssaal. Elena bedauerte es, dass sie bei der weiteren Behandlung nicht mit dabei sein konnte. Sie liebte ihre Tätigkeit in der Notaufnahme, aber sie hatte auch schon mit dem Gedanken gespielt, sich auf die Intensivstation versetzen zu lassen, wo sie miterleben konnte, wie die Patienten sich allmählich erholten.

„Elena? Ist alles in Ordnung?“

Beim Klang von Brocks Stimme zog sich ihr Magen zusammen. Wie konnte alles in Ordnung sein, wenn er in der Nähe war? „Natürlich“, erwiderte sie knapp. „Bitte entschuldigen Sie mich. Ich muss die Materialien aufstocken, bevor der nächste Traumapatient gebracht wird.“

„Das mache ich schon“, sagte Raine, während sie neugierig von einem zum anderen schaute.

Elena presste die Lippen aufeinander. Musste Raine ausgerechnet jetzt so hilfreich einspringen und sich gleich an die Arbeit machen? Da Brock nur dastand und sie abwartend musterte, drehte sie sich um und ging hinüber zum Aufenthaltsraum. Sie musste jetzt für ein paar Minuten mit ihren Gedanken allein sein. Leider war es ihr nicht vergönnt, denn Brock folgte ihr.

Ärgerlich wirbelte sie herum. „Was wollen Sie?“, fragte sie und verschränkte wie zum Schutz die Arme vor der Brust.

„Ihnen versichern, dass es mir leidtut. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier arbeiten. Ich bin aus familiären Gründen hergezogen und nicht, um Ihnen das Leben schwer zu machen.“

Auch sein aufrichtiger Ausdruck konnte sie nicht besänftigen. „Es ist mir egal, wo Sie arbeiten, solange wir uns aus dem Weg gehen“, versetzte sie steif.

Sein langer, forschender Blick machte sie nervös. Sie konnte verstehen, warum Raine ihn einen Hot-Shot genannt hatte. Mit seinem dunkelbraunen Haar, das ihm bis zum Hemdkragen reichte, und dem kantigen Gesicht mit dem energischen Kinn war er tatsächlich sehr attraktiv.

„Wie Sie wollen. Ich würde es aber besser finden, wenn wir uns zusammensetzen und offen über die Dinge reden würden.“

Elena grub die Fingernägel in die Handflächen. Offen über die Dinge reden? Er hatte vielleicht Nerven! Als ob damit alles wieder gut werden würde. Sie konnten noch so lange darüber reden, es würde Felicity nicht mehr zurückbringen.

„Dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht“, versetzte sie kühl.

Er runzelte die Brauen. „Und warum nicht?“

„Weil es mich nicht interessiert, was Sie mir zu sagen haben.“ Damit ging sie davon und ließ einen sprachlosen Brock zurück.

2. KAPITEL

Noch nie hatte Elena das Ende ihres Dienstes so herbeigesehnt wie an diesem Abend. Mit Brock Madison zusammenarbeiten zu müssen war für sie genauso schlimm wie damals, als sie zu ihrer ersten Pflegefamilie gekommen war.

Vergeblich versuchte sie, ihn und die Vergangenheit aus ihren Gedanken zu verbannen. Stattdessen ertappte sie sich dabei, dass sie ihn immer wieder mit ihren Blicken suchte.

Raine hatte recht. Brock war unwahrscheinlich attraktiv. Wenn er sie mit seinen blitzenden blauen Augen ansah, vergaß sie beinahe, wie sehr sie ihn hasste.

Brock war mit den Jahren reifer geworden. Auch sie selbst war nicht mehr der fünfzehnjährige Teenager, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle bringen konnte. Doch irgendwie hatte sie ihn immer noch als leichtfertigen jungen Studenten im Gedächtnis, der mit überhöhter Geschwindigkeit den Highway hinuntergerast war, gerade als Felicity vor ihm einscherte.

Jahrelang hatte sie diese Ungerechtigkeit des Schicksals verflucht. Brock war mit geringfügigen Verletzungen davongekommen, während Felicity ihr Leben lassen musste.

Genug davon. Sie musste aufhören, in der Vergangenheit zu wühlen. Elena stürzte sich in die Arbeit und war dann froh, als ihr Dienst beendet war.

Raine war diejenige, die sie wieder an ihr Dilemma erinnerte.

„Erzähl schon“, drängte sie neugierig. „Was ist zwischen dir und Dr. Madison?“

Elena versuchte, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. „Nichts.“

Raine verdrehte die Augen. „Erzähl mir keine Märchen. Es ist doch offensichtlich, dass ihr beide euch kennt. Zum Beispiel hat er dich mit Namen angesprochen, bevor ihr einander vorgestellt wurdet. Und später ist er dir in den Aufenthaltsraum gefolgt. Hattest du mal was mit ihm?“

Himmel, nichts konnte der Wahrheit ferner sein! „Nein. Ich kenne ihn kaum.“

„Ich glaube dir kein Wort.“ Raine steckte ihre Karte in die Stechuhr, und Elena tat das Gleiche. „Ich bin schließlich nicht blind. Die Spannung zwischen euch ist nicht zu übersehen.“

Elena unterdrückte einen Seufzer. Raine würde keine Ruhe geben, bis ihre Neugier befriedigt war. „Erinnerst du dich noch, dass ich dir erzählt habe, dass meine Schwester vor neun Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam?“

Raine riss die Augen auf. „War sie damals mit Brock zusammen?“

„Nein. Viel schlimmer.“ Elena ging in den Umkleideraum und holte ihre Tasche aus dem Spind. Heftig schlug sie die Tür zu. „Brock war der Fahrer des Wagens, der meine Schwester gerammt hat.“

„Du machst Witze!“, stieß Raine geschockt aus.

„Nein, leider nicht.“ Elena fühlte sich plötzlich völlig ausgelaugt. „Ich weiß nicht, ob ich es fertigbringe, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Raine legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. „Verlier jetzt nicht den Kopf, Elena. Ich glaube dir, dass es ein Schock war. Aber Dr. Madison scheint wirklich ein guter Arzt zu sein. Vielleicht solltest du ihm eine Chance geben?“

Eine Chance? Warum? Hatte Felicity noch eine Chance gehabt? Sie war viel zu jung gestorben, und es war Brocks Schuld gewesen.

Nein, sie wollte ihm keine Chance geben, auch wenn sie wusste, dass Raine irgendwo recht hatte und auch Chloe ihr vermutlich dasselbe gesagt hätte. Aber es war nicht leicht, die Vergangenheit loszulassen. Diese deprimierenden Jahre nach dem Tod ihrer Schwester waren furchtbar für sie gewesen. Seufzend rieb sie sich die Schläfen. „Nein, ich kann nicht.“

„Natürlich kannst du. Du bist eine erwachsene Frau, und du bist stark. Außerdem bin ich immer für dich da, wenn du mich brauchst.“

Elena lächelte matt. „Danke.“

Sie verließen das Klinikgebäude und gingen zum Personalparkplatz. Die Nachtluft war ziemlich frisch für April, und Elena zog fröstelnd die Schultern hoch.

In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Sie wusste, dass es für sie unmöglich sein würde, mit Brock zusammenzuarbeiten. Es würde besser sein, wenn sie sich versetzen ließ.

Brock dagegen schlief umso besser. Er träumte von Elena und davon, dass sie ihm verziehen hatte. Doch dann riss der konstante Klingelton seines Handys ihn aus seinen wunderschönen Träumen. Stöhnend zwang er seine Augenlider auseinander und tastete nach dem Telefon.

Autor

Laura Iding
Laura Iding hat zwei aufregende Leben: Tagsüber arbeitet sie als Krankenschwester und nachts ist sie Autorin. Schon als Teenager fing sie an zu schreiben - und hat bis heute nicht damit aufgehört. Ihr absolutes Lieblingsgenre ist, wie könnte es anders sein, der Arztroman.
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