Die Liebe verzeiht alles

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Lilah stockt der Atem, fassungslos starrt sie den Mann an: groß, gut aussehend, teure Kleidung. Das kann unmöglich Gus Hoffman sein! Ihre große Jugendliebe, die sie vor ihren Freundinnen geheim hielt. Schließlich war sie die Schönheitskönigin und er das schwarze Schaf, ein wilder Rowdy aus zweifelhafter Familie. Jetzt sind die Rollen vertauscht. Gus ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, und Lilahs Hollywoodträume sind längst geplatzt. Nach zwölf Jahren kehrt sie zurück, ohne Geld, ohne Ruhm. Aber mit ihrer Tochter, von deren Existenz Gus noch nichts weiß ...


  • Erscheinungstag 17.10.2009
  • Bandnummer 1703
  • ISBN / Artikelnummer 9783862952724
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mir ist heiß. Ich habe Hunger. Hier stinkt es. Ich muss mal. Du fährst zu langsam.“

Dieses Kind kann sich beklagen, ohne ein einziges Mal Luft zu holen, dachte Lilah Owens gereizt und umklammerte das Lenkrad. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Elfjährige und mahnte sich zur Geduld. Sabrina, kurz Bree genannt, hatte in den letzten Wochen viel durchgemacht.

Lilah allerdings auch. Außerdem schwitzte sie, hatte Hunger und musste ebenfalls verschwinden. Und deshalb hielt sich ihr Mitgefühl in Grenzen. Sie atmete tief durch und antwortete genauso ohne Pause: „Wenn dir zu heiß ist, lutsch einen Eiswürfel. Vor fünf Minuten hast du eine ganze Tüte Weingummi gegessen. Wir sind gerade an einer Schaffarm vorbeigekommen, weshalb es nicht unbedingt angenehm riecht. Du kannst zur Toilette gehen, sobald wir am Ziel sind. Dieser Wagen fährt so schnell, wie er kann. Wenn es dir nicht passt, steig aus und geh zu Fuß.“

Lilah war ziemlich zufrieden mit sich, doch dieser Zustand währte nicht lange, denn im nächsten Moment öffnete Bree bei Tempo sechzig die Beifahrertür.

„Bist du verrückt geworden?“ Hastig streckte Lilah den Arm an dem glücklicherweise angegurteten Mädchen vorbei und zog die Tür mit einem heftigen Ruck zu. „Tu das nie wieder! Willst du uns umbringen?“ Wütend und fassungslos funkelte sie die Elfjährige an, die lässig die Schultern zuckte.

Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Highway und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie die Fahrt von Kalifornien nach North Dakota überleben würden. Die Spannung zwischen ihnen war mit jedem Kilometer gestiegen.

Nachdenklich sah sie in die Ferne, vergaß für kurze Zeit ihren Zynismus und stellte sich vor, dass hinter der Sonne irgendwo der Himmel wäre. Ich weiß, dass ich versprochen habe, mich wie eine Mutter zu verhalten, Gracie, sagte sie stumm zu ihrer vor achtundzwanzig Tagen verstorbenen Freundin. Sollte es einen Himmel geben, dann verdiente Gracie dort einen Ehrenplatz.

Grace McKuen war ein wundervoller Mensch gewesen. Aber eines hat sie völlig falsch eingeschätzt, dachte Lilah: meine Fähigkeiten, mich um ein Kind zu kümmern. Vor vier Monaten hatte die Vierzigjährige bemerkt, dass ihr Körper die zweite transplantierte Niere abstieß. Vier Wochen später war sie mit Bree bei Lilah eingezogen und zwei Monate danach gestorben. Was zur Folge hatte, dass Lilah fast unvorbereitet und übergangslos vom neunundzwanzigjährigen Single zur Mutter einer Elfjährigen werden musste.

„Ich habe ein Hinweisschild gesehen. In drei Kilometern kommt eine Tankstelle mit Shop.“

„Wie ich dir schon sagte, habe ich in der Gegend gewohnt, bis ich siebzehn war. Die einzige Tankstelle an dieser Landstraße, die durch die Käffer führt, wurde 1989 geschlossen. Du wirst also warten müssen, bis …“

„Inzwischen bist du eine Ewigkeit älter. Es hat sich einiges geändert“, gab Bree ungerührt zurück und zeigte nach draußen. „Und was ist das da vorn?“

Lilah traute ihren Augen nicht, als sie die Hinweistafel erblickte. „Okay, wir legen einen kurzen Toilettenstopp ein“, antwortete sie und sagte mehr zu sich selbst: „Unfassbar, dass jemand hier einen Minimarkt eröffnet hat, wo kaum Geschäfte zu machen sind und das meiste eher schlecht werden dürfte.“

„Vielleicht verkaufen sie Sachen an Kinder, deren Vormund nicht versucht, sie zu quälen und auszuhungern. Ich muss ganz dringend.“

Lilah biss die Zähne zusammen und bog vom Highway ab. Wäre es nach ihr gegangen, wären sie weitergefahren. In etwa einer Viertelstunde könnten sie beim Haus ihrer Schwester sein. Und sie sehnte sich nach Netties tröstender Umarmung, ihrem mitfühlenden Lächeln und freundlichen Zuspruch. Sie brauchte dringend jemanden, der sie genug kannte, um zu verstehen, wie viel Angst ihr die neue Mutterrolle einjagte.

Sie parkte den Wagen vor einem hübschen Geschäftslokal, das an eine altmodische Gemischtwarenhandlung erinnerte. An einem der Fenster des rustikalen Holzbaus war in großen Lettern geschrieben: Kostenloses Eiswasser und freie Toilettenbenutzung.

Irgendwie muss es mir doch gelingen, mit einer wütenden Elfjährigen zurechtzukommen, überlegte sie und sagte betont heiter: „Okay, sehen wir uns mal die Toiletten an, und dann …“

Bree war schon ausgestiegen und stürmte jetzt auf die Glastür des Minimarktes zu, bevor Lilah sich überhaupt losgeschnallt hatte. Spar dir den fröhlichen Ton für jemanden auf, der ihn zu schätzen weiß, dachte sie noch deprimierter und seufzte. Sie schwang sich aus dem Auto und nahm ihre Handtasche vom Rücksitz. Dann sammelte sie die leeren Trinkbecher und Verpackungen ein, die dort herumlagen. Bree hatte einfach alles nach hinten geworfen und die Plastiktüte ignoriert, die Lilah ihr gegeben hatte.

Lilah warf die volle Tüte energisch in den Abfalleimer neben dem Eingang.

Ja, das Wegräumen beherrschte sie vortrefflich. In den zwölf Jahren in Los Angeles hatte sie ihren Lebensunterhalt mit Kellnern verdient, während sie – bis jetzt erfolglos – an ihrem Durchbruch als Schauspielerin gearbeitet hatte. Immer wieder war sie zu Castings gegangen, hatte aber bestenfalls winzige Nebenrollen bekommen.

Eigentlich müsste sie hervorragend auf die Mutterrolle vorbereitet sein. Schließlich war sie es gewohnt, zurückgewiesen zu werden und sich unzulänglich zu fühlen. Aber verglichen mit den letzten vier Wochen mit Bree waren die vergangenen Jahre in Los Angeles ein Honiglecken gewesen.

Lilah strich sich über das lange blonde Haar, das seit sechs Monaten keinen Friseur mehr gesehen hatte. Müde folgte sie ihrem Schützling nach drinnen und staunte nicht schlecht über das reichhaltige Angebot.

„Hallo.“ Eine junge Lakota-Indianerin, die auf einem Hocker hinter dem Tresen saß, begrüßte sie freundlich. „Brauchen Sie Benzin?“

„Nein, danke.“ Lilah beobachtete, wie Bree in der offenbar einzigen Damentoilette verschwand, und blieb am Ladentisch stehen.

„Die Backwaren sind frisch, falls Sie Hunger haben. Oder mögen Sie vielleicht einen Iced Coffee Drink?“

Iced Coffee Drinks vor den Kleinstadttoren von Kalamoose, dachte Lilah und hätte das erste Mal seit Wochen fast herzhaft gelacht. Hier in dieser verschlafenen Gegend hatte sich seit Jahren nichts verändert, wie ihr bei den unregelmäßigen Besuchen nicht entgangen war. Wer immer diese Tankstelle eröffnet hatte, musste verrückt sein. „Draußen heißt es, Sie hätten Eiswasser?“

„Das finden Sie dort hinten“, sagte die Angestellte lächelnd und zeigte in die Richtung. „Die Becher sind gleich neben dem Behälter. Bedienen Sie sich.“

Lilah schlenderte den Gang entlang und schenkte sich gerade einen Becher ein, als Bree wieder auf der Bildfläche erschien. „Haben sie hier Hotdogs?“

„Ich glaube nicht.“

„Dann will ich eine Cola.“

„Auch daraus wird leider nichts. Du hast auf unserer Reise genug Zucker und Koffein bekommen“, erklärte sie bestimmt und deutete zu dem Wasserbehälter, als Bree protestieren wollte. „Trink so viel Eiswasser, wie du möchtest, aber fang keinen Streit mit mir an. Meine Schwester Nettie ist eine fabelhafte Köchin. Du kannst meinetwegen nachher bei ihr essen, bis du platzt. Doch bis zu unserer Ankunft gibt es nichts mehr.“

„Ich sehe mich mal bei den Zeitschriften um.“ Gleichgültig zuckte die Elfjährige die Schultern, schob die Hände in die Taschen der tief sitzenden Jeans und ging davon.

Lilah seufzte, leerte ihren Becher und verschwand kurz in der Damentoilette. Bei ihrer Rückkehr traute sie ihren Augen nicht. Bree stand vor einem Regal mit Süßigkeiten und hob gerade ihr T-Shirt, um einen Schokoriegel im Hosenbund zu verstecken. Sofort stürzte sie auf das Mädchen zu und nahm ihn ihr ab.

„Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt bist du auch noch eine Ladendiebin! Was ist bloß mit dir los?“ Reg dich ab, ermahnte sie sich im nächsten Moment, das Mädchen ist erst elf und hat vor einem Monat ihre Mutter verloren. „Bree“, sagte sie dann ruhiger und hielt deren rebellischem Blick stand. „Grace … deine Mom … war die ehrlichste Frau, die ich jemals gekannt habe. Sie wollte immer nur das Beste für dich. Wie würde sie sich wohl fühlen, wenn sie beobachten könnte, dass du stiehlst?“

Bree sah Lilah herausfordernd an. „Weniger schlecht, als wenn sie wüsste, dass du es mir nicht kaufen willst.“

Was sollte Lilah jetzt tun? Sie hatte keinen Job mehr und musste ihr Geld sorgfältig einteilen. Gestern hatte sie die Extras neben den normalen Mahlzeiten auf drei begrenzt. Heute hatte sie sie auf sechs erhöht, da Bree erklärt hatte, sie benötige wegen ihres Wachstumsschubs zusätzliche Kalorien.

„Sieh mal, Bree“, begann sie und krallte die Finger um den Schokoriegel. „Mir ist klar, dass du gerade eine sehr schwere Zeit durchlebst. Ich war genauso alt wie du, als meine Mutter starb. Es ist schrecklich, und daran wird sich wahrscheinlich so schnell nicht viel ändern. Zumindest war es bei mir so. Aber wenn du mir eine Chance gibst … können wir beide bestimmt Freundinnen werden.“

Das Mädchen verdrehte die Augen, und Lilah seufzte resigniert auf. Vielleicht sollte sie die Süßigkeit kaufen und noch viel mehr – um sie dann selbst zu essen. Plötzlich bemerkte sie, dass eine von Brees Jeanstaschen seltsam gewölbt war.

„Hast du außer dem Schokoriegel noch etwas genommen?“, fragte sie sichtlich geschockt.

Die Elfjährige schaute sie mit unbewegter Miene an.

Lilah hob die Hände. „Gönn mir eine Atempause! Meine Schwester Sara ist Sheriff in Kalamoose. Sie flippt schon aus, wenn sie erfährt, dass du auch nur einen Stein auf dem Schulhof aufhebst, ohne zu fragen. Und sie dürfte fuchsteufelswild werden, wenn du versuchst, den halben Süßigkeitsvorrat der Kleinstadt an dich zu bringen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Sara ist ausgesprochen Furcht einflößend“, fügte sie hinzu, als das Mädchen überhaupt nicht reagierte.

Starr blickten sie sich eine Weile an, und als dies zu nichts führte, streckte Lilah die Hand aus. „Bitte gib mir die Sachen aus deiner Hosentasche.“

Bree verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Schlagartig wurde Lilah klar, dass sie diesen Kampf gewinnen musste, sonst hatte sie womöglich für immer verloren.

Hoffentlich bemerkt die Verkäuferin nichts, dachte sie, während sie dicht an ihren Schützling herantrat. Und nach einem kurzen Gerangel förderte sie schließlich diverse Süßigkeiten aus der ausgebeulten Tasche zutage.

Hin- und hergerissen zwischen Triumph und Bestürzung, räumte sie die Dinge ins Regal zurück, als Bree plötzlich davonstürzte. Lilah eilte hinter ihr her, doch das Mädchen war schneller und hatte zudem wegen des Überraschungsmoments einen Vorsprung. Bree stürmte bereits zur Tür hinaus, als Lilah noch den Gang entlang rannte – und an dessen Ende mit einem Mann zusammenprallte, der unvermittelt dort aufgetaucht war.

„Oh!“ Unwillkürlich hielt sie sich an ihm fest, um nicht völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten. Dabei entglitt ihr der Schokoriegel, den sie noch nicht zurückgelegt hatte, und fiel zu Boden.

Sie spürte zwei kräftige Hände an ihren Schultern. Dann bemerkte sie das feine Tuch des Jacketts, an dem sie sich festhielt. Ein so eleganter Anzug passte eigentlich nicht in einen Minimarkt in North Dakota. Sie nahm den Duft eines teuren Aftershaves wahr, als sie aufblickte, um sich zu entschuldigen. Der Mann maß sicher einen Meter neunzig und war gut einen Kopf größer als sie. Doch sobald sie in das Gesicht mit den grauen Augen blickte, erstarben ihr die Worte auf den Lippen. Vor ihr stand Gus Hoffman, und er schien sie ebenfalls zu erkennen.

„Willst du so schnell wieder weg?“

Seine Stimme klang wie vor zwölf Jahren, als sie sich zuletzt gesehen hatten. Er betrachtete sie mit eisiger Miene, die darauf schließen ließ, dass er sich an jedes unerfreuliche Detail jener Begegnung erinnerte.

Und während Lilah unfähig war, sich zu rühren, ließ er sie los und befreite sich ruhig aus ihrem Griff. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich, und Lilah fröstelte trotz der unerwünschten Hitze, die in ihr aufstieg. Gus beherrschte es noch immer vortrefflich, sich gegen jeden abzuschotten, dem er nicht vertraute.

Vor zwölf Jahren hatte sie sich gefragt, ob sich ihre Wege jemals wieder kreuzen würden, und es für ausgeschlossen gehalten. Gus hatte Kalamoose immer gehasst, und als er diese Kleinstadt verlassen musste, war Lilah sicher gewesen, dass er nie zurückkehren würde.

„Ich schätze es nicht, wenn man die Gänge in meinem Geschäft entlang rennt“, erklärte er arrogant und versetzte ihr den nächsten Schock.

„In deinem Geschäft?“

Er zog eine Braue hoch. „Und ich dulde auch keinen Ladendiebstahl.“

Lilah brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Dass Gus aussah, als wäre er einem Cover von GQ entsprungen, war schon seltsam genug. Dass er sie wegen ihres Benehmens tadelte, war höchst unwirklich in Anbetracht früherer Zeiten.

Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, und über seine Familie war in Kalamoose viel gespottet worden. Außerdem hatten über sie diverse Gerüchte kursiert. Und Gus hatte durch sein Verhalten kaum dazu beigetragen, die herrschende Meinung zu ändern.

Lilahs Familie war damals die einzige gewesen, die ihm eine Chance gegeben hatte, und jetzt bezichtigte er sie doch tatsächlich des Ladendiebstahls. Sie hatte noch nie eine Straftat begangen, was er dagegen nicht von sich behaupten konnte. Allerdings war sie ihm seit zwölf Jahren eine Erklärung schuldig und musste ihn um Verzeihung bitten. Trotzdem wurde sie ärgerlich.

„Auch ich dulde keinen Diebstahl“, erwiderte sie so gelassen wie möglich. „Das habe ich noch nie gemacht.“ Ja, er hatte ihre Anspielung verstanden, denn er sah sie finster an. Aber jetzt sollte sie endlich Bree zur Rede stellen. Sie blickte an ihm vorbei zur Glastür, und er drehte sich kurz um und folgte ihrem Blick.

„Bringen Sie das Mädchen her!“, wandte er sich an die junge Lakota.

Angst stieg in Lilah auf. „Nein. Wir haben es eilig.“

Ungerührt bedeutete er seiner Angestellten, nach draußen zu gehen, und Lilah seufzte resigniert. Verflixt, sie war gerade einmal fünf Minuten zurück in der Heimat und forderte schon das Schicksal heraus.

Schnell besann sie sich auf ihr schauspielerisches Talent und sagte forsch und spöttisch zugleich: „Man könnte meinen, wir würden eine Szene für CSI drehen. ‚Bringen Sie das Mädchen her‘“, äffte sie ihn nach. „Meine Güte, Gus. Was für ein Theater wegen nichts. Mir ist klar, dass die Situation etwas merkwürdig gewirkt hat, aber du solltest doch am besten wissen, wie schnell ein falscher Eindruck entsteht. Bree ist zum Wagen gelaufen, um ihr Geld zu holen, weil ich mich geweigert habe, ihr etwas Süßes zu kaufen.“ Sie bückte sich und hob den Schokoriegel auf. „Das ist alles.“

Wie auf Kommando kam die junge Frau mit der jungen Diebin zur Tür herein. Die Elfjährige sah kampflustig aus, aber auch beunruhigt und ängstlich, als sie Lilah anblickte. Vermutlich befürchtete Bree, Lilah hätte sie verraten.

Hoffentlich kann ich uns bald aus dieser blöden Lage befreien, dachte sie. Ihr Schützling tat ihr ehrlich leid. Außerdem wollte sie im Moment bestimmt keine Fragen über die letzten zwölf Jahre ihres Lebens oder Bree beantworten.

„Ich glaube, ich kaufe den Riegel doch“, erklärte sie Gus. „Es gibt so viele Studien über den Nutzwert von Schokolade. Wer bin ich, dass ich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen zweifle?“ Sie sah Bree über seine Schulter hinweg an, die reglos dastand. „Du brauchst dein Sparschwein nicht zu plündern, Schätzchen. Deine Tante Lilah kauft dir etwas zum Knabbern.“

Zufrieden beobachtete sie aus den Augenwinkeln, dass Gus das Wort „Tante“ registriert hatte, und wandte sich dem nächstbesten Regal zu. Sie holte eine Tüte Kartoffelchips heraus und überflog die Zutatenliste. „Ja, niedriger Fettgehalt und viel Kalium. Wir nehmen auch die noch mit. Komm, Bree.“

Sobald sie an Gus vorbeigegangen war, warf sie der Elfjährigen einen vielsagenden Blick zu: Fall mir jetzt bloß nicht in den Rücken! Und Bree zeigte sich endlich einsichtig und nickte.

Hocherhobenen Hauptes schlenderte Lilah auf die Kasse zu. Tu so, als hättest du in den letzten vier Tagen nicht hinterm Steuer gesessen, sondern Edelboutiquen durchstreift, forderte sie sich auf. Leider sah sie nicht gerade danach aus.

Seit einer Ewigkeit stärkte sie ihr Selbstvertrauen, indem sie besonders auf ihr Äußeres achtete – das momentan allerdings sehr zu wünschen übrig ließ. Sie war verschwitzt, ihr Make-up war verwischt, und die kakifarbenen Shorts und das weiße Top mussten dringend gebügelt werden. Und ihren Händen hatte sie schon seit Monaten keine Maniküre mehr gegönnt.

Besonders eindrucksvoll sehe ich nicht gerade aus, dachte sie und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Gus. Sie war elf gewesen, fast ein Jahr jünger als er, und hatte gerade angefangen, den modischen Covergirls auf dem Teenagermagazin „Seventeen“ nachzueifern.

Gus hingegen hatte ausgesehen, als würde er auf einer Farm arbeiten und die Kleidung seit einer Woche nicht gewechselt haben. Sein T-Shirt war fleckig, zu groß und an manchen Stellen verschlissen gewesen, und die Hose war an mehreren Stellen zerrissen gewesen. Er selbst war schmutzverschmiert gewesen und hatte nach Schafen gerochen.

Bedächtig legte Lilah die Einkäufe auf den Tresen und holte Geld aus der Handtasche, während sie auf die Kassiererin wartete. Aber statt ihrer erschien Gus hinter dem Ladentisch. Ohne sie aus den Augen zu lassen, rechnete er die Sachen ab und reichte sie ihr schließlich in einer Papiertüte.

Vorsichtig nahm Lilah sie entgegen, denn sie wollte ihn nicht einmal am kleinen Finger berühren. Sie trat einen Schritt zurück und machte dann den Fehler, aufzublicken.

Gus hatte sein kantiges Gesicht, das verriet, dass er zur Hälfte ein Lakota war, kurzfristig Bree zugewandt, die schon bei der Glastür stand. Er betrachtete das Mädchen einen Moment und sah Lilah danach abschätzend an.

Ihre Nerven waren ohnehin sehr angespannt, doch jetzt drohten sie zu zerreißen. Verschwinde so schnell wie möglich, mahnte eine innere Stimme sie lautstark, nur war sie noch nie gut in Abgängen gewesen.

„Nettie wartet auf uns, und wir sind sowieso schon spät dran.“ Sie schlenderte auf Bree zu. „Ein schöner Minimarkt“, fuhr sie fort, um das drückende Schweigen zu beenden. „Mit einem prima Süßwarenangebot und Iced Coffee Drinks … Viel Glück.“

Sie fasste ihren Schützling am Arm und eilte nach draußen.

„Reagierst du bei Männern immer so idiotisch? Da drinnen hast du dich wie eine Geistesgestörte aufgeführt.“

Lilah krallte die Finger ums Lenkrad, um zu verbergen, wie sehr ihre Hände zitterten. „Man bezeichnet niemanden als Geistesgestörten. Das ist sehr unhöflich.“

„Okay. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich meine wichtigsten Entwicklungsjahre mit jemandem verbringen muss, der sich wie eine Verrückte benimmt. Wie soll ich da etwas lernen?“ Bree beschwerte sich zwar auf die übliche dramatische Weise, klang aber zum ersten Mal seit Langem fast fröhlich.

Wenn du überhaupt etwas von mir lernen willst, dann lern aus meinen Fehlern, hätte Lilah gern geantwortet, ließ es jedoch bleiben. Am liebsten würde sie momentan gar nicht reden müssen, und deshalb schob sie eine Kassette mit Broadwaymelodien in den Rekorder.

Bree hörte ganze zwei Sekunden lang zu, bevor sie erneut fragte: „Reagierst du bei Männern immer so idiotisch?“

„Ja“, stieß Lilah zwischen den Zähnen hervor.

„Oh.“ Sie kratzte sich am Arm. „Ich auch.“ Sie holte die Kassette aus dem Rekorder und tauschte sie gegen eine mit Musik von der britischen Band Coldplay aus.

Kurz blickte Lilah zu ihr. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie den Gesprächsfaden aufgenommen, um ihrem Schützling näherzukommen. Aber jetzt war es ihr unmöglich, denn sie musste erst einmal versuchen, ihr inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Warum hatten ihre Schwestern ihr nicht erzählt, dass Gus wieder in der Gegend war? Als Eigentümer der neuen Tankstelle war er doch nicht erst gestern zurückgekehrt.

Allerdings konnte es auch etwas Gutes bedeuten, dass sie ihr nichts gesagt hatten. Womöglich hatten die beiden nie von Lilahs damaliger Beziehung mit dem am meisten verachteten Jungen in ganz Kalamoose und Umgebung erfahren. Dann wussten sie auch nicht, dass er mit ein Grund dafür gewesen war, warum sie damals die Kleinstadt verlassen hatte. Und sie ahnten erst recht nicht, dass sie zumindest teilweise für die Tat verantwortlich war, für die man ihn vor zwölf Jahren in Handschellen abgeführt hatte.

„Die Zahlen sehen gut aus, Crystal“, sagte Gus mit angespannter Stimme zu seiner jungen Geschäftsführerin. „Ich schaue morgen wieder vorbei. Rufen Sie mich an, falls Sie vorher etwas brauchen.“

Crystal nickte und folgte ihm zur Tür. Sie hatte kein Wort über den Zwischenfall von eben verloren, denn sie besaß ein feines Gespür dafür, wann sie besser schwieg. „Wir kommen schon klar.“

„Bis dann.“

Gus trat hinaus in den Sonnenschein und ging um das Haus herum zu seinem Wagen, den er nahe der Werkstatt geparkt hatte. Er winkte Crystals Cousin Jim zu, ebenfalls ein Lakota, der gerade einen Pick-up reparierte und die Zapfsäulen bediente.

Die Tankstelle lief schon ganz gut, und er war sicher, dass sich die Investition rentieren würde. Auch wenn er Risiken liebte, ging er sie nicht unnötig ein. Er war mit vielen Plänen nach North Dakota zurückgekehrt, die auch Kalamoose betrafen.

Vor zwölf Jahren hatte er das Provinzstädtchen unter Schimpf und Schande verlassen. Er war mittellos und ohne Schulabschluss gewesen und hatte es mit jedem Menschen verdorben, der ihm hätte helfen können. Und er hatte Lilah Owens genauso gehasst, wie er sie vorher geliebt hatte – blind und leidenschaftlich.

Gus setzte die hundertfünfzig Dollar teure Sonnenbrille auf, ließ den Motor seines Cabrios an und wendete. Die Bestürzung in ihrem Gesicht, als er ihr erzählt hatte, die Tankstelle gehöre ihm, hatte ihn mit Zufriedenheit erfüllt – und mit Groll. Sie hatte anscheinend nicht erwartet, dass er es zu etwas bringen könnte.

Er bog in den Highway ein und gab richtig Gas. Verflixt, er hatte schon lange nicht mehr das Bedürfnis gehabt zu rasen. Sofort drosselte er das Tempo wieder. Offenbar übte Lilah noch immer einen schlechten Einfluss auf ihn aus.

Eigentlich hatte er inzwischen gelernt, sich zu beherrschen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, keine Zeit zu verschwenden und sich nicht von Nebensächlichkeiten ablenken zu lassen. Aber das Wiedersehen mit Lilah hatte ihn doch tatsächlich umgehauen.

Dabei hätte er nicht überrascht sein müssen. Schon bei seiner Rückkehr nach Kalamoose war ihm klar gewesen, dass sich ihre Wege irgendwann kreuzen könnten. Er hatte sich darauf gefreut, ihr zu begegnen und zu zeigen, dass er es geschafft hatte – und zwar allein. Ohne ihre Liebe und Unterstützung, ohne alles, von dem er früher geglaubt hatte, er würde es zum Überleben brauchen. Er konnte auf vieles verzichten, wie er mittlerweile herausgefunden hatte. Unter anderem auch auf Lilah Owens.

Er ließ den Moment Revue passieren, in dem er aus seinem Büro gekommen war und sie erblickt hatte. Sie war in eine Rangelei mit einem Kind verwickelt gewesen, das offenbar etwas gestohlen hatte. Natürlich hätte er einschreiten können, war aber lieber im Hintergrund geblieben. Er hatte die Gelegenheit genutzt, sich wieder abzuregen und Lilah zu betrachten.

Selbst ohne perfekt gekleidet und geschminkt zu sein, war sie noch immer attraktiv… Gus fluchte und gab Gas. Ja, sie hatte auch nach zwölf Jahren noch eine Traumfigur. Allerdings hatte sie müde ausgesehen, als hätte sie nur wenig geschlafen. Aber ihre grünen Augen waren so faszinierend gewesen wie früher – und ihre Lippen waren so sinnlich, dass sie den meisten Männern den Verstand raubten.

Gus drosselte das Tempo, als der Tacho hundertdreißig Stundenkilometer anzeigte, und dachte kurz an das Mädchen. Sie dürfte um die zehn, elf Jahre alt sein und ähnelte Lilahs älterer Schwester Sara, mit der er sich nie verstanden hatte. Möglicherweise war es deren Tochter, oder aber die von Nettie. Wie er gehört hatte, war die jüngste Schwester verheiratet und lebte teils in Kalamoose, teils in New York. Mehr wusste er nicht über die Familie, denn er hatte jeden Tratsch und Klatsch sorgfältig gemieden.

Dass es Lilahs Kind sein könnte, hatte er bereits verworfen, bevor er ihr in den Weg getreten war. Die Rangelei zwischen den beiden hatte merkwürdig gewirkt, als wären sie keinen Körperkontakt miteinander gewöhnt.

Verschwende keine Zeit mehr auf das Kind, ermahnte er sich. Und dann dachte er an den schlimmsten Moment in ihrer Beziehung: an Lilahs Verrat. In einem Augenblick, den er nie vergessen würde, hatte sie ihm quasi das Herz herausgerissen, das er erst durch seine Liebe zu ihr entdeckt hatte.

Eine Ewigkeit hatte er sich gewünscht, sie möge einen ähnlichen Schmerz erleiden. Sie sollte sich verlieben, einem Menschen vertrauen und zulassen, jemanden zu brauchen – und dann von diesem völlig im Regen stehen gelassen werden.

Lange Zeit hatte der Hass ihn beherrscht und am Leben gehalten. In dieser Phase hatte er miserable Entscheidungen getroffen und idiotische Fehler begangen. Schließlich erkannte er, dass Hass ein schlechter Begleiter war, mit dem man nicht weiterkam, dass gerechter Zorn jedoch eine starke Antriebskraft besaß. Ab da hatte es sich für ihn zum Guten gewendet.

Gus hatte sich Chancen erkämpft, die er sich nie erträumt hätte. Er hatte seinen Stolz und seine Arroganz ignoriert und jede Arbeit angenommen, wenn sie ihn weiterbrachte. Außerdem hatte er gelernt, sich anzupassen oder sich zumindest diesen Anschein zu geben, wenn es für ihn nützlich war. Er hatte sich Mentoren gesucht und ihren Ratschlägen aufmerksam zugehört.

Im Lauf der Jahre hatte er es weitergebracht, als jeder – einschließlich er selbst – ihm zugetraut hätte. Irgendwann auf seinem Weg hatte er nicht mehr bei jedem Job, den er annahm, oder jedem Bankkonto, das er eröffnete, an Lilah gedacht. Und als er eines Tages einen tausend Dollar teuren Anzug anprobiert und sich im Spiegel betrachtet hatte, war ihm die eigene – nicht Lilahs – Zustimmung wichtig gewesen. In jenem Moment hatte er gewusst, dass er endlich ein freier Mann war, der nicht nur beruflich, sondern auch privat zu neuen Ufern aufbrechen konnte. Er hatte mit Lilah Owens abgeschlossen, denn es interessierte ihn nicht mehr, was sie fühlte oder meinte, oder ob sie ihr Verhalten jemals bereut hatte …

Bis vor fünfzehn Minuten!

„Nur damit ich es richtig verstehe … Die Kindsmutter, die dich seit Jahren nicht gesehen hat, überträgt dir die Vormundschaft für ihre Tochter, und du hast in der Angelegenheit nichts zu melden?“ Sara klang zu Lilahs Bestürzung ganz und gar nicht wie eine mitfühlende Schwester.

„Sprich leiser!“, forderte sie sie auf und blickte zu den Arrestzellen, die Bree gerade mit Saras Erlaubnis inspizierte. „Natürlich hatte ich in der Angelegenheit etwas zu sagen. Man kann niemanden zwingen, ein Kind in Obhut zu nehmen.“

„Und wieso ist die Kleine dann noch bei dir?“

Autor

Wendy Warren
Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...
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