Die Reise ins Paradies

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Gegen den Widerstand ihrer vornehmen Familie in Boston tritt Isadora Dudley Peabody an Bord der Silver Swan die lange Seereise nach Rio de Janeiro an. Sie will etwas von der Welt sehen, ihre Unabhängigkeit beweisen. In Kapitän Ryan Calhoun findet sie einen interessierten Gesprächspartner und, in Rio angekommen, einen aufmerksamen Verehrer. Isadora ahnt nicht, dass Ryans Kampf um die Freiheit der Sklaven in den Südstaaten ihr neugefundenes Glück mit ihm schon bald gefährden wird.


  • Erscheinungstag 23.11.2021
  • Bandnummer 59
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503068
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Boston, Oktober 1851

Unsichtbar zu sein hatte Vorteile. Isadora Dudley Peabody wusste, niemand würde sie bemerken, nicht einmal dann, wenn das glänzende Parkett des Ballsaals sich öffnete und sie verschluckte. Natürlich würde das nicht geschehen. Es würde sehr viel Mut erfordern, mitten in einem überfüllten Ballsaal zu verschwinden, aber Isadora war alles andere als couragiert.

Im Übrigen hatte sie etwas ganz anderes im Sinn.

Sie widerstand dem Wunsch, sich unsichtbar zu machen, und verdrängte ihn in den Bereich der Unmöglichkeiten, der in ihrer Welt ein großes Ausmaß hatte. Es erschien ihr ausgeschlossen, nicht gezwungen zu lächeln oder ein Kompliment zu machen, das nicht aufgesetzt war, und Träume zu haben, die nicht durch grausame Enttäuschungen gestört wurden.

Sie drückte sich in eine Fensternische, empfand einen Niesreiz und presste sich hastig das rasch hervorgezogene Taschentuch auf die Nase. Das Gerede der alten Klatschtanten war immer noch zu hören, und bekümmert fragte sie sich, ob die Schandmäuler niemand anderen finden konnten, über den sie herziehen mochten.

„Sie unterscheidet sich sehr von den anderen Peabodys und ist in mancherlei Hinsicht das schwarze Schaf der Familie“, flüsterte jemand empört. „Sie hat dunkles Haar und ist hässlich, wohingegen ihre Geschwister hübsch wie der junge Frühling sind.“

„Ihr Vater hat es selbst mit seinem Reichtum nicht geschafft, ihr einen Gatten zu kaufen“, erwiderte die andere Person.

„Es ist mehr nötig als nur Geld.“

Isadora widerstand dem Niesreiz nicht mehr, gab ihm nach und verließ, da ihr Versteck jetzt verraten war, geschwind die Nische. Die verblüfften Damen, zwei Freundinnen ihrer Mutter, räusperten sich betreten und wedelten echauffiert die Fächer vor sich hin und her.

Sie rückte die Brille zurecht und täuschte vor, das boshafte Gerede nicht gehört zu haben. An sich hätte sie diese Art der Erniedrigung mittlerweile gewohnt sein müssen und sich nicht mehr so verletzt fühlen dürfen. Aber leider konnte sie sich immer noch nicht damit abfinden, erst recht nicht bei diesem Fest, das an diesem Abend anlässlich der Verlobung ihrer jüngeren Schwester stattfand. Arabellas Glück feiern zu müssen trug nur dazu bei, Isadoras Elend zu vergrößern.

Das Korsett belästigte sie, weil zwischen ihren Brüsten ein Fischbeinstäbchen gebrochen war, dessen eine Hälfte sie nun unangenehm stach. Es kostete sie sehr viel Selbstbeherrschung, sittsam die gefalteten Hände vor sich zu halten, während sie verzweifelt darauf wartete, dass ein nicht sehr willig aussehender, grimmig lächelnder Herr zu ihr kam und sie zum Tanz aufforderte.

Es war selten der Fall, dass jemand sie darum bat. Kein junger Mann wollte mit einer unansehnlichen, blässlichen Frau tanzen, die zu schüchtern war, um unbefangen zu plaudern, banale Oberflächlichkeiten jedoch als langweilig empfand und sich daher nicht anstrengte, einfach nur Konversation zu machen.

Sie stand vor der marmorierten Wand und zog nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich als die mit Japanlack überzogene Aufsatzkommode der Mutter. Das Gelächter der Gäste, die Gespräche und die klirrenden Gläser waren ein angenehmer Hintergrund für die von dem zwölfköpfigen Orchester dargebotene Musik.

Unbemerkt schaute Isadora durch das Atrium zum Arbeitszimmer des Vaters und fand die Aussicht verlockend, sich dort hinzuflüchten.

In dem düsteren Raum konnte sie sich vielleicht etwas sammeln und kühn die Hand unter das Korsett schieben, um sich zu kratzen.

Sie bewegte sich auf den Eingang des Ballsaales zu und hielt unter dem aus Walnussholz geschnitzten Hauptbogen an. Sie hatte das Arbeitszimmer fast erreicht, musste nur noch durch das Atrium und den Korridor hinunter. Niemand würde sie vermissen oder wissen, wo sie sich befand.

Den Blick fest auf ihr Ziel richtend, wich sie einer Gruppe von Freunden ihres in Harvard studierenden Bruders aus, eilte an guten Bekannten des Vaters aus dem Somerset Klub vorbei und wäre fast von einer Schar kichernder Debütantinnen aufgehalten worden. Sie zwängte sich an einem mit Putten verzierten vergoldeten Spiegel und einem in einem vierfüßigen Blumentopf wachsenden anmutigen Farn vorbei und strebte in das Atrium.

Noch ein Schritt, und dann ein weiterer, und sie war nicht mehr sichtbar. Sie war unsichtbar und konnte wie ein Vogel fliegen, wie eine Schlange gleiten, geschmeidig und graziös, behände, nur einen Lufthauch erzeugend, wenn sie im Nichts verschwand, in die Freiheit.

Tief in diesem Traum versunken, dachte sie nicht mehr an ihre Polonaise, die mit nachschleppenden Bouillonieren am Kleid befestigt war.

Sie spürte ein Rucken am Rock, drehte sich hastig um und sah, dass ein Band sich um einen Fuß des Farnbehälters gewickelt hatte. Die Zeit schien langsamer abzulaufen, und Isadora glaubte, den Verlauf des ihr widerfahrenen Missgeschicks wie durch Wasser gebrochen zu sehen. Einen Moment zu spät streckte sie die Hand nach der sich schlängelnden Bouilloniere aus, die sich straffte und den Alabastertopf umriss. Die große Pflanze neigte sich, und der Behälter zerschellte auf dem Marmorboden.

Das Umstürzen des Farns und der Knall des zerberstenden Topfes ließen die im Ballsaal Anwesenden jäh erstarren. Einen Herzschlag später richteten sich die Augen der jungen Männer aus Harvard, der Freundinnen der Mutter, der Geschäftsleute, der Damen der Gesellschaft und der übrigen Gäste auf Isadora. Reglos verharrte sie, wie durch die Blicke gelähmt, auf der Stelle, einer Gefangenen gleich, die vor einem Erschießungskommando stand.

„Oh Dora!“ Wie üblich nahm die ältere Schwester Lucinda die Sache in die Hand. „So ein Pech, noch dazu bei Arabellas Fest! Komm, ich befreie dich!“ Einen Moment später erschien ein Hausmädchen mit Besen und Kehrschaufel, und gleich darauf setzte die Musik wieder ein.

Isadora brauchte nur einige Sekunden, um sich von dem Schreck zu erholen, doch sie kamen ihr wie eine Ewigkeit vor, in der sie das gleiche ungehaltene Gemurmel hörte, das belustigte Gekicher und missbilligende Räuspern, das sie während ihrer Jugendzeit verfolgt hatte.

Sehnlichst wünschte sie sich, verschwinden zu können, doch wie entrann man dem eigenen Dasein?

„Vielen Dank, Lucinda“, äußerte sie pflichtbewusst. „Wie ungeschickt von mir!“

Lucinda widersprach ihr nicht, lächelte sie an und glättete ihr geschickt Polonaise und Rock. „Das war keine Katastrophe, Liebes. Es bedarf mehr als einer umgefallenen Pflanze, um diesen Abend zu ruinieren. Es ist alles in Ordnung.“

Ohne jeden Groll merkte Isadora, dass die Schwester es ehrlich meinte. Die gertenschlanke blonde Lucinda war das älteste ihrer Geschwister und mit dem reichsten Fabrikbesitzer aus Framingham verheiratet, lebte dort in der waldigen Umgebung in einem aus Backsteinen und Marmor erbauten Palast und brachte in jedem Frühjahr ein gesundes, rosiges Kind zur Welt.

Isadora zwang sich, das Lächeln der Schwester zu erwidern, dachte jedoch daran, welch seltsames Bild sie abgeben mussten. Lucinda sah wie ein Porzellanpüppchen aus, wohingegen sie selbst den Eindruck erweckte, an unstillbarem Appetit zu leiden.

Da der peinliche Augenblick vorüber war, floh Isadora in das Arbeitszimmer, das typische Büro eines Bostoner Kaufmannes. Es enthielt erlesen geschnitztes Mobiliar, viele ledergebundene Bücher und einen umfangreichen Vorrat an alkoholischen Getränken und Tabaken. Erleichtert seufzend atmete sie den ihr vertrauten Geruch ein, schloss die Augen und lehnte sich an die walnussgetäfelte Wand.

„Drehen Sie bei, junge Dame“, sagte jemand in freundlichem Ton. „Ihre Takelage sieht ein bisschen in Unordnung geraten aus. Sind Sie mit etwas kollidiert?“

Isadora schlug die Augen auf und sah einen graubärtigen Herrn in einem mit braunem Leder bezogenen Ohrensessel sitzen, eine emaillierte Schnupftabakdose in der einen und ein Glas mit Punsch in der anderen Hand.

„Guten Tag, Mr. Easterbrook“, erwiderte sie. „Wie geht es Ihnen?“

Sie bildete sich ein, seine rheumatischen Gelenke knarren zu hören, als er aufstand und sich herzlich lächelnd vor ihr verneigte. „Ich bin in guter Verfassung, Miss Isadora, in sehr guter sogar“, antwortete er und setzte sich schwer auf die Armlehne des Sessels. „Und Sie?“

Im Stillen gestand sie sich ein, dass sie noch immer sehr in seinen Sohn verliebt war, äußerte das jedoch nicht. Ein gesellschaftlicher Fauxpas pro Stunde war selbst für sie genug.

Kläglich wies sie auf die offene Tür, durch die man sah, wie der ramponierte Farn fortgeschafft wurde, und antwortete: „Abgesehen davon, dass mir ein peinlicher Patzer unterlaufen ist, geht es mir recht gut. Allerdings habe ich mich bei diesem herbstlichen Wetter leicht erkältet. Ist der ‚Silberne Schwan‘ eingelaufen, Sir?“, fügte sie hinzu, weil sie wusste, dass er unruhig auf die Ankunft seines größten Dreimasters wartete.

„Ja“, sagte er und hob das Glas. „Heute Abend hat er am Liegeplatz festgemacht und wird morgen entladen. Er ist in Rekordzeit hier eingetroffen“, setzte er, die Stimme verschwörisch dämpfend, hinzu. „Er hat mir in einhundertundneunzig Tagen neunzigtausend Dollar brutto eingebracht.“

Da geschäftliche Dinge Isadora interessierten, schaute sie Abel Easterbrook ehrlich beeindruckt an. „Allmächtiger! Das ist wirklich ein Erfolg!“

„Das würde ich auch sagen. Ich habe ihn dem neuen Kapitän zu verdanken“, erwiderte Abel und spielte mit dem Gegengewicht der neben ihm auf dem Klapptisch stehenden Goldwaage. Isadora mochte ihn, da er der Vater von Chad war, dem perfektesten Mann, der je den Fuß auf diese Erde gesetzt hatte, und weil er sie eher wie eine Teilhaberin denn eine nicht mehr ganz junge Frau behandelte. Den einen wie den anderen Grund hätte sie nicht einmal unter Androhung der Todesstrafe eingestanden.

„Der ‚Silberne Schwan‘ hat einen neuen Master?“, erkundigte sie sich höflich.

„Ja, einen draufgängerischen Südstaatler aus Virginia, der Ryan Calhoun heißt. Er verfügte über so eindrucksvolle Heuerpapiere, dass ich ihn vom Fleck weg eingestellt habe. Ich beurteile einen Mann nach seinem Äußeren, und er hat einen gut aufgegeiten Eindruck auf mich gemacht.“

Isadora stellte sich einen verwitterten alten Kapitän vor und lächelte, denn nur ein so konservativ eingestellter Mensch wie Mr. Easterbrook würde einen seiner Arbeitnehmer draufgängerisch nennen.

Er zog ein Taschentuch hervor und polierte seine mit dem Zeichen seiner Reederei, einem silbernen Schwan auf blauem Grund, bemalte Schnupftabakdose, bis sie glänzte. „Captain Calhoun hält sich heute Abend noch an Bord auf, weil er den Seeleuten die Heuer auszahlt. Ich hoffe, noch vor Ende der Woche einen neuen Kursplan von ihm unterbreitet zu bekommen. Die nächste Fahrt geht nach Rio de Janeiro.“

„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem großen Erfolg“, sagte Isadora lächelnd.

„Danke“, erwiderte Abel strahlend und prostete ihr zu. „Auf Sie, Miss Isadora, und auf meinen schnellen neuen Skipper. Vielen Dank, dass Sie einem alten Seebären Gesellschaft leisten.“

Es blieb ihm jedoch kaum die Zeit, einen Schluck zu trinken, da ein Diener hereinkam und ihm diskret eine Nachricht aushändigte. Er entschuldigte sich bei Isadora, brummte etwas über ein Geschäft, das ohne ihn nicht abgewickelt werden könne, und verließ das Arbeitszimmer.

Sie verweilte, genoss das Alleinsein und dachte über die Neuigkeit nach, die Mr. Easterbrook ihr mitgeteilt hatte. Sein neuer Kapitän hieß Ryan Calhoun und war ein draufgängerischer Mann aus Virginia. Leider war sie alles andere als beherzt, wenngleich sie sich manchmal wünschte, verwegen zu sein.

Sie nutzte die Gelegenheit, ungestört zu sein, um den Schaden am Korsett einigermaßen zu beheben, und bedauerte, dass sie kein ihr geeignet erscheinendes Schimpfwort kannte, mit dem sie das sie einengende Fischbeingestänge hätte belegen können. Impulsiv nahm sie einen dolchförmigen Brieföffner vom Schreibtisch, schob ihn, unfähig, dem Drang zu widerstehen, sich Erleichterung zu verschaffen, unter das Vorderteil ihres Kleides und kratzte sich mit der Spitze an der Stelle, wo die Haut gereizt war.

Zufällig fiel ihr Blick über die dicken Gläser ihrer randlosen Brille in den hinter dem Schreibtisch des Vaters an der Wand angebrachten ovalen Spiegel.

Sie sah sich so, wie sie war – mit Haaren, deren Farbe einer Schmutzpfütze glich, mit Augen, die nicht das von den Eltern so geschätzte helle, klare Blau ihrer Geschwister hatten, und mit der vom vielen Schnäuzen geröteten Nase. Sie hatte weder die Fröhlichkeit noch die Schönheit ihrer Brüder und Schwestern, sondern trug meist eine mürrische Miene zur Schau.

Sie lebte in einer anständigen Bostoner Familie, die nicht an übernatürliche Dinge glaubte, war jedoch überzeugt, dass ihre engsten Angehörigen, wären sie abergläubisch gewesen, sie als Wechselbalg bezeichnet hätten. Sie hatte braunes Haar, während alle anderen Mitglieder der Familie blond waren. Ihr Teint war käsig weiß, die Haut ihrer Schwestern und ihrer Mutter hingegen modisch blass. Sie neigte zur Fülle und war hoch aufgeschossen, während alle anderen schlank waren und eine straffe, feste Figur hatten.

Der unbarmherzige Spiegel zeigte ihr ein verdrossenes Geschöpf in einem sie viel zu alt machenden Kleid aus schwarzem Bombassin, das sich über dem Fischbeinkorsett spannte. Auf Betreiben der Mutter hin trug sie das Haar zu einem hochgesteckten Knoten frisiert, aus dem Locken herunterfielen, da griechisch anmutende Frisuren sehr in Mode waren. Der Problem war nur, dass ihr langes Haar kaum zu bändigen war, und die Stöpsellocken, die zierlich und anmutig hätten aussehen sollen, widerspenstig und unattraktiv wirkten. Sie bot den Anblick einer jungen Frau, die dazu verdammt war, ein altes Mädchen zu werden, und das sie beschämende Ebenbild erfüllte sie mit solchem Abscheu, dass sie aus Verzweiflung am liebsten sofort etwas dagegen unternommen hätte.

Beklommen überlegte sie, was sie tun, wie sie auf einfallsreiche Weise ihr Elend beheben könne.

Sie fand es müßig, länger darüber nachzudenken, kratzte sich noch einmal mit dem Brieföffner und sah im gleichen Moment die Tür zum Arbeitszimmer sich wie von selbst öffnen. Neue Gäste gingen im Atrium vorbei, und viel zu spät fiel ihr auf, dass man sie im Büro sehen konnte. Sie erstarrte, den Brieföffner noch halb unter das Mieder geschoben, und vernahm aus dem Atrium lautes Männerlachen.

„Du lieber Gott, Izzie“, rief Quentin ihr aus der Gruppe der ihn umgebenden Universitätsfreunde zu. „Imitierst du so die entzückende Juliet?“

Viel zu entsetzt, um einen Laut herauszubringen, zog sie den Brieföffner hervor und ließ ihn auf den Teppich fallen. Mit einem Heiterkeitsausbruch setzten der Bruder und seine Freunde den Weg in den Ballsaal fort.

Isadora starrte den auf dem Fußboden liegenden Brieföffner an und wäre am liebsten gestorben. Im nächsten Augenblick sah sie jedoch Chad Easterbrook, den einzigen Menschen, der ihr die tiefe Niedergeschlagenheit nehmen konnte.

Mit langen, forschen Schritten folgte er Quentin und dessen Freunden zum Ballsaal, strebte zu dem Tisch mit den Erfrischungen und verhalf sich zu einem Glas Punsch. Da sich sogleich mehrere Damen in pastellfarbenen Kleidern in seiner Nähe einfanden, kehrte Isadora in der Hoffnung, er habe ihren Fauxpas nicht bemerkt, in den Ballsaal zurück.

Sie trug Chads Bild im Herzen; sah sein Lächeln in ihren Träumen, und sein Name ging ihr immer wieder durch den Sinn. Er hatte schimmerndes schwarzes Haar, trug Kleidung, die von schlichter Eleganz geprägt war, und bewegte sich mit einer natürlichen Geschmeidigkeit. Wenn Isadora ihn anschaute, sah sie die außerordentliche Personifizierung von Charme, Kultiviertheit und Esprit. Chad Easterbrook sah nicht nur gut aus, sondern hatte auch innere Qualitäten. In seiner Gesellschaft fühlte man sich wohl und hatte den Eindruck, das eigene Leben würde allein durch die Tatsache, ihn zu kennen, bereichert, schöner und erfreulicher. Mit seiner männlichen Schönheit verkörperte er das Ideal, das die Präraffaeliten in ihren Gemälden widerzugeben anstrebten. Er verfügte über den Charme eines Gesellschaftslöwen und bezauberte seine Zuhörer mit seinen geistreichen Bemerkungen und seinem fröhlichen Lachen.

Isadora zog die Brille tiefer auf die Nase, starrte ihn an und sehnte sich derart inbrünstig nach ihm, dass ihr das Herz wehtat. Sie wünschte sich, er könne ihr ins Innerste sehen und erkennen, was sie ihm alles zu bieten hatte.

Ein Mann dürfte jedoch Schwierigkeiten haben, einer Frau ins Innerste zu sehen, wenn sein Blick Bombassin und Steifleinen und, was am schlimmsten war, eine Mauer der Schüchternheit durchdringen musste. Bei den wenigen Malen, als Chad sich herabgelassen hatte, mit Isadora zu sprechen, war sie von ihm gebeten worden, Arabella eine Nachricht zu übermitteln. Im Wettbewerb um die Hand der Schwester hatte er knapp den Kürzeren gezogen, weil ihre Entscheidung für Robert Hallowell III. ausgefallen war.

Isadora wünschte sich, wenigstens einmal die Vielumworbene, der umschwärmte Mittelpunkt zu sein, mit Chad tanzen zu können, seine Arme um sich zu spüren und von ihm ein ihr zugedachtes Lächeln zu sehen, nur um erleben zu können, wie es war, hofiert zu werden.

Er und seine Freunde brachen oft ihn lautes Gelächter aus oder unterhielten sich in verschwörerischem Flüsterton. Nach einer Weile forderte jeder der jungen Herren eine Dame zum Tanz auf. Das Orchester spielte „Sail We Away“, ein Stück, das einen unwiderstehlichen Rhythmus hatte und noch so neu war, dass selbst die blasiertesten Mitglieder der Crème de la crème danach tanzten.

Erstaunlicherweise löste Chad sich ohne weibliche Begleitung von der Gruppe seiner Freunde, stellte das Kristallglas ab und kam auf Isadora zu. Hingerissen sah sie ihn sich ihr durch den Raum nähern und hielt den Atem an, als er vor ihr stehen blieb und sich verneigte. Im Lampenlicht hatte sein schwarzes Haar einen bläulichen Schimmer.

„Ich nehme nicht an, Miss Peabody, dass Sie in Betracht ziehen werden, mir einen großen Gefallen zu erweisen“, sagte er mit seiner melodisch klingenden Stimme.

Sie blickte über die Schulter, sah jedoch nur die Trophäe des Elches, den der Vater in Maine geschossen hatte. Hochrot werdend, wandte sie Chad wieder das Gesicht zu und fragte mit bebender Stimme: „Ich?“

Er lächelte geduldig und nickte.

„Sie wenden sich an mich?“, fragte sie, und vor Überraschung wurden ihr die Knie weich.

„Ja, es sei denn, dieser Elchkopf dort drüben heißt ebenfalls Isadora Peabody“, antwortete er in diesem leicht gedehnten, etwas spöttisch klingenden Ton, den man so oft bei den Mitgliedern des Harvard-Klubs hörte. „Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter, Miss Isadora, und zwingen Sie mich nicht, Sie bitten zu müssen!“

Verdutzt überlegte sie, ob er mit ihr tanzen wolle, und kam zu der Erkenntnis, dass er sie tatsächlich aufforderte. „Ich … ich bin entzückt!“, brachte sie heraus und kam sich eigenartigerweise so vor, als erlebe nicht sie diesen Moment, sondern beobachte wie eine dritte Person die langweilig gekleidete Hockenbleiberin im Gespräch mit dem feschen Studenten. Wenn dieses Wunder sich nicht vor ihren Augen abspielte, würde sie es nicht glauben.

Chad verneigte sich und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie und war froh, dass er durch ihre baumwollenen Handschuhe, die sie auf Drängen der Mutter hin angezogen hatte, nicht spüren konnte, wie kalt und klamm ihre Finger waren.

Da er ein bisschen kleiner war als sie, senkte sie leicht die Schultern und harrte, atemlos vor Überraschung und Entzücken, auf den Tanz mit ihm. Die Musik berauschte sie, und sie wähnte sich wie in einem jäh Wirklichkeit gewordenen Traum.

Chads Aufmerksamkeit gab ihr das Gefühl, in die Lüfte getragen zu werden, und sie kam sich vor, als sei sie schwerelos. Endlich war es ihr gelungen, die Gleichgültigkeit, die Chad ihr bisher gegenüber an den Tag gelegt hatte, zu durchbrechen, und nun würde sie mit ihm auf das Parkett schreiten.

Er geleitete sie indes nicht auf die Tanzfläche, sondern führte sie in die Nische, in die sie sich zu Beginn des Balls geflüchtet hatte. Allmächtiger! Hatte er ein Schäferstündchen mit ihr im Sinn? Fast hätte sie vor Wonne laut aufgelacht.

Der mit einer goldenen Bordüre verzierte Vorhang verbarg sie und Mr. Easterbrook junior vor neugierigen Blicken. Die Augen wurden ihr feucht, und innerlich zitternd zog sie die Brille tiefer auf die Nase, während sie ihn gespannt ansah. „Was möchten Sie von mir, Mr. Easterbrook?“, erkundigte sie sich erwartungsvoll.

Er suchte etwas in seiner Westentasche und erwiderte: „Es wird nur einen kurzen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Nanu, ich hatte es doch irgendwo!“

Er zog die Taschenuhr hervor und danach einen kleinen Goldring, in den ein blauer Topas gefasst war. Staunend überlegte Isadora, ob er sie um ihre Hand bitten wolle. Der Schweiß brach ihr aus, und zum ersten Mal im Leben begriff sie, warum eine Dame einen Fächer brauchte.

„Ich möchte, dass Sie diesen Ring an sich nehmen“, äußerte Chad und drückte ihn ihr in die Hand.

„Oh, Mr. Easterbrook! Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, erwiderte sie hingerissen, und vor Glück floss das Herz ihr über.

„Versprechen Sie nur, mir den Gefallen zu tun.“ Chad lächelte schwach, zog den Vorhang zur Seite und ließ suchend den Blick über die Gäste schweifen.

Das Schmuckstück passte nicht auf den zu dicken Ringfinger. „Natürlich!“, sagte Isadora bewegt. „Aber …“

„Lydia Haven ist dort“, unterbrach Chad, legte Isadora die Hand auf die Schulter und wies, sich etwas vorbeugend, auf eine junge Dame. „Sie trägt ein lavendelfarbenes Kleid und tanzt mit Foster Candy. Ich habe ihr diesen Ring im Scherz entwendet, und nun ist sie mir so böse, dass sie mich nicht einmal in ihre Nähe lässt, damit ich ihn ihr zurückgeben kann. Sagen Sie ihr, es täte mir leid …“

Isadora hörte nicht mehr, was Chad Easterbroke noch äußerte, weil das Blut ihr viel zu laut in den Ohren rauschte. Mit dem Gefühl tiefster Erniedrigung sah sie verschwommen die in dem lavendelfarbenen Kleid bezaubernd aussehende Miss Haven den Kopf in den Nacken werfen und über eine scherzhafte Bemerkung ihres Tanzpartners lachen.

„Sie wollen, dass ich ihr diesen Ring überbringe?“, fragte sie entgeistert.

„Ja, wenn Sie so nett wären“, antwortete Chad, legte ihr die Hand in Höhe der Taille auf den Rücken und wollte sie aus der Nische schieben.

Sie sträubte sich, und das gebrochene Fischbeinstäbchen stach sie ins Brustbein. „Mr. Easterbrook!“, sagte sie heftig.

„Ja, bitte?“

Am liebsten hätte sie ihm den Ring in das ungemein attraktive Gesicht geschleudert, unterließ es indes und tat stattdessen etwas sehr viel Schlimmeres.

„Wie Sie möchten“, äußerte sie kleinmütig und sah ihm in die Augen.

„Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Miss Isadora“, erwiderte er zufrieden und wies auf die Menschenmenge. „Der Tanz ist vorbei. Sie werden sich sputen müssen!“

Sich hassend verließ Isadora die Nische, kam Mr. Easterbrooks Bitte nach und händigte den Ring Miss Haven aus.

„Oh! Vielen Dank, Dora!“, sagte Lydia und schenkte ihr ein reizendes Lächeln. „Ich dachte, Sie wollten mir Chad Easterbrook ausspannen.“ Sie kicherte wie ihre Freundinnen, und Isadora empfand das leise Gelächter wie sie ins Herz treffende Dolchstiche. Lydia griff nach dem Band aus grob geripptem Seidentuch an Miss Peabodys Rock und fuhr amüsiert fort: „Sehen Sie sich doch nur in diesem schwarzen Kleid an, Dora! Was betrauern Sie, meine Liebe?“

Den Untergang der guten Manieren. Isadora fühlte sich indes viel zu gedemütigt, um den Gedanken auszusprechen. Verfolgt vom boshaften Gekicher der jungen Damen wollte sie sich rasch entfernen, sah jedoch, dass der Weg ihr durch eine blonde Frau versperrt wurde, die ein Glockenrockkleid trug und einen Fächer aus Elfenbein und Spitze in der Hand hielt. Die Dame lächelte zögernd, als sei sie unschlüssig, ob sie Isadora begrüßen solle.

Isadora nickte ihr zu und hoffte, die ihr einige Augenblicke zuvor in die Wangen gestiegene Röte möge schwinden. Hätte sie nicht das steife Korsett getragen, wäre sie bestimmt vor Scham zusammengebrochen, sah sich nun jedoch gezwungen, hoch aufgerichtet an der Frau vorbeizugehen. Sie hatte nur den Wunsch, möglichst schnell zu verschwinden.

Zu ihrem Entsetzen hörte sie Mrs. Hester Hallowell, die Mutter von Arabellas Verlobtem, ihr zurufen: „Meine herzallerliebste Miss Isadora, sehen wir heute Abend nicht entzückend aus?“

Sie schaute die sie anstrahlende Mrs. Hallowell an und antwortete halblaut: „Auf einige der Gäste trifft das zu, Madam.“

„Wie glücklich Sie darüber sein müssen, dass Ihre jüngere Schwester sich verlobt hat. Nun, bald werden Sie und Ihre herzallerliebsten Eltern allein in diesem Haus sein. Wird das nicht gemütlich werden?“

„Wir werden es bestimmt gemütlich haben“, erwiderte Isadora. „Wie außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, Madam, mich darauf hinzuweisen.“

„Kommen Sie“, forderte Hester sie auf. „Wir wollen einen Toast auf die Verlobten ausbringen.“

Isadora war überzeugt, jetzt niemanden ertragen zu können. Sie war nie fähig gewesen, ihre Gefühle zu verbergen, sodass ihre Eltern und Geschwister sofort merken würden, wie aufgeregt sie war. Dann würde sie in der zwar gut gemeinten, aber ihr lästigen Weise ausgefragt werden und gewiss die Fassung verlieren.

„Haben Sie mich nicht gehört, Miss Isadora? Sie müssen mitkommen und sich im Kreis der Familien einfinden. Wo sind eigentlich Ihre Brüder?“

Jemand ergriff Isadora am Arm. Erschrocken schrie sie halblaut auf, wich zurück und blickte der blonden Frau in die Augen, mit der sie bei dem Versuch, dem Ballsaal zu entfliehen, beinahe zusammengestoßen wäre.

Die Dame hatte wundervolle Locken, ein reifes, ungemein schönes Gesicht und Augen, aus denen Mitgefühl sprach, ein Zeichen dafür, dass Isadoras Argwohn zutraf. Die Frau hatte miterlebt, auf welch niederschmetternde Weise sie gedemütigt worden war.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte Isadora höflich.

„Ja, das können Sie“, antwortete Lily und wandte sich Mrs. Hallowell zu. „Ich fühle mich ein wenig schwindlig, Hester. Miss Peabody war so nett, mir ihr Schlafzimmer anzubieten, damit ich mich dort ein Weilchen ausruhen kann.“

Hester verengte die Augen. „Aber wir wollen doch einen Toast auf die Vergrößerung von Miss Peabodys Familie ausbringen!“, entgegnete sie irritiert.

„Ich bin sicher, das Wohlergehen der Gäste ist vorrangig“, murmelte Isadora, ging, Erleichterung und Dankbarkeit empfindend, mit der Dame durch den Ballsaal und führte sie die Treppe zu ihrem großen, luftigen Schlafzimmer hinauf. Sie bat sie in den Raum, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Vielen Dank“, sagte sie leise.

Lächelnd tat Lily den Dank mit einer freundlichen Geste ab, drehte die Flamme einer Gaslampe höher und stellte sich vor: „Ich bin Mrs. Lily Raines Calhoun.“

Aus ihrer Stimme hatte ein leichter Südstaatenakzent geklungen. „Sehr erfreut“, erwiderte Isadora. „Sie weilen zu Besuch in der Stadt?“

„Ja“, bestätigte Lily. „Ich stamme aus Virginia und bin vor Kurzem von einem dreijährigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt. Mr. und Mrs. Hallowell waren so liebenswürdig, mich zu diesem Fest einzuladen.“

„Ich hoffe, Sie amüsieren sich gut.“ Musik und Applaus drangen aus dem Ballsaal herauf, und Isadora widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Sie wusste, dass Arabella und deren gut aussehender Verlobter jetzt, vor Stolz platzend, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit standen, umgeben von Lucinda, Quentin, Bronson und den Eltern.

„Ehrlich gesagt, ist der Abend für mich nicht das reinste Vergnügen“, entgegnete Lily ernst. „Ich hatte gehofft, mit Mr. Abel Easterbrook sprechen zu können.“

„Oje! Er hat das Fest aus geschäftlichen Gründen verlassen müssen.“

Lily zog die Handschuhe aus, ergriff einen mit Rosenwasser gefüllten Kristallflakon und fragte höflich: „Gestatten Sie?“

„Selbstverständlich.“

Lily träufelte sich etwas von dem Duftwasser auf die Handgelenke und sagte bekümmert: „Nun, dann werde ich auf Mr. Easterbrook warten müssen. Ich bin es gewohnt zu warten.“ Sie senkte den Kopf, und im Licht der Gaslampe wirkte ihr feines Gesicht etwas betrübt. „An sich bin ich auf der Suche nach Mr. Calhoun“, fuhr sie leise fort. „Wie sich herausgestellt hat, ist er auf einem von Mr. Easterbrooks Schiffen zur See gegangen.“

Isadora bedauerte Mrs. Calhoun, die nach der langen Reise über den Atlantik hergekommen war, um ihren Gatten zu sehen, nur um feststellen zu müssen, dass er nicht greifbar war. Im Nu wurde für sie das Problem, das sie mit Chad Easterbrook hatte, zu einer unbedeutenden Kleinigkeit.

„Oh, das tut mir sehr leid, Mrs. Calhoun“, erwiderte sie, ging zu ihr und ergriff ihre Hände. „Ich … Wie lautet der volle Name?“

„Ryan Michael Calhoun.“

„Welch wunderbarer Zufall!“, äußerte Isadora überrascht und war unversehens voller Tatendrang. „Sie müssen sich nicht mehr die Mühe machen, auf Mr. Easterbrook zu warten. Ich kann Sie zu Mr. Calhoun bringen, noch heute Abend, wenn Sie das möchten.“

„Wie bitte?“

„Ja“, versicherte Isadora. „Ich weiß genau, wo er sich aufhält, Madam!“

2. KAPITEL

Wie war dein Name, Zuckerpüppchen?“, fragte Ryan die auf seinem Schoß sitzende Frau, die mit anderen Liebesdienerinnen auf Bumbooten eingetroffen war, noch ehe der „Silberne Schwan“ angelegt hatte. Die Schönen des Hafens hatten nicht darauf gewartet, dass der Segler vertäut wurde, da sie am schnellsten ins Geschäft kamen, wenn sie sich an Bord eines Schiffes einfanden, das monatelang auf See gewesen war.

Folglich hatte der „Silberne Schwan“ seinen Liegeplatz einem geplagten Lotsen zu verdanken, der von einem halben Dutzend Kokotten begleitet worden war.

„Zuckerpüppchen gefällt mir“, antwortete die Frau lachend, hob Ryan den gravierten Silberflakon, den er in Havanna erstanden hatte, an die Lippen und nötigte ihn, einen großen Schluck Rum zu trinken.

Er hatte nichts dagegen, als sie den teuren Flakon dann unter ihren mit Seide verarbeiteten Wollstrumpf schob. Er fand, das Leben meine es gut mit ihm, und daher hätte ihm an diesem Abend nichts die gute Laune verderben können. Er saß, den Oberkörper nur mit seiner limonengrünen Lieblingsweste bekleidet, auf dem Oberdeck der schnellsten Bark von Boston, schaute seiner sich wild vergnügenden Mannschaft zu und spürte die Auswirkungen des bereits in großen Mengen genossenen Alkohols.

„Das gehört alles dir, Zuckerpüppchen“, sagte er freundlich. „Das ist alles deins.“

„Aye, aye, Skipper“, erwiderte die Frau kichernd.

Er beugte sich vor, sodass seine Nase fast zwischen ihren Brüsten verschwand, schloss die Augen und hatte das Gefühl, noch immer auf den schwankenden Brettern des Schiffes zu stehen, das in den verflossenen neun Monaten sein Heim gewesen war. Er hätte sich kein besseres Dasein wünschen können. Die Reise war erfolgreich gewesen; ein üppig gerundetes, willfähriges Weib saß auf seinem Schoß, und er hatte eine Flasche besten Jamaikarums.

Auf der ganzen Welt gab es nichts sinnlich Erregenderes als den Geruch eines Weibes, und tief atmete er den dieser Frau ein, die leicht verschwitzt roch. Was machte es aus, dass sie keinen Vornamen hatte, derb war und ihn vielleicht bestahl, denn sie bot ihm das Einzige, das zu besitzen ihm wert erschien. Er war kein Mann, der sich dem eigenen Trieb widersetzte, und so berührte er sie, küsste erst die eine, dann die andere durch das raffiniert geschnürte Korsett hochgedrückte Brust.

„Oh, Skipper!“ Ohne jedes Erröten schlang die Frau ihm ein Bein um die Taille. „Ich bin nicht nur zum Schäkern hergekommen!“

Er schlug die Augen auf und schaute ihr blinzelnd in das stark geschminkte Gesicht. Abgesehen von ihrer Figur, ihrem Namen und der Tatsache, dass sie ein Weib war, hatte sie wenige der Vorzüge, die man mit einer Frau in Verbindung brachte.

Ryan grübelte darüber nach, ob er noch nüchtern genug sei, um mit ihr zu seiner Kajüte zu gehen, lehnte sich im Deckstuhl zurück und blickte in den zum Orlopdeck führenden Niedergang. Ein Paar schaukelte sich in einer Hängematte. Die Beine der Frau hingen über den Rand des Geflechts und waren bis zu den Oberschenkeln entblößt. Mittschiffs machten Chips Pole und Luigi Conti Musik auf einer Mundharmonika und einer Pfeife, während Journey, der Steward, dazu den Takt auf einer Rolltrommel schlug. Tanzende Paare wirbelten lachend im Kreis und stießen gegen Kisten und Fässer. Jemand hatte das Hühnergatter aufgemacht, und einige Küken rannten verstört auf dem Deck herum.

Plötzlich hatte Ryan einen Anflug von Nüchternheit und sagte sich, er sei ausnahmsweise einmal in seinem miserablen Leben erfolgreich gewesen, nicht nur in kleinem Ausmaß, sondern auf eine Weise, die alle Welt bemerken würde. Er hatte die Reise in Rekordzeit zurückgelegt und dem Schiffseigner ein Vermögen eingebracht.

Er bedauerte, dass der Vater nicht mehr lebte, der diesmal seinen Erfolg hätte anerkennen müssen, verspürte einen Druck in der Brust und wünschte sich, diesen Augenblick des Erfolges für immer im Herzen einschließen und bewahren zu können, jemand bei sich zu haben, mit dem er ihn teilen konnte, nicht nur diese namenlose Person.

Er verdrängte die trüben Gedanken und beschloss, seinen Triumph zu genießen.

„Einen Trinkspruch!“, brüllte er und riss die gekrümmte Hand der Frau hoch. „Auf den ‚Silbernen Schwan‘ und jeden braven Mann der Besatzung!“

„Auf uns!“, schrien die Männer und stießen die Krüger aneinander.

Mit schiefem Lächeln sah er die sich verführerisch auf seinem Schoß regende Frau an und sagte: „Meine Beine werden taub, Zuckerpüppchen.“

Sie lachte kreischend und erwiderte: „Ich hoffe, das betrifft nicht den Rest deines Körpers!“

„Das wird sich zeigen, wenn wir in meiner Kajüte sind.“

Hart drückte die Frau das Gesäß auf ihn und fragte grinsend: „Brauchen wir deine Kajüte?“

Flüchtig dachte er daran, ungestört sein zu wollen, doch der Rum und die ihn animierenden Finger der Dirne brachten ihn dazu, rau und voller Begierde aufzulachen. Langsam, aufreizend, schob er ihr die Hand unter die Röcke und stieß auf den von ihr entwendeten Flakon, beachtete ihn jedoch nicht, da er auf der Suche nach einem größeren Schatz war.

Der puritanisch denkende Mr. Easterbrook würde bestimmt entsetzt sein, wenn er das lose Treiben auf seinem Schiff sehen könnte. Ryan verdrängte jedoch die letzten Hemmungen, weil er sicher war, dass kein sittenstrenger Bostoner sich jetzt an Bord des „Silbernen Schwans“ einfinden werde. Jeder, der zu dieser nächtlichen Stunde die Kais entlangschlenderte, hatte nichts Besseres als das verdient, was sich seinen Augen bot.

„Ich komme mir ziemlich kühn vor, noch so spät außerhalb des Hauses zu sein“, gestand Isadora Mrs. Calhoun, lehnte sich an die mit burgunderfarbenem Leder bezogene Sitzbank der Kutsche und blickte wie ihre Begleiterin durch das vordere Sichtfenster auf die Häuser der Stadt.

Der abnehmende Mond tauchte das Parlamentsgebäude in bleiches Licht. Schwach leuchteten die beiderseits der State Street aufgestellten Gaslampen, während die Seitenstraßen und die Merchants’ Row im Dunklen lagen.

„Ihr Kutscher sah etwas überrascht aus, nachdem wir ihm gesagt hatten, dass wir zum Hafen wollen“, erwiderte Lily. „Ich hoffe, Sie bekommen keinen Ärger mit Ihren Eltern.“

„Glauben Sie mir, Mrs. Calhoun, seit meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich ihnen nur Ärger gemacht.“

Lily wandte Miss Peabody das Gesicht zu, und durch den flackernden Schein der schwankenden Kutschlaternen wurde es abwechselnd in fahles und rötlich gelbes Licht getaucht. „Wie soll ich das verstehen?“, erkundigte sie sich irritiert.

„Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich in Salem bei einer unverheirateten Großtante gelebt“, antwortete Isadora und spielte mit den Bändern ihrer Spitzenhaube. „Ich habe meine Eltern und Geschwister nur hin und wieder gesehen.“ Sie entsann sich der langen, traumhaften Jahre, die sie bei der Großtante geweilt hatte, und in denen nichts von größerer Bedeutung gewesen war, als Stunden damit zu verbringen, ein wunderbares Buch zu lesen. „Dieses Arrangement war allen Beteiligten sehr recht“, fuhr sie fort. „Nach dem Tod meiner Großtante musste ich dann jedoch nach Haus zurück, und ich befürchte, dass ich seither für meine Familie eine ziemliche Plage bin.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, entgegnete Lily lächelnd.

„Leider muss ich Ihnen widersprechen“, äußerte Isadora bekümmert. „Aber es war sehr nett von Ihnen, das zu sagen. Ich bin eine Plage, ganz besonders für meine Familie, weil ich unansehnlich bin, noch ledig, im Gespräch nicht sehr gewandt und obendrein unbeholfen, wenn ich tanze.“

„Jedermann hat seine ganz besonderen Begabungen, und es obliegt anderen Menschen, sie zu entdecken.“

„Und was ist, wenn niemand sich dazu bereit findet?“

Lily drehte sich halb zu Miss Peabody um, streckte zögernd die Hand aus und nahm ihr dann die Brille ab.

Sie ließ sie an dem schwarzen Seidenband herunterfallen, das Miss Peabody um den Hals trug, und antwortete freundlich: „Nun, dann hat sich eben niemand die Mühe gemacht, Sie richtig anzusehen.“

Isadora schluckte, weil auch die Großtante ihr etwas Ähnliches erwidert hätte.

„Wir sind die Peabodys vom Beacon Hill“, äußerte sie in derart herablassendem Ton, dass Mrs. Calhoun schmunzelte. „Meine Familie sieht die Welt so, wie sie ihrer Meinung nach gesehen werden muss.“

„Vielleicht leben Sie dann in der falschen Welt.“

„Eine andere kenne ich nicht, Mrs. Calhoun“, erwiderte Isadora und blickte verlegen lächelnd aus dem Fenster. Jemand, der neu in der Bostoner Gesellschaft war und noch dazu aus den Südstaaten stammte, konnte ihre Situation natürlich nicht verstehen. In einer Familie wie der ihren änderte sich nie etwas. Für jede neue Generation war es eine geheiligte Tradition, genau das zu tun, was die vorherige gemacht hatte, und so würde es bis zum Ende der Welt weitergehen.

Sonderlinge wie Isadora wurden von der Gemeinschaft ausgeschlossen, irgendwohin verbannt, bis sie das mittlere Alter erreicht und resigniert hatten und somit harmlos geworden waren. In höherem Alter konnte sie sich dann so nützlich machen wie die Großtante und auf heranwachsende Außenseiter Acht geben.

Im Leben musste es noch etwas anderes geben, aber Isadora fragte sich oft, was das sein könne. Sie sehnte sich danach, frei zu sein, doch ihr war klar, dass sie ihrem augenblicklichen Dasein entfliehen wollte, und das würde sie nie zuwege bringen.

Sie tadelte sich, weil sie überhaupt daran gedacht hatte, zwang sich, die trüben Gedanken zu verdrängen, und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Mrs. Calhoun, die starr nach vorn schaute.

„Ich glaube, es ist ratsamer, Sie vor Ryan zu warnen“, sagte Lily. „Er ist das schwarze Schaf der Familie, wenngleich ich diesen Ausdruck unpassend finde.“

Isadora wurde neugierig und vermutete, sie und Mr. Calhoun könnten Gemeinsamkeiten haben. „Ist er Ihnen eine ständige Last?“, fragte sie gespannt.

„Eine Last? Nein, meine Liebe, mit seinem Charme könnte er eine Auster dazu überreden, ihm die Perle zu überlassen.“

Isadora verlor das Interesse an ihm, da sie mit einem charmanten Menschen nichts gemein hatte.

„Ich hatte gehofft, er werde, wenn er in den Norden kommt, Verantwortungsbewusstsein entwickeln. Das Erste, das er vor der Abreise aus Virginia indes getan hat, war, seinen Kammerdiener zu entlassen.“

„Er hatte einen Sklaven?“, fragte Isadora innerlich angewidert.

„Ja“, antwortete Lily nickend. „Er und Journey waren wie Brüder.“

„Und hat seinem so genannten Bruder die Freiheit geschenkt?“

„Ja.“

„Bravo!“, sagte Isadora nachdrücklich.

„Sind Sie Abolitionistin?“

„Ja.“

„Jetzt weiß ich, welches Thema wir meiden sollten, wenn wir Freundinnen sein möchten!“, erwiderte Lily. Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Es ist seltsam, hier in Gesellschaft von Yankees zu sein. Die meisten betrachten mich als halbgebildetete Sklavenhalterin aus dem Süden.“

„Das bezweifele ich“, widersprach Isadora. „Die vornehmsten Familien von Beacon Hill haben Sklaven beim Anbau von Baumwolle beschäftigt, mit deren Fabrikation sie dann ihr Vermögen machten. Es wird als peinlich betrachtet, dieses Thema anzuschneiden, wiewohl ich mich nie davon habe abhalten lasse, mich ablehnend dazu zu äußern.“

Die Kutsche bog um eine Häuserecke in die India Street. Die dunklen Piers ragten wie lange ausgestreckte Finger in die Town Cove und den Bostoner Hafen, und die Masten und Spieren der Klipper, Briggs, Schaluppen und Schoner hoben sich vom Nachthimmel ab.

„Ach herrje!“ Lily blickte auf die Fülle von Positionslampen, deren Licht sich auf dem Wasser spiegelte. „Jetzt wird es tatsächlich Realität für mich, dass mein Ryan zur See gegangen ist.“

„Mr. Easterbrook war sehr mit Mr. Calhouns Leistung zufrieden“, erwiderte Isadora aus dem Bedürfnis, einen Mann zu verteidigen, der den Mut gehabt hatte, einem Sklaven die Freiheit zu geben. „Mr. Calhoun hat die Reise in Rekordzeit zurückgelegt. Wie ich hörte, soll die nächste Fahrt nach Rio de Janeiro gehen.“

Diese Stadt war für Isadora nicht nur ein Punkt auf einer Landkarte. Die Großtante und sie pflegten Berichte über ferne Länder zu lesen, und Rio de Janeiro war bei ihnen der Schilderungen über das berühmte Karnevalstreiben wegen sehr beliebt gewesen. Man war oft sehr lange aufgeblieben und hatte darüber geredet, wie frisch gerösteter Kaffee duften müsse, Samba-Musik klänge, und die Männer mit betörenden Tenorstimmen sängen. Als die Großtante nicht mehr richtig sehen konnte, hatte Isadora sich zu ihr gesetzt und ihr stundenlang vorgelesen. Der Schauplatz eines der letzten Bücher war Rio de Janeiro gewesen.

Sie betätigte die Sprechverbindung zum Kutscher, als man sich dem Kai der Easterbrook-Rederei näherte, und wies ihn an, beim „Silbernen Schwan“ zu halten. Sie war gespannt darauf, den Mann kennen zu lernen, der seinen Sklaven in die Freiheit entlassen, Mr. Easterbrook zufrieden gestellt und ihm ein Vermögen eingebracht hatte. Ein so genanntes Schwarzes Schaf, das in dem von ihm gewählten Beruf derart erfolgreich war, würde sie gewiss inspirieren.

Vielleicht hielt Mr. Calhoun sich in seiner achtern gelegenen Kajüte auf und pflegte nach der gewinnbringenden Reise der Ruhe, oder er saß am Zahltisch und händigte der Mannschaft die Heuer aus.

Das Klirren berstenden Glases brachte die Pferde zum Scheuen. Hastig lehnte Isadora sich aus dem Fenster und schaute sich um.

Der „Silberne Schwan“ war länger, als seine Positionslampen es hatten vermuten lassen. Helle japanische Lampen schwankten an den Spieren, Falls und Auslegern und beleuchteten die Decks. Hin und wieder schickte jemand eine Rakete zum Himmel, die pfeifend aufstieg und in einem Funkenregen aus gelblich gefärbtem Schwefellicht zerstob.

Als der Wagen anhielt, wartete Isadora nicht darauf, vom Kutscher den Schlag geöffnet zu bekommen, sondern stieg gleich aus und blieb ein wenig schwankend stehen.

Lily wartete auf den Kutscher und verließ dann graziös das Fahrzeug. Vom Oberdeck der Bark hallten die hohen Töne einer Pfeife und der dumpfe Schlag einer Trommel herunter.

„Kutsche in Sicht!“, schrie jemand und lachte dröhnend.

„Wo?“, rief ein anderer Mann.

„Steuerbords!“ Eine schattenhafte Gestalt erschien an der Reling. Verlegen zupfte Isadora an den verknüpften Bändern der Haube und zupfte sich die zerdrückten Schillerlocken zurecht.

„Noch mehr Weiber! Noch mehr Weiber!“, brüllte jemand mit trunken klingender Stimme. „Willkommen an Bord!“

Noch mehr Weiber?

Isadora straffte die Schultern, reichte Mrs. Calhoun den Arm und murmelte: „Ich denke, wir gehen an Bord.“

Lily presste die Lippen zusammen, und Isadora fragte sich, was ihrer Begleiterin durch den Sinn gehen mochte. Von dem entschwundenen Gatten war zu erwarten, dass er sich demütig entschuldigte und nach Haus zurückkehrte, aber nicht, seine Frau zu nötigen, ihn aufzusuchen.

„Kommt und erweist uns einen Gefallen, meine Hübschen!“, rief der bezechte Mann. „Wir sind nach langer Fahrt soeben vor Anker gegangen.“

Lily blieb stehen und sagte eindringlich: „Ich schlage vor, Miss Peabody, Sie gehen zur Kutsche zurück, weil die Situation auf dem Schiff unerfreulich sein dürfte.“

„Unsinn! Es war mein Einfall, Sie herzubringen. Wenn Sie auf den ‚Silbernen Schwan‘ gehen, komme ich mit!“ Fest ergriff Isadora Mrs. Calhoun am Arm, ging mit ihr über die schräge Gangway und hielt sich dabei an den Spanntauen fest. Die Musik und das Gelächter waren lauter zu hören, und den süßlichen Geruch des Rums konnte man nun deutlicher wahrnehmen.

Verwirrt furchte Isadora die Stirn. Mr. Easterbrook hatte durchblicken lassen, Mr. Calhoun sei ein erfahrener, disziplinierter Kapitän, der doch gewiss nicht gestatten würde …

„Ach, du lieber Gott!“ Jäh blieb Lily auf dem Mitteldeck stehen und krampfte die Hand fester um Miss Peabodys Arm.

Das Bild, das sich ihr und ihrer Begleiterin bot, erinnerte an ein Gemälde von Hogarth – das niederste Gesindel war mit den verwerflichsten Tätigkeiten beschäftigt. Die schrille Pfeife wurde von einem schnauzbärtigen Matrosen geblasen, begleitet von einem Neger auf der Rührtrommel und einem anderen Mann, der Mundharmonika spielte.

Isadora starrte durch die Brillengläser und war sicher, dass sie sich selbst mit größter Fantasie ein solches Bild nicht hätte vorstellen können. Seeleute in weiten Hosen und gestreiften Hemden tanzten mit barfüßigen Frauen, die ihnen Küsse gaben; aufgescheuchte Hühner rannten auf dem Deck herum, und ein riesiger, kahlköpfiger Mann, der einen schimmernden goldenen Ohrring trug, trank aus einem entstöpselten Fass, das er sich mit der Öffnung nach unten auf die nackte Schulter gehoben hatte.

Schockiert ließ Isadora den Blick im Kreis über das hell erleuchtete Deck schweifen und schließlich offenen Mundes auf einem sehr ungewöhnlichen, lachenden Mann verweilen, der, von hinten durch das Licht brennender Fackeln angestrahlt, wie ein König auf einem Thron auf einem großen Sessel ohne Armlehnen saß. Mit seinen langen rötlich braunen Haaren, die ihm auf die breiten Schultern fielen, wirkte er mit seinem gut geschnittenen Gesicht beinahe überirdisch schön. Er trug eine Weste in grellem Grün, die entschieden zu viel von seinen kräftigen Armen und seiner muskulösen Brust unbedeckt ließ. Auf seinem Schoß lag eine Frau, deren Brüste aus dem Dekolleté quollen. Er hielt sie mit dem linken Arm um die üppige Taille fest und hatte skandalöserweise die andere Hand tief unter ihre Röcke geschoben.

Auch wenn dieser Anblick erschütternd war, fühlte Isadora sich doch vom Gesicht des Mannes und seinem Verhalten angezogen. Er hatte sie und Mrs. Calhoun noch nicht bemerkt, da er viel zu sehr mit der Frau auf seinem Schoß beschäftigt war. Die Art, wie er sich auf das leichte Mädchen konzentrierte, hatte etwas unheimlich Bezwingendes an sich, denn er war derart von der Frau in Anspruch genommen, als habe er vor, mit der Person intim zu werden.

Der Trommler schlug einen Rhythmus, der eigenartig an das warnende Geräusch einer Klapperschlange erinnerte.

Schließlich hob der Mann den Kopf vom drallen Busen der Dirne, sah zu Isadora hinüber und betrachtete sie einen Moment. Dann richtete er, nicht mehr an ihr interessiert, die Augen auf Mrs. Calhoun und sagte unschuldig lächelnd: „Hallo, Mutter!“

3. KAPITEL

Die Musik verstummte, und Ryan merkte, dass die über seinem Schoß liegende Dirne sich halb aufrichtete, um die Neuankömmlinge zu sehen. Finster starrte sie trüben Blicks auf die hochwüchsige Frau mit den unter dem Haubenrand hervorquellenden Korkenzieherlocken und fragte: „Die Dicke ist deine Mutter?“

„Nein.“ So würdevoll wie möglich schob Ryan die Hure von seinem Schoß auf das Deck, stand auf und drückte die Kniekehlen an den Sessel, um sich abzustützen. Mr. Pole, der Zimmermann, hatte die Geistesgegenwart, sich zu nähern, die Dirne wegzuführen und mit einer vollen Flasche Rum zu beschwichtigen.

„Welch unerwartete Überraschung, Mutter“, sagte Ryan, um ein freundliches Lächeln bemüht.

„Das bin ich offensichtlich für dich“, erwiderte sie.

Wiewohl er bezecht war, entging ihm doch ihre enttäuschte Miene nicht. Einen herzzerbrechenden Augenblick lang zögerte sie, ehe sie die Hände ausstreckte und Ryan in die Arme schloss.

Er roch nach Rum und billigem Parfüm und entzog sich ihr rasch, weil er sie nicht belästigen wollte. Seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war nichts anders geworden. Beim Abschied hatte er mit ihr am Anlegeplatz von Albion im südlichen Bereich der Chesapeake-Bucht gestanden und war von ihr gewarnt worden, wenn er die Universität von Virginia verlassen und im Norden in Harvard studieren wolle, würde das sehr viel mehr von ihm verlangen, als er sich überhaupt vorstellen könne, möglicherweise sogar seine Kräfte übersteigen.

Es war sein Los, sie zu enttäuschen, ganz gleich, was er tat, ob nüchtern oder betrunken, und er bedauerte, dass er das jetzt vor allen Leuten getan hatte. Er wies auf das Achterdeck und sagte: „Komm in die Kajüte, wo wir besser reden können.“

„Beim heiligen Elmo! Was ist hier los?“, fragte ein Mann wütend.

Ryan zwinkerte und stöhnte auf. Mr. Easterbrook hatte ihm noch gefehlt! Zum ersten Mal empfand er großes Unbehagen, denn durch die Feier auf dem „Silbernen Schwan“ gefährdete er seinen Auftrag. Journey und er waren so kurz vor dem Ziel! Noch eine Fahrt, und dann konnten sie über das benötigte Geld verfügen. Nun jedoch schien die nächste Reise aufgrund seines Mangels an Zucht in Frage gestellt zu sein.

Ryan ließ sich nicht anmerken, was er dachte, setzte wieder ein schiefes Lächeln auf und verneigte sich vor dem Reeder. Den klebrigen Geschmack des Rums unangenehm im Mund, schluckte er und hoffte, sich nicht noch mehr zu blamieren, als das ohnehin schon der Fall war. „Aus Anlass unserer sicheren Rückkehr habe ich ein kleines Fest gegeben, Sir“, sagte er, jedes Wort besonders deutlich artikulierend, damit man die Aussprache eher auf seinen Südstaatenakzent denn den genossenen Rum zurückführte. „Ich dachte, ein bisschen Unterhaltung sei gut für die Stimmung der Mannschaft.“

„Sie werden nicht fürs Denken bezahlt“, entgegnete Abel und ließ zornig den Blick über die Decks, die sich in dunklen Ecken herumdrückenden halb bekleideten Paare, die begierig um das Fass versammelten Matrosen, die Krümel aufpickenden Hühner schweifen. „Ich bin entsetzt! Ich muss sagen, ich bin zutiefst erschüttert! Wirklich! Das nennen Sie ein kleines Fest?“

„Ja, Sir. Wissen Sie, dort, von wo ich herkomme …“ Ryan hielt inne. Er hatte Mr. Easterbrook so viele Lügen aufgetischt, um ihn dazu zu bewegen, ihn anzuheuern, dass er einen Moment Zeit brauchte, um sich an alle zu erinnern. „Hm, an Bord der berühmten ‚Twyla‘ wurde es als schwerer Fehler betrachtet, die Mannschaft nüchtern an Land zu schicken, weil dann die Gefahr bestanden hätte, dass die Männer sich dort Arbeit gesucht und nicht mehr für die nächste Fahrt angeheuert hätten“, fuhr er fort und wies mit weit ausholender Geste über das mit trunkenen Matrosen und kreischenden Huren übersäte Deck. „Das sind die Männer, die dem ‚Silbernen Schwan‘ die Auflistung im Buch der Rekorde ermöglicht und sich daher eine Belohnung verdient haben.“ Er fing einen Blick von Ralph Izard, dem ersten Maat, auf und sah ihn flehend an.

Der Obermaat klatschte in die Hände und scheuchte die torkelnden und stolpernden Leute unter Deck.

Ryan machte eine Verbeugung, trat einen Schritt zurück und sagte: „Gestatten Sie mir, Mr. Easterbrook, Sie mit Mrs. Lily Raines Calhoun, meiner Mutter, und ihrer Begleiterin …“ Er hielt inne und schaute die dunkel gekleidete, bebrillte Frau an, die ihre behandschuhten Hände fest verschränkt hatte, als bete sie für das Wohl seiner unsterblichen Seele.

Hätte sie ihn gut gekannt, wäre ihr klar gewesen, dass ihre Bemühungen fruchtlos waren. Er war dem Untergang geweiht, und es hätte mehr denn des Gebetes einer Dame bedurft, um ihn vor der ewigen Verdammnis zu retten.

Abel verneigte sich vor Mrs. Calhoun, gab ihr einen formvollendeten Handkuss und wandte sich dann an Miss Peabody. „Beim Klabautermann, Miss Isadora! Was in aller Welt machen Sie hier?“

„Sie kennen sich?“, fragte Ryan verdutzt, taumelte gegen eine Lukenkimming und streckte die Hand aus, um sich abzustützen.

„Verdammt! Ich wurde von einem Fest, das im Haus von Miss Isadoras Vater stattfindet, hergerufen und habe keine Ahnung, warum sie sich hier befindet.“

Isadora räusperte sich und stammelte: „Nun, ich dachte … das heißt, Mrs. Calhoun hat sich zufällig nach ihrem … Sohn erkundigt, und da Sie erwähnt hatten, Sir, dass er auf dem ‚Silbernen Schwan‘ eingetroffen ist, habe ich … Nun, sie war wie Sie auch bei unserem Fest zu Gast, allerdings in Begleitung der Hallowells. Ihr war so viel daran gelegen, Mr. … hm … Captain Calhoun zu finden, dass ich natürlich davon ausgegangen bin, wir würden ihn hier an Bord antreffen …“

Ryan fragte sich, ob diese Miss Isadora ebenfalls zu viel getrunken hatte, weil sie so unzusammenhängend redete, betrachtete ihre hängenden Schultern, die fest verschränkten Hände, und gelangte zu der Erkenntnis, dass sie schreckliche Angst hatte.

„Nachdem Miss Peabody erfahren hatte, dass ich auf der Suche nach meinem Sohn bin, war sie so reizend, mich herzubringen, Sir“, warf Lily ein.

Der sanfte Klang ihrer Stimme entlockte dem alten Griesgram ein wohlwollendes Lächeln. Sie vermochte es bestens, Menschen mit ihrer Stimme zu bezaubern, mit ihrem weichen Akzent, ihrer charmanten Art zu sprechen, und jemanden mit einer Anmerkung für sich einzunehmen. Nur Ryan wusste, welche harte Entschlossenheit hinter ihrem liebenswürdigen Ton verborgen war, besonders dann, wenn sie „mein Sohn“ sagte.

Jetzt wusste er, dass er in großen Schwierigkeiten war, doch wie üblich bekümmerte ihn das nicht.

„Nun habe ich meinen Sohn gefunden, und das ist Ihnen zu verdanken, Sir“, fuhr sie fort und lächelte strahlend Mr. Easterbrook an. „Vielleicht hätten Sie die Güte, Miss Peabody und mich nach Haus zu fahren.“

„Es wäre mir eine Ehre“, erwiderte Abel. „Ich werde mein geschäftliches Anliegen in wenigen Augenblicken erledigt haben“, fügte er an und wandte sich dem Kapitän zu. „Ich wurde von meinem Hausdiener genötigt, den Ball zu verlassen“, erklärte er, verschränkte wie ein Admiral die Hände auf dem Rücken und ging aufgeregt hin und her. „Offenbar sucht die Polizei, die zur Zeit entlaufene Sklaven aufspürt, nach Mr. Rivera, um ihn zu verhören.“

Aufgrund des in Ryans Abwesenheit in Kraft getretenen Gesetzes über entflohene Sklaven war es verboten, solchen Leuten Beistand oder Unterschlupf zu gewähren. „Mr. Rivera ist von dem Gesetz nicht betroffen“, erwiderte Ryan rasch. „Er hat seine Hände bei vielen Dingen im Spiel, doch keine seiner Unternehmungen hat etwas mit entflohenen Sklaven zu tun.“

„Zum Teufel, wo hält er sich auf?“

„Er ist nicht mit uns zurückgekommen, weil er in Havana geheiratet hat und seine Frau nicht verlassen wollte“, antwortete Ryan. Natürlich steckte weitaus mehr hinter der Sache, ein Duell, eine Bestechung, ein wütender Vater, eine erzwungene Hochzeit, doch er hielt es für richtiger, die Geschichte nicht in allen Einzelheiten zu erzählen, erst recht nicht in Anwesenheit von Damen.

„Nun, Mr. Rivera ist ein Verbrecher, und ich bin froh, ihn los zu sein!“

„Er war ein ausgezeichneter Dolmetscher, der beste, den wir hatten“, gab Ryan Mr. Easterbrook zu bedenken und bemühte sich, endlich einen klaren Kopf zu bekommen.

„Jetzt muss ich also für seine Schulden aufkommen und habe obendrein für die weiteren Fahrten keinen Dolmetscher für Spanisch!“, entrüstete sich Abel. „Wirklich, das habt Ihr vorzüglich eingerichtet, Captain!“

„Ich spreche Spanisch, Mr. Easterbrook“, schaltete Isadora sich ein und erschrak über sich, weil sie gewagt hatte, sich in das Gespräch zu mischen. „Meine Großtante hat mich auch Französisch, Italienisch und Portugiesisch gelehrt, und später habe ich meine Kenntnisse am Mount-Holyoke-Seminar vervollkommnet. Entschuldigen Sie mein Geplapper, Sir. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass ich Ihnen vielleicht bei der Übersetzung von Dokumenten behilflich sein kann.“

„Vielen Dank für das Angebot, meine Liebe, doch eine Dame kann ich mit solchen Dingen nicht belästigen“, erwiderte Abel und wandte sich wieder dem Skipper zu. „Ihr seid ein unverbesserlicher Schürzenjäger und Schlimmeres!“, sagte er schroff.

Ryan bemühte sich, mit stoischer Ruhe auf die Beleidigung zu reagieren, doch das gelang ihm nicht. Er brach in Lachen aus, zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Augen aus. „Verzeihen Sie meine Heiterkeit, Sir“, entschuldigte er sich. „Aber ich bitte Sie zu berücksichtigen, dass diese kleine Feier das einzige Vergnügen ist, das wir nach endlosen Reisetagen hatten, und …“

„Seien Sie still, Captain!“, unterbrach Abel ihn ungehalten.

„Ich bin mir darüber im Klaren, Sir“, sagte Isadora unbehaglich, „dass es der falsche Moment ist, Sie daran zu erinnern, aber vor noch nicht langer Zeit haben Sie geäußert, Mr. Calhoun eigne sich hervorragend dafür, ein schnelles Schiff gewinnbringend zu befehligen.“

„Ich kenne Sie nicht, Miss, muss Ihnen jedoch zubilligen, dass Sie ein sehr gutes Urteilsvermögen haben“, äußerte Ryan und straffte die Schultern.

Flüchtig schaute sie ihn misstrauisch an und wandte dann den Blick von ihm ab, ob aus Verärgerung oder Unsicherheit, ließ sich nicht erkennen.

Abel räusperte sich und sagte anerkennend: „Ich gebe zu, dass Sie die schwierige Fahrt in kürzester Zeit zurückgelegt und der Reederei ein Vermögen eingebracht haben, Captain. Ich werde überlegen, ob ich Ihnen eine zweite Chance geben soll. Wahrscheinlich komme ich am Dienstag um fünf Uhr her und werde dann mit Ihnen einen neuen Fahrtenplan besprechen. Ich erwarte, dass Sie bis dahin einen anderen Dolmetscher engagiert, die Fracht gelöscht, die Schiffspapiere in Ordnung gebracht und die neue Ladung für die Reise nach Rio de Janeiro verstaut haben.“

Ryan hatte keine Ahnung, wie er all diese Aufgaben in so kurzer Zeit bewältigen sollte. Er brauchte jedoch dringender, als irgendjemand sich vorstellen konnte, einen neuen Oberbefehl über ein Schiff, und bereute, dass er nicht an seine prekäre Lage gedacht hatte, ehe die Hafenhuren an Bord des „Silbernen Schwans“ gekommen waren.

Sein Leben lang hatten sein Charme, sein gutes Aussehen und seine Missachtung aller Konventionen ihm weitergeholfen, doch von nun an konnte er sich nicht mehr auf solche Oberflächlichkeiten verlassen. Er sah sich genötigt, in sich zu gehen und herauszufinden, ob er die Fähigkeit hatte, erfolgreich zu sein. „Sie können auf mich zählen, Mr. Easterbrook“, erwiderte er und nickte zustimmend. „Alles wird Ihren Wünschen entsprechend erledigt.“

„Enttäuschen Sie mich nicht, Mr. Calhoun.“

„Das verspreche ich Ihnen, Sir.“

Abel warf dem Kapitän einen argwöhnischen Blick zu, reichte jeder Dame einen Arm und sagte: „Gehen wir, Ladys.“

Ryan lehnte sich an den Deckstuhl, seufzte erleichtert und fragte sich, wie schwierig es sein mochte, den nächsten Tag zu überstehen, nachdem es ihm gelungen war, die Begegnung mit der Mutter und Mr. Easterbrook so glimpflich hinter sich zu bringen.

Isadora gelangte zu der Schlussfolgerung, es sei ausgeschlossen, dass Chad Easterbrook an ihr interessiert war. Sie nieste, drückte das Taschentuch auf die Nase und verwünschte die sie plagende anhaltende Erkältung. Dann blickte sie zum ungezählten Male auf Chads hastig verfasstes Schreiben, das ihr an diesem Vormittag ausgehändigt worden war.

Nach der am vergangenen Abend erlebten Demütigung war die Einladung Balsam auf ihre verwundete Seele, und plötzlich sah die Welt nicht mehr so trübe aus. Es war ein herrlicher Tag, und unvermittelt schienen die Farben des Herbstes noch leuchtender geworden zu sein. Die Sonne schien auf Squire Pickerings Weißdornhecke, und rötlich verfärbtes Laub fiel, im Wind wirbelnd, zur Erde. Im eingezäunten Hintergarten standen Astern, Rosen und andere Blumen in voller Blüte.

Isadora musste wieder niesen und fand es bedauerlich, dass sie ausgerechnet zu dieser farbenfrohen Jahreszeit von einer Erkältung heimgesucht wurde.

Chad Easterbrooks Mitteilung hatte bei ihr die gleichen Auswirkungen wie die prächtigen Farben des Herbstes in der Landschaft – ihre Welt war durch seine Einladung heller und strahlender geworden. Nach der am verflossenen Abend geführten Unterhaltung hatte sie eigentlich keinen Anlass zu der Hoffnung gehabt, Chad werde sich um sie bemühen. Doch nun war sie voller Sehnsucht und hoffte, dass die nächste Begegnung mit ihm anders verlaufen möge. Es würde ihn für sie einnehmen, wenn sie seiner Bitte entsprach.

Sie musste nur fest daran glauben und überzeugt sein, ihre Einsamkeit werde ein Ende haben, jemand oder etwas ihr die innere Leere nehmen, und Chad Easterbrook dieser Jemand sein.

Seufzend hielt sie sich sehr gerade, damit die Korsettstäbchen sie nicht stachen, schloss die Augen und setzte ein leicht triumphierendes Lächeln auf. Chad Easterbrook hatte sie gebeten, an dem Krocketspiel teilzunehmen, das am Nachmittag auf dem Kimball Green stattfinden sollte.

Unwillkürlich fiel ihr der bezechte imposante Mann aus Virginia ein, auf dessen Schoß das halb entblößte leichte Mädchen gesessen hatte, und angewidert verzog sie den Mund. So tief wie diese Person war sie noch nie gesunken, ganz gleich, wie unmöglich sie sich bisher aufgeführt hatte.

Endlich hatte sie jemanden gesehen, der sich noch peinlicher benahm als sie.

Er würde nie erfahren, wie tröstlich dieses Wissen für sie war.

Sie straffte die Schultern, unterdrückte einen neuen Niesreiz und nahm sich vor, an diesem Tag alles besser zu machen, einen Ausgleich für das am letzten Abend erlittene Fiasko zu schaffen.

Als Erstes musste sie ein Kleid auswählen, und ihr war klar, dass sie zu einem Krocketspiel nicht Schwarz tragen konnte. Aber alle ihre Sachen waren schwarz, bis auf ein Nachmittagskleid aus Ekrüseide, das einmal für einen inzwischen längst vergessenen Anlass angefertigt worden war.

Sie läutete Thankful und ließ sich von dem einen Moment später erscheinenden Hausmädchen aus dem schwarzen Tageskleid und in das andere helfen.

„Wissen Sie, Ihre Schwester Arabella hat in dieser Farbe immer sehr hübsch ausgesehen“, sagte Thankful, während sie Miss Isadora ein Knie in den Rücken drückte und kräftig an den Verschnürungen des Korsetts zog, um es schließen zu können.

Isadora hielt sich am Bettpfosten fest und hörte Thankful nicht mehr zu, weil sie die Geschichten längst kannte, die Berichte über Lucindas gesellschaftliche Erfolge, die Schilderung des Duells, zu dem es fast zwischen zwei von Arabellas Verehrern gekommen wäre, die Kommentare über die Tatsache, dass Quentin die Angewohnheit hatte, an jedem Abend eine andere Dame auszuführen, und die Äußerungen über Bronsons Verhältnisse mit den besten jungen Damen der Stadt.

„Ich glaube, Thankful, das Korsett sitzt jetzt eng genug“, sagte sie ächzend.

„Ich bin gleich fertig“, erwiderte Thankful. „Sie sollten dem Beispiel Ihrer Mutter und Schwestern folgen, Miss, die nie etwas dagegen haben, sich der Mode zuliebe ein Opfer aufzuerlegen.“

Isadora schwieg und wartete darauf, dass Thankful ihre Aufgabe beendete.

„So, fertig“, verkündete die Zofe, trat einen Schritt zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Miss?“

Autor

Susan Wiggs
<p>Susan Wiggs hat an der Harvard Universität studiert und ist mit gleicher Leidenschaft Autorin, Mutter und Ehefrau. Ihre Hobbys sind Lesen, Reisen und Stricken. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik.</p>
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