Die Schatten der Lust

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Laura hat ein neues Leben begonnen, ohne Schmerz und ohne Verzweiflung. Sie wird sich mit dem Chirurgen Edward verloben. Und doch wirft es sie völlig aus der Bahn, ihren Exmann Jake Logan wiederzusehen. Sie begehren einander noch immer … Eine Affäre kommt für Laura nicht mehr infrage, zu sehr fürchtet sie die Schatten der Lust. Aber ist es Jake diesmal ernst?


  • Erscheinungstag 18.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775919
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sie hatte gewusst, er würde auftauchen.

Sei ehrlich, sagte sie zu sich selbst. Sie hatte gehofft, er würde auftauchen. Fünf Jahre lang hatte sie sich eingeredet, dass sie ihn vergessen hatte, und doch hatte sie sich die ganze Zeit gewünscht, ihn noch einmal zu sehen. Einfach, um einen Schlussstrich ziehen zu können. Den Schlussstrich wollte sie, nicht den Mann. Und war ein Begräbnis nicht der ideale Ort dafür?

Jetzt war er da. Er stand direkt vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen, und ihr fiel nichts, absolut gar nichts ein, was sie sagen sollte. Nimm seine Hand, Dummkopf, befahl ihr die innere Stimme. Sei nicht nervös. Lächle. So ist es richtig, das machst du gut!

Sie hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Sie waren genauso dunkel, wie Laura sie in Erinnerung hatte. Augen, in denen eine Frau sich leicht verlieren konnte. Aber die verräterischen Linien um die Augenwinkel waren neu, ebenso die kleine Narbe über seiner rechten Braue. Ein Unfall auf einer Baustelle? Ein umgestürzter Kran? Eine kleinere Explosion? Aber das hätte Cassie ihr erzählt. Laura hatte ihrer alten Freundin zwar das Versprechen abgenommen, nie wieder in ihrer Gegenwart seinen Namen zu erwähnen, aber wenn es um Jake ging, hatte Cassie noch nie richtig zugehört.

„Es ist schön, dich wiederzusehen, Squirt“, sagte er und hielt Lauras Hand. „Du siehst gut aus. Du auch, Cass.“ Er nickte der schlanken, dunkelhaarigen Frau zu, die neben Laura in der Kirchenbank saß.

Laura ging es tatsächlich gut. Eine Operation und die Chemotherapie hatten dafür gesorgt. Nach ihrer Genesung hatte sie beschlossen, ein gesundes Leben zu führen, wozu sie auch regelmäßig ins Fitnesscenter ging. Jetzt, fünf Jahre später, war sie in besserer Form als je zuvor. Sie gehörte nicht zu denjenigen, die sich gern selbst lobten, aber heute wusste Laura Matheson, dass sie besser als nur gut aussah. Es war ihr gelungen, die überschüssigen Pfunde, die sie während ihrer Krankheit verloren hatte, nicht wieder zuzunehmen, und nachdem ihr Haar nachgewachsen war, hatte sie ihr natürliches Dunkelblond mit goldenen Strähnchen aufgehellt.

Jake hingegen sah aus wie immer. Laura erinnerte sich an den schlaksigen Jungen, den sie in der Highschool vergöttert hatte, den anmaßenden Teenager mit dem dunklen, nicht zu bändigenden Haar, das ihm ständig in die Stirn fiel. Auch hatte er immer noch das kleine Grübchen auf der linken Wange, das auch der finstere Gesichtsausdruck nicht vertreiben konnte.

Doch auch wenn er nicht mehr der unbekümmerte Junge aus ihrer Jugend war, so sah Jake Logan immer noch gut aus. Verdammt gut sogar, besonders in dem dunklen Anzug. Laura unterdrückte ein Lächeln, als sie sich vorstellte, wie er leise fluchend versuchte, seine Krawatte zu binden. Er war immer der unabhängige Jeans-Typ gewesen, durch die Jahre auf dem Bau jetzt auch stark und muskulös geworden. Mit seinen ein Meter siebenundachtzig war er fast dreißig cm größer als Laura. Sie fühlte ein vertrautes Kribbeln im Bauch, als er sie mit ihrem alten Spitznamen Squirt ansprach.

„Du siehst auch gut aus“, entgegnete sie und versuchte, nicht darauf zu achten, wie die Berührung seiner Hand sie elektrisierte. Schnell entzog sie ihm die Hand wieder. Warum fiel ihr bloß keine intelligente Antwort ein? Irgendetwas Witziges würde Cynthia sagen. Würde sie gesagt haben, korrigierte Laura sich.

Gewissensbisse schnürten ihr den Hals zu. Würde sie jemals in der Lage sein, an Jake zu denken ohne auch gleichzeitig an Cynthia? Dabei war es Jake gewesen, der nie aufgehört hatte, an Cynthia zu denken, Lauras beste Freundin aus Kindertagen und Jahre später Jakes erste Frau.

„Es tut mir leid wegen deiner Tante. Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss. Wie kommst du klar?“

Bevor Laura antworten konnte, trat der Geistliche ans Pult, und die Trauerfeier fing an. Jake drehte sich abrupt um und ging weg.

„Jake, warte!“, rief sie leise hinter ihm her, erstaunt über ihre Direktheit. „Kommst du später noch vorbei? Nach dem Gottesdienst werden noch einige Leute zu mir nach Hause kommen, und ich würde mich freuen, wenn du auch kämst. Bring auch Cory mit. Wie geht es ihm? Ich würde ihn gern sehen.“

Er wirbelte herum. „Wie zum Teufel glaubst du geht es einem zehnjährigen Jungen, den du verlassen hast, als er fünf war? Wir waren dir keinen Pfifferling wert. Also sitz hier nicht rum, und tu so, als ob mein Sohn dir etwas bedeutete.“

Sie fühlte, wie sie kreidebleich wurde. „Wovon redest du? Dass ich gegangen bin, hatte doch nichts mit ihm zu tun. Ich dachte nie …“

„Das ist es ja, du hast einfach nicht nachgedacht. Eigentlich merkwürdig für jemanden, der sonst immer alles überanalysiert.“ Jake holte tief Luft. „Aber ich will dir hier keine Szene machen. Nein, Cory und ich werden später nicht kommen. Er erinnert sich nicht an dich, und ich will keine alten Wunden aufreißen.“ Er nickte ihr zum Abschied kurz zu. „Pass auf dich auf, Laura.“

Sie sah ihrem Exmann nach, aufgewühlt von widersprüchlichen Gefühlen. Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass Jake sich geändert hatte und von vorn beginnen wollte? Sie hatte sich ein Leben ohne ihn aufgebaut. Sie hatte einen Verlobten, der sie anbetete, und sie war glücklich. Sie war nach Connecticut zurückgekommen, um ihrer Tante die letzte Ehre zu erweisen, das war alles.

Aber das war eben doch nicht alles. Sie hatte noch nicht entschieden, was aus dem Haus werden sollte. Das weitläufige, zweigeschossige Landhaus gehörte nun ihr. Dem Gesetz nach gehörte es ihr bereits seit dem Tod ihrer Eltern, aber als sie es verlassen hatte, um Jake zu heiraten, war es klar gewesen, dass ihre Tante weiter dort wohnen würde. Jetzt wollte sie es verkaufen und ihr neues Leben weiterleben, doch ein Teil von ihr zögerte irgendwie und wollte es behalten. Obwohl sie sich an die Jahre vor dem Tod ihrer Eltern kaum erinnern konnte, hatte sie die Vorstellung, dass sie hier sehr glücklich gewesen war, bevor ihre Tante einzog.

„Sieht so aus, als wäre Jake genauso charmant wie früher“, unterbrach Cassie Lauras Gedanken.

„Ich kann es ihm nicht übel nehmen. Ich dachte nur, er hätte seinen Ärger inzwischen überwunden. Aber er ist immer noch so verbittert.“

Hinter ihr hatte sich die Kirche gefüllt. Wer waren all diese älteren Leute? Tante Tess war nicht gerade gesellig gewesen und der mütterliche Typ schon gar nicht.

Laura schloss die Augen und versuchte vergebens, ein Bild von ihren Eltern heraufzubeschwören. Wenn sie sich wenigstens an eine Kleinigkeit erinnern könnte, an einen Hauch von Rasierwasser, eine vergessene Haarnadel auf der Badablage, an irgendetwas … Sie war fünf Jahre alt gewesen, als der Fahrer eines Lastwagens die Kontrolle verlor und über den Mittelstreifen fuhr, wobei er sich und ihre Eltern tötete. Fünf Jahre alt. Genauso alt, wie Cory war, als sie Jake verließ. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihr aus. Dachte Cory manchmal an sie? Oder hatte er sie komplett aus seinem Gedächtnis gestrichen, wie Jake behauptet hatte?

Sie öffnete die Augen und versuchte, sich auf den Pfarrer zu konzentrieren.

„… Großzügigkeit des Geistes“, sagte er gerade. „Elizabeth Armstrong berührte die Herzen all jener, die sie kannten, und man wird sie sehr vermissen …“

Cassie lehnte sich rüber und flüsterte: „Großzügigkeit des Geistes? Dass ich nicht lache.“

„Übertreib nicht“, ermahnte Laura. „Sie hat mich aufgenommen und mich großgezogen.“

„Sie nahm dich auf? Es war das Haus deiner Eltern, nicht ihres! Die Frau bekam einen Freifahrtschein, in dem Haus wohnen zu dürfen. Nicht, dass sie jemals für dich da war. Dich großgezogen? Du hast dich selbst großgezogen.“

„Psst!“

Aber Cassie flüsterte weiter. „Und wo wir schon dabei sind, der Charmeur hinter uns hat dich verlassen, nicht umgekehrt. Technisch gesehen mag er recht haben, aber er hat sich nicht gerade ein Bein ausgerissen, um dich zurückzubekommen. Außerdem war er nicht für dich da, als du ihn am meisten gebraucht hättest.“

Laura mochte nicht darüber nachdenken, wer wen verlassen hatte. Cassie spürte das Unbehagen ihrer Freundin und lehnte sich in der Bank zurück. Aber Cassie war Cassie und konnte nicht länger als eine Minute still sein. „Wo hast du diesen Typ gefunden?“, kicherte sie und deutete auf die Kanzel. „‚Berührte die Herzen aller, die sie kannten‘? Ist der echt?“

„Er ist aus Ridgefield“, antwortete Laura leise. „Meine Mutter und Tante Tess sind dort aufgewachsen. Ehrlich, Cass, kannst du nicht einfach still sitzen und der Predigt zuhören? Die Frau war immerhin die Schwester meiner Mutter.“

Cass war jedoch nicht zu bremsen. „Erinnerst du dich, als sie mich erwischte, wie ich durch dein Schlafzimmerfenster kletterte und versuchte, dich über die alte Eiche nach unten zu lotsen?“ Sie stupste ihre Freundin leicht in die Rippen. „Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Aber wir haben es geschafft! Ellen und Cyn warteten unten mit ihren Taschenlampen. Ellen war ausgerüstet mit Tupfern und Bandagen, denn sie war sicher, wir würden runterfallen. Wie alt waren wir? Sieben? Acht?“

Obwohl sie entschlossen war, eine ernste Miene zu wahren, musste Laura bei diesen Erinnerungen schmunzeln.

„Und wie deine Tante aus der Haustür schoss und uns aufhalten wollte. Ich sehe sie immer noch die Straße runterrennen in ihrem scheußlichen alten Bademantel und der furchtbaren Schlammpackung auf dem Gesicht.“

„Würdest du bitte aufhören? Die Leute gucken schon!“

„Und was war damals, als sie aus dem Haus raste und schrie wie eine Verrückte, weil sie eine Schlange in der Toilette gefunden hatte? Hast du ihr je erzählt, dass Jake sie da reingetan hatte?“

„Cass, ich warne dich!“ Aber es war zu spät. Laura krümmte sich vor Lachen. Cassie konnte sie immer zum Lachen bringen, überall und jederzeit, sogar auf einer Beerdigung.

Was ist los mit mir? dachte sie. Dies hier ist eine Beerdigung. Die Beerdigung meiner Tante. Es ist nicht mehr wichtig, dass sie mich den ganzen Tag Babysittern überlassen hat, auch nicht, dass sie so streng war und mich für jede Kleinigkeit ausgeschimpft hat. Beherrsch dich! Wer benimmt sich so an einer Beerdigung? „Hör auf, Cass! Was sollen die Leute denken?“

„Du meinst, was soll Jake denken, nicht wahr?“ Cassies Gesicht wurde ernst. „Schon gut, nimm’s leicht, Kleine“, meinte sie. „Leg deinen Kopf auf meine Schulter. Sie werden denken, du weinst.“

Doch Laura weinte wirklich, tief in ihrem Inneren.

Sie konnte Jakes Blick auf ihrem Rücken fühlen. Wer war er, sie zu verurteilen? Was wusste er von ihrem Leben? Als sie zusammen aufwuchsen, war er immer ihr Verbündeter und ihr Feind zugleich gewesen, ihr Freund und Peiniger und immer ihre heimliche Liebe. Aber während ihrer dreijährigen Ehe blieb er auf Distanz, als ob er sie nie richtig gekannt hätte.

Sie drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang wurde ihr schwindelig. Er braucht einen sicheren Abstand, dachte sie traurig, als sie sah, dass er sich in die letzte Bank gesetzt hatte.

Sie drehte sich wieder dem Pfarrer zu, der jetzt sagte: „… eine schöne Seele, die von ihrer innig geliebten Nichte und ihren Freunden betrauert wird …“

Ein Blick auf Cassie – und wieder musste sie lachen.

Laura taten die Füße weh. Nach dem Gottesdienst hatte sie stundenlang gestanden und die Gastgeberin für einen Strom fremder Menschen gespielt. Jetzt stand sie im Flur und verabschiedete die letzten Gäste.

„Was für ein liebevoll sorgender Mensch sie doch war“, bemerkte Reverend Barnes. Abgesehen von Cassie war er der letzte Besucher. „Als ich hörte, dass sie uns durch einen Schlaganfall genommen wurde, habe ich darauf bestanden, die Trauerrede zu halten.“

Laura hatte Schwierigkeiten, sich auf die Worte des Geistlichen zu konzentrieren. Ihre Gedanken kehrten immer wieder in die Kirche zurück. Es hatte sie schockiert, dass Jake immer noch zornig war oder dass es ihr immer noch etwas ausmachte, was er dachte. Seine Worte gingen ihr so oft in ihrem Kopf herum, bis sie sicher war, den Verstand zu verlieren.

„… dicke Freunde als Kinder“, sagte der Pfarrer gerade. „Ich hatte eine heimliche Schwäche für sie, aber sie hatte nur Augen für einen anderen …“

Zornig oder nicht, er hätte vorbeikommen müssen. Nicht, dass sie es sich gewünscht hätte. Aber sie waren verheiratet gewesen. Es wäre einfach anständig von ihm gewesen.

„… hat nicht geklappt. Arme Tess, gesegnet sei sie.“

Bei jedem Klingeln war Laura erstarrt, halb vor Erwartung, halb vor Angst. Aber er war nicht aufgetaucht. Das ist lächerlich, rügte sie sich selbst und sah zur Tür. Was kümmerte es sie?

„… zog immer mit. Aber es war uns recht. Ihre Mutter war so ein entzückendes kleines Ding. Genau wie Sie in dem Alter.“

Laura konzentrierte sich wieder auf den Pfarrer. „Sie kannten meine Mutter?“

„Selbstverständlich! Obwohl sie sechs Jahre jünger war, nahm Elizabeth sie überall mit hin. Ich sehe immer noch die kleine Caroline vor mir, ihre goldbraunen Zöpfe, ihre strahlenden türkisfarbenen Augen. Und die Sommersprossen! Schon bei dem Wort ‚Sonne‘ bekam sie zwanzig neue Punkte im Gesicht. Und sie hatte einen süßen kleinen Höcker auf der Nase. Genau wie Sie.“

Laura hob automatisch die Hand an ihren Nasenrücken. Als Teenager wollte sie ihre Nase korrigieren lassen, aber alle ihre Freunde waren dagegen. „Das gibt dir Charakter“, hatte Jake gesagt, „auch wenn du eigentlich schon genug hast.“ Später hatte sie beschlossen, dass der Höcker, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, zu klein war, um so viel Wind darum zu machen.

Warum kann ich mich nicht daran erinnern, wie meine Mutter aussah? überlegte Laura jetzt. So klein war ich doch gar nicht, als sie starb. Ich müsste mich an irgendetwas erinnern können. Noch Jahre nach dem Unfall hatte Laura ihre Mutter im Park gesucht, in der Schule, in der Arztpraxis. Noch heute ertappte sie sich manchmal dabei, dass sie sich in Kaufhäusern nach ihr umsah. Kein Wunder sagte sie sich. Ich habe niemals Bilder von meinen Eltern gesehen. Wo sind die Erinnerungen an unser Familienleben? Wo sind die Fotoalben? Tante Tess hatte ihre Fragen danach nie beantwortet.

„Meine Mutter sah aus wie ich.“ Die Aussage war als Frage gemeint.

„Himmel, ja! Und wie vernarrt Ihre Tante in sie war! Bis zu dem Tag, als ich die Trauzeremonie für Ihre Eltern praktizierte, war Tess immer da und schaute nach ihr. Elizabeth war mehr eine Mutter als eine Schwester.“

Es war, als ob Reverend Barnes eine andere Person beschrieb. Es schien, dass Tante Tess zwei Gesichter gehabt hatte, eins für zu Hause und eins für die Außenwelt.

Eine Autohupe riss Laura in die Gegenwart zurück.

„Mein Taxi ist da“, erklärte der Pfarrer. „Halten Sie Kontakt, Laura. Vielleicht finden Sie in unserer Kirche in Ridgefield Trost.“

Sie sah hinter ihm her, wie er sich schwer auf seinen Stock stützend zum Taxi ging und einstieg. Dann schloss sie die Tür.

Ihre Gedanken kehrten zu Jake zurück. Sie blieb einige Minuten im Flur stehen und starrte auf die Tür, als ob sie mit Willenskraft die Türglocke zum Läuten bringen wollte.

„Wer hätte gedacht, dass sie so viele Leute kennt?“

Laura saß neben Cassie auf der Couch, und sie sprachen über die Ereignisse des Tages.

„Sei froh, dass nicht alle Leute aus der Kirche gekommen sind“, meinte Cassie gähnend. „Das wäre ein Albtraum geworden. Aber warum war dein Stephen Standfest eigentlich nicht da?“

„Ich sagte dir doch schon, dass Stephen nicht wegkonnte. Sein Operationsplan steht für Wochen im Voraus fest.“ In Wahrheit war Laura erleichtert. Irgendwie konnte sie sich ihren Verlobten hier in Middlewood, in Connecticut, nicht vorstellen. Sie brach in Gelächter aus, als sie versuchte, sich den berühmten Herzchirurgen in einem der tantenhaften Kittel von Tess vorzustellen, wie er ihr half, das Haus zu putzen.

„Das ist nicht fair“, beklagte Cassie sich. „Du musst auch dein Privatvergnügen mit mir teilen.“

Cassie war nicht zu bremsen, sobald sie sich über die Mangelhaftigkeit der männlichen Bevölkerung ausließ, und Laura hatte keine Lust, Stephens Fehler zu diskutieren. „Ich dachte an Ellen mit all den Bandagen in der Nacht, als wir den Baum runtergeklettert sind. Ich wünschte, sie hätte heute hier sein können. Aber du kennst Ellen, immer beschäftigt, die Welt zu retten.“

„Wie geht es ihr eigentlich? Sie hat mich schon seit Monaten nicht mehr angerufen. Irgendein Mann in ihrem Leben?“

„Dr. Ellen Gavin geht es gut“, berichtete Laura liebevoll. „Und das Telefon funktioniert in beide Richtungen. Um deine Frage zu beantworten, ja, es gibt einen Mann, obwohl ich nicht weiß, wie sie bei ihrem Arbeitspensum noch Zeit für ein Privatleben findet.“

„Für ein Privatleben ist immer Zeit. Glaub mir, ich weiß es.“

Laura hatte keine Ahnung, wie Cassie das machte, von einer Beziehung in die andere zu flattern, ohne mit ihren Gefühlen durcheinanderzukommen. Wenn es um Männer ging, behauptete Cassie genau zu wissen, was sie wollte. Das Problem war allerdings, dass sich das wöchentlich änderte. Nur wenn es ums Geschäft ging, war sie geradlinig und knochenhart. Cassie war eine der erfolgreichsten Immobilienmakler der Stadt. Ihren guten Ruf hatte sie sich hart erarbeitet, aber für Laura war es mehr als erstaunlich.

Auch Ellen Gavin erstaunte Laura. Schon als Kind hatte Ellen genau gewusst, was sie im Leben wollte, und sich durch nichts vom Weg abbringen lassen. Genau diese Entschlossenheit hatte Laura später das Leben gerettet. Als Laura krank wurde und sich entschloss, Jake zu verlassen, war es Ellen, die sie davon überzeugte, dass das Leben lebenswert war. Als frischgebackene Fachärztin für innere Medizin hatte sie es geschafft, dass Laura das beste Team der Belegschaft bekam – den besten Onkologen, den besten Anästhesisten, den besten Chirurgen und den besten Chemotherapeuten. Trotz ihres engen Arbeitsplans war Ellen Tag und Nacht für sie da gewesen.

„Ellen hat mir Stephen vorgestellt“, sagte Laura zu Cassie. „Sie hat eine Menge Freunde im Krankenhaus. Wenn du nett zu ihr bist, könnte sie dir vielleicht jemanden beschaffen, der dich überzeugt, dich häuslich niederzulassen. Wollte deine Mutter nicht immer, dass du einen Arzt heiratest? Wie wär’s mit einem Psychiater?“

„Willst du damit andeuten, dass ich eine Therapie brauche?“ Cassie tat, als sei sie entrüstet, und griff hinter sich nach einem Kissen zum Werfen.

„Nein, tu das nicht!“, schrie Laura. Aber es war zu spät. Die Federn flogen bereits. „Ich habe versucht, dich zu warnen, aber du hörst ja nie.“

„Sagtest du etwas?“, fragte Cassie, und Laura lachte. Cassie erhob sich von der Couch. „Ich schätze, die Schweinerei geht auf mein Konto.“

„Das ist nichts im Vergleich zu der Schweinerei, die ich vor der Beerdigung hier weggeräumt habe. Dieses Haus war ein Warenlager. Tante Tess hatte alles in Schachteln gepackt und sie hier gestapelt, als hätte sie gewusst, dass sie dieses Haus verlassen würde.“

„Schaurig“, meinte Cassie. „Und wo sind die Schachteln jetzt?“

„Vergiss den Besen, und komm mit.“

Cassie zog fragend eine Augenbraue hoch und folgte Laura durch den Bogengang. „Ich hatte vergessen, wie trostlos dieses Haus ist“, bemerkte sie mit einem Schaudern. „Du solltest es renovieren, bevor du es auf den Markt bringst. Du könntest einen ordentlichen Profit erzielen. Was hältst du davon, eine Frühstücksecke hinter der Küche anzubauen? Ein Deckenfenster würde Wunder wirken.“

„Ich möchte die Zeit nicht investieren, ganz zu schweigen vom Geld, das ich nicht habe. Stephen fragt dauernd, wann ich nach Hause komme.“ Sie öffnete die Tür zur Speisekammer hinter der Küche. „Voilà!“, trällerte sie.

Die Speisekammer war ursprünglich das Dienstmädchenzimmer, als das Haus in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurde. An den Tapetenresten konnte man erkennen, dass der Raum einmal als Arbeitszimmer, Gäste- oder Nähzimmer genutzt worden war. Als Kind hatte sich Laura oft hier hereingeschlichen, um zu träumen, wie ihre Mutter ihr ein Kostüm nähte, später ein Ballkleid und dann ihr Hochzeitskleid …

In der Mitte des Raums waren Dutzende von Schachteln aufgestapelt. „Diese Schachteln sind mein nächstes Projekt. Ich kann sie nicht einfach wegwerfen, ohne zu wissen, was drin ist.“

„Da hast du dir aber was vorgenommen“, bemerkte Cassie mitleidig. „Ich helfe dir gern, nur nicht mehr heute Abend. Ich gehe jetzt ins Bett, und dir empfehle ich das Gleiche. Es war ein langer Tag.“

Laura drehte sich zu ihrer Freundin und umarmte sie. „Vielen Dank, dass du für mich da warst, Cass. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“

„Das sagst du immer, aber in Wahrheit bist du hier die Starke. Du bist die Kämpferin.“ Laura setzte zum Protest an, aber Cassie schnitt ihr das Wort mit einem schnellen Kuss auf die Wange ab. „Du brauchst mich nicht zur Tür zu bringen. Ich finde allein raus. So wie ich dich kenne, wirst du nicht eher ins Bett gehen, bis du alle Schachteln genauestens untersucht hast.“

Manchmal schien es, dass Cassie Laura besser kannte als sie sich selbst. Aber in einem Punkt lag Cassie falsch. Laura war nicht stark. Es gab Zeiten, da meinte sie, nicht weitermachen zu können, Zeiten, wo sie nicht weitermachen wollte. Immer wenn sie daran dachte, dass sie keine eigenen Kinder mehr haben konnte …

Sie wartete darauf, dass die Haustür ins Schloss fiel, und griff nach einer der kleineren Schachteln. Sie war in silbernes Zellophanpapier gewickelt und mit einer verblichenen roten Schleife verschnürt – eine ihrer eigenen alten Erinnerungsschachteln, stellte sie fest, eine von vielen, die sie nach ihrer Hochzeit nicht mitgenommen hatte. Ich wollte einen neuen Anfang für uns, dachte sie, während sie die Schleife entfernte.

Laura riss die Verpackung ab und zögerte. Sollte man manche Erinnerungen nicht besser ruhen lassen? Sie atmete tief ein und hob den Deckel ab.

Als Erstes zog sie einen Schnappschuss von ihr und Cassie raus, beide in Pfadfinderuniform. Sie lächelte. Die Reise in die Erinnerung war doch nicht so schlecht. Als Nächstes zog sie ein Bild von Jake heraus, wie er in seiner goldbetressten Uniform Trompete spielte.

Das nächste Bild war eine Aufnahme von Cynthia.

Cynthia trug ein weißes Satinkleid, das sie selbst entworfen und genäht hatte. Mit dem tiefen Dekolleté und dem Seitenschlitz bis zur Hüfte war es so gewagt, dass Cynthias Mutter ihr verboten hatte, es zu tragen. Am Abend der Party erzählte sie darum ihrer Mutter, dass Jake sie bei Laura abholen würde.

Cynthia hatte ihren Körper in das elegante enge Kleid gezwängt. Sie war nicht nur sinnlich, sie war majestätisch und trug ihr Selbstbewusstsein wie eine Krone. Laura betrachtete sie ehrfürchtig. „Nach Ihnen, Königliche Hoheit“, hatte sie mit einem Hofknicks gesagt.

„Du bist diejenige, die wie eine Prinzessin aussieht“, entgegnete Cynthia, dann fügte sie scherzhaft hinzu: „Ich werde dich heute Abend beobachten, also komm auf keine dummen Gedanken, was meinen Prinzen angeht!“

Laura zog weitere Schnappschüsse heraus. Auf einem Foto war Cynthia mit Cory auf dem Arm. Es war vermutlich das letzte Bild, das von ihrer einst besten Freundin gemacht worden war.

Sie dachte an den letzten Tag, die letzte Stunde, den letzten Moment im Krankenhaus, als Cynthia zum letzten Mal ihre Augen geöffnet hatte.

„Pass auf meine Männer auf“, hatte sie gebeten.

Und Laura hatte das getan. Acht Monate später waren sie und Jake verheiratet.

Oh, Cyn, ich habe alles gründlich vermasselt, oder? dachte sie jetzt traurig.

Vielleicht war das Kramen in alten Erinnerungen doch keine so gute Idee. Mit jeder Erinnerung schwappte eine neue Welle des Schmerzes über sie.

Lauras Gedanken wanderten zurück in ihre Kindheit. Tante Tess war eine kalte und strenge Vertreterin ihrer Eltern gewesen. Doch obwohl sie ihre Tante nie hatte lieben können, empfand sie doch Mitleid mit ihr. Arme Tante Tess. Die strenge Frau hatte die Bedeutung von Glück niemals kennengelernt.

Laura weinte. Nicht leise wimmernd wie als Kind, als sie den Kopf unter ihr Kissen steckte, damit niemand sie hören konnte. Sie schluchzte laut und herzzerreißend. Ob es an den Erinnerungen lag oder an ihrer Erschöpfung, spielte keine Rolle. Ihr Kummer war ein akuter, geradezu körperlicher Schmerz, der nicht aufhören wollte. Sie schlang die Arme fest um ihre Mitte und schaukelte vor und zurück, als wäre sie die tröstende Mutter und das verzweifelte Kind gleichermaßen.

Durch ein kleines Fenster in der Küche fielen die Strahlen des Monds auf die Schachteln. Wind war aufgekommen und spielte mit dem Glockenspiel, das am Dachvorsprung hing. Dort saß sie, es kam ihr vor wie Stunden, und beweinte alle Verluste, die sie selbst und Menschen, die sie kannte, erlitten hatten, bis sie nur noch leise weinen konnte. Erschöpft ging sie ins Bett und schlief schnell ein.

2. KAPITEL

Der Morgen war hell und frisch. Der kräftige Wind des Vorabends war zu einer kühlen Brise geworden. Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume am Straßenrand und brachten die ersten herbstlich gefärbten Blätter zum Leuchten. Der Sommer ging zu Ende.

Jake stand unter dem Vordach vor der Haustür und klingelte. Als niemand antwortete, versuchte er es mit dem großen Messing-Türklopfer. Er wusste, dass sie zu Hause war. Ihr Mietwagen stand in der Einfahrt.

Er trat unter dem Vordach zurück und sah sich um. Er liebte das Haus, das im Kolonialstil längst vergangener Tage mit klaren Linien und kräftigen Proportionen gebaut war. Ihm gefiel besonders die Art, wie der Kamin aus der Mitte des Daches nach oben ragte und majestätisch Himmel und Herd verband. Leider war das Gebäude viele Jahre vernachlässigt worden. Die Schäden waren nicht zu übersehen. Am Haus entlang waren Teile der Verschalung abgebrochen, und die Holzpfosten lagen frei. Er blickte auf den zerbrochenen Zaun und runzelte die Stirn. Laura wohnte schon lange nicht mehr hier, aber es war ihr Haus, und sie hätte für seine Instandhaltung sorgen müssen.

Autor

Elissa Ambrose
Elissa Ambrose kommt ursprünglich aus Montreal, Canada. Jetzt lebt sie mit ihrem Ehemann und 2 Töchtern in Arizona. Sie hat einen College – Abschluss in Englischer Literatur und arbeitete danach als Software – Entwicklerin. Immer noch sucht sie nach der Verbindung beider Berufsfelder aber sie glaubt, nach all den Jahren...
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