Die schönsten ersten Male - 5 Nächte, die alles verändern

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DER TEUFEL UND DIE KEUSCHE SCHÖNHEIT von LUCY ASHFORD
Der Teufel hat einen Namen: Luke Danbury! Seit die elternlose Ellie in Kent lebt, schlägt ihr geheimnisvoller Nachbar sie immer mehr in seinen Bann. Als Luke verlangt, dass sie bei ihrem Vormund nach Unterlagen sucht, würde Ellie gern ablehnen. Aber der heiße Kuss des Teufels raubt der französischen Unschuld alle Sinne …

DIAGNOSE: WAHRE LIEBE! von AMY ANDREWS
So süß, so sexy, so reizend: Der berühmte Mediziner Dr. Patrick Costello vergisst alles, als er Miranda auf dem Kongress kennenlernt. Atemlos genießt er mit ihr die heißen Stunden der Leidenschaft – nicht ahnend, dass er sie bald wiedersehen wird. Und zwar als ihr Chef …

DR. WILLIAMS ENTDECKT DIE LIEBE von LOUISA HEATON
Nach einer Enttäuschung hat Schwester Naomi sich geschworen, um Männer einen Bogen zu machen. Doch eine Notlage zwingt sie, bei ihrem attraktiven Boss Dr. Williams einzuziehen! Tag und Nacht mit diesem Traummann zusammen zu sein bringt ihr eigenes Versprechen in höchste Gefahr …

DIE LIEBE IST KEIN SPIEL, MYLORD! von LARA TEMPLE
Aufgeregt reist die junge Sophie nach London, um ihrer Tante Gesellschaft zu leisten. Sie hat viele Pläne: Museumsbesuche, Bälle, Gesellschaften. Doch unvermittelt findet sich die unschuldige Schönheit vom Lande inmitten eines Skandals wieder – mit dem bedrohlich attraktiven Duke of Harcourt. Der einzige Ausweg: Heirat!

EIN CHIRURG LERNT DIE LIEBE von SUSAN CARLISLE
Ehe ja – aber bitte keine Gefühle! Chirurg Tanner Locke hat eine genaue Vorstellung von seiner künftigen Frau. Sie soll ihn auf seinem beruflichen Weg unterstützen – und sein Herz in Ruhe lassen. Doch Whitney bringt diesen Vorsatz auf höchst erotische Art ins Wanken …


  • Erscheinungstag 09.03.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521789
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Der Teufel und die keusche Schönheit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2016 by Lucy Ashford
Originaltitel: „The Captain And His Innocent“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 42 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, Hamburg
Übersetzung: Renate Körting

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783751505239

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Kent, England, 1815

I m grauen Licht eines trüben Nachmittags im Januar standen zwei dunkel gekleidete Männer auf einem einsamen Strand und blickten hinaus auf das Meer. „Bald werden wir dort draußen gar nichts mehr erkennen können, Captain Luke“, brummte der ältere der beiden. „Dieser vermaledeite Nebel ist so dick wie der Porridge, den sie uns in der Army zu essen gegeben haben.“

„Du solltest lieber dankbar für den Nebel sein, Tom.“ Luke Danbury wandte den Blick keinen Moment vom Meer ab. „So können die Zollbeamten Monsieur Jacques’ Schiff dort draußen auch nicht sehen.“

„Ich weiß, Captain. Aber …“

„Und ich möchte“, fuhr Luke fort, „dass du endlich damit aufhörst, mich Captain zu nennen. Es ist schon über ein Jahr her, seit wir die British Army verlassen haben. Schon vergessen?“

Tom Bartlett schaute den jüngeren Mann misstrauisch an. Für eine Weile presste er die Lippen in seinem wettergegerbten Gesicht zusammen. Seine schwarzen Haare standen störrisch vom Kopf ab. Dann platzte er heraus: „Trotzdem. Ich finde immer noch, dass Sie mich mit den Watterson-Brüdern hätten hinausschicken sollen, um Monsieur Jacques abzuholen. Ich traue den beiden zu, dass sie sich dort draußen verirren.“

„So?“ Luke lächelte ein wenig. „Als wir beide auf der Iberischen Halbinsel kämpften, waren Josh und Pete Watterson schon seit Jahren in der Navy, hast du das vergessen? Die Brüder werden sich nie auf dem Meer verirren, egal bei welchem Wetter.“

Tom schien noch etwas sagen zu wollen, aber Luke entfernte sich bereits von ihm und ging auf das Wasser zu. Sein langer geflickter Umhang flatterte im Wind und die schwarzen Haare wehten wild um seinen Kopf.

„Nun“, sagte Tom leise zu sich selbst. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Captain. Hoffentlich rudern die Watterson-Brüder den Monsieur ein bisschen schneller an Land, als ihr Verstand arbeitet.“ Er drehte sich zu den Klippen hinter ihnen um, als vermutete er dort Feinde, die bereits auf der Lauer lagen. „Wenn die Zollbeamten aus Folkestone uns erwischen, legen sie uns schneller in Eisen, als wir mit den Augen zwinkern können. Und das ist eine Tatsache.“

Luke Danbury hatte die Hände in die Taschen gesteckt und beobachtete den Nebel, der sich in immer dichteren Schwaden über das Meer wälzte. Als könnte er den Nebel durchdringen und die französische Küste sehen oder den weit entfernten Ort, an dem letztes Jahr sein Bruder spurlos verschwunden war.

Wieder einmal war Lukes Herz voller Bitterkeit. Er krümmte die Finger der behandschuhten rechten Hand und streckte sie wieder. Er brauchte neue Nachrichten, denn er war des Wartens müde und wollte endlich Gewissheit haben … so oder so.

Hinter seinem Rücken hatte Tom Bartlett, der früher in der Army sein getreuer Sergeant gewesen war, leise zu brummeln begonnen, doch er hörte sofort damit auf, als Luke warnend die Hand hob.

Luke hatte etwas vernommen. Und wirklich, einen Augenblick später konnte er es sehen – ein kleines Boot, das allmählich aus dem Nebel auftauchte. Zwei Männer saßen an den Rudern, während ein weiterer Mann im schwarzen Mantel und Hut sich ungeduldig am Bug vorbeugte. Der Bootskiel knirschte auf den Kieselsteinen. Tom watete durch das flache Wasser darauf zu und reichte dem schwarz gekleideten Passagier die Hand, damit er aussteigen und an Land gehen konnte. „Na also, Monsieur !“, rief Tom zur Begrüßung. „Sie sind sicher froh, wieder auf trockenem Boden zu sein, nicht wahr?“

„Auf festem Boden, ja.“ Jacques lachte. „Und bei Freunden.“

Tom schien sich über das Lob zu freuen. Dann wandte er sich an die Wattersons, die gerade die Ruder festmachten. Die Brüder hatten beide einen braunen Lockenkopf und sahen sich so ähnlich, dass sie hätten Zwillinge sein können. „He, ihr Ganoven“, rief Tom. „Ich habe immer schon gesagt, dass die Navy besser dran ist ohne euch. Ihr habt euch so viel Zeit gelassen, dass ich schon fürchtete, ihr hättet euch verirrt und wärt bis nach Frankreich und zurück gerudert.“

Die Brüder grinsten gutmütig. „Und die Army ist sicher besser dran ohne dein miesepetriges Gesicht, Tom Bartlett. Aber du wirst sicher ein bisschen fröhlicher dreinschauen, wenn du siehst, was wir im Boot haben.“

„Ein Geschenk von Monsieur Jacques?“ Tom nickte mit dem Kopf in Richtung ihres Passagiers, der sich in ein paar Schritten Entfernung bereits angeregt mit Luke Danbury unterhielt.

„Ein Geschenk von Monsieur Jacques.“ Die Brüder hievten das Boot ein Stück weiter nach oben auf den Strand, dann zogen sie einige alte Fischernetze zur Seite und brachten eine schwere Holzkiste zum Vorschein. „Brandy“, verkündeten sie unisono. „Monsieur Jacques belohnt seine Freunde. Komm schon, du Landratte, hilf uns beim Tragen.“

„Mein Schiff liegt hier für die Nacht vor Anker“, sagte Monsieur Jacques gerade zu Luke. „Wie gut, dass ihr uns entdeckt habt, bevor der Nebel sich noch weiter herabsenkte, mein Freund. Und wie gut, dass die Zollbeamten es nicht taten. Wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen?“

„Seit Ende Oktober.“

„So lange schon …“ Jacques sah hinüber zu den Männern bei dem Boot und warf dann Luke einen Blick zu, der zu sagen schien: Später, mein Freund. Wir reden, wenn wir allein sind . Dann schritt er über den Kies dorthin, wo Lukes Männer die Kiste mit dem Brandy abgestellt hatten. Schwungvoll entnahm er eine Flasche und entkorkte sie mit seinem Taschenmesser.

„Auf das Wohl der braven Fischer, Josh und Peter Watterson!“ Er hob grüßend die Flasche und nahm einen Schluck. „Auf die Gesundheit von Tom Bartlett! Und ganz besonders auf deine Gesundheit, Captain Danbury!“

Jacques hielt die Flasche vor Lukes rechte Hand, aber rasch ergriff Luke die Flasche mit der linken, an der er keinen Handschuh trug. Sein Blick war ausdrucklos.

„Pardon.“ Jacques machte ein beschämtes Gesicht. „ Mon ami, ich habe nicht daran gedacht.“

„Keine Ursache.“ Lukes Stimme war ruhig, aber ein Schatten schien kurz über sein Gesicht zu huschen. „Auf die Gesundheit von allen hier. Auf die wahren Freunde der Freiheit … in England und in Frankreich.“

„Auf die wahren Freunde der Freiheit!“, wiederholten die Übrigen.

Luke trank und reichte dann die Flasche zurück zu Jacques. „Möge eines Tages Gerechtigkeit geübt werden“, fügte er hinzu, „an den Regierungsbeamten in London mit ihren hinterhältigen Worten und gebrochenen Versprechungen.“

„Gerechtigkeit.“

„Ja, Gerechtigkeit, Captain.“ Nacheinander wiederholten alle den Trinkspruch und tranken, bevor sie die Flasche weitergaben.

Schließlich wandte sich Luke an Tom. „Selbstverständlich übernachtet Jacques bei mir im Haus. Aber bevor wir aufbrechen, möchte ich, dass du für mich die Straße kontrollierst, Tom.“

„Die nach London?“

„Genau. Bitte vergewissere dich, dass dort keine Spione sind, keine Regierungsleute.“

Sofort eilte Tom zu dem Pfad, der an der steilen Klippe schräg nach oben verlief. Die Wattersons waren dageblieben, aber Luke erteilte auch ihnen einen Auftrag. „Josh, Peter. Ich möchte, dass ihr den Brandy zum Haus bringt und dort Bescheid sagt, dass unser Gast angekommen ist.“

„Jawohl, Captain.“

Das Tageslicht verblasste allmählich, und der Nebel wallte landeinwärts, nur noch die Schreie der Möwen waren zu hören. Luke und der Franzose waren allein. Und ich kann ihm endlich die einzige Frage stellen, auf die es mir ankommt . Diese Frage hatte er in den vergangenen anderthalb Jahren schon so oft und so vielen Menschen gestellt.

„Jacques, mein Freund.“ Er war selbst erstaunt, dass sich seine Stimme so gelassen anhörte. „Gibt es etwas Neues von meinem Bruder?“

Der Franzose sah traurig und missbehaglich aus. Luke wurde es bange ums Herz.

„Hélas, mon ami!“, sagte Jacques nach einer Weile. „Ich bin die gesamte Küste auf und ab gesegelt und habe jeden befragt, dem ich begegnete. Ich habe in jedem Hafen bei meinen Freunden herumgefragt, von Calais im Norden bis nach Royan im Süden. Und … nichts.“ Der Franzose zog bedauernd die Schultern hoch. „Dein Bruder ist mit den anderen Männern im September 1813 bei La Rochelle verschwunden. Leider weiß man inzwischen, dass die meisten umgekommen sind. Bezüglich deines Bruders jedoch … wir können nur hoffen, dass keine Nachricht eine gute Nachricht ist, wie ihr Engländer zu sagen pflegt.“ Sein Gesicht zeigte tiefes Mitgefühl. „Aber ich habe etwas für dich.“

Er griff in die Innentasche seines Mantels und gab Luke ein kleines, in Öltuch gewickeltes Päckchen. Luke hielt es in der behandschuhten rechten Hand und öffnete es vorsichtig mit der linken, bis etwas in seiner Handfläche zum Vorschein kam. Glänzendes Messing, Kriegsorden mit den eingravierten Namen von Schlachten: Badajoz, Salamanca, Talavera. Luke war zutiefst aufgewühlt.

Schließlich blickte er auf. „Woher hast du das?“

„Von einer alten französischen Bäuerin. Sie fand es halb vergraben in einem ihrer Felder nahe der Küste von La Rochelle und erkannte, dass es sich um britische Orden handelte. Sie bat mich, sie nach England zu bringen. Es könnten die deines Bruders sein, nicht wahr?“

Wortlos nickte Luke. Es wäre möglich. Aber selbst wenn, sagte er sich, bedeutet das nicht, dass er tot ist. Er könnte noch irgendwo dort drüben leben. Als Gefangener vielleicht. Und auf Hilfe warten …

Er riss sich zusammen, weil ihm plötzlich die dunklen Ringe unter den Augen des Franzosen auffielen. Sein Freund war müde, trotz seiner zur Schau getragenen Fröhlichkeit.

„Wir haben später noch genug Zeit zu reden“, sagte Luke. „Es wäre mir eine Ehre, Jacques, wenn du wie üblich in meinem Haus essen und übernachten würdest.“

„Sehr gern, obwohl ich mich morgen vor Sonnenaufgang auf den Weg machen muss. Es ist für meine Mannschaft zu gefährlich, bei Tageslicht noch dort vor Anker zu liegen.“ Jacques drückte Lukes Schulter. „Du weißt, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um deinen Bruder zu finden. Es ist das Mindeste, was ich dir schulde, mon ami …“

Er brach ab, weil Tom Bartlett mit knirschenden Schritten auf sie zukam. „Auf der Hauptstraße sind Reisende, Captain.“

„Zollbeamte?“, fragte Luke mit scharfer Stimme.

„Nein, Captain, es ist eine feine Kutsche. Mit zwei Dienern und einem Kutscher. Jede Menge Gepäck.“

Luke bekam plötzlich kaum noch Luft. „Sah es so aus, als käme die Kutsche aus London, Tom?“

„Ja, würde ich vermuten. Konnte das Wappen auf der Tür nicht sehen, aber die Pferde gehören ganz sicher Lord Franklin. Ich habe die vier schönen Braunen erkannt, die er immer im Stall vom George Inn bei Woodchurch unterstellt.“

„Sitzt Lord Franklin selbst im Wagen?“

„Ich sah eine Frau mittleren Alters, daneben saß eine jüngere. Aber ob Seine Lordschaft auch im Wagen war?“ Tom schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht sagen.“

Luke musste genau wissen, wer in dieser Kutsche saß. „Tom, bitte führe Monsieur Jacques zum Haus. Ich komme nach, so schnell ich kann.“ Er war bereits auf dem Weg zu dem steilen Pfad, auf dem Tom soeben zur Klippe gestiegen war.

Tom war entsetzt. „Sie schaffen es niemals, die vier Braunen von Lord Franklin einzuholen!“

Luke blieb kurz stehen und wandte sich zu ihm um. „Sie werden unterwegs anhalten müssen, Tom. Weißt du nicht, dass die Straße kurz hinter Thornton bei dem heftigen Regen vor einer Woche teilweise eingebrochen ist? Auf diesem Straßenabschnitt muss der Kutscher das Tempo verlangsamen, sonst riskiert er einen Achsenbruch. Ich finde Deckung in dem Wald daneben. Von dort kann ich den Wagen und seine Insassen unbemerkt beobachten.“

„Und wenn Lord Franklin nun wirklich im Wagen ist, Captain, was machen Sie dann?“

Luke antwortete nicht sofort. „Keine Sorge, ich bringe ihn nicht um … noch nicht.“

Damit drehte er sich um und eilte wieder zu dem Pfad, über den man auf die Klippe gelangte.

Tom seufzte und lächelte Jacques resigniert an. „Nun denn, Monsieur“, sagte er. „Dann gehen wir mal zum Haus. Dort brennt ein Feuer im Kamin und meine liebe Frau hält gewiss schon einen leckeren Eintopf bereit. Und dank Ihnen haben wir sogar Brandy …“ Er zögerte. „Ich vermute mal, dass es nichts Neues vom jüngeren Bruder des Captains gibt?“

Jacques schüttelte den Kopf. „Nichts Neues.“

„Dann besteht ja noch Hoffnung“, meinte Tom, „dass er wohlbehalten zurückkehrt.“ Er ging weiter, weil ihn die Aussicht auf warmes Essen lockte. Monsieur Jacques folgte ihm, seine Miene war jedoch immer noch traurig.

„Wohlbehalten?“, murmelte er fast unhörbar. „Leider habe ich daran meine Zweifel, lieber Freund. Große Zweifel.“

2. KAPITEL

E llie Duchamp, neunzehn Jahre alt, betrachtete aus dem Fenster der Kutsche die ihr unbekannte englische Landschaft. Sie hatte eigentlich gehofft, allein nach Bircham Hall reisen zu können, denn sie brauchte Zeit und Ruhe zum Nachdenken über all das, was ihr in den vergangenen Monaten zugestoßen war.

Doch es blieb ihr keine Schonfrist, um über die Veränderungen in ihrem Leben und die Gründe dafür nachzudenken.

Lord Franklin Grayfield, ein reicher englischer Aristokrat und Kunstsammler, hatte sie in ihrer Dachkammer in Brüssel aufgestöbert und versicherte ihr seither ständig, dass sie seine Verwandte sei und daher unter seine Obhut gehöre.

Weder Zeit noch Ruhe waren ihr beschieden, denn neben ihr in der Kutsche saß die Begleiterin, die Lord Franklin für sie engagiert hatte. Es war Miss Pringle, eine besonders englische und altjüngferliche Dame, die vor wenigen Tagen in Lord Franklins Haus in Mayfair angekommen war. Miss Pringle konnte ihre Aufregung darüber nicht verbergen, mit der Aufgabe betraut worden zu sein, Ellie nach Bircham Hall zu begleiten, dem Landsitz Seiner Lordschaft in der Grafschaft Kent.

Gestern hatte Lord Franklin – ein stets höflicher Mann mittleren Alters – persönlich vor seinem prächtigen Londoner Haus in der Clarges Street gestanden und das Aufladen von Ellies Gepäck überwacht. Miss Pringle hatte ihm beim Abschied begeistert versichert, dass sie sich um Ellie kümmern werde, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sehr schnell hatte Ellie begriffen, was „sich kümmern“ für ihre neue Begleiterin bedeutete – nämlich ununterbrochen zu schwatzen.

Während der Fahrt durch London hatte Miss Pringle geredet. Auf dem Weg durch die Vororte und die grünen Felder hinter Orpington hatte sie geredet, und sie hatte weitergeredet, als die Pferde gewechselt wurden.

Ellie hatte Miss Pringle schon bei ihrer ersten Begegnung mitgeteilt, dass sie Englisch sehr gut verstand, aber Miss Pringle sprach grundsätzlich langsam und betonte sorgfältig jede Silbe. Es strapazierte Ellies Geduld und stimmte sie zunehmend gereizt.

Obwohl die Fahrt nach Kent durchaus in einem Tag zurückgelegt werden konnte, glaubte Lord Franklin, dass es für Ellie bequemer sei, unterwegs in Aylesford zu übernachten. Sie hatte gehofft, dass ihre Gefährtin wenigstens während des Abendessens still sein würde. Miss Pringle genoss die Mahlzeit sichtlich, aber irgendwie gelang es ihr, eine beachtliche Portion zu essen und dabei ununterbrochen zu plappern.

„Lord Franklin hat meine Familie schon immer mit seiner Wertschätzung bedacht, Elise.“

Elise war Ellies französischer Taufname. Ihr französischer Vater und ihre englische Mutter hatten sie immer Ellie genannt, aber sie machte sich normalerweise nicht die Mühe, diejenigen zu korrigieren, die sie Elise nannten, wenn es Fremde waren, die nichts über ihre Vergangenheit wussten.

„Mein teurer Papa“, fuhr Miss Pringle zwischen zwei Bissen Schinken und Erbsen fort, „war viele Jahre lang Vikar in der Gemeinde Bircham, müssen Sie wissen. Und seit seinem traurigen Dahinscheiden – nun, niemand hätte freundlicher und rücksichtsvoller zu mir sein können als Lord Franklin. Er sagte: ‚Meine liebe Cynthia, wir können nicht zulassen, dass Sie Bircham verlassen, da Sie so viele Jahre ein wertvolles Mitglied der Gemeinde waren.‘ Das waren seine genauen Worte! Am Ende fand er sogar ein hübsches kleines Haus für mich – in einem gehobenen Ortsteil von Bircham Village. Dort lebe ich sehr komfortabel , und natürlich bin ich sehr beschäftigt mit meinen vielen gemeinnützigen Tätigkeiten.“

Miss Pringle beugte sich näher zu ihr. „Aber als ich dann von Lord Franklin erfuhr, dass ich nach London fahren sollte, um Sie nach Bircham Hall zu begleiten – nun, ich fühlte mich so geehrt. Und … Ellie, der Gedanke, dass er Ihr verloren geglaubter Verwandter ist …! Wie Sie bereits wissen, wird er bald wieder auf Reisen gehen. Nach dem Ende dieses scheußlichen Krieges mit Frankreich kann er endlich wieder nach Paris reisen und die Kunstwerke und klassischen Gebäude dort bewundern. Lord Franklin ist ja ständig unterwegs, um seine Kunstsammlung zu erweitern. So ist er natürlich auch Ihnen begegnet. In Brügge, nicht wahr?“

„In Brüssel“, antwortete Ellie fast tonlos und schob ihren Teller zur Seite. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Pringle, würde ich mich jetzt gern zurückziehen, denn ich bin sehr müde.“

Doch am nächsten Morgen ging schon beim Frühstück das Gerede weiter.

„Also …“, begann Miss Pringle bei Toast und Marmelade. „Lord Franklin begegnete Ihnen in Brüssel. Und welch ein glücklicher Zufall für Sie, als sich herausstellte, dass er ein Cousin zweiten Grades Ihrer Mutter ist.“ Plötzlich heftete sie ihren Blick auf Ellies schäbigen Reisemantel und die unelegante Haube und meinte noch gedehnter als sonst: „Man hat mir gesagt, Lord Franklin habe Sie in London großzügig mit neuen Kleidern ausgestattet.“

„So ist es“, antwortete Ellie. „Aber ich reise lieber in praktischen Kleidern.“

„Sehr vernünftig.“ Miss Pringle nickte. „Sie werden feststellen, dass praktischer Nutzen in Bircham Hall besonders wichtig ist.“

Ellie hätte gern gewusst, was sie damit meinte. War es kalt und zugig dort? Ungemütlich? Aber bestimmt nicht so kalt oder ungemütlich wie einige der schrecklichen Orte, an denen sie im letzten Jahr hatte Schutz suchen müssen.

Dann war es Zeit, wieder in die Kutsche im Hof des Gasthauses zu steigen. Unter der Aufsicht des Kutschers spannten die Stallknechte gerade vier wunderschöne Braune an, und Miss Pringle sah Ellies bewundernde Blicke. „Lord Franklin nimmt selbstverständlich immer nur die Besten“, verkündete sie. „Dies ist, soviel ich weiß, unser vorletzter Pferdewechsel, und gegen Nachmittag kommen wir in Bircham Hall an. Welch ein erhebender Gedanke! Dort werden Sie Lady Charlotte kennenlernen, die Sie sicher herzlich willkommen heißen wird …“

Bildete Ellie es sich nur ein, oder war Miss Pringle nicht mehr ganz so selbstsicher, als sie von Lord Franklins verwitweter Mutter sprach?

„Meine Mutter“, hatte Lord Franklin ihr erzählt, „reiste früher gelegentlich nach London, aber nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Ich habe ihr die Nachricht von Ihrer Ankunft in Bircham Hall gesandt, und sie wird dafür sorgen, dass Sie sich dort wohlfühlen.“

Doch wie wird Lady Charlotte wirklich darüber denken, fragte sich Ellie, als die Kutsche weiter durch die Landschaft von Kent fuhr. Wie wird es ihr gefallen, dass man ihr plötzlich ein neunzehnjähriges französisches Mädchen – eine mittellose Waise – aufdrängt?

Ellie würde es sehr bald erfahren, so viel stand fest.

Sie kamen langsam voran, nicht schneller als am Tag zuvor. Kurz nach dem letzten Pferdewechsel erblickte Ellie endlich das Meer. Allmählich verging das Licht des Nachmittags, und vom fernen Horizont her zog dichter Nebel über die weite graue Wasserfläche. Sie lehnte die Stirn an das Fenster der Kutsche. Draußen sah sie eine kleine alte Kirche, und in deren Nähe auf einer Anhöhe ein einsames altes Haus mit breiten Seitenflügeln und Giebeln inmitten von verkrüppelten Ahornbäumen.

Sie reckte den Hals, um mehr erkennen zu können, aber die Kutsche rollte wieder in ein Waldgebiet, und das Haus geriet außer Sichtweite. Ein Haus der Geheimnisse, dachte sie.

Ellie, hätte ihr Vater liebevoll zu ihr gesagt. Du hast zu viel Fantasie .

Wieder fühlte sie den intensiven Schmerz über seinen Verlust und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie bereits die nächste Landzunge durchquert und man konnte wieder das Meer sehen. Dort unten standen mehrere kleine Häuser um einen Hafen herum. Ellie sah auch ein Wirtshaus und einen Landungssteg, wo Fischerboote vertäut waren und Männer ihre Netze flickten.

Miss Pringle redete immer noch über Lord Franklin. „Die Familie der Grayfields geht in ihren Anfängen bis in die Tudor-Zeit zurück …“

Ellie blickte zu ihrem kleinen schwarzen Handkoffer zu ihren Füßen. Was würde Miss Pringle wohl tun, wenn Ellie plötzlich nach ihrem Köfferchen griff, aus dem Wagen sprang und zu dem Hafen lief, um einen dieser Fischer zu bitten, sie von Englands kalter und feindseliger Küste wegzubringen? Ich habe Heimweh, dachte sie kummervoll. Heimweh nach dem Paris meiner Kindheit und den glücklichen Zeiten mit meinen Eltern. Ich vermisse sogar Brüssel, wo ich die letzten trostlosen Monate mit meinem armen sterbenden Papa verbracht habe .

„Oh, sehen Sie sich den Nebel an.“ Miss Pringle schauderte und schaute auch aus dem Fenster. „Und bald wird es dunkel sein. Wie ich den Januar hasse! Bei diesem Wetter kommen die Schmuggler aus ihren Löchern. Lord Franklin versucht alles, um ihnen das Handwerk zu legen, aber es sind gefährliche Verbrecher. Man sagt sogar, dass sie mit den Franzosen im Bunde stehen. Immerhin ist Frankreich von diesem Teil der Küste keine zwanzig Meilen entfernt.“

Das Fischerdorf war nicht mehr zu sehen. Die Straße entfernte sich wieder von der Küste und verlief nun durch ein dichtes Waldgebiet. Immer noch redete Miss Pringle weiter. Doch plötzlich schrie sie auf. „Was ist los? Warum halten wir hier?“

„Bitte, beruhigen Sie sich“, sagte Ellie.

Inzwischen stand einer der Diener am Wagenfenster. „Verzeihen Sie bitte, Ladys, aber es sieht so aus, als wäre ein Teil der Straße vor uns weggebrochen, wahrscheinlich wegen des starken Regens vor Kurzem.“

Miss Pringle schlug die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott. Oh mein Gott …“

„Kein Grund zur Aufregung, Madam“, sagte der Diener rasch. „Wir müssen nur ein paar Reparaturen durchführen, damit die Strecke wieder befahrbar ist. Es dauert nur zehn, vielleicht fünfzehn Minuten, nicht länger.“

Sobald er verschwunden war, beugte Ellie sich vor. „Miss Pringle?“

„Ja?“ Miss Pringle hatte ihr Riechsalz hervorgeholt und schnüffelte herzhaft daran.

„Ich denke, ich nutze diesen Aufenthalt zu einem kleinen Spaziergang. Ich brauche frische Luft.“

„Aber Sie sind doch erst vor weniger als einer Stunde spazieren gegangen, beim letzten Pferdewechsel. Und bald sind wir in Bircham Hall. Können Sie nicht noch warten? Außerdem ist es bestimmt nicht sicher hier.“

Aber Ellie hatte bereits die Wagentür geöffnet und sprang auf die Straße, fest in ihren Mantel gewickelt.

Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr war, begann es empfindlich kalt zu werden. Und der Nebel! Er waberte jetzt vom Meer her über das Land und umhüllte die Bäume ringsumher wie eine feuchtkalte gespenstische Decke. Die Straße vor Ellie war kaum noch zu erkennen, aber sie konnte sehen, dass ein großer Teil des Straßenbelags weggebrochen war.

Sie hatte wieder die Stimme ihres Vaters in den Ohren. Das liegt an der ungenügenden Entwässerung, Ellie. Sieh dir das schlechte Fundament an. Man kann keine Straße bauen, indem man einfach eine Schicht Steine auf den unbefestigten Untergrund streut. Die Römer wussten schon, dass man auf beiden Seiten einer Straße Gräben ziehen muss, damit das Wasser abfließen kann …

Lord Franklins Diener waren für solche Notfälle gerüstet, das hätte ihrem Vater gefallen. Die beiden Männer konnten sie nicht sehen, da sie im Dunkeln neben der Kutsche stand. Einer von ihnen hackte mit einer Axt dicke Äste von den Bäumen ab, die der andere auf den beschädigten Teil der Straße legte. So wurde die Oberfläche befestigt und würde für kurze Zeit das Gewicht der Pferde und der Kutsche aushalten.

Beim Zuschauen hörte sie, worüber sie sprachen.

„Hübsches kleines Ding, nicht? Das Mädchen? Und spricht richtig gut Englisch für eine Französin.“

„Ihre Mutter soll Engländerin gewesen sein. Eine englische Schlampe, die mit einem Franzosen durchbrannte. Ich hätte nichts dagegen, mit dieser hier abzuhauen …“

Ellies Wangen brannten. Schon wieder. Dieses dumme, giftige Geschwätz hatte sie schon so oft gehört. In aufrechter Haltung schritt sie weg von ihnen, die Straße entlang, auf der sie gekommen waren. Erst als die Dunkelheit Kutsche und Diener hinter ihr verschluckt hatte, spürte sie das Brennen der ungeweinten Tränen in den Augen.

Es ist nur die kalte Luft, dachte sie grimmig und rieb sich die Augen. Und die Kälte .

Sie ging weiter und dachte dabei an das Meer und das Fischerdorf. In welcher Richtung lag wohl die französische Küste? Südlich? Nach Osten? Sie griff tief in die Tasche in ihrem Mantel und zog eine kleine Lederschachtel hervor.

Doch dann schrak sie heftig zusammen, als eine große Gestalt plötzlich zwischen den Bäumen hervortrat. Die Schachtel fiel zu Boden und lag irgendwo im Unterholz neben der Straße.

„Ich an Ihrer Stelle“, sagte der Mann leise, „würde nicht versuchen zu fliehen. Es wäre zwecklos, fürchte ich.“

Ellies Magen krampfte sich angstvoll zusammen. Der Mann war groß und kräftig gebaut. Sie würde es in ihren schweren Reisekleidern niemals zurück zur Kutsche schaffen, bevor er sie einfing. Wer war er? Ein Wegelagerer? Vielleicht einer der Schmuggler, von denen Miss Pringle gesprochen hatte?

Jedenfalls sah er nicht wie ein gesetzestreuer Bürger aus. Sein langer Umhang war vielfach geflickt, die Stiefel voller Schmutz. Er musste weit gelaufen sein. Seine Wangen waren dicht mit Bartstoppeln bedeckt, und die langen Haare hingen zottelig um sein Gesicht. Doch seine Augen strahlten leuchtend blau, und sein Blick wirkte intelligent.

Ein Mann zum Fürchten . Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie zwang sich zur Gelassenheit. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich nichts Wertvolles bei mir habe. Wenn Sie mich ausrauben wollen, verschwenden Sie nur Ihre Zeit.“

Seine Augen funkelten. „Ich will Sie nicht berauben. Bin nur neugierig. Ich habe gehört, dass Lord Franklin jetzt ein Mündel hat. Das müssen Sie sein.“

Was war mit seiner Stimme – dieser tiefen, rauchig klingenden Stimme? Warum jagte er ihr damit Schauer über den Rücken? Und wie hatte er erfahren, dass sie nach Bircham Hall kommen würde?

„Ich bin nicht Lord Franklins Mündel“, antwortete sie. Ruhig atmen, Ellie. Schau ihn mit der Verachtung an, die er verdient . „Es gibt allerdings eine familiäre Beziehung. Meine Mutter war mit ihm verwandt …“

Er kam näher. Ängstlich trat sie einen Schritt zurück. „Gewiss, Mam’selle “, sagte er sanft. „Plötzlich ist da dieser reiche englische Aristokrat und kümmert sich um Sie. Wie im Märchen. Man sagt, dass Lord Franklin ein großer Sammler ausländischer Kunstwerke ist. Was würde besser dazu passen, als ein hübsches französisches Mädchen vom Kontinent mitzubringen?“

Ihr Atem kam in schnellen Stößen. Sie war eine Närrin gewesen, sich so weit von der Kutsche zu entfernen. „Sie irren sich“, sagte sie mit fester Stimme, „wenn Sie glauben, ich würde mich einfach so … aufsammeln lassen. Lord Franklin hat mich aus Pflichtgefühl unter seinen Schutz genommen, das ist alles. Monsieur , lassen Sie mich bitte sofort gehen.“

Sie trat einen Schritt vor, aber er war schneller und stellte sich ihr in den Weg. Seine Größe und die beeindruckend breiten Schultern schüchterten sie ein.

„War Ihnen eigentlich bekannt“, meinte er, „dass Lord Franklin mit Ihnen verwandt ist, bevor Sie ihn kennenlernten?“

Einen Augenblick lang fühlte sie sich überwältigt von seinem harten und entschlossenen Gesichtsausdruck. Und den intensiv blauen Augen. Nein, nein, nein, so etwas will ich nicht .

Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie dachte an das schlecht möblierte Dachzimmer über der Bäckerei in Brüssel und an ihren sterbenden Vater auf seiner schmalen Matratze. Wie sie versuchte, sein Fieber zu senken, indem sie sein Gesicht mit kaltem Wasser abwusch. Dann die Bäckerin, die Witwe Gavroche, die zu ihr nach oben eilte und einen feinen englischen Gentleman ankündigte.

Ellie war ganz allein auf sich gestellt gewesen, ständiger Gefahr ausgesetzt, ohne Freunde und Geld. Sie hatte gehofft, diese Bedrohung läge nun hinter ihr, aber dieser Mann, der so plötzlich aus dem Nebel auftauchte, erinnerte sie daran, dass es nicht so war.

Sie musste fort. Aber die Schachtel …

Sie schaute auf dem Boden umher, bis sie sie plötzlich entdeckte. Schnell bewegte sie sich darauf zu, aber er war schneller und hatte die kleine Lederschachtel schon in der Hand.

Ellie spürte, dass ihr Gesicht plötzlich blutleer war. „Das gehört mir. Geben Sie es mir zurück!“

Er sah sie mit einem seltsamen Lächeln an, aber er ignorierte sie. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft in der Brust. Ihr fiel auf, dass er die Schachtel mit der linken Hand aufgehoben hatte und sie dort hielt, während er die rechte Hand benutzte, um sie langsam zu drehen.

An der rechten Hand trug er einen Handschuh, aber irgendetwas stimmte nicht damit. Die ersten beiden Finger fehlten . Aber er hatte anscheinend keine Schwierigkeiten, die Schachtel zu öffnen. Ellie fühlte sich fast krank, als sie den glänzenden Messing-Kompass ihres Vaters sah.

„Ein hübsches Ding“, sagte er mit anerkennender Stimme. „Das ist bestimmt etwas wert.“

„Möglicherweise. Oder auch nicht.“ Ellie ließ eine Hand in ihren Mantel gleiten. „Aber, Monsieur , wenn Sie noch ein bisschen Verstand übrig haben, geben Sie es mir zurück, oder ich schwöre Ihnen, dass Sie es bereuen werden.“

„Wie wollen Sie mich denn dazu zwingen?“

Anstelle einer Antwort hob sie die Pistole in ihrer Hand und entsicherte sie. Sie zielte genau auf sein Herz.

Er schien sich leicht anzuspannen, aber immer noch schaute er sie mit einem spöttischen Blick an. „Mam’selle“, sagte er vorwurfsvoll. „Also wirklich. Wollen Sie es auf die Spitze treiben? … Wissen Sie denn überhaupt, wie man mit einer Waffe umgeht?“

Diese Stimme. Dunkel und samtig. Bei jedem seiner Worte lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie packte die Pistole noch fester. „Wollen Sie es herausfinden?“ Sie ließ ihre Stimme ganz ruhig klingen. „Geben Sie mir den Kompass zurück. Oder ich schieße.“

Er betrachtete sie mit abschätzendem Blick. Dann lachte er und überreichte ihr den Kompass mit einem kurzen Kopfnicken. Ellie griff hastig danach. Ihr Puls raste.

„Ein sehr ungewöhnliches Objekt“, meinte er ungerührt. „Vermutlich von einigem Wert, würde ich meinen.“ Er machte eine knappe Verbeugung. „Unsere Begegnung war sehr interessant, aber jetzt möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Bircham Hall. Zu Ihren Diensten, Mademoiselle .“

Und er war fort. Verschwunden im Nebel unter den Bäumen. So plötzlich und unerwartet, wie er erschienen war.

Immer noch bekam sie kaum Luft. Der Glanz in seinen blauen Augen beim Betrachten des Kompasses fiel ihr ein. Dieu . Hatte er etwa Zeit genug gehabt, ihn sich anzusehen? Wirklich anzusehen?

Mit großer Anstrengung gewann sie die Fassung zurück, sicherte die Pistole und schob sie zusammen mit der Schachtel wieder in ihre Manteltasche.

Sie eilte zurück zur Kutsche und versuchte sich zu beruhigen. Hoffentlich hatte der Kompass seine Aufmerksamkeit nur erregt, weil er ihn für wertvoll hielt. Aber er hatte eigentlich nicht wie ein gewöhnlicher Wegelagerer ausgesehen. Wer war er? Und woher wusste er so viel über sie?

Sie atmete tief durch. Die Antwort war vermutlich ganz einfach. Wie Miss Pringle nur allzu oft betont hatte, war Bircham Hall das größte und bedeutendste Haus in diesem Teil von Kent. Sicherlich war die Dienerschaft über ihre bevorstehende Ankunft informiert worden und hatte die Nachricht in der ganzen Umgebung verbreitet.

So hatte er wahrscheinlich erfahren, dass sie erwartet wurde und in welcher Beziehung sie zu Lord Franklin stand. Und er hatte die Kutsche beobachtet und gewusst, dass sie hier anhalten mussten. Vermutlich hatte er darauf spekuliert, die Insassen auszurauben. Mit ihrem kleinen Spaziergang hatte sie ihm eine perfekte Gelegenheit dazu verschafft.

Ein gewöhnlicher Dieb. Das war die plausibelste Antwort. Und doch konnte sie eine Ahnung nicht unterdrücken, dass seine wahren Absichten sehr viel bedrohlicher waren als ein Raubüberfall.

Sie sah Miss Pringle neben dem Wagen stehen. Offenbar war sie sehr besorgt und stieß einen Schrei aus, als sie Ellie sah. „Da sind Sie ja. Ich habe mir schon die schrecklichsten Dinge ausgemalt …“

„Mir geht es gut, Miss Pringle“, sagte Ellie beschwichtigend. „Wirklich.“

Ein Diener kam und teilte ihnen mit, dass sie weiterfahren konnten. Für den Rest der Reise nach Bircham Hall schloss Ellie die Augen und gab vor zu schlafen.

Doch sie bekam den Mann mit der verstümmelten rechten Hand und den gefährlichen blauen Augen nicht aus dem Kopf. Ein seltsames und ihr fremdes Gefühl hatte sie erfasst. Angst? Nein. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Aus Angst würde ihr Puls nicht so rasen, wenn sie an sein männliches Gesicht und sein verwegenes Lächeln dachte. Wenn sie Angst gehabt hätte, wären ihr nicht die langen dichten Wimpern dieses Mannes aufgefallen, und sie würde sich nicht so genau an die magisch geschwungenen Lippen erinnern. Und sie würde sich nicht fragen, wie viele Frauen er wohl schon geküsst hatte …

In Bircham Hall würde sie in Sicherheit sein, obwohl sie dort keine Freunde hatte. Der Mann war bestimmt nur ein gewöhnlicher Rüpel.

Dann schauderte sie. Es war ihr eingefallen, dass der Fremde in dem langen geflickten Umhang durchaus nicht wie ein Rüpel gesprochen hatte, sondern wie ein englischer Gentleman. Seine weiche Stimme hatte sie zutiefst berührt, obwohl jedes seiner Worte entweder eine versteckte Beleidigung oder eine Drohung gewesen war.

Jetzt bekam sie doch Angst. Sie hatte gehofft, außer Gefahr zu sein, wenn sie erst in England war, aber offenbar hatte sie sich getäuscht.

3. KAPITEL

A n diesem Abschnitt der Küste senkte sich die Dämmerung immer sehr schnell herab und ließ die einsamen, mit Ginster bewachsenen Klippen und die meilenweiten Kieselstrände vor den Augen des Betrachters verschwimmen. Immer noch erinnerte vieles dort an den kürzlich beendeten Krieg mit Frankreich. In der Ferne sah man die trutzigen Umrisse eines Wehrturms, der für den Fall einer Invasion durch Napoleon erbaut worden war, und von Zeit zu Zeit ritten Soldaten aus Folkestone Patrouille entlang der Küste. Wahrscheinlich waren sie auf der Jagd nach Schmugglern.

Luke konnte in dem verbleibenden Licht gerade noch erkennen, dass die Landzunge und der Strand verlassen dalagen. Er hörte nur die Schreie der Möwen über dem Meer. Zu Fuß ging er durch den Wald und gelangte über die alten Schleichwege der Fischer und Farmer zu einem schmalen Pfad, der zu einem einsam stehenden Haus führte, das hinter dicht stehenden windschiefen Ahornbäumen stand.

Das Haus war an der Stelle erbaut worden, wo sich vor über tausend Jahren angeblich einmal eine Burg befunden hatte, von der aus man das Land gegen germanische Eroberer verteidigt hatte. Nun war es von dichtem Nebel eingehüllt. In der Stille vermeinte man manchmal Stimmen zu hören, die von lang vergangenen Schlachten flüsterten und von Menschen, die schon seit sehr langer Zeit tot waren. Die Einheimischen glaubten, dass es hier spukte. Sie behaupteten, dass die Felder ringsherum verflucht seien, weil sie sehr dürftige Ernten hervorbrachten und nur die robustesten Schafe dort überlebten. Aber Luke liebte dieses Land mit einer Leidenschaft, die ihm im Blut zu liegen schien.

Er liebte den Winter, wenn Eis und Schnee die karge Landschaft bedeckten und der eiskalte Wind heulend vom Meer her wehte. Luke liebte auch den Sommer, wenn die Weiden voller Schafe und Lämmer waren und die Vögel von morgens bis abends ihre Lieder sangen.

Ein Fremder würde das Haus von Weitem für unbewohnt halten, aber die Einheimischen wussten, dass dort Luke Danbury lebte, ein verschwenderischer Tunichtgut, der im Krieg als Captain in Spanien gekämpft hatte. Doch nun war der Familienbesitz bis unters Dach verschuldet, und der Eigentümer war die meiste Zeit irgendwo unterwegs. Was er eigentlich tat, wusste niemand.

Er unternimmt geheimnisvolle Seereisen, hatte er die Leute sagen hören. Führt wahrscheinlich nichts Gutes im Schilde. Ist ständig fort. Bestimmt spielt er und ist hinter Frauen her, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. Früher war er eine Zeitlang mit einer reichen Erbin verlobt gewesen, aber die war gerade noch davongekommen. Sein Land, das vor dem Krieg noch gute Erträge erbrachte, ließ er verkommen. Und der verschollene Bruder war auch eine Schande. Der Name der ganzen Familie war entehrt …

Über den Pfad erreichte man das vordere Tor, das immer offen stand. Es war so von Unkraut überwuchert, dass man es wahrscheinlich gar nicht mehr schließen konnte, wie Luke vermutete. Das Haus selbst sah verwaist aus, aus keinem Fenster schien Licht, und der Nebel kroch zwischen die Erker und Türmchen. Doch Luke bahnte sich den Weg durch den verwilderten Garten, an den verkrümmten Ahornbäumen vorbei, bis zum Hof und den Ställen hinter dem Haus, wo ihn eine brennende Laterne willkommen hieß.

Dort waren die Pflastersteine gefegt, es gab aufgestapeltes Feuerholz und Heuballen für die Pferde, alles sorgfältig unter einem Schutzdach gelagert. Zu dem Anwesen gehörten mehrere kleinere Höfe, für die hier Werkzeug zur Verfügung gestellt wurde. Die Pächter konnten es sich holen, wenn sie beispielsweise Zäune oder Gräben ausbessern wollten.

Darauf musste er sich jetzt konzentrieren – das Anwesen zu retten und den Lebensunterhalt der Männer und ihrer Familien zu garantieren, die davon abhingen. Doch er dachte auch über die Gerüchte nach, dass Lord Franklin Grayfield mit einem französischen Mädchen heimgekehrt sei. Einer entfernten Verwandten, wie man sich erzählte, die Lord Franklin unter seine Obhut genommen hatte.

Luke war sicher, dass Lord Franklin kein Mann war, der plötzlich sentimentale oder großzügige Anwandlungen hatte. Warum hatte er sich wohl die Mühe gemacht, dieses Mädchen – diese Verwandte – nach London mitzunehmen? Und warum hatte er sie von dort sogleich aufs Land nach Kent verbannt?

Es kursierten viele Vermutungen darüber in den Tavernen am Hafen von Bircham Staithe und in den Bierhäusern von Folkestone. Über einen reichen, cleveren und äußerst geheimnisvollen Mann wie Lord Franklin wurde immer gemunkelt. Auch über das Mädchen wurde schon geredet. Luke hatte erfahren, dass sie Elise Duchamp hieß und hübsch war – auf eine spezielle französische Art. Aber niemand hatte ihn darauf vorbereitet, dass sie mit einer Pistole in der Tasche herumlief und ganz offensichtlich genau wusste, wie man damit umging. Das hatte ihm niemand erzählt.

Würde er selbst sie als „hübsch“ bezeichnen? Ihre dichten schwarzen Locken, den üppigen Mund und die schrägen grünen Augen? Woran lag es, dass er plötzliches Verlangen empfand und am liebsten ihren schlanken Körper an sich gezogen hätte, um ihre weiblichen Kurven unter dem alten formlosen Mantel zu spüren?

Sie war aufregend auf mehr als eine Weise. Es gab mehr an ihr zu entdecken, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Zum Beispiel ein Kompass.

Luke ging vorbei an den Ställen, wo die Pferde für die Nacht untergebracht waren. Einige von ihnen wieherten, als er im Vorbeigehen ihre Nasen streichelte und ihre Namen murmelte. Einen Moment später war er an der Hintertür und betrat den rückwärtigen Teil des Hauses. Er atmete den vertrauten Geruch nach altem Mauerwerk und Holzrauch ein, als er den Korridor zum Esszimmer im Herzen des alten Gebäudes durchquerte.

Bevor er dort war, hörte er bereits fröhliche Stimmen und wusste, dass Tom, die zwei Watterson-Brüder und Jacques es sich an dem großen Eichentisch bequem gemacht hatten. Sie aßen Mrs. Bartletts heißen Rindfleischtopf und tranken dazu französischen Rotwein.

Erfreut begrüßten sie Luke und holten ihm einen Stuhl, während Mrs. Bartlett, Toms Frau, aus der Küche kam und ihm einen Teller voll Eintopf brachte. Jacques schenkte Luke ein Glas Wein ein.

„Was hat dich aufgehalten, mein Freund?“, erkundigte sich Jacques neugierig. „Wir dachten schon, du wärst in die Stadt gegangen, um dir ein hübsches Mädchen anzulachen.“

Tom fragte geradeheraus: „Haben Sie herausgefunden, ob Lord Franklin in der Kutsche war?“

„War er nicht.“ Luke trank das Glas in einem Zug halb leer, dann stellte er es ab. „Er ist wahrscheinlich noch in London.“

„Wer sind das Mädchen und die ältere Frau?“

„Das Mädchen ist eine Verwandte von Lord Franklin, und die andere ist wahrscheinlich ihre Begleiterin.“

Tom nickte. „Ach ja. Das muss die Waise sein, die er aufgenommen hat. Das hat hier jeden sehr überrascht, wo er doch sonst so ein kalter Fisch ist.“

„Sie soll Französin sein“, warf Josh Watterson eifrig ein, während Tom aufstand, um neues Feuerholz zu holen. „Das finde ich interessant.“

„Möglich.“ Luke goss sich noch mehr Wein ein, die anderen widmeten sich wieder ihrem Essen. Alle außer Jacques, der ihn genau beobachtete.

Monsieur Jacques nannten ihn Lukes Männer. Er war als Soldat von den Engländern gefangen genommen worden und hatte als Kriegsgefangener im Gefängnis gesessen, bis Luke ihn befreite. „Ich helfe meinen Freunden, so wie sie mir helfen“, pflegte er zu sagen.

Um seine Schulden zu bezahlen, segelte Jacques jetzt geschickt und mutig in dunklen und nebligen Nächten mit seinem kleinen Boot hin und her zwischen der Küste Frankreichs und Englands. Doch jetzt schob er stirnrunzelnd seinen leeren Teller zur Seite und meinte nachdenklich: „Warum sollte Lord Franklin ausgerechnet jetzt auf eine junge französische Verwandte stoßen? Warum nicht schon früher? Wusste er nichts von ihrer Existenz? Reiche Leute haben doch gewöhnlich einen gut dokumentierten Stammbaum.“

„Das stimmt.“ Luke hörte kurz auf zu essen. „Der Zeitpunkt ist überaus merkwürdig, um eine entfernte Verwandte bei sich aufzunehmen. Noch dazu eine mittellose, wie ich vermute.“

„Das denke ich auch. Ob er wohl ein Auge auf das Mädchen geworfen hat?“

Darüber musste Luke laut lachen. „Sehr unwahrscheinlich. Man sagt, dass Lord Franklin seit dem Tod seiner Gattin vor zehn Jahren keine Frau mehr angerührt hat. Und die mochte er auch nicht besonders gern.“

Jacques lächelte. „Also ist eine Liaison eher unwahrscheinlich. Aber aus welchem Grund hat er sich dann die Mühe gemacht, sie nach England zu bringen? Und warum ausgerechnet nach Bircham Hall?“

„Wenn ich es weiß, sagte ich es dir gern.“

„Muss ich mir Gedanken machen, dass diese französische Demoiselle reizvoller für dich ist, als du zugibst?“

Luke trank genießerisch einen Schluck Wein. „Nein“, sagte er. „Zu jung und zu stolz. Außerdem habe ich momentan genug um die Ohren.“

„Mit deinem Anwesen und den Höfen? Höre ich da – hoffentlich – einen gewissen Optimismus heraus?“

Luke lehnte sich zurück und nahm sich Zeit für seine Antwort. „Ich weiß nicht, ob es Optimismus ist oder Dummheit. Ich habe ein paar neue Pächter für die Höfe und das Land gefunden – aber ist dir bekannt, wie stark die Preise für Getreide im letzten Jahr gefallen sind? Ich habe genügend Arbeit für die Männer, das ist wahr, aber vielleicht ist alles vergeblich.“

„Wünschst du dir jetzt, du hättest deine Erbin geheiratet?“

„Nein. Das liegt ja nun auch schon drei Jahre zurück. Im kommenden Frühling heiratet sie einen anderen Mann, den ihr Vater für passender hält.“

„Du gibst ihnen etwas, das noch besser ist als Geld, nämlich Hoffnung. Denke daran.“

Luke schaute sich niedergeschlagen um. „Ich schiebe nur den Bankrott vor mir her. Alles Wertvolle, das je meiner Familie gehörte, habe ich schon verkauft.“

„Du kannst immer noch für die Ehre deiner Familie kämpfen. Morgen fahre ich wieder nach Frankreich, und wenn dein Bruder noch lebt, mache ich ihn ausfindig, das schwöre ich dir.“

Tom Bartlett kam mit Holzscheiten für das Feuer herein. „Sprechen Sie über den Bruder des Captains?“, fragte er erwartungsvoll. „Wer weiß, vielleicht taucht er ja eines Tages ganz unerwartet hier auf. Ich sehe es vor mir, Captain Luke. Er wird den Weg hinaufgeritten kommen und alles wird so sein wie früher.“

Jacques nickte zustimmend. „Das ist die richtige Einstellung. Lasst uns das Glas erheben auf den Bruder des Captains.“

„Auf Anthony“, wiederholten sie. „Auf eine sichere Heimkehr.“

Das Feuer brannte herunter, es wurde Mitternacht und irgendwann gingen sie zu Bett, weil sie vor Sonnenaufgang aufstehen mussten.

Alle außer Luke.

In dem großen Haus war es so still, dass er das Flüstern des Windes draußen in den Bäumen und das Rauschen der Wellen unten am Kieselstrand hören konnte. In der Ferne schrie ein Nachtvogel.

Er ging zum Kamin und stocherte in der Glut. Versehentlich hob er das Schüreisen mit der verstümmelten rechten Hand. Die schwere Stange fiel scheppernd zu Boden. Verdammt . Er war für niemanden mehr von Nutzen, am wenigsten für sich selbst. Ungehalten streifte er den schwarzen Lederhandschuh ab und starrte die Stellen an, wo früher seine Finger gewesen waren. Die Wunden waren fast verheilt, und an die Schmerzen in den verstümmelten Fingergliedern hatte er sich gewöhnt.

Doch an einen Gedanken würde er sich nie gewöhnen – dass sein jüngerer Bruder wahrscheinlich für immer verloren war. Tot wie die anderen. In den vergangenen Monaten hatte er immer wieder seine verletzte Hand verflucht, weil sie ihn davon abhielt, mit Jacques nach Frankreich zu segeln und nach Antworten zu suchen.

Vielleicht waren die Antworten ja hier in England zu finden – und nicht in Frankreich. Vielleicht sollte es so sein, dass er hier erfahren würde, was wirklich mit Anthony und seinen tapferen Kameraden geschehen war. Warum sie verraten worden waren – und von wem.

Luke musste an Lord Franklin Grayfield denken. Er war ein reicher Witwer, ein verschlossener, aber kluger Mann, der einen Sohn in Indien hatte, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Lord Franklin Grayfield, dem man nachsagte, dass er sich mehr für seine Kunstsammlung interessiere als für weibliche Gesellschaft.

Warum gab der Mann ein fremdes französisches Mädchen als seine Verwandte aus – das Mädchen, dem Luke heute Nachmittag begegnet war? Er versuchte den schwachen Lavendelduft ihrer cremeweißen Haut zu vergessen und auch den Gedanken an ihre offenkundige Verletzlichkeit und die tiefe Traurigkeit in ihrem Blick. Er dachte daran, wie entschlossen sie die Pistole benutzt hatte.

Caroline hatte immer mädchenhaft bei jeder Erwähnung von Krieg oder Waffen gekreischt. Dieses französische Mädchen jedoch hatte mit seiner zierlichen Waffe so geschickt hantiert, als gebrauchte es sie täglich. Was für ein Leben hatte sie wohl geführt, bevor sie nach England gekommen war? Und was sollte er von dem Kompass halten, den sie fallen gelassen hatte?

Es war eine erstaunliche Gravur darauf. Bei dem bloßen Gedanken daran schlug sein Herz schneller. Und dann der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihm den Kompass entriss … Kein Wunder, dass sie ihn unbedingt hatte zurückhaben wollen.

Wer war sie wirklich? Und was in aller Welt hatte sie hier zu suchen, unter Lord Franklins Fittiche?

4. KAPITEL

E llie war noch wach und saß allein am Fenster ihres großen kalten Zimmers in Bircham Hall. Mitternacht war schon vorbei, aber sie konnte nicht schlafen, denn sie musste noch nachdenken. Diesen Tag würde sie niemals vergessen.

Nachdem die Straße repariert worden war, waren sie sofort weitergefahren. Sie hatten bald die Hauptstraße verlassen, ein Tor bei einem Pförtnerhäuschen passiert und waren dann einer langen privaten Zufahrt gefolgt. Im Licht der Kutschenscheinwerfer hatte Ellie kahle Bäume in einem weitläufigen Park gesehen.

Schließlich hatte sie zum ersten Mal Bircham Hall erblickt. Es war ein prächtiges viereckiges Gebäude. Zu beiden Seiten des riesigen Säuleneingangs brannten Fackeln so hell, als wollten sie der Januarnacht trotzen.

Lord Franklins Landsitz . Es war ein prachtvolles Haus, aber auf sie wirkte es protzig und abweisend. „Oh, sehen Sie!“, rief Miss Pringle, die auch aus dem Wagenfenster spähte. „Endlich sind wir am Ziel, Elise. Und das ganze Gesinde hat sich draußen aufgestellt, um Sie zu begrüßen.“

Ellie hatte es bereits gesehen. Vor dem Haus standen in der Kälte aufgereiht die schwarz gekleideten Mägde und daneben, stramm wie Soldaten, die Diener in blaugoldener Livree.

Alle warteten auf sie . Ellie wurde es schwer ums Herz.

Miss Pringle dagegen sprudelte geradezu über vor Begeisterung. „Welch eine Ehre für Sie“, sagte sie leise, als die Knechte herbeieilten, um die Pferde festzuhalten und die Trittstufen des Wagens auszuklappen. „Was für eine große Ehre! Und hier ist Mr. Huffley, der Butler Seiner Lordschaft …“

„Miss Pringle. Mademoiselle .“ Der Butler machte eine steife Verbeugung, als sie ausstiegen. „Es ist mir eine Freude, Mademoiselle, Sie hier in Bircham Hall herzlich willkommen zu heißen. Erlauben Sie mir, Ihnen unsere Haushälterin vorzustellen, Mrs. Sheerham.“

Die Frauen knicksten, die Diener verbeugten sich vor Ellie. Alle waren sehr höflich und zeremoniell, obwohl sich vor den Mündern weiße Atemwolken in der eiskalten Luft bildeten. Ellie versuchte alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, dann folgte sie Mr. Huffley die Steintreppe hinauf in das Haus hinein.

„Lady Charlotte wird schon auf Sie warten“, flüsterte Miss Pringle ihr zu. „Ich kann es kaum erwarten, Ihre Ladyschaft wiederzusehen.“

Die Eingangshalle hatte enorme Ausmaße. Die Wände waren mit Wappen und Hirschköpfen geschmückt. Etliche Statuen standen an beiden Seiten der Halle. Es waren liegende Figuren aus weißem Marmor, steinerne Büsten auf hohen Sockeln und andere wertvolle Gegenstände, die vermutlich aus dem antiken Griechenland, Rom oder Ägypten stammten.

Diese zahlreichen Objekte aus der fernen Vergangenheit sind hier nur zu dem Zweck angehäuft, den Reichtum und die Bedeutung all derer zu unterstreichen, die hier wohnen, dachte Ellie. Und inmitten all dieser Pracht, als wäre sie selbst ein Teil dieser Erhabenheit, saß eine Frau Anfang siebzig. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine spitzenbesetzte Haube auf dem eisgrauen Haar – und sie saß in einem Rollstuhl. Zu ihrer Rechten und Linken standen in stocksteifer Haltung zwei livrierte Diener.

„Eure Ladyschaft …“, hauchte Miss Pringle und machte einen tiefen Knicks.

Plötzlich hatte Ellie einen trockenen Mund. Sie versank ebenfalls in einen tiefen Knicks. Niemand hatte den Rollstuhl erwähnt. Niemand hatte ihr gesagt …

Sie richtete sich auf und stellte fest, dass Lady Charlotte sie mit unfreundlichen Blicken musterte. „Sie müssen Elise Duchamp sein“, sagte sie. Man hörte ihre Abneigung gegen die Ausländerin in jeder Silbe. „Ich bin Lord Franklins Mutter. Er hat sich also entschieden, Sie nach Bircham abzuschieben? Das wär’s dann wohl, denke ich, mit Ihren Hoffnungen, meinen Sohn in die Ehe zu locken.“

Ellie war entsetzt. Nie, niemals hatte sie auf diese Weise an Lord Franklin gedacht. Herr im Himmel ! Er war gut doppelt so alt wie sie. „Ich versichere Ihnen, Mylady, dass ich niemals eine solche Absicht gehegt habe!“

Lady Charlotte rollte auf sie zu, sodass Ellie gezwungen war zurückzuweichen. „Sie werden mir doch nicht weismachen, dass Sie nicht hinter ihm her sind? Es mag vielleicht Leute geben, die Ihnen glauben. Ich tue es nicht. Denken Sie immer daran, Elise – ich werde Sie stets im Auge behalten.“

Ihre Ladyschaft schaute zu Miss Pringle. „Es ist fast fünf Uhr. Pringle, ich hoffe, Sie haben ausnahmsweise einmal ein wenig Verstand gezeigt und dem Mädchen mitgeteilt, dass es um sechs Uhr Dinner gibt? Wir sind hier nicht so verwöhnt wie die Leute in der Stadt.“ Sie winkte die beiden Diener herbei, die während der gesamten Szene starr geradeaus geblickt hatten. „Bringt mich in mein Zimmer. Sofort .“ Ellie schaute sprachlos zu, wie die Diener die alte Dame wegschoben.

Wie hatte sie sich darauf einlassen können, dass man sie hierherbrachte? Warum hatte sie diesen Leuten vertraut?

Doch wie hätte sie ihrem sterbenden Vater seine letzte Bitte abschlagen sollen? „Du musst mit ihm gehen, Ellie. Nach England. Du musst.“

„Papa“, hatte Ellie eingewandt. „Wir kennen ihn doch gar nicht.“

Aber ihr Vater hatte darauf bestanden. „Bei Lord Franklin wirst du so sicher sein, wie du es bei mir nie warst“, hatte er gesagt. „Versprich es mir …“

Miss Pringle war immer noch ganz aufgelöst. „Welch eine Ehre für Sie, Elise“, rief sie. „Wie wundervoll, von Lady Charlotte persönlich empfangen zu werden.“

Doch ihre Hände zitterten, und Ellie merkte, dass Miss Pringle Angst vor Lady Charlotte hatte. Todesangst sogar. Dann stand die Haushälterin vor ihnen und sagte zu Ellie: „Darf ich Sie zu Ihrem Zimmer bringen, Madam?“

Ellie folgte ihr. Sie fühlte sich wie betäubt.

Man hatte ihr ein geräumiges Zimmer im ersten Stock zugewiesen. Ihr Schrankkoffer und ihr kleiner Koffer standen bereits in dem Schlafzimmer neben ihrem privaten Salon.

Schnell ging sie zu ihrem Gepäck, weil sie nachprüfen wollte, ob alles noch abgeschlossen war. Sie schaute sich um. Die dichten Vorhänge waren an allen Fenstern zugezogen, in beiden Räumen brannte ein Feuer im Kamin, ein Dutzend brennende Wachskerzen vertrieben die Dunkelheit. Es war so luxuriös, dass es sie beinahe überwältigte.

„Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Madam?“ Mrs. Sheerham stand immer noch an der Tür.

„Ja. Danke. Es ist … es ist wunderbar.“

„Sehr wohl, Madam.“ Mrs. Sheerhams Miene wurde bei dem Lob ein wenig freundlicher. „Sicherlich hätten Sie gern Tee und eine Zofe, die Ihnen beim Auspacken hilft? Ich schicke Ihnen gleich ein Mädchen.“ Sie ging, und Ellie zog langsam ihren Mantel aus.

Lady Charlotte hasst mich. Sie will mich hier nicht.

Kaum hatte sie ihren Mantel auf das Bett gelegt, da klopfte es schon an der Tür und zögernd trat ein Mädchen ein, das ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze trug.

„Ich heiße Mary, Madam“, sagte sie und machte einen kleinen Knicks. „Mrs. Sheerham hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen gehen und Ihnen helfen. Und ich habe Tee mitgebracht.“ Mary eilte wieder nach draußen und kam mit einem Tablett mit Teegeschirr zurück. Sie stellte es auf einen kleinen Tisch im Salon.

„Während Sie Ihren Tee trinken“, fuhr Mary fort, „packe ich schon mal Ihre Koffer aus, wenn es recht ist.“ Eifrig sah sie zu Ellies Schrankkoffer und dem kleineren Handkoffer, aber sie war offenbar etwas enttäuscht. „Ist das alles?“

Ellie hatte schon davon gehört, dass die meisten Damen der Gesellschaft so viel Gepäck hatten, dass dafür ein eigener Wagen benötigt wurde. „Ich habe nur den einen großen Koffer, Mary, tut mir leid“, sagte sie schnell. „Und ja, ich wäre dankbar, wenn du ihn auspacken würdest.“

„Und was ist mit dem kleinen? Ich könnte …“

„Nein“, fiel ihr Ellie ins Wort. Mary starrte sie überrascht an. „Ich meine“, fuhr Ellie fort, „es ist nicht viel in dem Köfferchen. Meine Kleider sind alle in dem großen. Also wenn du die auspackst, wäre ich dir sehr dankbar.“

„Selbstverständlich, Madam!“ Zügig machte Mary sich daran, Ellies Kleider auszupacken und in den Schrank zu hängen. Einiges faltete sie zusammen und verteilte es auf die verschiedenen Kommodenschubladen, die mit getrocknetem Lavendel ausgelegt waren und angenehm dufteten. Das Mädchen war entzückt von den seidenen Roben, den Samtumhängen und der exquisiten Unterwäsche. „Oh, Madam. Ist das alles aus Paris?“

Ellie schüttelte den Kopf. „Aus London. Lord Franklin hat alles von einer Schneiderin für mich anfertigen lassen.“

Mary betrachtete sehnsüchtig ein rosenfarbenes Abendleid. „Ich weiß bloß nicht, wann Sie das anziehen wollen. Es ist sehr kalt hier in Bircham Hall. Und Lady Charlotte hat nicht gerade viele Gäste und feiert keine Partys …“

„Das ist nicht schlimm“, meinte Ellie rasch. „Ich mache mir nicht viel aus Partys und Kleidern.“

„Wirklich nicht, Madam? Trotzdem ist es jammerschade für Sie, dass es hier so ruhig ist. Wenn Sie in London geblieben wären …“ Mary hob bewundernd ein besticktes Unterkleid hoch, bevor sie es sorgfältig in eine Schublade legte. Sie blickte sich immer noch im Zimmer um. „Ihr Mantel“, sagte sie plötzlich und deutete auf das Bett. „Er wird nach der langen Reise voller Staub sein. Soll ich ihn mit nach unten nehmen und ausbürsten?“

„Nein!“ Ellie war einen Schritt vorgetreten, um das Mädchen aufzuhalten. „Nein, das wäre alles, Mary.“ Mühsam bewahrte sie äußerlich ihre Ruhe. „Ich danke dir.“

„Sehr gern geschehen, Madam. Sie haben Ihren Tee noch nicht getrunken. Macht nichts. Ich komme später wieder und hole das Tablett ab.“ Zögernd schaute Mary sich noch einmal um. „Bald wird es Zeit für Sie, zum Dinner nach unten zu gehen. Um zehn vor sechs hören Sie unten die Glocke läuten. Oh, und Ihre Ladyschaft mag es nicht, wenn jemand zu spät kommt.“ Ihre fröhliche Stimme wurde ein wenig leiser. „Sehr speziell, Ihre Ladyschaft. Sehr speziell.“

Mary ging hinaus. Sobald ihre flinken Schritte verhallt waren, lehnte Ellie sich an die Tür. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass man mich hierherbringt. Sie ging zu ihrem Mantel und zog aus einer der inneren Taschen die Pistole und die Schachtel mit dem Kompass heraus. Sie drückte die Dinge an sich.

Der Mann. Der Mann auf der Straße … Sie wusste noch genau, wie sie sich gefühlt hatte neben ihm. Er hatte so kraftvoll und gefährlich attraktiv ausgesehen. Nie würde sie vergessen, wie schnell ihr Puls geschlagen hatte, als sich ihre Blicke begegnet waren. Sie musste ihn aber vergessen, denn sie würde ihn nie wiedersehen.

Sie legte die Pistole und den Kompass auf das Bett, löste das silberne Kettchen von ihrem Hals und nahm ein Schlüsselchen davon ab, um damit den kleinen Handkoffer aufzuschließen. Darin befanden sich mehrere sorgfältig gefaltete Karten und Tabellen und darunter noch andere Objekte, eingewickelt in schwarzen Samtstoff. Der Reihe nach packte sie alles aus.

Das Prisma eines Landvermessers. Ein winziges Teleskop zum Ausklappen. Eine Lupe mit Ebenholzgriff. Ein kleiner Geologenhammer.

Sie wickelte alles wieder ein und verstaute es auf dem Boden der Tasche. Die Pistole und den Kompass legte sie dazu und oben darauf die Dokumente.

Bevor sie das Köfferchen verschloss, nahm sie noch eines der Dokumente zur Hand und breitete es vorsichtig aus.

Sie las die Überschrift. Eine Karte des Tals der Loire und seiner Geologie. Entworfen und gezeichnet von A. Duchamp, Paris, im Jahre Unseres Herrn 1809 …

Sie betrachtete die Karte mit der Signatur ihres Vaters und strich mit den Fingerspitzen darüber, während die Erinnerungen auf sie einstürmten.

5. KAPITEL

E llies Vater, André Duchamp, war Geologe, Landvermesser und Kartograph gewesen. Er hatte mit Frau und Tochter in Paris an der Rue Tivoli in der Nähe von St. Denis gelebt. Von dem kleinen Balkon aus hatte Ellie hinunter auf die Hauptstraße sehen können. Als fünfjähriges Kind war sie beeindruckt von den vorbeimarschierenden Soldaten gewesen, die stolz ihre Trikolore hochhielten. Zwei Jahre später hatte sie sogar Napoleon selbst auf einem weißen Pferd an der Spitze seiner Kavallerie gesehen, wie er die Jubelrufe der Menge entgegennahm.

„Er ist ein großer Mann“, hatte ihr Vater oft gesagt. „Er wird Frankreich Frieden und Wohlstand bringen.“

Ihre Wohnung war nur klein, aber ihr Vater hatte ein eigenes Arbeitszimmer. Ellie durfte ihm oft zusehen, wenn er seine Karten zeichnete. Sie war besonders fasziniert von seinen Teleskopen und Sternkarten, denn er war auch ein begeisterter Astronom. „Warum soll ich nur Karten vom Boden unter meinen Füßen zeichnen?“, pflegte er zu sagen. „Wenn es noch den ganzen Himmel zu erforschen gibt?“

Am liebsten sah sie sich die geologischen Proben an, die er in einem Glaskabinett aufbewahrte. Ellie erschienen sie so schön wie Edelsteine, und ihr Vater erzählte ihr begeistert von jedem einzelnen Stein.

„Du weißt so viel, Papa“, meinte sie dann bewundernd.

Er strich ihr über das Haar. „Ach, es gibt immer noch so viel zu lernen, Kleines.“

„Gehst du deshalb so oft auf Reisen?“

„Das ist mein Beruf, Ellie. Ich habe Glück, dass ich meine Tätigkeit liebe.“

Sie war immer traurig, wenn ihr Vater fort war. Er war oft tagelang unterwegs, manchmal sogar wochenlang. Erst viel später begriff sie, warum er so viel zu tun hatte. Seine Sachkenntnis in Geologie und Kartographie machte ihn zu einem wertvollen Fachmann bei der Planung und dem Bau von Straßen, die alle Städte und Häfen in Frankreich verbinden sollten.

Wenn er weg war, schaute Ellie aus dem Fenster auf die Straße und wartete auf ihn. Sie wusste noch nicht, dass Kaiser Napoleon an Frankreichs Grenzen und weit darüber hinaus Krieg führte. Doch als die Jahre vergingen, war ihr Vater immer seltener zu Hause, und wenn er heimkehrte, wirkte er oft bedrückt und in sich gekehrt, obwohl er immer lächelte, wenn er seine Tochter sah.

Als Ellie siebzehn war, starb ihre Mutter nach kurzer Krankheit. Ihrem Vater brach es fast das Herz. Nur wenige Wochen nach dem Begräbnis packte er alle Wertsachen in einen kleinen Lederkoffer. Seine Hände zitterten, als er sagte: „Ellie, mein Liebling, wir müssen aus Paris fliehen. Wir sind in dieser Stadt nicht mehr sicher.“

Von da an waren sie auf der Flucht. Irgendwann gewöhnte sie sich daran, unter falschem Namen zu reisen, und oft waren sie bei Nacht unterwegs. Wenn sie Geld hatten, nahmen sie die Postkutsche, wenn sie keins hatten, fuhren sie auf Bauernkarren mit oder gingen zu Fuß.

Zuerst reisten sie nach Le Havre, wo ihr Vater Verwandte hatte, doch diese waren in den Wirren von Revolution und Krieg nicht mehr auffindbar. Nach mehreren kalten und einsamen Wochen kam eines Tages ihr Vater mit der Nachricht zurück, dass man ihnen immer noch auf den Fersen sei, darum reisten sie wieder ab und wandten sich nach Norden.

Wenn sie einen ganzen Tag lang kein Anzeichen von Verfolgung bemerkten, gönnten sie sich ein Zimmer in einem Gasthof, selbst wenn es verlaust war und nur ein paar klumpige Strohmatratzen bot. Meistens jedoch mussten sie in Scheunen oder verfallenen Häusern übernachten.

Und bald musste Ellie die Stärkere von beiden sein, weil ihr Vater zu kränkeln begann. Sie musste Dinge tun, die sie früher für unmöglich gehalten hätte – lügen, stehlen, sogar kämpfen. Ihr Vater hatte ihr gezeigt, wie man die kleine, aber tödliche Waffe benutzte, obwohl sie glücklicherweise nie gezwungen war, sie abzufeuern.

Sie musste nun die Entscheidungen treffen und Medizin für ihren kranken Vater auftreiben, denn er wurde von Tag zu Tag schwächer.

„Bald sind wir in Sicherheit, Ellie“, murmelte er jeden Abend, wenn er behutsam seinen kleinen Koffer auspackte und die wertvollen Instrumente überprüfte. „Bald müssen wir nicht mehr weglaufen.“

Für ihren Papa war die Flucht tatsächlich bald zu Ende. Als Lord Franklin sie in Brüssel aufsuchte, lag er mit Lungenentzündung darnieder. Lord Franklin Grayfield war ein reicher englischer Aristokrat mittleren Alters, der oft im Ausland gereist war, wie er Ellie in fließendem Französisch mitteilte. Er war fasziniert von der Kunst und Kultur in Europa und ständig auf der Suche nach neuen Stücken für seine Sammlung von Gemälden und Skulpturen. Zu seinem großen Bedauern hatte der Krieg für lange Zeit seine Reisen unmöglich gemacht. „Doch nun“, teilte er ihr mit, „werde ich die verlorene Zeit nachholen.“

Nie in ihrem Leben war Ellie so erstaunt gewesen wie an jenem Tag in der Brüsseler Dachkammer, als er ihr mitteilte, ihre Mutter sei seine entfernte Verwandte von ihm gewesen.

Ellie konnte es kaum glauben. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass ihre englische Familie sie verstoßen habe, weil sie einen französischen Kartenmacher heiraten wollte.

„Ich wünschte, ich hätte früher davon erfahren“, sagte Lord Franklin mit aufrichtiger Miene. „Aber leider habe ich erst vor wenigen Wochen vom Tod Ihrer Mutter erfahren und mir geschworen, Sie zu finden. Dann hat mich meine Suche nach Antiquitäten nach Brüssel geführt, und zufällig hörte ich auf dem Marktplatz jemanden sagen, dass ein Gentleman aus Paris namens Duchamp hier mit seiner Tochter lebt.“

Mit klopfendem Herz hörte Ellie zu. Seit sie in Brüssel waren, lebten Ellie und ihr Vater unter ihrem richtigen Namen, aber sie hatten alles getan, um zu verheimlichen, dass sie aus Paris kamen.

Lord Franklin war freundlich. Er bezahlte für die Visite eines teuren Arztes, obwohl es schon viel zu spät war, um noch etwas gegen die Krankheit zu bewirken. Er bezahlte auch für das Begräbnis, und danach nahm er Ellies Hand und sagte freundlich: „Sie müssen mit mir nach England kommen, Elise. Ich verspreche Ihnen, dass ich mein Möglichstes tun werde, Ihnen in Ihrem schrecklichen Kummer beizustehen.“

Er fragte nie, warum sie und ihr Vater Paris verlassen hatten, war rücksichtsvoll und großzügig, doch sie blieb misstrauisch und wäre lieber in Brüssel in der kleinen Kammer über der Bäckerei geblieben, wo Madame Gavroche und ihr Sohn gut zu ihr waren. Aber es war der Wunsch ihres sterbenden Vaters gewesen, also was hätte sie anderes tun können als einzuwilligen?

So reiste Ellie nach England. Zuerst in einer teuren Mietkutsche bis nach Calais, dann auf Lord Franklins privater Jacht über den Kanal bis nach Tilbury. Von dort aus fuhren sie weiter in Lord Franklins eigener Kutsche zu seinem prachtvollen Londoner Stadthaus. Sie bewunderte die herrlichen Gebäude der Großstadt und war überwältigt von dem luxuriösen Haus auf der Clarges Street in Mayfair, wo Lord Franklin residierte. Dort bot ihr neuer Beschützer ihr jeglichen Komfort.

Ellie war von ungeahntem Luxus umgeben. Sie bekam ihre eigene Zofe, und in rascher Folge wurden ein Friseur, eine Schneiderin und eine Hutmacherin einbestellt. Bald besaß sie viele teure und modische Kleider, aber trotz seiner Freigiebigkeit machte Lord Franklin sie nie mit jemandem bekannt und ließ sie auch nie ausgehen. Einmal fragte sie ihn, ob er noch Kontakt zu den übrigen Verwandten ihrer Mutter habe, aber er meinte nur, die meisten seien tot oder lebten irgendwo im Norden. Mit denen brauche sie sich nicht zu befassen.

Doch obwohl es ihr widerstrebte, in dem großen Haus eingesperrt zu sein, war sie entschlossen, das Versprechen zu halten, das sie ihrem Vater gegeben hatte.

Ihr Vertrauen in Lord Franklin erfuhr jedoch einen ernsthaften Knacks, als sie eines Tages in ihr Zimmer kam und feststellen musste, dass in ihrer Abwesenheit jemand in ihren Habseligkeiten gewühlt hatte.

Ihr wurde ganz elend vor Entsetzen und Angst. Niemandem außer ihr wäre etwas aufgefallen, aber sie bemerkte jede Veränderung sofort. Jemand hatte jeden persönlichen Gegenstand in ihrem Zimmer genauestens untersucht. Sogar ihre Bücher standen nicht mehr an genau derselben Stelle wie vorher.

Mit klopfendem Herzen holte sie den alten kleinen Koffer ihres Vaters unten aus dem Schrank. Er war noch abgeschlossen, aber bei genauem Hinsehen fand sie Kratzer am Schloss. Jemand hatte versucht, ihn zu öffnen.

Sie ging nach unten zu Lord Franklin. Er war häufig außer Haus, aber von der Haushälterin hatte sie erfahren, dass er zufälligerweise in seinem Studierzimmer war und mit einem Mr. Appleby sprach, dem Verwalter von Bircham Hall.

Ellie klopfte und trat ein.

„Elise!“ Lord Franklin drehte sich mit dem gewohnt freundlichen Gesichtsausdruck zu ihr um. „Was kann ich für Sie tun?“

Neben ihm stand Mr. Appleby. Er war etwas älter als Lord Franklin und trug einen schwarzen Rock und Kniehosen. Seine grauen Haare waren kurz geschnitten, und eine Brille saß auf seiner Nasenspitze. Sie schaute ihn an und sagte dann zu Lord Franklin: „Mylord, jemand hat in meiner Abwesenheit meine Sachen und mein ganzes Zimmer durchsucht.“ Gegen ihren Willen zitterte ihre Stimme ein wenig. „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie das Personal dazu befragen würden. Ich kann so etwas nicht dulden.“

Mr. Appleby sah so erbost aus, als hätte sie Lord Franklin zu einem Duell gefordert. Lord Franklin hingegen runzelte besorgt die Stirn.

„Das ist eine ernste Anschuldigung, meine Teure“, sagte er leise. „Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher, Mylord.“

„Zweifeln Sie vielleicht an der Aufrichtigkeit meiner Dienerschaft, Elise? An ihrer Ergebenheit für mich? Fehlt denn etwas?“

„Nein, aber darum geht es nicht …“

Lord Franklin wandte sich an seinen Verwalter. „Würden Sie uns einen Moment allein lassen, Appleby?“

„Nun, Elise“, meinte Lord Franklin, als der Mann gegangen war. „Seit einiger Zeit schon glaube ich, dass London möglicherweise nicht der richtige Ort für Sie ist. Vielleicht möchten Sie ja lieber eine Zeitlang in meinem Landsitz in Kent wohnen? Er befindet sich in einer friedlichen Gegend in Küstennähe. Dort können Sie sich vielleicht nach all den Entbehrungen, die Sie erleiden mussten, besser erholen als in London. Haben Sie Einwände?“

Ellie hatte bereits einen kurzen, wilden Moment lang überlegt, aus dem Mayfair-Haus zu entfliehen und wegzulaufen nach … ja, wohin?

Seine Lordschaft öffnete ihr die Tür. Ihre Unterredung war beendet. „Bircham“, teilte er ihr mit, „ist kaum sechzig Meilen von London entfernt. Es ist eine bequeme Fahrt, wenn man sich zwei Tage dafür Zeit nimmt. Dort werden Sie es sehr komfortabel finden.“ Er stand an der geöffneten Tür und erwartete ihre Zustimmung. Die Stimme ihres Vaters hatte sie immer noch im Ohr. Bei Lord Franklin bist du sicher.

Sie neigte den Kopf. „Wie Sie wünschen, Mylord.“

Und nun war sie hier in Bircham Hall. Es war kurz vor sechs Uhr und gleich würde das Dinner serviert werden. Aufgeregt lief sie im Zimmer auf und ab. Es muss hier sicherer sein als in Frankreich, sagte sie sich immer wieder. Und sicherer als in London, wo man ihr Zimmer durchsucht hatte. Doch hier gab es eine neue Gefahr.

Mit Lord Franklins Furcht einflößender Mutter würde sie sicher fertigwerden. Doch sie begann zu zittern, wenn sie an die Begegnung mit dem Mann auf der Straße dachte. Dem dunkelhaarigen Mann mit dem Handschuh und dem langen Mantel, der den Kompass ihres Vaters so lässig gehalten hatte. Man sagt, dass Lord Franklin ein großer Sammler ausländischer Kunstwerke ist. Was würde besser dazu passen, als ein hübsches französisches Mädchen vom Kontinent mitzubringen?

Ellie starrte ihr Spiegelbild an. Sie sah ihre großen grünen Augen, die dunklen Locken und die noch dunkleren Wimpern. War sie denn hübsch? Bisher hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Monatelang hatte sie sich vor möglichen Verfolgern versteckt, ihre weibliche Figur unter tristen Kleidern verborgen und sich im Verborgenen gehalten.

Jetzt kam ihr wieder in den Sinn, mit welchem Blick der Mann auf der Straße sie angeschaut hatte. Plötzlich und wie aus dem Nichts hatte er vor ihr gestanden. Sie hätte aufs Äußerste alarmiert gewesen sein müssen. Doch sie hatte sich töricht verhalten und war nicht auf der Stelle zurück zur Kutsche gelaufen, wohin er sie sicher nicht verfolgt hätte.

Und doch, in demselben Augenblick, als sie ihn gesehen hatte – in seinem alten geflickten Umhang, mit dem wilden schwarzen Haar, den scharfen Wangenknochen und dem schwarzen Handschuh – war ihr fast das Herz stehen geblieben und sie hatte kaum noch Luft bekommen. Und sosehr sie sich auch bemühte, es ging ihr nicht mehr aus dem Sinn, wie er sie mit dem Blick aus diesen unglaublichen blauen Augen durchbohrt hatte. Es war, als hätte er ihr bis ins Herz gesehen. So einem Mann war sie noch nie begegnet. Ein Mann, von dem sie vielleicht schon einmal geträumt hatte …

Du Närrin . Selbst jetzt noch schauderte sie, aber es hatte nichts mit der Kälte dieser Nacht zu tun, sondern vielmehr mit der Erinnerung an seinen schlanken kräftigen Körper und seine rauchige Stimme. Sie atmete tief ein und schaute sich in dem kleinen Salon und dem Schlafzimmer um, aber alles war still. Kein Grund zur Beunruhigung. Aber wem konnte sie hier trauen? Konnte sie sich denn selbst vertrauen?

Die Glocke unten in der Halle ertönte, und Miss Pringle kam, um sie zum Esszimmer zu begleiten. Wohl eher, damit Ellie auch ganz sicher rechtzeitig hinunterging. Die arme Frau sah verängstigt aus. „So eine Ehre“, rief sie jedoch, „zum Essen mit Ihrer Ladyschaft eingeladen zu sein. Aber …“ Sie beäugte Ellies verblichenes Kleid.

„Ja?“, fragte Ellie höflich.

„Ich glaube … ich glaube, Lady Charlotte erwartet, dass Sie sich zum Dinner umziehen …“

„Ich fühle mich sehr wohl in diesem Kleid“, sagte Ellie ruhig, aber bestimmt.

„Ja natürlich.“ Miss Pringle nickte und rang ein wenig die Hände. Dann schritt sie voran, durch den Flur und die Treppe hinab.

Das Dinner dauerte über zwei Stunden. Am Ende des Hauptgangs drückte Lady Charlotte Ellie ihre tiefe Missbilligung aus.

„Ich dachte, die Franzosen seien berühmt für ihren Witz und Charme“, meinte sie. „Eigentlich wollte ich Sie einladen, mit mir in den Salon zu gehen, aber es wäre wohl besser, wenn sie sich in ihr Zimmer begeben und über ihr Glück nachdenken, dass mein Sohn Sie aufgenommen hat.“

Dankbar zog Ellie sich in ihr Zimmer zurück. Doch sie wusste, dass sie nicht würde einschlafen können.

Hatte Lord Franklin sie wirklich zufällig gefunden? Warum war ihr Zimmer in London durchsucht worden? Und der Mann auf der Straße nach Bircham … Sicher hatte er sie bereits vergessen, aber sie befürchtete, dass sie ihn nicht vergessen konnte.

6. KAPITEL

I n den nächsten Tagen regnete es unablässig, und ab vier Uhr nachmittags wurde es dunkel. Ellie empfand ihre Lage als immer weniger erträglich. Die Mahlzeiten mit Miss Pringle und Lady Charlotte wiederholten sich in monotoner Regelmäßigkeit. Jeden Abend ging Ellie um sechs Uhr hinunter in den großen Speiseraum, dessen Wände mit abschreckenden Porträts früherer Generationen von Grayfields bedeckt waren.

Lady Charlotte war ausnahmslos immer vor ihr dort, denn Ihre Ladyschaft wurde pünktlich von ihrem Diener in ihrem Zimmer im Erdgeschoss abgeholt und um exakt fünf vor sechs Uhr hineingerollt. Wenn sie am Kopfende des Tisches saß, überwachte sie alles mit Argusaugen.

Ellie kannte bald jedes einzelne Porträt und jede Skulptur in dem großen Haus. Ein Albtraum für die Diener, dachte sie. Alles musste abgestaubt und sauber gehalten werden, sonst beschwerte Lady Charlotte sich sofort. Sich zu beklagen und andere zu kritisieren waren sowieso die Lieblingsbeschäftigungen der alten Dame, besonders bei den Mahlzeiten.

Der bedauernswerte Butler hörte stets, dass die Suppe zu heiß oder das Kalbfleisch zu wenig gesalzen sei. Niemals jedoch beklagte sie sich über den Wein. Am liebsten mochte sie Madeira oder Sherry, und ihr Glas musste immer voll sein.

Miss Pringle trank keinen Wein und aß nur kleine Häppchen, während sie sich stets bemühte, jedem Wort von Lady Charlotte zu lauschen. Das Hauptthema der Hausherrin, abgesehen von der Kritik am Essen, war ihr Sohn. Am liebsten erzählte sie von seinen Reisen und seinen zahlreichen berühmten Bekanntschaften in der High Society.

Einmal erwähnte Miss Pringle schüchtern, dass Ellie Klavier spielen konnte.

„Ist das wahr?“, fragte Lady Charlotte.

„Nur ein wenig, Mylady“, antwortete Ellie. „Meine Mutter hat es mich in Paris gelehrt und ich …“

„Ich kann so ein Geklimpere nicht ertragen“, unterbrach Lady Charlotte sie barsch. „Außer wenn ein wirklicher Musiker spielt. Aber heute Abend dürfen Sie in meinen privaten Salon kommen, Elise, und einige Miniaturporträts bewundern, die ein Londoner Künstler von meinem Sohn angefertigt hat. Kommen Sie in einer Stunde – bis dahin habe ich mich ausgeruht.“

Ellie war pünktlich, aber als sie nach längerem Klopfen in Lady Charlottes Salon eintrat, war die Dame des Hauses dort allein, stand – stand – an der Anrichte und goss sich ein großes Glas Sherry ein.

Als Lady Charlotte sie hörte, fuhr sie herum und ging zurück zu ihrem Rollstuhl. Offensichtlich hatte sie keine Schwierigkeiten beim Gehen. Sie setzte sich und sagte mit eisiger Stimme: „Es gibt Tage, an denen ich ein wenig besser laufen kann als sonst. Meistens ist es zu mühsam. Warum sind Sie hier?“

Ellie war verwirrt und wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte. „Sie wollten mir ein paar Miniaturen zeigen, Mylady“, erklärte sie schließlich.

„Ach ja. Die Miniaturen. Pringle hat sie für mich herausgesucht. Sie sind hier … irgendwo.“

Ellie schaute sich aufgeregt nach einem Diener um, nach irgendjemandem, der ebenfalls Zeuge dieser Szene geworden war. Wusste denn niemand außer ihr, dass Lady Charlotte gehen konnte?

Auf jeden Fall war Ellie klar, dass sie über diesen seltsamen Vorfall Stillschweigen bewahren musste. Sie hatte schon genug Schwierigkeiten.

Lady Charlotte hatte den Vorfall offenbar bald vergessen und schikanierte Ellie weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Eines Abends verkündete sie beim Dinner: „Man hat mir erzählt, London habe sich in den letzten Jahren so verändert, dass man es kaum wiedererkennt. Ganz besonders schreckliche Geschichten“, betonte sie, „hört man von den Ausländern, die Tag für Tag nach England kommen. Franzosen, mit anderen Worten. Jetzt ist der Krieg vorbei, da kann man nur hoffen, dass unser Premierminister und seine Regierung alle dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen sind.“

Miss Pringle schnappte nach Luft, aber Ellie stand abrupt auf und sagte: „Bitte entschuldigen Sie mich für den Rest des Dinners, Mylady.“

Lady Charlotte blickte sie unwirsch an. „ Was? Es ist äußerst ungehörig von Ihnen zu gehen, bevor ich mein Dessert auch nur begonnen habe!“

„Leider bin ich heute besonders müde und muss mich sofort zurückziehen. Bitte entschuldigen Sie mich. Lady Charlotte. Miss Pringle.“

Sie machte einen kleinen Knicks, eilte aus dem Speisezimmer und stieg die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Dort stand sie dann allein in ihrem kleinen Salon fühlte sich innerlich völlig leer. Nun war sie bereits seit fast einer Woche hier. Der Gedanke an eine weitere Woche in diesem Haus erschien ihr bedrückend. Ich kann nicht hierbleiben, ich gehöre hier nicht hin . Es war ein riesengroßer Fehler gewesen, sich einem Fremden anzuvertrauen.

Sie musste fort von hier. Aber wohin? Ihr fiel nur Brüssel ein, wo sie mit ihrem armen Vater die letzten Wochen seines Lebens verbracht hatte. Vielleicht würde die nette Vermieterin ihr das frühere Zimmer wieder überlassen. Eine Arbeit würde sie dort auch finden, zum Beispiel an einem Marktstand oder in der Bäckerei. Und sie konnte jeden Tag das Grab ihres Vaters auf dem Friedhof besuchen.

Sie schob die schweren Vorhänge zur Seite und schaute hinaus in die Nacht. Nach dem tagelangen Regen war der Himmel endlich wieder sternenklar, und weit hinter den Bäumen konnte sie die Spiegelung des Mondes auf dem Meer erkennen. Der kleine Fischerort kam ihr in den Sinn, den sie auf dem Weg hierher gesehen hatte.

Bircham Staithe hieß er, wie Mary ihr erzählt hatte. Der Ort lag weniger als eine Meile entfernt von Lord Franklins Anwesen. Und wenn sie erst dort war …

Geld hatte sie noch. Es würde bestimmt nicht schwer sein, eine Überfahrt nach Nordfrankreich auf einem Fischerboot zu bekommen. Sie würde irgendeinem Kapitän erzählen, sie müsse nach Hause zurück, nachdem der Krieg endlich vorbei war.

Sie zog ihre Wanderstiefel an und legte sich den Kapuzenmantel um, dann nahm sie den kleinen Lederkoffer, lauschte noch einmal und verließ dann leise ihr Zimmer. In dem großen Haus war es ganz still. Rasch huschte sie die Treppe hinab, dann schlüpfte sie durch eine Seitentür hinaus in den dunklen Garten.

Freiheit . Tief saugte sie die kalte Nachtluft in ihre Lungen. Einen Moment zögerte sie noch, bevor sie losging. Wie viele Landbesitzer, besaß auch Lord Franklin ein halbes Dutzend große Doggen als Wachhunde, die nach Einbruch der Dunkelheit von den Parkaufsehern von den Leinen gelassen wurden.

Meistens wurden die Hunde nur für eine halbe Stunde losgelassen, aber der Zeitpunkt war jeden Abend ein anderer. Ellie erinnerte sich, dass sie während des Dinners draußen Hundegebell gehört hatte. Also würden sie jetzt wieder in ihrem Zwinger sein. Sie schlich ängstlich durch das Gebüsch, aber weder begegnete sie einem Hund noch einem Diener. Alles war ruhig.

Auf den Reisen mit ihrem Vater hatte Ellie gelernt, dass man seinen Weg sorgfältig wählen, ihn aber dann ohne Zögern zurücklegen musste. An ihrem ersten Tag hatte sie bereits festgestellt, dass sich hinter den Büschen Grasflächen und Blumenbeete bis zum Ende des Grundstücks erstreckten, das von ziemlich niedrigen Steinmauern begrenzt wurde. Von dort aus war es nur noch eine kurze Strecke bis zu der Straße, die zu dem kleinen Hafendorf führte.

Ellie durchquerte im Dunkeln den Garten und kletterte mit Leichtigkeit über die Mauer. Sie horchte angespannt, während sie die Straße zum Meer entlangeilte. Unter den Bäumen rechts neben sich vernahm sie gedämpfte Schritte, darum blieb sie stehen und hielt den Atem an.

Sie musste an den Mann im langen geflickten Umhang denken, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Aber jetzt hörte sie nichts mehr, keinerlei Geräusch außer Wind und Meeresrauschen. Vielleicht war es ja nur ein kleines Tier gewesen.

Doch plötzlich tauchten vier Männer in Fischerkleidung vor ihr auf und versperrten ihr den Weg.

„Na so etwas“, sagte der Erste und trat näher. Er hatte dünne blonde Haare und trug eine kurze Segeltuchjacke. „Was haben wir denn da? Heute ist unser Glückstag, Jungs.“

7. KAPITEL

L uke Danbury saß in einer verräucherten Taverne am Hafen von Bircham Staithe, trank Bier und würfelte mit ein paar Fischern. Doch in Gedanken war er weit weg.

Es war schon mehrere Tage her, dass Jacques zurück nach Frankreich gesegelt war. Er wollte nach La Rochelle an der französischen Küste, um dort nachzuforschen, Fragen zu stellen, Leute zu bestechen oder zu bedrohen – alles in der vagen Hoffnung, dass Lukes Bruder nicht tot war wie der Rest seiner Männer.

Einer der Fischer stupste ihn in die Seite. „Sie sind dran, Captain.“ Luke nickte und nahm die Würfel. Ungeschickt ließ er sie rollen, so ungeschickt, wie er alles mit der linken Hand tat. Er musste an den düsteren Abend im vergangenen Herbst denken, als ihm der Verband zum ersten Mal abgenommen worden war.

Luke sagte damals zu Jacques: „Beim nächsten Mal fahre ich mit nach Frankreich. Ich halte es nicht mehr aus, hier untätig zu warten.“ Doch dann sah er den Ausdruck auf Jacques’ Gesicht und wusste genau, was der Franzose gerade dachte, auch wenn er zu freundlich war, um es laut auszusprechen. Du? Mit deiner verkrüppelten Hand? Wie solltest du uns denn helfen können?

Luke bestellte mehr Bier für alle und murmelte in sich hinein: „Anthony. Wenn du noch lebst, lass dich um Gottes willen von Jacques finden.“

Dann stand plötzlich Tom Bartlett mit den Wattersons vor ihm. „Sie werden draußen erwartet, Captain.“

„Von wem?“

„Ein paar Burschen aus dem Ort. Sam Snaith ist ihr Anführer.“

Stille senkte sich über den Raum.

„Was will er von mir?“

„Er sagt, er hat ein Mädchen, das Sie interessieren wird …“

Luke sprang auf. Er brauchte nicht weiter zu fragen und ging mit großen Schritten zur Hintertür der Taverne, von wo nur das trübe Licht aus einem Fenster in den schmutzigen Hinterhof fiel.

Sam Snaith und seine Kumpane sahen genauso verschlagen aus wie immer. Sie alle waren angeblich Fischer, obwohl vermutlich keiner von ihnen je einen ehrlichen Tagesfang an Land gebracht hatte. Doch heute hatten sie tatsächlich etwas Wertvolles gefangen. Luke atmete scharf aus.

Wie er befürchtet hatte – sie war es. Die Französin, die in Lord Franklins Kutsche nach Bircham Hall unterwegs gewesen war. Das Mädchen mit dem Kompass.

Sie hatte ihn von oben herab behandelt und ihre Nase über ihn gerümpft. Als sie ihn jetzt erkannte, kämpfte sie noch erbitterter darum, sich Sam und seinen Männern zu entwinden. Doch die Rüpel hatten ihren Spaß daran, weil es ihnen die Gelegenheit gab, sie anzufassen. Das konnte er nicht mit ansehen.

„Aufhören“, herrschte Luke sie an. „Nehmt eure dreckigen Finger von ihr. Auf der Stelle!“

Widerwillig ließen sie sie los. Das Mädchen sprang zu einem kleinen Lederkoffer, der zu Boden gefallen war, ergriff ihn und rannte weg.

„Tom“, befahl Luke. „Hol sie zurück.“

Sie wurde zurückgebracht, und nun wehrte sie sich nicht mehr. Aber den Koffer … Sie hielt ihn so fest, als bedeutete er ihr sehr viel.

„So“, sagte er. „So treffen wir uns also wieder. Sie wollten wohl ein kleines Abenteuer erleben?“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, drückte Verachtung aus, und trotzdem regte sich etwas tief in ihm. Diese dunklen wilden Haare. Und diese Augen. Grün mit bernsteinfarbenen Flecken, die im Kerzenlicht strahlten. Sie war stolz und tapfer. Aber er spürte, dass sie verzweifelt war. Sie hat es aber sich selbst zuzuschreiben, wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dachte er erbittert.

Sam Snaith baute sich vor Luke auf. „Wir haben sie gefangen genommen, und dafür erwarten wir, dass Sie uns geben, was uns zusteht.“

„Was steht euch denn zu?“, meinte Luke. „Soll ich euch vielleicht jeden einzelnen Knochen brechen, weil ihr ein wehrloses Mädchen angegriffen habt?“

„Die? Wehrlos? Ha! Die Schlampe kann sich sehr gut selbst verteidigen – Sie haben es doch gesehen!“

Tom und Josh hielten sie an beiden Armen fest, aber sie hielt jetzt ganz still.

„Sie haben es versprochen!“, beschwerte sich Sam. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte Luke angriffslustig an. „Sie haben gesagt, es gibt eine Belohnung für jede Nachricht von dem Mädchen in Bircham Hall. Und wir haben sie sogar selbst zu Ihnen gebracht!“

„Na ja, beinahe“, sagte Luke. „Obwohl sie euch eben noch fast entwischt wäre. Habt ihr sie aus dem Haus entführt?“

„Was? Damit dann alle Männer von Lord Franklin hinter uns her sind? Natürlich nicht. Meine Jungs und ich waren gerade auf der Bircham Road. Plötzlich sahen wir das Mädchen. Sie trippelte die Straße entlang und hielt diesen Koffer fest. Aber Nathan hat sie erkannt, und darum haben wir sie uns geschnappt.“

Luke betrachtete sie genauer und erkannte, dass sie große Angst hatte. „Ich vermute, dass sie nicht gerade entzückt war.“

„Wir haben sie gut behandelt und sie ganz höflich gefragt, wohin sie will. Und sie hat gesagt, sie gibt uns gutes Geld, wenn wir ihr ein Schiff besorgen, das sie nach Frankreich bringt. Aber Sie haben eine Belohnung versprochen, und darum haben wir sie lieber zu Ihnen gebracht.“

Luke drehte sich zu ihr um und fragte: „Ist das wahr?“

In ihrer Stimme lag nur Verachtung, als sie antwortete: „Ja, aber das geht Sie nichts an.“

„Ich fürchte, es geht mich sehr wohl etwas an. Hören Sie. Sie vergeuden nur Zeit und Kraft, wenn Sie zu fliehen versuchen. Sagen Sie mir, aus welchem Grund Sie fortlaufen wollen und wohin.“

Herausfordernd reckte sie das Kinn. „Je ne comprends pas“, erklärte sie.

Luke seufzte unhörbar. Sie behauptete, nichts zu verstehen, aber er war sicher, dass sie jedes einzelne Wort verstanden hatte. Jetzt trat sie wieder zur Seite, weil Sam Snaith ihr zu nahe gekommen war und sie anzüglich angrinste. Zu Luke sagte Sam: „Wir dachten, Sie wollen sie haben, Captain, und jetzt steht uns etwas zu. Wir wollen die versprochene Belohnung.“

Er streckte die Hand aus, aber Luke schlug sie beiseite. „Ich habe um Neuigkeiten gebeten, nicht um eine Gefangene.“

„Captain“, sagte Sam leise. „Sie sind sehr stolz, nicht wahr? Aber jeder weiß, was man über den Stolz sagt. Schauen Sie sich um.“

Als Luke sich umsah, stellte er fest, dass noch mehr von Sams Kumpanen aus der Taverne gekommen waren und sich im Hof versammelten. Es waren mindestens dreimal so viele wie Lukes Männer. Verdammt . Rasch warf er einen Blick auf das Mädchen, das sehr ruhig dastand.

Sam war direkt hinter ihm. „Wenn Sie uns die Belohnung nicht geben, Captain, wollen wir bitteschön das Mädchen zurückhaben. So haben wir wenigstens eine Nacht Spaß mit ihr …“

Das Knacken des Hahns einer Pistole hallte laut im Hof. Alle starrten überrascht das Mädchen an, denn es hatte plötzlich eine Pistole in der Hand und zielte direkt auf Sams Herz.

Luke stöhnte innerlich. Oh Gott . Er hätte es wissen müssen. Die meisten Mädchen wären in Ohnmacht gefallen – dieses nicht.

„Zurücktreten“, sagte sie zu Sam Snaith. „Sofort.“

Sam hob die Hände, aber er sagte höhnisch: „Denkst du etwa, du machst mir Angst? Ich wette, die ist nicht mal geladen.“

Sie hielt die Pistole ganz ruhig weiter auf ihn gerichtet. „Ich versichere Ihnen, sie ist geladen. Und ich brauche nur eine Kugel.“

Und dann, als wäre das alles noch nicht genug, hörten sie Pferde, die sich von der Straße dem Gasthaus näherten, und noch mehr Männer aus dem Ort, und alle schrien durcheinander. „Die Männer vom Zoll. Schnell! Verschwindet!“

Luke sprang zu der jungen Frau, nahm ihr die Pistole ab und gab sie an Tom weiter, dann packte er sie am Arm. Tom und die Wattersons waren dicht hinter ihm. „Laufen Sie“, flüsterte er. „Hier entlang.“

Sie versuchte sich zu widersetzen. „Mein Koffer …“

Der Lederkoffer. Er lag auf dem Boden. Er hob ihn auf und warf ihn zu Josh. Inzwischen konnte man hören, dass die Reiter vor der Taverne anhielten. Sehr bald würden sie zur Hinterseite der Taverne kommen. Was suchten sie? Schmuggler? Oder ein entlaufenes französisches Mädchen, das eigentlich im komfortablen Landsitz von Lord Franklin Grayfield weilen sollte?

Luke brauchte noch ein wenig mehr Zeit mit ihr allein, denn er wollte herausfinden, warum sie nach England gekommen war – und warum sie nach so kurzer Zeit schon wieder fliehen wollte.

Luke zeigte auf eine schmale Gasse und zerrte das Mädchen weiter. „Ich sagte laufen .“

Die ersten Reiter drängten sich bereits in den Hof und sahen sich eifrig nach möglichen Verdächtigen um. Dieses Mal gehorchte sie. Sie rannte los.

Für Ellie hatte der Albtraum begonnen, als diese Männer plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht waren und ihr den Weg versperrt hatten. Zuerst hielt sie sie für die Männer Lord Franklins, aber ihre Art zu sprechen und ihre lüsternen Blicke belehrten sie schnell eines Besseren. In unverschämtem Ton fragten die Kerle, was sie hier mache und wo sie hinwolle.

„Ich bin auf dem Weg zum Hafen“, antwortete sie möglichst gelassen. „Ich brauche ein Schiff, das mich nach Calais oder einen anderen Ort an der französischen Küste bringt. Ich kann bezahlen …“

Sie starrten sie ungläubig an. „Sie ist Französin“, sagten sie. „Es ist die kleine Französin aus Bircham Hall. Und wir kennen jemanden, der uns eine fette Belohnung für sie bezahlt, Jungs.“

Die Männer packten sie so schnell, dass sie nicht an ihre Pistole gelangen konnte. Dann brachten sie sie zu der Taverne am Hafen. Sie wissen nicht, dass ich eine Pistole habe, dachte sie.

Als sie im Hof der Taverne ankamen und der Mann heraustrat, begann ihr Herz wie wild zu schlagen. Es war der Mann in dem geflickten Umhang, mit dem schwarzen Handschuh an der verstümmelten rechten Hand. Als er zu ihr sprach, klang seine Stimme kühl und kontrolliert, fast amüsiert. Seine blauen Augen blitzten, als wüsste er etwas, von dem sie keine Ahnung hatte.

„Sie suchen also ein kleines Abenteuer?“, fragte er, und sie fühlte sich, als stünde sie am Rande eines Abgrunds.

Doch nie im Leben würde sie zugeben, wie verletzlich und ängstlich sie sich fühlte. Lieber würde sie sterben. Törichterweise hatte sie gehofft, dass sie entkommen konnte, wenn sie ihre Pistole zog, aber die sich nähernden Reiter hatten ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt hatte sie die Pistole verloren, einer der Komplizen hatte ihren Koffer und der Mann, den die anderen Captain nannten, zerrte sie mit sich, hinaus in die Dunkelheit.

„Kommen Sie“, sagte er mit rauer Stimme.

Sie musste sich entscheiden – er oder die Zollfahnder.

Seine Spießgesellen rannten direkt hinter ihnen her. Einer hatte ihren Koffer, der mit den drahtigen schwarzen Haaren hatte ihre Pistole. Doch der Captain hielt immer noch ihr Handgelenk mit seiner starken linken Hand umklammert.

Sie entfernten sich vom Hafen und rannten zu einem kleinen Pfad, der nach oben führte. Sie stiegen immer höher hinauf, und bald konnte sie unter sich das Meer sehen, dessen schäumende Wellen vom Mond versilbert wurden. Eine salzige Brise streichelte ihre Wangen und erinnerte sie an die erhoffte Freiheit.

Was nun? Fieberhaft überlegte sie. Captain Luke hatte sie also vor den Grobianen gerettet, die ihr auf der Straße aufgelauert hatten. Aber war dieser Mann, der so kalt und unnahbar wirkte, nicht genauso gefährlich wie sie? Er wusste, dass sie sich unter Lord Franklins Schutz befand, aber er wusste auch, dass sie heute aus Bircham Hall weggelaufen war.

Offenbar hatte er nicht die Absicht, sie dorthin zurückkehren zu lassen. Vielleicht will er ja Lösegeld, fiel ihr plötzlich ein. Lady Charlotte würde jedoch eher dafür bezahlen, dass er sie behielt . Sie fühlte verzweifeltes Lachen wie eine Blase in sich aufsteigen und stolperte fast über einen Stein.

Der Mann hielt ihr Handgelenk noch etwas fester. „Nicht stehen bleiben“, stieß er hervor. „Sie können uns noch auf den Fersen sein.“

„Ich wäre schneller, wenn Sie mich nicht so zerren würden.“

„Na gut. Ich gehe etwas langsamer.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Nur … fassen Sie mich nicht länger an .“

Er nickte mit ausdrucklosem Gesicht. Er ließ sie los und … seltsamerweise wünschte sie sich seine starke Hand wieder zurück. Närrin! Sie zog den Mantel dicht um sich und eilte ihm nach.

Bleib ganz ruhig, sagte sie sich. Du bist auf der Flucht vor deinen Feinden durch halb Frankreich gereist, und damals hast du stets deine Angst verbergen können .

Doch heute empfand sie mehr als nur Angst. Ja, ihr Herz schlug heftig, als sie dem Mann folgte. Luke, dem Captain. Sie konnte nicht vermeiden zu registrieren, wie groß und kräftig er gebaut war. Er bewegte sich mit geschmeidiger Eleganz, die sie an Bilder erinnerten, die sie von exotischen Raubtieren gesehen hatte. Ungezähmt und gefährlich, wild und schön.

Es kribbelte in ihrem Bauch. Er ist dein Feind, denke immer daran. Konzentriere dich nur auf das, was passiert. Oder wohin er dich bringt.

Das Dorf war nicht mehr zu sehen. Sie folgten dem Pfad oben auf den Klippen. Unten konnte sie den lang gestreckten Strand sehen, auf dem die nassen Kieselsteine glänzten. Hier oben ging sie auf weichem Gras, das übersät war mit Ginster und Grasnelken. Vor sich …

Ihr stockte der Atem. Vor ihr tauchten im Mondlicht die Dächer und Türme des alten geheimnisvollen Hauses auf, das ihr auf der Fahrt nach Bircham Hall aufgefallen war.

Es sah so einsam und verlassen aus, als wollte es jeden Eindringling davon abschrecken, sich ihm zu nähern. Wie es wohl bei Tage aussieht, dachte sie. Aber es war halb verfallen. Dort wohnte sicher niemand mehr.

Der Captain berührte sie am Arm und sie fuhr zusammen. „Kommen Sie mit mir“, sagte er leise. Seine Männer gingen hinter ihnen her. Sie schritten den Pfad entlang, der ab hier die Klippen verließ und sich durch einen dichten Wald aus Bäumen und struppigem Unterholz hindurchschlängelte, der fast das ganze Haus umgab. Es ging weiter bis zum Hintereingang, wo alles ganz anders aussah, wie Ellie feststellte. Der Hof war frisch gekehrt, die Ställe dufteten süß nach Heu. Alles wurde erleuchtet von einer Laterne neben der Tür und mehr Lichtern aus den Fenstern.

Der Captain wandte sich an seine Männer. „Ihr haltet Wache“, befahl er knapp. „Haltet Ausschau nach ungebetenen Besuchern.“

Die drei Männer verschwanden in der Dunkelheit – und Ellies Koffer mit ihnen. Bevor sie protestieren konnte, öffnete sich die Hintertür und eine kleine Frau mittleren Alters in einem schwarzen Kleid und mit weißer Schürze blickte ihnen ängstlich entgegen.

„Sie bringen noch einen Gast, Captain. Oh je, oh je.“

Ellies Entführer trat vor. „Es ist alles in Ordnung, Mrs. Bartlett. Wir haben einen unerwarteten Gast, aber das ist kein Grund zur Beunruhigung.“

Zu der Frau sprach er in beinahe freundlichem Ton, aber sobald er sich Ellie zuwandte, wurden seine Gesichtszüge wieder hart. „Hier entlang“, sagte er und geleitete Ellie in das Haus. Die Frau, wahrscheinlich die Haushälterin, hastete ihnen nach.

„Ich vermute, Mrs. Bartlett“, sagte Luke, „dass im Esszimmer noch ein Feuer brennt?“

„Aber natürlich, Sir. Brauchen Sie sonst noch etwas?“

„Ich lasse es Sie wissen.“

„Sehr wohl.“ Nach einem weiteren ängstlichen Blick auf Ellie eilte Mrs. Bartlett davon. Die Hand des Captains lag wieder auf Ellies Arm, und sie spürte seine Berührung ganz intensiv. Sie erschauerte.

Reiß dich zusammen. Denke nur daran, wo du bist und wie du entkommen kannst.

Nun ging er mit ihr durch einen gefliesten Flur zu einem alten Speisezimmer. Es war ein großer Raum mit Deckenbalken, der nur von einem Paar Kerzen in einem Wandleuchter und den Resten eines Kaminfeuers erleuchtet wurde. Er schloss die sehr solide aussehende Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Das Leben hatte Ellie gelehrt, dass sie immer nach einem Fluchtweg Ausschau halten musste, wenn sie sich in Gefahr befand. Denn irgendein Weg fand sich immer, oder?

Doch hier nicht. Offensichtlich hier nicht.

8. KAPITEL

E llie schätzte, dass der Raum mindestens dreißig Fuß lang und zwanzig Fuß breit war. Der Kamin war groß genug, dass man darin ein Schwein am Spieß hätte braten können, und der grob geschnitzte Eichentisch war umgeben von mehr als einem Dutzend Stühlen und Bänken. Auf dem Tisch standen etliche halb volle Flaschen und Gläser.

Es gab keine Teppiche oder Ziergegenstände, obwohl dunkle Ränder an den weiß getünchten Wänden ein Hinweis darauf gaben, dass dort einmal Bilder gehangen und Möbel gestanden hatten. Die Kerzen waren aus Talg und die Kerzenhalter aus Zinn. Wo Bircham Hall protzig den Hochmut und Reichtum seiner Besitzer verkündete, sah man in diesem Haus nichts als die Armut seines Bewohners. Und doch, dachte sie, muss es hier einmal sehr schön gewesen sein. War es sein Haus? Wohnte er hier? Es wäre der passende Ort für ihn. Wild, ungezähmt, unzähmbar.

Ihre Blicke kehrten zu ihrem Entführer zurück. Er knöpfte gerade den langen Umhang auf, zog ihn von den breiten Schultern und legte ihn über einen Stuhl. Seine Bewegungen waren ohne jede Eitelkeit, doch als sie ihn in seinem weiten weißen Hemd, der Reithose und den schwarzen Lederstiefeln sah, musste sie gegen ihren Willen seine ganz und gar männliche Figur bewundern. Er bewegte sich so, als hätte er es nicht nötig, seine Kraft oder seinen Wagemut beweisen zu müssen. Ihr Mund wurde trocken, und sie merkte wieder einmal, dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste.

Er schaute sie an. „Vielleicht wäre es bequemer für Sie, wenn Sie Ihren Mantel ablegen würden?“, sagte er.

„Glauben Sie?“ Sie schlang ihn fester um sich.

„Haben Sie auch etwas dagegen, sich zu setzen?“ Er zeigte auf einen Stuhl am Feuer.

Sie zögerte kurz, dann setzte sie sich. Er ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen und beugte sich vor, um sie zu mustern.

Ich bin seine Gefangene . Der Gedanke erschütterte sie. Doch anstatt einen Fluchtplan zu schmieden oder sich zu wehren, konnte sie nichts anderes sehen, an nichts anderes denken als an seine halb geschlossenen Augen. Und an diesen Mund, diese Wangenknochen …

Immer noch sah er sie an. Ihr Puls raste.

„Sagen Sie mir“, fragte er, „wollten Sie wirklich, dass die Männer vom Zoll Sie finden?“

„Ich wollte von niemandem gefunden werden, am wenigsten von Ihnen!“

Er fuhr fort, als hätte sie nichts gesagt. „Ich frage mich … Was hätten die Zollbeamten wohl von Ihnen gehalten? Es war übrigens nur eine Routinekontrolle. Von Zeit zu Zeit beweisen sie gern ihre Macht, indem sie Schmuggler jagen. Doch wenn sie eine junge Französin auf der Flucht ergriffen hätten … nun, das hätte sicher für Aufregung gesorgt. Obwohl ich glaube, dass es Ihnen dort besser ergangen wäre als bei Sam Snaith und seinen Kumpanen.“

„Ich hatte meine Pistole. Damit hätte ich mich gegen Sam Snaith verteidigt.“

Er nickte. „Und Sie sagten, Sie wüssten, wie man sie benutzt. Hätten Sie ihn getötet?“

Sie feuchtete die trockenen Lippen an. „Ich wollte ihn nur erschrecken …“ Ihre Stimme war immer leiser geworden.

„Sie haben sich in eine unglaublich gefährliche Lage gebracht“, sagte er leise. „Ist Ihnen nicht bewusst, was für eine Riesendummheit es war, allein mitten in der Nacht dort draußen herumzulaufen?“

Das Herz schien sich ihr im Leibe herumzudrehen, weil sie wusste, dass er recht hatte. Sie zitterte. Er beugte sich über den Tisch und zog eine Flasche und zwei Gläser mit seiner linken Hand zu sich herüber. Jesus, diese Hand.

Nun füllte er zwei Gläser und schob eins davon zu ihr. „Brandy“, sagte er knapp. „Das tut gut nach einem solchen Erlebnis. Wirkt beruhigend.“

„Danke. Ich möchte nichts.“

Er trank sein Glas in einem Zug leer. Dann stellte er es ab, erhob sich und ging zu dem großen Kamin, um Holz nachzulegen. Was ist diesem Mann zugestoßen? fragte sie sich. Was tut er hier in diesem seltsamen, halb verfallenen Haus? Er musste ein Schmuggler sein. Andererseits – wie viele Schmuggler würden so ein arrogantes Selbstvertrauen an den Tag legen und reden wie ein Gentleman?

Er kam zurück und setzte sich wieder. „Sie trinken nicht.“

Sie saß sehr gerade. „Ich brauche keinen Alkohol“, antwortete sie ruhig. „Aber ich denke, es würde helfen – Captain – wenn wir beide ehrlich zueinander wären.“

Er sah leicht belustigt aus. „Ehrlich …“, wiederholte er. „Sehr gut. Sie zuerst.“

„Ich bin heute Nacht weggelaufen“, begann sie, „weil ich nach Frankreich übersetzen möchte.“

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute sie prüfend an. „Sie erstaunen mich, Mademoiselle . Nach meiner Erfahrung sind die meisten im Exil lebenden Franzosen und Französinnen nur zu froh, wenn sie Zuflucht in England finden.“

Jetzt kam ihr der Gedanke, dass er zweifellos in vielen Dingen Erfahrung hatte, vor allem was Frauen anbetraf. Doch sie zwang sich zur Ruhe. „Ich habe mittlerweile begriffen“, sagte sie gleichmütig, „dass es ein Fehler war, meine Heimat zu verlassen.“

„Und warum lehnen Sie die großzügige Gastfreundschaft Ihres Verwandten ab?“ Seine Stimme schien vor Sarkasmus zu triefen. „Konnten Sie ihm nicht einfach erklären, dass Sie hier nicht glücklich sind? Dann könnte er für Sie eine bequemere Heimfahrt arrangieren. Der Krieg ist doch vorbei, und es besteht für Sie keine Gefahr mehr, wenn Sie nach Frankreich zurückkehren wollen. Vorausgesetzt“, fügte er hinzu, „dass Freunde und ein Heim Sie dort erwarten?“

Sie hielt kurz die Luft an. „Selbstverständlich.“

„Selbstverständlich“, wiederholte er höflich.

„Ich habe meine Gründe dafür“, sprach sie weiter, „dass ich ohne Wissen der Bewohner von Bircham Hall abreisen möchte, die ich Ihnen jedoch nicht erklären werde. Einfacher gesagt, ich möchte heimkehren, und Sie haben kein Recht, mich aufzuhalten. Sie sind doch vermutlich eine Art Schmuggler …“

Das brachte ihn zum Lachen. „Ein Schmuggler. Sie sind sich da ganz sicher, nicht wahr?“

„Selbstverständlich! Warum würden Sie sich wohl sonst in diesem alten Haus am Meer verstecken? Und warum würden Ihre Männer Sie sonst ‚Captain‘ nennen?“

„Vielleicht, weil ich in der British Army gedient habe?“

Er sah, dass ihre Gelassenheit ins Wanken geriet. „Aber wenn Sie kein … Malfaiteur …“

„Missetäter“, sagte er freundlich.

„Wenn Sie kein Missetäter sind, warum hatten Sie dann solche Angst vor den Männern vom Zoll?“

„Ich habe vor niemandem Angst“, sagte er, aber sein Blick war abweisend geworden.

„Sie sind doch vor ihnen geflohen“, beharrte sie. „Sie müssen ein Schmuggler sein. Ich habe gehört, dass es viele davon hier in der Gegend gibt“.

Jetzt hätte sie aufhören sollen. Seine Miene wurde noch finsterer. Doch wie eine Närrin plapperte sie weiter. „Ihre Hand. Ihnen fehlen ein paar Finger …“

Sie sah den Blick aus seinen blauen Augen und geriet ins Stocken.

„Reden Sie weiter“, sagte er sanft.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

Er nickte. „Ich fürchte, Sie ziehen zu schnell Ihre Schlussfolgerungen, Mam’selle .“ Seine Lippen hatte er zu einer dünnen, geraden Linie zusammengepresst. „Ich versichere Ihnen, dass Sie in Hinblick auf mich besser beraten wären, wenn Sie sich kein voreiliges Urteil erlaubten.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was immer Sie auch getan haben, Monsieur , es interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, was als Nächstes geschieht. Sie sind offenbar sehr einfallsreich. Ich aber auch.“

„Das ist mir bereits aufgefallen“, sagte er nachdenklich. „Sie haben eine Pistole. Und wenn ich mich recht erinnere, auch einen faszinierenden Kompass.“

Dieu, sie hatte so gehofft, er hätte den Kompass vergessen. Sie sah sich schnell im Raum nach ihrem kleinen Koffer um, aber natürlich hatten seine Männer ihn mitgenommen.

Dann begann ihr Herz wieder heftig zu schlagen, denn er war aufgestanden und kam auf sie zu.

„Oh, Mam’selle “, sagte er. „ Mam’selle, ich zolle Ihnen Anerkennung dafür, wie geschickt Sie sich in Lord Franklins Haus eingeschlichen und sein Mitleid erregt haben, damit er Sie nach England bringt.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf leicht schräg. Sie glaubte, einen berechnenden Ausdruck in seinen Augen zu erkennen. „Doch heute … wollten Sie Ihren kurzen Aufenthalt in seinem Haus schon wieder beenden. Warum?“

Sie machte eine wegwerfende Geste, obwohl ihr das Herz bis in den Hals schlug. „Vielleicht ist England nicht so, wie ich geglaubt hatte.“

„Wie dem auch sei.“ Er klang jetzt sehr kalt. „Aber Sie müssen doch wissen, wie unglaublich leichtsinnig Sie sich verhalten haben, als Sie heute Nacht wegliefen? Was glauben Sie wohl – was hätten diese Männer mit Ihnen gemacht, wenn Sie wirklich in ihr Boot gestiegen wären?“

Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und versuchte, um jeden Preis die Fassung zu wahren. „Dann war es vielleicht doch gut, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind, Monsieur le Capitaine . Vielleicht könnten Sie mich ja selbst nach Frankreich bringen?“

Warum hatte sie das gesagt? Wie konnte sie so einen unüberlegten, verrückten Vorschlag machen? War sie denn wahnsinnig geworden?

Offensichtlich hegte er den gleichen Gedanken, denn er zog seine Augenbrauen hoch. „An was für eine Bezahlung hatten Sie denn gedacht?“

„Meine ewige Dankbarkeit wäre Ihnen sicher.“

Er lachte laut auf. Lacht er mich aus? „Ihre Dankbarkeit? Mam’selle, Sie sind rührend. Außerdem scheint es Ihnen entfallen zu sein, dass Sie noch mehr zu bieten haben als nur Dankbarkeit.“

Das Blut schoss ihr in die Wangen, als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde. Er sprang auf und trat zur Tür, öffnete sie und rief hinaus: „Tom? Ich brauche Myladys Koffer.“ Kurze Zeit später kam sein Handlanger herein. Er stellte ihr Köfferchen auf den Tisch und ging wieder. Der Captain schloss die Tür. „Haben Sie den Schlüssel für den Koffer dabei, Mam’selle ?“

Ellie griff nach der silbernen Kette um ihren Hals und nahm den Schlüssel ab. Sie war starr vor Schrecken, als er den Koffer aufschloss und alles, was darin war, der Reihe nach herausholte. Ihr Nachthemd und den Schal für die Reise. Die sorgfältig gefalteten Karten ihres Vaters. Dann kam er zu dem kleinen Kästchen, das die wertvollen Instrumente ihres Vaters enthielt. Den Theodolit. Das Prisma. Das Vergrößerungsglas. Das Taschenfernglas.

Und in einer eigenen Schachtel – den Kompass.

Doch den hatte er schon früher gesehen.

Luke sah zu dem Mädchen. Ihren Blick – noch nie hatte er so wundervolle grüne Augen gesehen – hatte sie fest auf die Gegenstände gerichtet, die er nacheinander auf den Tisch legte. Er sah, wie blass sie geworden war. Wie mühsam sie sich aufrecht hielt und wie fest sie die Hände zusammenpresste.

Er wurde plötzlich fast wütend auf sie. Sie musste doch wissen, was für ein Schicksal ihr auf dieser hirnrissigen Reise bevorstand und was jeder hergelaufene Kerl ihr unterwegs antun würde?

Gut, sie hatte ihr Bestes versucht, um ihre nur allzu weiblichen Formen unter dem alten schäbigen Mantel zu verstecken. Ihr üppiges schwarzes Haar hatte sie unter die Haube gesteckt. Doch immer noch sah sie genauso atemberaubend aus wie bei ihrer ersten Begegnung auf der Straße nach Bircham vor wenigen Tagen.

Damals wie heute erkannte er eine gewisse Verletzlichkeit in ihr, aber auch viel Mut. Es wühlte ihn innerlich auf. Was für Geheimnisse gab es in ihrer Vergangenheit? Warum lief sie nach so kurzer Zeit in Bircham Hall schon wieder davon?

Luke strich mit der Hand kurz über den Kompass. Den würde er sich für den Schluss aufheben. Zuerst nahm er eine der Karten und hielt sie ihr hin.

„Das ist eine Karte von Nordfrankreich“, erklärte er. „Und alle Straßen nach Brüssel sind sorgfältig markiert. Warum?“

„Es sind meine Karten.“ Sie stand auf und machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich brauche sie noch für meine Heimreise.“

„Es sind besonders sorgfältig gezeichnete Karten, nicht wahr? Gute Karten sind teuer, besonders in Kriegszeiten. Unter bestimmten Umständen so wertvoll wie tausend Männer, sagen manche Militärexperten.“

Er hörte, dass sie scharf einatmete, und sagte sehr sanft: „Auf wessen Seite standen Sie während des Krieges, Mam’selle ? Wichtiger noch – auf welcher Seite stand Ihr Vater?“

Er sah die Zeichen ihrer Furcht und Anspannung. Ihr Puls zuckte sichtbar an ihrer zarten Kehle. Sie hatte Angst, aber trotzdem antwortete sie fast sofort. „Er stand auf keiner Seite, Monsieur! Mein Vater war ein guter Mann, der vor allem Frieden wollte. Und ich will zurück nach Brüssel, weil dort mein Vater begraben liegt. Ich will seinem Andenken die Ehre erweisen.“

Ihre Stimme erstarb. Luke hatte die Karten weggelegt und ergriff nun die kleine Schachtel, die den Kompass enthielt.

„Sie haben hier viele interessante Objekte“, sagte er. „Aber dieses ist besonders faszinierend.“

Er sah, was es sie kostete, den Anschein von Gelassenheit zu wahren. „Das ist der Kompass meines Vaters“, erklärte sie. „Er gehörte zu seinen liebsten Besitztümern.“

„Das wundert mich nicht.“ Luke hatte vorsichtig den Kompass ausgepackt und drehte ihn hin und her in seiner linken Hand. Er ließ ihr für einen Moment die Hoffnung, dass er die französischen Worte nicht verstand, die an der Seite eingraviert waren.

„Ich vermute“, fuhr er fort, „ihr Vater wollte nicht, dass bekannt wird, was für ein treuer Diener Napoleons er war. Und sicher wollen Sie das auch nicht …“

Er brach ab, als sie einen Satz machte, um ihm den Kompass zu entreißen. Doch er hielt ihn hoch über ihren Kopf und übersetzte aus der Erinnerung die Inschrift darauf. „Für meinen treuen Diener, André Duchamp, meinen Kartenmacher. Ein Geschenk von Napoleon Bonaparte.“ Er sah ihr ins Gesicht. „Und das gehörte – Ihrem Vater?“

Ihre eben noch geröteten Wangen waren jetzt weiß wie Porzellan. Die Augen mit den langen schwarzen Wimpern sahen so grün aus wie tiefe Teiche.

„Sie haben nicht das Recht …“

Immer noch hielt er das Objekt zu hoch für sie. „Sicher wissen Sie noch, dass ich den Kompass schon einmal gesehen habe, nämlich als Ihre Kutsche auf der zerstörten Straße anhalten musste. Ich habe die Inschrift damals schon gelesen.“

Er sah sie zittern. „Sie … hatten es schon gelesen?“

„Da steht ganz deutlich geschrieben: Ein Geschenk von Napoleon Bonaparte .“ Während er sprach, steckte er nachlässig den Kompass in seine Tasche. Dann nahm er eine andere gefaltete Karte zur Hand. Dieses Mal war es eine Karte, die mit Fußnoten und Maßangaben versehen war, die auf Französisch darunter standen.

Sorgfältig übersetzte er für sie.

„Von Reims nach Dinant. Der Fluss Aisne muss bei Rethel überbrückt werden. Die Strecke wird weiter unten angezeigt, Felsen, Lehm und Marsch werden dargestellt. Die Straße muss …“

Luke überflog den Rest des Textes, bis er zur Signatur darunter kam. „Angefertigt von André Duchamp, Paris, am 13. April 1810.“

Er sah sie an. „Ihr Vater hätte besser gewusst, wie man die Straße nach Bircham konstruieren muss, nicht wahr?“

Sie machte einen gelassenen, fast schon trotzigen Eindruck, aber er sah, wie heftig sie ein- und ausatmete. Sah ihre Blicke zur Tür wandern.

Sie wird gleich losrennen, dachte er. Sie bereitet sich auf einen Fluchtversuch vor .

Und er war bereit, sie aufzuhalten.

„Er zeichnete Karten für Napoleon“, fuhr Luke fort. „Er plante Straßen für Napoleon. Ihr Vater .“

9. KAPITEL

F ür einen Moment hing die Stille schwer im Raum. Ellie konnte die Brandung am fernen Strand hören. Eine Kerze flackerte im Luftzug. Sie fürchtete, dieser Mann könnte sogar ihren Herzschlag hören.

„Mein Vater arbeitete für Frankreich“, sagte sie schließlich mit stolz erhobenem Haupt. „Zum Wohle des französischen Volkes. Er war ein Staatsdiener, wie so viele andere auch …“

„Halten Sie mich für einen Dummkopf?“, unterbrach er sie ungeduldig. „Wollen Sie mir weismachen, dass er ein gewöhnlicher Regierungsangestellter war? Selbst ich habe von Ihrem Vater gehört. André Duchamp war einer der bedeutendsten Kartographen unserer Zeit! Ich habe gehört, dass dank seiner überragenden Fähigkeiten die neuen napoleonischen Straßen zu solchen Wunderwerken der Baukunst wurden. Diese Straßen erlaubten es Napoleon, seine Truppen von Paris aus quer durch Frankreich marschieren zu lassen – nach Preußen, Italien, Spanien und fast ganz Europa. Um dann eine Armee nach der anderen zu vernichten …“

„Mein Vater ist tot“, sagte sie mit gepresster Stimme. „Und Napoleon ist gefangen. Diese Zeiten sind vorbei.“

„Die Vergangenheit holt uns leider immer wieder ein, Mam’selle “, sagte Luke bissig. „Weiß Lord Franklin eigentlich, für wen Ihr Vater arbeitete?“

„Was geht Sie das an?“

Weiß er es?“

Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Einem Außenseiter wie mir erscheint Ihre Geschichte ziemlich unglaubwürdig, Mam’selle . Erst haben Sie dankbar Lord Franklins Gastfreundschaft angenommen, und jetzt fliehen Sie bei Nacht aus seinem Haus und erklären jedem, England dringend wieder verlassen zu wollen. Mir fällt dazu nur eine Erklärung ein.“

Er nahm eine der Karten in die Hand und schlug sie klatschend wieder auf den Tisch. „ Mam’selle, ich bin gezwungen zu der Annahme, dass Sie für Napoleon spionieren.“ Sie stieß hörbar den Atem aus. „Ich komme zu der Schlussfolgerung, dass Sie deswegen bei Nacht und Nebel den Kanal überqueren wollen, weil Sie während Ihres Aufenthalts hier in England etwas sehr Wichtiges entdeckt haben, das Sie Napoleons geheimen Unterstützern in Frankreich mitteilen möchten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Napoleon hat sich ergeben, der Krieg ist vorbei …“

Er blätterte durch die Karten ihres Vaters. „Stellen Sie sich nicht dumm. Niemand glaubt, dass Napoleon lange auf Elba bleibt. Das französische Volk ist den dicken König Ludwig schon leid, den die Briten und ihre Alliierten ihm aufgezwungen haben. Das wissen Sie, Mam’selle , nicht wahr?“

Wortlos starrte sie ihn an, dann nickte sie langsam.

„Ein großer Teil der französischen Bevölkerung“, sprach er weiter, „fragt sich schon ungeduldig, wann ihr Kaiser Napoleon endlich zurückkehrt. Und sollte er von Elba aus lossegeln, wo würde er dann wohl landen?“ Er schaute die Karten an. „Nun, möglicherweise in Nizza. Ja, warum nicht dort? Dort könnte er Männer um sich scharen, bis er eine Armee zusammen hat, um mit ihnen nach Paris zu marschieren. Ihr Vater hätte ihm sagen können, welche Straßen für diesen Zweck am besten geeignet wären, denn er war ja daran beteiligt, sie zu bauen .“

Sie machte einen Satz auf den Tisch zu, um die Karten an sich zu reißen, aber dabei stolperte sie und warf einen der schweren Stühle um. Er griff schnell mit der rechten Hand nach dem Möbelstück – der Hand in dem schwarzen Handschuh – und stieß einen Schmerzensschrei aus.

Dann biss er die Zähne zusammen und stellte den Stuhl wieder auf. Die rechte Hand umfasste er mit der linken. Es war also eine Wunde, die ihm erst kürzlich zugefügt worden war. Einen Moment später stürmten seine Männer in den Raum und packten Ellie grob an den Armen. Wahrscheinlich hatten sie das Poltern des Stuhls und den Schrei gehört und nahmen an, sie hätte ihren Captain angegriffen.

Sie wehrte sich und schrie auf Französisch. „Ihr habt meine Sachen“, rief sie. „Allein der Theodolit ist fünfzig Livre wert. Ihr könnt ihn haben, wenn ihr mich nach Frankreich bringt. Ihr könnt alles haben …“

„Vermutlich alles außer dem Kompass“, sagte er leise.

Wie ein glühendes Eisen war der Schmerz durch seine verkrüppelte Hand gefahren, als er damit nach dem Stuhl gegriffen hatte, aber Luke hatte sich wieder im Griff. Er schickte seine Männer hinaus und sagte mit unbewegter Stimme: „Leider muss ich Ihnen sagen, Mademoiselle Duchamp, dass ich keinesfalls die Absicht habe, Ihnen die Überfahrt zu gestatten. Sie sind hier viel nützlicher für mich, wissen Sie.“

Sie schwieg, dann zuckte sie mit den Schultern. Luke fand es bewundernswert, wie sie den Anschein von Gleichmut bewahrte, obwohl es ihr sichtlich schwerfiel. Sie blickte ihn an. Luke schaute ihr in die Augen. Er sah ihre Angst, aber auch ihren inneren Widerstand. Und diese vollen Lippen … Auf keinen Fall, warnte er sich selbst. Viel zu riskant. Außerdem verabscheute sie ihn.

„Also soll ich Ihnen … von Nutzen sein, ist es das, was Sie von mir wollen?“, sagte sie. „ Monsieur, egal, was Sie vorhaben – Sie werden diesen Tag noch bereuen. Ich versichere Ihnen, dass ich keine einfache Gefangene sein werde. Und wenn Lord Franklin es herausfindet …“

Er hätte beinahe gelacht. „Aha, also jetzt bezeichnen Sie Lord Franklin als Ihren Retter? Ob ihm das gefallen würde? Bitte, Mam’selle , Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. Ich habe nicht die Absicht, Sie hier gefangen zu halten.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Nicht?“

„Ganz im Gegenteil, ich schicke Sie zurück nach Bircham Hall.“

Jetzt war sie sichtlich erstaunt. „Zurück?“

„Genau“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. „Glauben Sie, dass schon jemand Ihre Abwesenheit bemerkt hat?“

„Nein, wahrscheinlich nicht. Ich habe gesagt, ich sei müde und müsse früh zu Bett gehen.“

„Sehr gut. Und jetzt hören Sie mir genau zu, Mam’selle . Sie werden kein Wort über das verlauten lassen, was heute Nacht geschehen ist. Weder über Ihre Flucht noch über Ihre Begegnung mit mir. Sie werden in Bircham Hall bleiben, als wäre nichts geschehen. Und Sie werden dort etwas für mich tun. Haben Sie Lord Franklins Bibliothek gesehen?“

Sie nickte mit verwundertem Gesicht.

„Dort werden die meisten von Lord Franklins privaten Papieren verwahrt, einschließlich seiner Briefe und Tagebücher der letzten fünf Jahre.“

„Woher wissen …?“

„Das tut absolut nichts zur Sache. Hören Sie mir zu. Ich möchte, dass Sie in die Bibliothek gehen und mir alles bringen, was Sie finden können. Alle Papiere, Dokumente oder Briefe, die sich auf den September 1813 und einen Ort in Frankreich namens La Rochelle beziehen. Haben Sie mich verstanden?“

Für einen Augenblick war es absolut still. Nur das Knistern des Feuers war zu hören. „Ich hatte angenommen, Sie seien ein Schmuggler“, sagte sie und schaute ihn mit festem Blick an. „Jetzt weiß ich, dass Sie höchstwahrscheinlich ein gewöhnlicher Dieb sind. Was Sie mir vorschlagen, ist lachhaft. Außerdem ist die Bibliothek grundsätzlich abgeschlossen.“

„Wo ein Schloss ist, da gibt es einen Schlüssel“, meinte er mit undurchdringlicher Miene. „Mit Ihrem Erfindergeist wird es Ihnen gelingen, für mich in den Raum zu gelangen, Mam’selle . Und um sicherzugehen, dass Sie kooperieren, behalte ich den Kompass.“

„Nein!“

„Ich werde ihn behalten.“ Er nickte nachdrücklich. „Ich lasse Sie jetzt gehen. Aber Sie müssen sich genau an das halten, was ich Ihnen gesagt habe, verstanden? Und kein einziges Wort über unsere Begegnung. Zu niemandem.“

Sie sagte leise: „Und wenn ich Ihnen nicht gehorche? Wenn ich auf einem anderen Weg entkomme?“

Wie in Gedanken, drehte und wendete er den Kompass in der Hand, dann sah er sie mit seinen kalten blauen Augen an. „Wenn Sie nicht tun, was ich sage, dann sorge ich dafür, dass eine Beschreibung von Ihnen die Hafenbehörden erreicht. Verstehen Sie, was das bedeutet? An diesem Abschnitt der Küste werden überall Männer nach Ihnen suchen. Und wenn man sie erwischt, werden Sie als Napoleons Spionin ins Gefängnis geworfen. Dort ist es für ein junges Mädchen nicht sehr angenehm. Sicher können Sie sich ungefähr ausmalen, wie es im Gefängnis zugeht, aber die Realität ist noch übler.“

Sie antwortete lange nicht, sondern schien ein Band an ihrem Mantel zu betrachten. Als sie wieder aufschaute, war sie bleich, aber gefasst. „Wissen Sie“, sagte sie, „als ich London verließ, kam mir nicht in den Sinn, dass ich in so einer rückständigen Gegend Aufsehen erregen könnte. Was für eine interessante Abwechslung ich doch für Sie und Ihre Freunde darstellen muss …“

Mit einem leisen Aufschrei brach sie ab, als er zwei Schritte auf sie zu kam und mit der linken Hand ihr Gesicht seinem entgegen hob.

Oh Gott, dachte Ellie verzweifelt. Seine Kleider waren sogar für einen Schmuggler schäbig. Seine dunklen Haare waren sicher seit Wochen nicht geschnitten worden und sahen aus, als kämmte er sie nur mit den Fingern. Seit mindestens zwei Tagen hatte er sich nicht rasiert. Und doch empfand sie etwas für ihn, als er ihr sehr sanft mit den Fingerknöcheln über die Wange strich. Wie konnte er es wagen! Es löste einen unglaublichen Sturm an Gefühlen in ihr aus. Sehnsucht. Wonach? Nach ihm? Unmöglich. Oder?

Er beugte sich näher zu ihr. „Sie verhalten sich nicht besonders klug, Mademoiselle Duchamp“, raunte er, „wenn Sie mich so behandeln.“ Er schien sie mit dem Blick aus seinen blauen Augen zu durchbohren, aber seine Stimme klang fast zärtlich, und das ließ sie ebenso sehr erbeben wie die Berührung seiner Finger.

Er legte ihr den anderen Arm um die Taille und zog sie näher an sich – oder war sie es, die seiner verführerischen Kraft und Wärme nachgab? Würde er sie küssen? Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an, und in ihrem Unterleib spürte sie ein merkwürdiges Ziehen. Er lächelte ein wenig. Ein wissendes Lächeln …

Er strich ihr mit dem Daumen sanft über die Lippen. Ein wohliger Schauer rann ihr über den Rücken. Dann ließ er die Hand sinken.

„Sind Sie hinter Lord Franklin her?“, fragte er.

„Was?“

„Gehörte es zu Ihrem Plan, ihn zu verführen? Seine Mätresse zu werden?“

Ihre Wangen brannten. „Nein. So etwas hatte ich nie vor. Niemals.“

„Aber das ist es, was die Leute sich erzählen.“

„Ist er nicht etwas alt für mich, was denken Sie?“

„Wie Sie meinen. Den meisten Frauen ist das Alter eines Mannes nicht so wichtig, wenn es einen Titel und viel Geld dazu gibt. Und ich denke mal, dass Sie Ihre Weiblichkeit ebenso gut einzusetzen wissen wie Ihre Pistole.“ Er beugte sich noch ein wenig weiter zu ihr und lächelte sie mit schmalen Lippen an. „Aber ich warne Sie, Mam’selle . Versuchen Sie keinen Ihrer Tricks bei mir.“

Reglos stand sie da und starrte ihn wortlos an, nur ihr Herz schlug laut und unregelmäßig.

Er nahm seinen Mantel von der Stuhllehne und warf ihn sich um. Dann ging er zu ihrem Koffer und packte die Instrumente und Karten ihres Vaters wieder ein. „Hier bitte“, sagte er und übergab ihn ihr. „Sie sollten besser zurück sein, bevor man Bircham Hall für die Nacht abschließt. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, erwarte ich Informationen von Ihnen. Sie wissen hoffentlich noch, was ich will?“

„Alles über La Rochelle.“

„Welches Datum?“

„September 1813“, sagte sie ausdruckslos.

Er nickte. „Gut.“

Der Kompass lag noch auf dem Tisch.

„Der Kompass“, sagte sie.

„Oh nein. Der bleibt hier.“

Er ging zur Tür, öffnete sie und rief nach draußen: „Tom? Sag Josh, er soll zwei Pferde satteln, eins für sich und eins für Mam’selle .“

„Ich soll reiten?“

„Ja. Sie sind den ganzen Weg von Bircham Hall hierher zu Fuß gegangen und sind sicher müde. Es ist besser, wenn Sie zurück reiten. Sie können doch reiten?“

„Selbstverständlich!“

„Dann sehen Sie bestimmt ein, dass es so am besten ist, damit Sie pünktlich zurück sind.“

Er erweckt den Eindruck, als wäre er gelangweilt, dachte sie ungläubig. Nachdem er sie so gequält und beleidigt hatte, war er gelangweilt von ihr? Sie hielt ihren Koffer fest umklammert, als sie ihm nach draußen folgte. Wenn nur sein Rücken nicht so breit und seine Schultern nicht so kräftig aussähen … Einige französische Flüche kamen ihr leise über die Lippen. Unhörbar für ihn, wie sie glaubte, bis er sich umdrehte und rief: „Ich kann Sie hören. Mein Französisch ist nicht perfekt, aber es reicht, um zu verstehen, was Sie sagen.“

Er ging voran bis zum Pferdestall.

Dort waren bereits zwei Pferde für sie gesattelt worden. Eins davon war für den großen Josh Watterson, das Kleinere für das Mädchen. Luke schaute zu, als Ellie ohne Joshs Hilfe auf das Pferd stieg und sich geschickt in den Damensattel setzte. Dann nahm sie die Zügel und war fast schon aus dem Hof hinausgeritten, bevor sich Josh murrend auf sein Reittier geschwungen hatte.

Luke war amüsiert, aber Tom, der inzwischen ebenfalls in den Stall gekommen war und neben ihm stand, verschränkte die Arme vor der Brust und sah wenig erfreut aus. „Die macht uns noch Ärger, die Kleine“, sagte Tom. „Ich hoffe bloß, Captain, dass Sie sich von einem hübschen französischen Lärvchen nicht den Kopf verdrehen lassen …“

Luke unterbrach ihn. „Findest du sie denn wirklich hübsch, Tom? Ich nicht.“

Tom hüstelte und murmelte dann etwas Unverständliches, bevor er wieder im Haus verschwand. Luke ging über den Hof, dann blieb er stehen und betrachtete das Haus. Der Mond sah aus, als segelte er zwischen den Wolken, und die Schornsteine und Türme des alten Gebäudes hoben sich in dem silbrigen Licht schwarz vom Himmel ab. Er hörte das Rauschen der Wellen, die unten an den Kieselstrand schlugen, und irgendwo kreischte ein Nachtvogel.

So vieles ging ihm durch den Kopf. Und jetzt auch noch das Mädchen. Luke hielt den Kompass fest in der Hand. Ihr hatte der Atem gestockt, als er ihre Wange streichelte. Ihre Lippen waren einladend leicht geöffnet gewesen, obwohl es ihr vielleicht selbst nicht bewusst gewesen war. Und als er seinen Kopf dem ihren genähert hatte, hatte er einen Ausdruck von Unsicherheit in ihren wundervollen grünen Augen entdeckt. Und von Verlangen …?

Er fand sie nicht hübsch. Er fand sie schön. Umwerfend schön. Doch er musste sie für seine Zwecke benutzen, es blieb ihm keine andere Wahl. Viel zu lange hatte er auf eine Gelegenheit wie diese gewartet, um die Wahrheit über das Verschwinden seines Bruders herauszufinden.

Schweigend ritt Ellie hinter Josh Watterson her bis nach Bircham Hall. Er kannte offensichtlich jeden Stein, jeden Pfad und jeden Seitenweg, selbst in der Dunkelheit. Er wusste, wie man den Höfen und Landhäusern auswich und wie man lautlos auf der Straße ritt. Nach höchstens einer Meile kamen sie zu der Grenzmauer, über die sie früher am Abend geklettert war. Das schien schon eine Ewigkeit her zu sein.

Er band die Pferde an Bäumen außerhalb der Mauer fest. Nach einem gründlichen Blick in den Garten bot er ihr seine Hilfe beim Überklettern an. „Alles sieht ruhig aus, Madam.“

„Die Hunde“, erinnerte sie ihn mit scharfer Stimme. „Manchmal werden die Hunde nach Einbruch der Dunkelheit losgelassen.“

Er schüttelte den Kopf. „Vor Mitternacht nicht. Sie sind sicher.“

Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. Woher wusste er das alles? Aber sie ließ sich von ihm über die Mauer helfen. Dann begleitete er sie zielstrebig durch den Garten bis zur hinteren Seite des Hauses, bis sie an eine Tür kamen, die Ellie schon früher aufgefallen war.

„Die ist bestimmt abgeschlossen …“, meinte sie.

Aber Josh drückte bereits die Klinke hinunter. Er öffnete die Tür und hielt sie auf. „Rein mit Ihnen, Madam. Ganz leise.“

Sie gehorchte, aber plötzlich zuckte sie zusammen, als sie einen von Lord Franklins Dienern im Dunkeln hinter der Tür stehen sah.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Joseph . So hieß er. Joseph. Einer der jüngeren Diener, höflich und zuvorkommend. Bestimmt würde er gleich Alarm schlagen, sobald er ihren Begleiter sah.

Doch er sagte nur respektvoll: „Sie haben einen Abendspaziergang im Garten gemacht, Madam? Leider ist es zu dieser Jahreszeit hier sehr frisch.“ Er wechselte ein paar Worte mit Josh, dann kam er zurück. „Nun muss ich noch die Tür abschließen, und dann werde ich Sie nach oben bringen, wenn es Ihnen recht ist.“

Zutiefst verwundert folgte sie ihm.

Joseph begleitete sie bis an ihre Zimmertür. Sie ging hinein und setzte sich auf das Bett. Jesus . Der Diener kannte Luke. Er wurde von ihm bezahlt.

10. KAPITEL

E llie war enttäuscht. Ihr Fluchtversuch war völlig misslungen, und jetzt hatte sie größere Probleme als vorher.

Dieser Mann. Der Captain. Warum wollte er, dass sie nach Dokumenten in Lord Franklins Bibliothek suchte? Ob Lord Franklin wohl belastende Unterlagen über ihn in seinem Besitz hatte? Bewahrte er vielleicht in seiner Bibliothek irgendwelche Beweise auf, die der Captain vernichten wollte?

Doch er hatte speziell La Rochelle erwähnt. Das war eine Hafenstadt im Südwesten von Frankreich. Was hatte das zu bedeuten?

Captain Luke . Er dirigierte seine Bande von Halsabschneidern mit einem bloßen Blick. Obwohl seine rechte Hand verstümmelt war, würde niemand, der bei klarem Verstand war, seine Autorität bezweifeln.

Für Ellie stellte er eine Bedrohung dar, weil sie so töricht gewesen war, ihn herauszufordern. Schlimmer noch war für sie das Gefühl gewesen, das in ihr aufgestiegen war, als er seinen Arm um sie gelegt und ihr Gesicht berührt hatte. Sie hatte den erstaunlichen Wunsch gehabt, seinen Mund zu spüren … auf ihrer Haut, auf ihren Lippen …

Jetzt, da sie allein in ihrem Zimmer in Bircham Hall saß, legte sie die Hände auf ihre Wangen, und ihr Magen drehte sich fast um vor Scham. Niemals hätte sie gedacht, dass ein Mann so eine Wirkung auf sie haben könnte. Wenn der Captain es merkte, würde sie in noch größere Schwierigkeiten geraten, als sie ohnehin schon hatte.

Langsam entkleidete sie sich und zog das Nachthemd an. Sie legte sich in das große Bett und zitterte bei der Erinnerung an den eiskalten Blick, mit dem er den Kompass betrachtet hatte. Verschiedene aus der Verzweiflung geborene Ideen schwirrten ihr durch den Kopf. Sollte sie vielleicht mit Lord Franklin über die Sache sprechen? Sie könnte gleich morgen nach London fahren und es ihm erzählen. Sein aristokratisches Gesicht würde sich ungläubig verdunkeln, wenn sie sagte: „Mylord, mein Vater arbeitete für Kaiser Napoleon. Er zeichnete Karten für ihn und half ihm dabei, Straßen zu planen und zu bauen, damit seine Armee von Paris aus die ganze Welt erobern konnte …“ Nein, das war kein guter Plan.

Ruhelos stieg Ellie wieder aus dem Bett und trat ans Fenster. Sie zog die Vorhänge zurück und schaute hinaus. Der Nachthimmel war wolkenlos und sie sah die Sterne funkeln. Es erinnerte sie an die Astronomie-Bücher ihres Vaters und die Sternkarten, die er so gern gezeichnet hatte. Wie oft hatte er nachts sein Skizzenbuch genommen und war vor die Tore von Paris bis ins offene Feld gleich hinter der Stadt gewandert. Als Ellie sieben Jahre alt gewesen war, hattte sie zum ersten Mal mit ihm gehen dürfen, und ab dann immer wieder, besonders im Winter, wenn es früh dunkel wurde.

Ihre Mutter begleitete sie nie auf diesen Ausflügen. Es zeigten sich bei ihr bereits die ersten Anzeichen der Krankheit, die sie eines Tages dahinraffen würde. Sie magerte ab, war ständig blass und hustete. Aber damals war Ellie der Ernst der Lage nicht bewusst gewesen. Die Erinnerung an die Winterabende mit ihrem Vater vor den Mauern der Stadt war heute noch kostbar für sie.

Im späten Frühjahr des Jahres 1813 starb Ellies Mutter. Napoleon ließ seine zerlumpten und hungrigen Truppen gegen die vereinigten Heere von Großbritannien und Österreich, Preußen und Russland marschieren. Kaum einen Monat nach dem Begräbnis ihrer Mutter kam ihr Vater von der Arbeit heim und sagte, dass sie fliehen müssten.

„Ich kann nicht länger für den Kaiser arbeiten“, sagte er. „Er schickt Tausende von Männern in den Tod. Auf den Straßen, die ich ihm zu bauen half. Nur wegen deiner Mutter bin ich bisher hiergeblieben. Ich habe beschlossen, dass ich dem Kaiser nicht mehr helfen werde bei seinen Plänen, die ganze Welt mit seinen Armeen zu zerstören.“

Natürlich hatte Ellie schon vorher gewusst, dass man ein Feind des Kaisers war, wenn man nicht auf seiner Seite stand. So begann ihre lange Reise, ihre Flucht, die sie am Ende bis nach Brüssel führte, wo sie sich in Sicherheit glaubten. Doch auch dort war Ellie voller Sorge. Nicht nur wegen des sich stetig verschlechternden Gesundheitszustandes ihres Vaters, sondern auch, weil sie davon überzeugt war, dass sie immer noch verfolgt wurden.

Stets fühlte sie sich beobachtet, selbst wenn sie nur auf dem Markt Lebensmittel einkaufte. Napoleons Spione, dachte sie. Napoleons Leute haben uns gefunden. Wir sind auch hier nicht sicher .

Immer wieder sah sie denselben Mann. Er hatte merkwürdig helle Augen und sehr helle Haare. Manchmal sah sie ihn auf der Straße entlanggehen, manchmal stand er vor dem Weinausschank auf der gegenüberliegenden Straßenseite, doch niemals näherte er sich ihr. Sie konnte auch nicht mit Gewissheit sagen, ob er sie wirklich beobachtete. Manchmal hatte sie befürchtet, sich alles nur einzubilden und gar nicht verfolgt zu werden.

Schaudernd kehrte sie mit den Gedanken in die Gegenwart und ihrem misslungenen Fluchtversuch zurück. In Bezug auf Captain Luke bildete sie sich nichts ein. Er war wirklich ihr bisher schwierigster Gegner.

Als sie und ihr Vater auf ihrer letzten verzweifelten Reise Frankreich verlassen hatten, war sie Männern begegnet, die in ihr eine leichte Beute sahen. Gastwirte, Kutscher und andere Reisende – alle waren ihre Feinde. Nach einiger Zeit hatte sie gelernt, im richtigen Moment die kleine Pistole zu zeigen, die zu benutzen ihr Vater sie gelehrt hatte. So gelang es ihr, mit unliebsamen Zeitgenossen umzugehen und diese in ihre Schranken zu weisen.

Doch der Captain war ein wirklich ernst zu nehmender und gefährlicher Gegner. Sie rollte sich im Sessel vor dem Fenster zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Trotz seiner abgenutzten Kleider hatte er die Stimme eines englischen Gentlemans und bei deren rauchigem Klang bekam sie Gänsehaut und ein warmes Gefühl im Bauch. Und erst sein Gesicht … und der verführerische Mund …

Sie hatte sich gewünscht, dass er sie küsste, und er wusste es. Bei seiner Berührung geriet ihr Blut in Wallung, bis ihr Körper sich anfühlte, als stünde er in Flammen. Wie ihn das belustigen würde – wie er sie für ihre Schwäche verachten würde! Sie hatte das Gefühl, dass Verzweiflung sie wie ein kalter Umhang umhüllte.

Was für eine Närrin sie war. Nicht nur vor einem neuen Feind musste sie sich schützen, sondern auch vor ihren eigenen verräterischen Emotionen. Er hatte sie in der Hand, und das ließ sie fast verzweifeln.

Luke saß im Speisezimmer. In der linken Hand hielt er den Kompass und drehte ihn gedankenverloren hin und her, während das Kaminfeuer langsam erlosch. Doch er war sofort auf den Beinen, als er Josh Watterson ins Haus kommen hörte. Schnell ging er zu ihm. „Hast du das Mädchen sicher bis ins Haus gebracht?“

„Jawohl, Captain.“

„Seid ihr irgendjemandem begegnet?“

Josh griff in seine Tasche. „Im Haus habe ich Joseph getroffen. Ein schlauer Bursche, dieser Junge. Er hatte ihre Abwesenheit bemerkt und erwartet, dass wir sie zurückbringen würden. Darum hat er nach uns Ausschau gehalten. Und auf dem Rückweg habe ich Davey Patchett getroffen.“

Luke nickte. Patchett war ein ortsansässiger Fischer und Schmuggler, der oft nachts nach Frankreich segelte und mit illegalen Spirituosen zurückkehrte.

„Er kam mit dem Boot heute Abend zurück aus Calais“, berichtete Josh, während Tom sich zu den beiden Männern gesellte. „Er wollte gerade hierherkommen, weil dort im Hafen jemand ihm eine Nachricht für Sie mitgab. Ich habe den Brief mitgenommen.“

Davey überbrachte manchmal Botschaften von Jacques an Luke, das war nichts Ungewöhnliches, aber heute verspürte Luke plötzlich eine gewisse Kälte in der Brust. Wie eine Vorahnung. Er streckte die Hand aus und nahm den versiegelten und mit Salzwasser befleckten Brief entgegen. Sein Herz schlug heftig, als er den Umschlag aufriss und Jacques’ vertraute Handschrift erkannte.

Mein Freund,

ich habe jetzt die Gewissheit, dass Ihr Bruder nach dem Verrat von La Rochelle ein paar Wochen lang auf der Flucht war. Dann wurde er von Napoleons Männern gefangen genommen, und danach verliert sich jede Spur. Aber wir sind jemandem begegnet, der Ihren Bruder gut kannte.

Ich hoffe, Sie bald persönlich wiederzusehen.

Luke las den Brief noch einmal, als könnte er damit den Inhalt verändern. Anthony gefangen? Dann gab es wenig Anlass zur Hoffnung. Luke wusste, unter welch grauenvollen Bedingungen Engländer unter Spionageverdacht in Frankreich eingekerkert wurden.

„Schlechte Neuigkeiten, Captain?“, erkundigte sich Josh zögernd. Tom schwieg.

„Ich weiß es nicht“, sagte Luke. „Jacques schreibt, dass mein Bruder in Gefangenschaft geraten ist.“

„Also könnte er noch irgendwo am Leben sein.“

Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, schwor sich Luke. Ich werde nie die Hoffnung aufgeben.

Josh und Tom gingen leise weg. Sie wussten, dass Luke jetzt Zeit zum Nachdenken brauchte.

Er kehrte zurück in den Speiseraum, um noch etwas zu trinken. Elise . Elise Duchamp. Er nahm einen Schluck Brandy. Sie war nur eine weitere Waffe in seiner Hand, das war alles. Es war ihm völlig gleichgültig, ob ihr Vater ein Anhänger Napoleons gewesen war. Während seiner Zeit in der Army hatte er auf beiden Seiten zahllose Männer auf grauenhafte Weise sterben sehen. Und wofür? Er verzog zynisch den Mund. War der Unterschied wirklich so groß zwischen Napoleons Ehrgeiz und Englands rücksichtslosem Streben nach absoluter Kontrolle der Seewege?

Ihn interessierte nur Gerechtigkeit für seinen Bruder. Das war genau der Grund, warum das Mädchen keine Bedeutung für ihn haben durfte. Sie täuschte Lord Franklin und würde auch ihn täuschen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam.

Er würde sich ihrer bedienen, mehr nicht. Er musste sich verschließen vor ihrer Tapferkeit, die ihn irgendwie berührt hatte. Solche Gefühle konnte er sich nicht leisten.

11. KAPITEL

E s war jetzt Ende Januar. Im Verlauf der nächsten Tage konnte Ellie von ihrem Fenster aus beobachten, wie der strenge Frost Bircham Hall in seinen Griff zwang. Die Rasenflächen und säuberlich gestutzten Hecken wurden von Raureif bedeckt. Die Sonne schien kaum höher zu steigen als über die kahlen Baumwipfel jenseits des Gartens. Große Schwärme von Gänsen flogen abends zur Marsch, während die Sonne feuerrot unterging.

Ellie nahm immer noch an den gemeinsamen Mahlzeiten mit Lady Charlotte und Miss Pringle teil. Stets riss Lady Charlotte die Unterhaltung an sich. Miss Pringle aß immer so schnell wie möglich auf und nickte zu den empörenden Ansichten Ihrer Ladyschaft, während Ellie so wenig wie möglich sprach.

Jeden Nachmittag ging Ellie im Garten spazieren, obwohl die bittere Kälte ihr trotz der Handschuhe in die Finger biss. Sie dachte über den Captain nach. Luke. Was war seine Geschichte? Er hatte ihr selbst erzählt, dass er in der Army gewesen war, und sie vermutete, dass seine Hand in Spanien im Kampf verletzt wurde. Aber warum dieses Interesse an dem französischen Hafen La Rochelle, der doch weit entfernt war von den üblichen Kriegsschauplätzen?

Immer wieder kehrte sie in Gedanken zu ihrer letzten Begegnung zurück. Er hat mich zu seiner Spionin gemacht, dachte sie bitter, das ist alles. In dem Moment, als er sie berührt hatte, hätte sie seine Hand wegschlagen sollen. Aber sie hatte es nicht getan. Die Erinnerung an diese Berührung brannte noch in ihr. Wie dumm sie war. Quelle idiote .

Allmählich hatte sie sich an die Routine in diesem Haus gewöhnt. Alles wurde von Mrs. Sheerham strikt kontrolliert. Die Diener begannen ihre Arbeit jeden Morgen sehr früh. Um sieben Uhr kam die Zofe Mary in Ellies Zimmer, um Feuer zu machen. Mary machte immer ein fröhliches Gesicht, obwohl ihre Hände rot und aufgesprungen waren.

Autor

Lucy Ashford
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Amy Andrews
<p>Amy war ein Kind, das immer eine Geschichte im Kopf hat. Ihr Lieblingsfach war English und sie liebte es Geschichten zu schreiben. Sollte sie einen Aufsatz mit nur 100 Worten schreiben – schrieb Amy 1.000 Worte. Anstatt nur eine Seite bei dem Thema „ Beschreibt auf einer Seite eure Sommerferien“...
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Louisa Heaton
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Lara Temple
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Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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