Die schönsten Liebesromane der Welt - Best of Julia Extra 2022

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Mit diesem eBundle präsentieren wir Ihnen die schönsten und erfolgreichsten Julia Extra-Romane aus 2022 - leidenschaftlich, aufregend und romantisch. Die kleine Auszeit vom Alltag für die selbstbewusste Frau … Happy End garantiert!

Julia Extra Band 513

EIN PALAZZO FÜR UNSERE LIEBE von JULIA JAMES
Wie Cinderella fühlt die junge Nanny Jenna sich, als ihr faszinierender Boss Evandro Rocceforte sie zu einer Liebesnacht in seinem italienischen Palazzo verführt. Doch traurig muss sie erkennen: Bevor Evandro sich nicht der Vergangenheit stellt, gibt es kein Happy End für sie …

BLOSS EINE KÖNIGLICHE AFFÄRE? von DANI COLLINS
König Luca verlangt von PR-Beraterin Amy, ihn in eine skandalöse Affäre zu verwickeln. Natürlich nur zum Schein, um so dem ungeliebten Thron entsagen zu können! Doch dann verfällt er tatsächlich Amys unwiderstehlichem Sex-Appeal – und riskiert bald viel mehr als nur seinen Ruf …

DAS MODEL UND DER PLAYBOY von CAITLIN CREWS
Molly würde alles tun, um ihre geliebte Mutter vor dem Ruin zu retten. Wirklich alles? Wenn sie das unmoralische Hilfsangebot des attraktiven griechischen Playboys Constantine Skalas annimmt, muss sie ihm Tag und Nacht als seine Geliebte zur Verfügung stehen! Was jetzt?

WAS VERBIRGST DU, MEIN GRIECHISCHER GELIEBTER? von SHARON KENDRICK
Am Strand begegnet Hotelmitarbeiterin Marnie dem charmanten Leon. Vom ersten Moment an lässt der geheimnisvolle Grieche ihr Herz höherschlagen. Doch kaum hat sie sich ihm nach einem romantischen Dinner hingegeben, straft er sie jäh mit Verachtung …


Julia Extra Band 514

IN DEN ARMEN DES SEXY TYCOONS von CATHY WILLIAMS
Nach einer turbulenten Beziehung zieht Izzy sich in ihren kalifornischen Heimatort zurück. Aber wie soll sie zur Ruhe kommen, wenn sie dort Gabriel Ricci trifft? Der Immobilientycoon will ihr nicht nur das Zuhause nehmen, er weckt gegen jede Vernunft auch heißes Verlangen in ihr …

NUR EINE NACHT IN VENEDIG? von CLARE CONNELLY
Bea soll den umwerfend attraktiven Unternehmer Ares Lykaios zu einer Gala in Venedig begleiten? Nichts für eine zurückhaltende Frau wie sie! Doch Ares ist der wichtigste Kunde ihrer PR-Agentur und akzeptiert kein Nein. Als er sie mit erregenden Küssen überrascht, steht ihre Welt Kopf …

VERFÜHRT VON EINEM KÖNIG von KELLY HUNTER
Zwischen König Valentine und Pferdetrainerin Angelique sprühen unwiderstehlich sinnliche Funken. Auch wenn sie weiß, dass sie als Bürgerliche nie mehr als seine Geliebte sein kann, lässt sie sich zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht verführen. Mit ungeahnt süßen Folgen …

SOGAR EIN MILLIARDÄR BRAUCHT LIEBE von DANI COLLINS
Liebe, heiraten, eine Familie gründen kommt für Milliardär Tsai Jun Li nicht infrage. Er genießt sein Junggesellenleben in vollen Zügen. Bis die betörende Ivy ihm nach einem unvergesslich erotischen One-Night-Stand gesteht, dass sie sein Kind unter dem Herzen trägt. Was jetzt?


Julia Extra Band 516

WIE BEZAUBERT MAN EINEN MILLIARDÄR?von RACHAEL STEWART
Hotelmanagerin Sophia versteckt ihr Herz hinter einer dicken Mauer. Liebe, zärtliche Gefühle? Daran glaubt sie nicht. Bis ein mutterloses kleines Mädchen alles ändert! Was Sophia gefährlich verletzlich für den Charme des attraktiven Single Dads, Milliardär Jack McGregor, macht …

KÜSSE UNSERE TRÄNEN FORT! von SOPHIE PEMBROKE
„Komm mit auf mein Schloss.“ In Frankreich will Rugbylegende Ryan Phillips der schönen Gwen beweisen, dass er nicht der Rebell von früher ist, sondern zuverlässig, liebevoll, der perfekte Vater für ihre Tochter. Genau wie Gwens verstorbener Ehemann, sein Bruder …

KLEINES WUNDER – GROSSES GLÜCK von NINA MILNE
Küsse, Kuscheln, Kinderlachen: Zusammen mit ihrem Ex, dem vermögenden Unternehmer Jake Cartwright, muss Isobel sich um das Baby einer Freundin kümmern. Das unerwartete Familienleben weckt in ihr die Sehnsucht nach einem zweiten Glück mit Jake – doch kann sie ihm jemals verzeihen?

NANNY AUF ZEIT, MAMI FÜR IMMER? von SUSAN MEIER
Dominic Manelli braucht eine Nanny für seinen verwaisten Neffen? Audra, die weiß, wieviel Zeit sein Firmenimperium ihn kostet, springt ein. Blitzschnell erobern die beiden ihr weiches Herz – obwohl Audra befürchtet, dass Playboy Dominic sich niemals fest binden wird …


  • Erscheinungstag 26.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521222
  • Seitenanzahl 1920
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia James, Dani Collins, Caitlin Crews, Sharon Kendrick

JULIA EXTRA BAND 513

IMPRESSUM

JULIA EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de
Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA , Band 513 2/2022

© 2021 by Julia James
Originaltitel: „Cinderella in the Boss’s Palazzo“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Susanne Hartmann

© 2021 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Ways to Ruin a Royal Reputation“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Valeska Schorling

© 2021 by Caitlin Crews
Originaltitel: „Her Deal with the Greek Devil“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Jessica Wagener

© 2021 by Sharon Kendrick
Originaltitel: „Secrets of Cinderella’s Awakening“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Susann Rauhaus

Abbildungen: Harlequin Books S.A., Janoka82 / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 2/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783751512053

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Jenna starrte auf den Brief in ihrer Hand. Er war auf exquisites Papier gedruckt und trug die Unterschrift des Assistenten von Signor Evandro Rocceforte, dem Chef von Rocceforte Industriale SpA in Turin. Angespannt las Jenna das Angebot noch einmal durch, das eine merkwürdige Mischung aus Angst und Genugtuung in ihr auslöste.

Dieselben widersprüchlichen Gefühle hatte sie an dem Tag vor acht Jahren gehabt, als sie die feste Zusage auf ihre Bewerbung um einen Studienplatz in neueren Sprachen erhalten hatte. Ihr Abschluss hatte bewiesen, dass Jenna zu Recht an sich glaubte, ebenso wie ihre danach erreichte Lehrberechtigung. Außerdem hatte sie die letzten vier harten Jahre an einer übergroßen, aber gnadenlos unterbesetzten Grundschule in einem sozial benachteiligten Stadtteil Londons überlebt.

Jetzt war Jenna definitiv bereit für eine Abwechslung! Sie hatte noch nie zuvor als Privatlehrerin für ein siebenjähriges Mädchen gearbeitet. Und in einem italienischen Palazzo hatte sie auch noch nie gewohnt!

Langsam spürte Jenna Vorfreude in sich aufsteigen. Sie war nicht extrovertiert oder charismatisch – und sicher keine große Schönheit. Sie wusste und hatte akzeptiert, dass sie eine Person war, die einen Raum betreten konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Aber das würde bei diesem Sommerjob als Privatlehrerin ebenso wenig eine Rolle spielen wie an der Schule, an der sie bisher unterrichtet hatte.

Entschlossen setzte sich Jenna an ihre Tastatur und begann, ihre Zusage zu tippen.

Evandro Rocceforte blickte auf seinen Computerbildschirm, aber er war mit seinen Gedanken nicht bei den Firmenkonten, sondern bei dem jüngsten Gespräch mit seinem Anwalt. Der Jurist war immer noch nicht einverstanden mit der hohen Abfindung, die Evandro seiner Ex-frau zugestanden hatte.

Während des erbitterten, langwierigen Scheidungsverfahrens hatte Berenice mit harten Bandagen gekämpft. Einzig und allein, um ihn zu bestrafen. Nicht nur dafür, dass er es wagte, sich von ihr scheiden zu lassen, sondern auch wegen eines noch größeren Verbrechens.

Dafür, dass er sie durchschaut hatte.

Dafür, dass er den Glamour durchschaut hatte und das glanzvolle Charisma, das sie der Welt zeigte. Ein Charisma, das auch Evandro früher geblendet hatte! Bis er, desillusioniert und verhärtet, nicht zuletzt durch ihre ständigen Seitensprünge, Berenice als die Frau gesehen hatte, die sie wirklich war: selbstsüchtig, manipulativ, narzisstisch.

Eine Frau, die nach dem Motto lebte: ich, ich, ich.

Jeder Mann auf der Welt sollte sie bewundern, auf ihre Launen eingehen, tun, was sie wollte. Früher einmal war er solch ein Mann gewesen – solch ein Idiot.

Aber das war nun vorbei.

Natürlich hatte Berenice alles versucht, um ihn zurückzulocken. Als sie jedoch erkennen musste, dass ihr Charme nicht mehr bei ihm verfing, war sie rasend vor Wut geworden. Und als er schließlich auf die Scheidung gedrängt hatte, war Berenice dazu übergegangen, alle Waffen, die ihr zur Verfügung standen, gegen Evandro einzusetzen.

Einschließlich der stärksten von allen.

Der trostlose Ausdruck in Evandros schiefergrauen Augen wurde härter. Seitdem sie Amelie zur Welt gebracht hatte, hatte Berenice das Kind als Waffe gegen ihn benutzt, und jetzt hatte sie ihn zu einem mörderischen Sorgerechtsstreit mit allen Tricks gezwungen.

Aber Evandro hatte hart zurückgeschlagen, weil dies ein Streit war, den er gewinnen musste. Er musste Amelie vor ihrer toxischen Mutter schützen, die ihre eigene Tochter ebenso wenig lieben konnte wie irgendeinen anderen Menschen, der nicht sie selbst war. Es hatte ihn ein Vermögen gekostet, zusätzlich zur Abfindung, aber Berenice hatte schließlich eingewilligt, ihm Amelie zu überlassen, unter einer weiteren Bedingung …

An diese letzte Bedingung, die Berenice ihm dafür auferlegt hatte, dass er das Sorgerecht für Amelie bekam, wollte er nicht denken. Berenice würde niemals einen Grund finden, ihre Drohung wahr zu machen. Das würde er sicherstellen.

Seit seine Scheidung endlich durch war, hatte er seine schwer erkämpfte Freiheit ausgiebig gefeiert. Seine heiße Affäre im vergangenen Winter mit der kurvenreichen Bianca Ingrani war der Beweis dafür. Bianca – und jede von den anderen Frauen – wäre nur zu gern die nächste Signora Rocceforte geworden. Und warum nicht? Er war seit Kurzem einer der begehrtesten Singles Italiens, megareich, Mitte dreißig und mit einem auffallend guten Aussehen, das schon immer weibliche Blicke auf sich gezogen hatte.

Aber eine Affäre war alles, was Bianca oder irgendeine andere Frau jemals von Evandro bekommen würde.

Der Einwand seines Anwalts gegen den letzten Preis, den Berenice ihm abgerungen hatte, hallte wieder in seinem Kopf, doch Evandro verdrängte das Problem. Es würde niemals eine Rolle spielen, er würde es nicht zulassen.

Mit Bianca hatte er nur Feiern, Ablenkung und sinnlichen Genuss gesucht. Evandro atmete tief ein. Im Brennpunkt seines Lebens stand jetzt etwas anderes. Etwas viel Wichtigeres. Jemand viel Wichtigeres.

Amelie. Das Kind, für das er so unermüdlich gekämpft hatte.

Seine Stimmung verdüsterte sich wieder. Was verstand er eigentlich davon, Vater zu sein? Berenice hatte Amelie bei sich im Ausland behalten und seinen Kontakt mit seiner Tochter auf ein Minimum beschränkt, bis sie schließlich das Sorgerecht abgetreten hatte.

Er würde bei Amelie sein Bestes tun, wie fremd auch immer er ihr war. Seine Tochter war heil in Italien angekommen und in dem ruhigen Palazzo untergebracht, der von jetzt an ihr Zuhause war. Ihre Zukunft sah gut aus.

Nur das zählte.

„Mach die Rechenaufgaben fertig, und dann wird es Zeit fürs Mittagessen“, sagte Jenna freundlich, aber bestimmt zu ihrer Schülerin.

Im Unterricht sprach sie Englisch, wie sie bei ihrer Einstellung gebeten worden war, aber sonst redete sie entweder Französisch oder Italienisch. Ihr Schützling war dreisprachig aufgewachsen, und Jenna wusste, dass sie diesen Job nur bekommen hatte, weil sie selbst alle drei Sprachen perfekt beherrschte – und außerdem Erfahrung als Grundschullehrerin hatte.

Nicht, dass ihre Schülerin versessen auf den Unterricht war. Amelie dazu zu bringen, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, war eine Herausforderung. Aber das war keine Überraschung.

Erst vor Kurzem war das Mädchen nach Italien gebracht worden, um bei ihrem frisch geschiedenen Vater zu leben, den sie bis jetzt sehr selten gesehen hatte. Und davor war das arme Ding von seiner Schickeria-Mutter sein ganzes Leben lang quer durch Europa und Amerika geschleppt worden. Sie hatten in Luxushotelsuiten gewohnt oder vorübergehend als Gäste in Villen und Ferienhäusern von Beverly Hills bis zu den Hamptons und Südfrankreich, ständig unterwegs. Amelie hatte nie Stabilität oder ein traditionelles Familienleben kennengelernt.

Jenna hatte gehört, dass das kleine Mädchen bestenfalls wie eine elegant gekleidete Puppe behandelt wurde, mit der ihre Mutter vor gurrenden Bekannten angab. Wenn Amelie nicht nützlich war, wurde sie einer endlosen Reihe von Kindermädchen und Hausmädchen übergeben, oft für Tage oder sogar Wochen, während sich ihre Mutter woandershin davonmachte. Unvermeidlich hatte Amelies Bildung gelitten, und Jenna hatte den Auftrag, sie darauf vorzubereiten, im Herbst eingeschult zu werden.

Jenna sah zu den Schiebefenstern des großen Raums, der als Klassenzimmer bestimmt worden war, und blickte hinaus über die Gartenanlage, üppig grün in der Frühsommersonne. Es musste doch wohl helfen, dass das kleine Mädchen hier in diesem schönen Palazzo endlich ein stabiles Familienleben haben konnte.

Bei ihrer Ankunft vor drei Wochen war Jenna sofort von dem prachtvollen Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert bezaubert gewesen. Gebaut als Landsitz für eine inzwischen erloschene Adelsfamilie, war der Palazzo traumhaft schön.

Was für ein unglaubliches Glück ich hatte, diesen Job zu bekommen! dachte Jenna dankbar. Und weil ihr Vertrag nur bis zum Herbst galt, würde sie jede Minute hier auskosten.

Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Schülerin zurück, deren blonder Kopf jetzt über ihre Arbeit gebeugt war. Jenna fragte sich, wem die Kleine nachschlug. Sie hatte ein Foto von Amelies Mutter gesehen, das auf dem Toilettentisch des Mädchens stand. Sie sah so glamourös aus, wie es eine High-Society-Frau tun sollte, die etwas auf sich hielt, aber abgesehen von der Gesichtsform und ihren braunen Augen gab es wenig Ähnlichkeit. Amelies Mutter war dunkelhaarig. Hatte das Mädchen das blonde Haar von ihrem Vater?

Nach dem, was Jenna von der Haushälterin Signora Farrafacci, einer Engländerin, die einen Italiener geheiratet hatte, erfahren hatte, stammte Amelies reicher Vater aus einer angesehenen norditalienischen Familie.

„Wird Amelies Vater auch hier wohnen?“, hatte Jenna gefragt, weil seit ihrer Ankunft noch nichts von ihm zu sehen gewesen war. Sie hoffte, dass Amelie nicht einfach von einem abwesenden Elternteil zum anderen geschoben worden war.

Jenna wusste aus Erfahrung, dass Kinder von geschiedenen Eltern nur allzu oft die Leidtragenden waren. Mit am schlimmsten war das Gefühl, keinem wichtig zu sein und den Eltern nur noch zur Last zu fallen Unsichtbar gemacht zu werden.

So, wie es mir passierte …

Sie wollte nicht, dass das Amelies Schicksal war.

„Signor Rocceforte kommt gern zu Besuch, wann immer er kann, aber er hat viel zu tun. Er ist einer der größten Industriellen Italiens!“, hatte die Haushälterin stolz erwidert. „Deshalb ist seine Ankunft nie vorhersehbar. Ich halte alles in gutem Zustand, und es wäre klug von Ihnen, zu berücksichtigen, dass er jederzeit ankommen kann. Er ist ein guter Arbeitgeber, aber er hat keine Geduld mit nachlässigen Leuten. Er wird sehen wollen, was für Fortschritte die kleine Signorina macht.“

Als sie jetzt Amelies Arbeit prüfte, hoffte Jenna, dass ihr Arbeitgeber einsehen würde, dass Mathematik einfach nicht das beste Fach seiner Tochter war …

„Je mehr Rechenaufgaben du löst, desto leichter werden sie“, ermutigte Jenna sie.

„Aber ich habe keine Lust dazu!“, erwiderte Amelie gereizt. „ Maman tut niemals irgendetwas, wozu sie keine Lust hat. Sie wird wütend, wenn jemand sie zwingen will. Sie wirft mit Gegenständen! Sie hat mit einem Schuh nach einem Hausmädchen geworfen, weil es ihr den falschen Schal gebracht hatte. Der Absatz war spitz, und die Wange des Hausmädchens hat geblutet. Es ist hinausgerannt, und das hat maman noch wütender gemacht, und sie hat geschrien, dass das Hausmädchen zurückkommen soll. Dann hat sie mich aus ihrem Schlafzimmer geschickt. Sie hat gesagt, ich mache alles noch schlimmer …“

Amelie wurde immer leiser, bis sie verstummte. Sie sah tief unglücklich aus. Mitleid und schmerzende Erinnerungen schnürten Jenna das Herz zu. Erinnerungen an die Ehefrau ihres Vaters, die sie anfuhr, sie solle nicht stören, sie solle aufhören, zu nerven …

„Meinen Sie, mein papà wird auch so schnell wütend auf mich?“, fragte Amelie ängstlich.

„Ganz bestimmt nicht“, sagte Jenna und hoffte, dass es stimmte.

Nach einer reizbaren und launenhaften Mutter war ein Vater, der sie kritisierte, das Letzte, was Amelie gebrauchen konnte.

Jenna legte Amelies Schularbeiten beiseite, und sie gingen gemeinsam nach unten, um zu Mittag zu essen. Wie immer, wenn schönes Wetter war, aßen sie draußen auf der breiten Terrasse. Jenna sah das kleine Mädchen, das sich einen appetitlichen Geflügelsalat schmecken ließ, mit wachsender Zuneigung an.

Sie erkannte so viel von sich selbst in dem Kind. Aus der gewohnten Umgebung herausgerissen, ängstlich und unsicher. Von niemandem erwünscht. Zu einer einsamen Kindheit verdammt. Jenna wollte das für Amelie nicht.

Aber das lag an dem noch immer abwesenden Vater des Mädchens.

Würde er bald nach Hause kommen?

Keiner schien es zu wissen.

Evandro konnte es kaum erwarten, zu landen. Sein überfüllter Terminplan hatte ihn durch ganz Europa geführt. Er hatte verschiedene Millionenprojekte überprüft und über neue mögliche Bauvorhaben verhandelt.

Er hatte eine Geschäftsreise von drei Monaten in drei Wochen gestopft, um seinen Terminkalender freizuräumen und sich in die Lage zu versetzen, zum Palazzo zu fahren. Um das kleine Mädchen zu sehen, das er endlich seiner lieblosen Mutter entzogen hatte. Um ihm ein besseres Leben zu bieten.

Er würde eine gute Beziehung zu Amelie aufbauen, selbst wenn er es von Grund auf lernen musste. Er würde sie vor der dunklen Seite ihrer Mutter beschützen, sie immer beschützen, was auch immer es erforderte.

Plötzlich fiel ihm wieder die Warnung seines Anwalts ein.

„Sind Ihnen die Auswirkungen klar, die die letzte Bedingung Ihrer Ex-Frau haben wird?“, hatte er gefragt.

Evandro hatte ihm in die Augen geblickt. „Sie werden keine Rolle spielen“, hatte er kurz angebunden erwidert. Dann hatte er den Mund verzogen und hinzugefügt: „Nicht, nachdem ich endlich einer zehnjährigen höllischen Ehe entkommen bin. Nein, an erster Stelle steht jetzt Amelie.“

Das Flugzeug setzte auf, und Minuten später war er auf dem Weg zu seinem Büro. Er hatte noch ein paar unbedingt notwendige Debriefings hinter sich zu bringen, bevor er zu seinem Apartment fahren und für den Palazzo packen konnte. Dann würde er die Autostrada nach Süden nehmen.

Zu Amelie.

Jenna blickte hoch zum Himmel, der vom Regen früher an diesem Tag noch bewölkt war. Es dämmerte schon, aber dies war heute ihre erste Gelegenheit, an die frische Luft zu kommen, und sie wollte sie nicht auslassen. Amelie hatte sich entschieden, drinnen zu bleiben. Sie spielte Karten mit der Haushälterin und den beiden Hausmädchen Maria und Loretta.

Ihr Spaziergang führte Jenna den Waldweg entlang, der am oberen Ende der Privatstraße zum Palazzo herauskam, die sich von der öffentlichen Landstraße einen Kilometer bergauf schlängelte. Weiter unten würde ihr ein anderer Weg erlauben, wieder nach oben zum großen Vordereingang des Palazzo zu laufen.

Auf der Strecke nach unten machte die schmale Straße einen Knick um eine Felsnase, und Jenna sah erschrocken, dass es einen Steinschlag gegeben hatte. Schweres Geröll und große Felsbrocken lagen auf der Straße. Jenna vermutete, dass sich durch den starken Regen die Erde am Hang gelöst hatte.

Sie erkannte, dass der Steinschlag gefährlich war. Jeder Fahrer, der sich von der öffentlichen Landstraße näherte, würde ihn erst sehen, wenn er um die Felsnase bog. Dann konnte er nur noch voll dagegenprallen oder zur anderen Seite ausweichen, wo es steil nach unten ins Tal ging.

Plötzlich hörte Jenna ein Auto, das von der Landstraße abbog, mit einem dumpfen Grollen beschleunigte und bergauf donnerte. Es würde im Nu die Felsnase erreichen und die Felsbrocken treffen.

Jenna rannte vorwärts, kletterte über die großen Steine hinweg und umrundete die Felsnase. Es wurde schnell dunkel, und der Fahrer hatte die Scheinwerfer an. Schon erfassten sie Jenna, die wagemutig auf die Straße lief und warnend mit ihren Armen winkte. Eine Sekunde lang hatte sie Todesangst, dann kam das Auto – irgendein flaches Monster von einem Luxusauto – quietschend zum Stehen.

Der Motor ging aus, aber Jenna konnte sich vor Angst nicht rühren. Dann stieg jemand aus und knallte wütend die Fahrertür zu.

Ebenso wütend schrie er Jenna auf Italienisch an. „Idiotin! Was zum Teufel fällt Ihnen ein, mitten auf die Straße zu laufen? Ich hätte Sie totfahren können!“

Er ragte über ihr auf, das grelle Scheinwerferlicht ließ sein markantes Gesicht hervortreten. Sein anthrazitfarbener Anzug umhüllte breite Schultern und lange Beine, der erstklassige Schnitt zusammen mit der grauen Seidenkrawatte und der goldenen Krawattennadel verriet ihr genauso klar wie das teure Auto, dass dieser zornige Mann nur einer sein konnte: Evandro Rocceforte.

2. KAPITEL

Jenna verlor den Mut. Dann fing sie sich wieder und hob das Kinn.

„Mi dispiace!“ Sie klang atemlos und zittrig, aber sie machte weiter. „Ich musste Sie aufhalten!“ Dann kehrte sie instinktiv zur englischen Sprache zurück. „Gleich um die Felsnase hat es einen Steinschlag gegeben.“

Ihr Arbeitgeber runzelte die Stirn. Ohne ein Wort ging er an ihr vorbei, um sich selbst davon zu überzeugen.

Als er zurückkam, war seine Miene nicht mehr wütend, blieb jedoch düster.

Jennas erster überwältigender Eindruck, dass er ein Mann mit einer ungeheuer starken Ausstrahlung war, hatte sich kein bisschen abgeschwächt. Wie groß er war! Und wie kräftig er wirkte!

„So ein Mist“, sagte er ärgerlich. Er ging zu seinem Auto, um die Scheinwerfer auszuschalten, dann holte er sein Telefon heraus und sprach so schnell auf Italienisch hinein, dass Jenna nicht folgen konnte. Er legte auf, steckte das Telefon zurück in die Innentasche seines Jacketts und sah wieder zu ihr hinüber. „Wer sind Sie eigentlich?“, wollte er wissen. Als es ihm klar wurde, beantwortete er seine Frage selbst. „Ah, natürlich, die Lehrerin aus England.“ Er lachte kurz auf. „Sie sehen eher aus wie eine Waldnymphe, die bei Einbruch der Dunkelheit mit der Landschaft verschmilzt.“

Dann schlug Jennas Arbeitgeber einen energischen Ton an. „Gehen Sie zurück zum Palazzo! Passen Sie unterwegs auf. Man kommt gleich hinunter, um mich abzuholen und die Einfahrt zur Privatstraße zu sperren, damit niemand sonst hier sein Leben riskiert. Morgen früh wird der Steinschlag dann weggeräumt.“

Jenna beobachtete, wie er den Kofferraum aufmachte und Gepäck heraushob. Dann dachte sie an seinen Befehl – weil es mit Sicherheit ein Befehl war –, und ging um die Felsnase herum. Vorsichtig kletterte sie über den Steinschlag, um auf den Waldweg zurück zum Palazzo zu gelangen.

Ihre Gedanken rasten.

Das war also Amelies Vater. Er hatte sie angeschrien und ihr Befehle erteilt, und er sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie ein reicher, mächtiger Industrieboss und Besitzer eines historischen Palazzo. Aber in seinem Ton hatte etwas anderes mitgeschwungen. Dieser spöttische Humor, als er sie mit einer Waldnymphe verglichen hatte …

Das war doch sicherlich untypisch?

Aber es war nicht sein Charakter, der ihre Gedanken beherrschte, als Jenna die weitläufigen Gärten an der Rückseite des Palazzo erreichte. Es waren seine Größe, sein muskulöser Körper, die markanten Gesichtszüge und die tiefe, faszinierende Stimme, die sich in ihr Bewusstsein einbrannten.

Als sie hineinkam, summte der Palazzo wegen der Ankunft seines Besitzers wie ein Bienenstock. Die Angestellten liefen geschäftig hin und her, und Signora Farrafacci blieb nur kurz stehen, um Jenna zu informieren, dass Amelie mit ihrem Vater zu Abend essen sollte und man Jenna das Abendessen später nach oben bringen würde.

Dankbar zog sich Jenna in die große, luxuriös ausgestattete Suite zurück, die ihr in einem der oberen Stockwerke des Palazzo zugewiesen worden war. Eine Verbindungstür verband ihr Wohnzimmer mit einem Ankleideraum, der als Amelies Spielzimmer eingerichtet war, das wiederum ins Schlafzimmer des Mädchens führte.

Jenna schob das Fenster in ihrem Wohnzimmer hoch, stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und atmete die weiche, milde Luft ein, die nach dem Geißblatt duftete, das darunter wuchs. Es war jetzt völlig dunkel, und sie hörte im Wald hinter den Gärten Eulen schreien.

Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ihre aufregende Begegnung mit dem Vater ihres Schützlings noch einmal sehr anschaulich ab. Und nicht nur wegen der Gefahr, die sie heraufbeschworen und zugleich abgewendet hatte, indem sie spontan auf die Straße gelaufen war, um Evandro Rocceforte vor dem Steinschlag zu warnen. Vor ihrem geistigen Auge tauchte immer wieder die imposante Gestalt ihres Arbeitgebers auf. Auch war ihr, als hörte sie noch einmal, wie er sie angeschrien hatte, weil sie ihm vors Auto gelaufen war.

Jenna hob trotzig das Kinn.

Wenn sie es nicht getan hätte, würden sowohl er als auch sein teures Auto jetzt zerschmettert unten im Tal liegen.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und beschloss, ein Bad zu nehmen, während sie auf ihr Abendessen wartete. Als sie sich ins Wasser sinken ließ, spielte sie in Gedanken schon wieder diese Begegnung mit ihrem Arbeitgeber durch. Dass er sie beiläufig mit einer Waldnymphe verglichen hatte, wollte Jenna einfach nicht aus dem Kopf kriegen.

Sie so zu beschreiben war ebenso fantasievoll wie unglaubwürdig. Nymphen waren elfenhaft und schön. Jenna war alles andere als das. Sie war mittelgroß, zierlich und hatte mittellange Haare, die immer zu einem ordentlichen Zopf geflochten wurden. Ihre Kleidung wählte sie danach aus, ob sie praktisch und bequem war. Ihr unscheinbares Aussehen war das Gegenteil von einem Blickfang, und sie gab sich mit Make-up nicht ab. Im Klassenzimmer brauchte sie keins, und ihr gesellschaftliches Leben beschränkte sich hauptsächlich auf Schulveranstaltungen mit ihren Kollegen.

Also nein, sie war überhaupt nicht wie eine Waldnymphe. Was in aller Welt hatte Evandro Rocceforte dazu gebracht, so etwas zu sagen?

Jenna glitt tiefer ins warme Wasser und spürte es wie eine Liebkosung um ihren Körper plätschern. Um ihre Schultern trieb ihr offenes Haar, und das Wasser gab ihrem ganzen Körper Auftrieb, fast, als würde sie schwimmen. Es fühlte sich warm und sinnlich an.

Eine seltsam verträumte Stimmung überkam sie, ausgelöst von dem heißen Wasser, der erotischen Atmosphäre in der feuchtwarmen Luft und dem Gefühl absoluter Entspannung.

Jenna schloss die Augen … In der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern tauchte plötzlich ein Bild von Amelies Vater auf, so deutlich, als wäre er hier und würde ihre verletzliche Nacktheit sehen. Er ließ seinen dunklen Blick über sie gleiten – ihm gefiel, was er sah.

Erschrocken öffnete Jenna die Augen und setzte sich auf. Ihre Wangen glühten plötzlich, und nicht von der Hitze des Badewassers. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie das Fantasiebild damit loswerden. Dann griff sie energisch nach der Seife, um sich zu waschen. Deshalb badete sie und nicht, um sich Gedanken hinzugeben, die ebenso unerklärlich wie schockierend waren.

Jenna seifte sich ein, wusch sich die Haare und ließ dann das Badewasser ablaufen. Die Dusche drehte sie so kalt auf, wie sie es aushalten konnte, um nicht nur Seife und Shampoo abzuspülen, sondern auch ihre unerhörten Gedanken.

Zehn Minuten später saß sie in ihrem praktischen Baumwollpyjama und ihrem praktischen Bademantel auf dem Sofa vor dem Fernseher und schaltete den englischen Nachrichtensender ein. Nach dem Abendessen würde sie ihre Unterrichtspläne für den nächsten Morgen überprüfen und einen kurzen Bericht über Amelies Fortschritte schreiben, für den Fall, dass ihr Arbeitgeber danach fragte.

Arbeitgeber.

Jenna sagte sich das Wort energisch vor.

Das Klopfen an der Tür, das ihr Abendessen ankündigte, kam zur rechten Zeit.

Evandro stand draußen auf der Terrasse mit Blick auf die Gartenanlage. Hoch oben am Himmel schien sich der Mond durch die Wolken zu bewegen. Aber das war nur eine Täuschung, wie so vieles im Leben.

Wie es seine Braut gewesen war.

Er runzelte die Stirn. Warum dachte er an seinen Hochzeitstag vor zehn langen, grässlichen Jahren? Ein Tag, der trotz der dafür ausgegebenen riesigen Summen nur schöner Schein gewesen war. Die Hochzeit war wie Evandros Braut gewesen: knallig wie ein Karnevalswagen und genauso kitschig … Es war unecht gewesen, eine Mogelei.

Berenice, verführerisch sinnlich, über und über mit Diamanten behängt, in einem Brautkleid, das so viel wie ein Haus kostete, hatte es genossen, der funkelnde Star der übertriebenen Show zu sein. Alle Promizeitschriften hatten es in großer Aufmachung gebracht, mit ihm in der Rolle des hingebungsvollen Bräutigams, der von ihrer strahlenden Schönheit ganz geblendet war.

Wie hatte er nur so unfassbar dumm sein können?

Seine Kiefernmuskeln spannten sich an. Er wusste genau, wie er so dumm, so leichtgläubig geworden war.

Er war von der Frau, die er geheiratet hatte, an der Nase herumgeführt worden. Und sein Vater hatte ihn dazu getrieben.

„Sie hat alles, wirklich alles“, hatte er begeistert gesagt. „Sie ist hinreißend schön, und jetzt, wo ihr Vater tot ist, erbt sie die stimmberechtigten Aktien an Trans-Montane, die wir benötigen.“

Es schien eine Verbindung zu sein, die im Himmel geschlossen wurde.

Wie sich herausstellte, hatte sie ihren Ursprung in der Hölle.

Aber sie hatte Amelie zur Welt gebracht.

Evandros Stirnrunzeln verschwand. Die Atmosphäre heute Abend beim Essen war gezwungen gewesen. Amelie war schüchtern und zurückhaltend gewesen, genau wie vor drei Wochen, als er sie am Flughafen abgeholt und zum Palazzo gebracht hatte. Das würde sich jedoch mit der Zeit ändern. Zeit, die er ihr widmen würde.

Was die Frau anging, die er als Amelies Lehrerin eingestellt hatte … Vergeblich versuchte Evandro, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Nun, sie würde jetzt eben um die Zeiten herum arbeiten müssen, die er mit ihrer Schülerin verbrachte.

Er runzelte wieder die Stirn. Die Frau war ihm direkt vors Auto gelaufen. War das Leichtsinn gewesen oder Mut?

Oder beides?

Jenna ging die breite Marmortreppe hinunter in die große Eingangshalle, Amelies Schulhefte und Bilder hatte sie bei sich. Die erwartete Aufforderung, über die Fortschritte ihrer Schülerin zu berichten, war gekommen. Jenna klopfte an die Tür zur Bibliothek, bevor sie eintrat.

Sie hatte Amelie mit einem Rechtschreibarbeitsblatt oben im Klassenzimmer gelassen. Das kleine Mädchen wirkte heute Morgen, nach der unverhofften Ankunft ihres Vaters am gestrigen Abend, ziemlich verunsichert.

Das konnte Jenna verstehen. Sie war auch nervös und besorgt, als sie den großen, von Büchern gesäumten Raum mit dem imposanten, von tiefen Ledersesseln flankierten Kamin betrat.

Ihr Arbeitgeber saß an einem prachtvollen Schreibtisch, auf dem ein Computer stand und Papiere lagen.

Jenna benutzte in Gedanken bewusst das Wort Arbeitgeber, um gegen das plötzliche Anspannen ihrer Bauchmuskeln anzukämpfen, als Evandro Rocceforte nun zu ihr aufsah. Die starke Wirkung, die er auf sie hatte, stellte sich trotzdem sofort wieder ein, so wie gestern Abend. Der Eindruck von Härte und Macht war ganz genauso überwältigend.

Aber sie durfte sich nicht überwältigen lassen. Sie sollte ihm über ihre Fortschritte mit Amelie Bericht erstatten. Und der Mann, dem sie sich jetzt näherte, machte wahrscheinlich auf jeden Eindruck, der sich ihm aus irgendeinem Grund näherte.

Er strahlte eine vornehme Zurückhaltung und Würde aus, was vermutlich dazugehörte, wenn man der Chef eines internationalen Unternehmens war, das einen riesigen Umsatz machte und eine riesige Anzahl von Leuten beschäftigte. Zweifellos war er ein Mann mit Macht und Verantwortung.

Seine Miene war schwer zu deuten. Tiefe Falten hatten sich um seinen Mund eingegraben.

Wovon hat er diese tiefen Falten bekommen? Was hat er ertragen müssen?

Die Fragen schossen Jenna ungebeten durch den Kopf. Sie presste die Lippen zusammen. Das ging sie nichts an.

Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Er nickte knapp und forderte sie auf, sich auf den für sie aufgestellten Stuhl zu setzen.

„Also, Miss Ayrton …“ Er sprach sie auf Englisch an, mit nur leichtem Akzent. „Wie ist es in den ersten Wochen mit Amelie gelaufen? Bitte halten Sie Ihren Bericht so kurz wie möglich.“

Jenna legte die schriftlichen Arbeiten, die sie mit nach unten gebracht hatte, auf den Schreibtisch, und ging ruhig und präzise durch, wie sie Amelies momentanes Bildungsniveau einschätzte. Danach machte sie weiter mit dem, worauf sie ihre Bemühungen konzentrierte, nämlich die Kenntnisse des Mädchens in den Kernfächern zu verbessern.

Sie war mitten im Redefluss, als ihr Arbeitgeber die Hand hob, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Genug“, sagte er kurz angebunden. „Zeigen Sie mir ihre Schulhefte.“

Jenna reichte sie ihm. Er blätterte sie durch und gab sie ihr zurück, ohne sich dazu zu äußern.

„Amelie macht gute Fortschritte.“ Jenna wollte, dass er das wusste. „Weil sie bisher nicht systematisch unterrichtet wurde, sind Ausdauer und Fleiß die größten Herausforderungen für sie. Natürlich trifft das auf Kinder im Allgemeinen zu. Spielen wird dem Arbeiten fast immer vorgezogen.“

„Das ist nicht nur bei Kindern so, Miss Ayrton“, bemerkte ihr Arbeitgeber trocken.

Jenna war sich nicht sicher, ob sie lächeln sollte. Vielleicht hatte er das als humorvolle Bemerkung beabsichtig, aber es war unmöglich zu erkennen. Deshalb nickte sie nur und machte weiter. Sie wählte ihre Worte mit Vorsicht.

„Routine und Stabilität sind von größter Wichtigkeit für Kinder, besonders um Fokussierung und Konzentration zu fördern. Ich weiß, dass beides bis jetzt größtenteils gefehlt hat.“

Das Gesicht ihres Arbeitgebers verfinsterte sich. „Sie ist ihr Leben lang durch Europa und die Vereinigten Staaten geschleift worden! Dass das Kind überhaupt lesen kann, ist schon ein Wunder!“

Jenna sagte nichts. Es stand ihr nicht zu, sich zu den Reibereien zu äußern, die zwischen geschiedenen Eltern ausbrechen konnten.

Dann war seine Wut plötzlich wieder verschwunden.

„Gibt es überhaupt irgendetwas, in dem sie gut ist?“

„Ja, natürlich!“, erwiderte Jenna schockiert. „Mathematik wird wohl niemals Amelies starkes Fach sein“, gab sie zu. „Aber Kunst und Kreativität ganz sicher“

Sie zog mehrere Blatt Zeichenpapier heraus und zeigte Evandro Rocceforte das oberste.

„Schauen Sie, wie gut dies ist! Nicht unbedingt, was die technische Ausführung angeht – das wird mit der Zeit noch kommen –, aber was die Vorstellungskraft angeht, und die Verwendung der Farben. Und dieses auch.“ Jenna hielt das nächste Bild hoch. „Und dieses …“

Gleichgültig sah sich ihr Arbeitgeber die künstlerischen Arbeiten seiner Tochter an. Die Bilder stellten Märchenschlösser mit vielen Türmen dar, bewohnt von Fabeltieren und luxuriös gekleideten Prinzessinnen.

„Jede Begabung sollte immer ermutigt und gefördert werden“, fuhr Jenna fort. Plötzlich wollte sie Amelie unbedingt gegen die potenzielle Kritik ihres Vaters verteidigen und war fest entschlossen, ihre Meinung zu sagen. Sie tat es für die kleine Amelie, deren Vater sie loben und schätzen sollte.

Wie meiner es nie getan hat.

Unvergessener Schmerz überkam sie. Ein Schmerz, der Amelie erspart bleiben sollte.

„Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Kinder wissen, dass sie für etwas Talent haben. Keinem Kind sollte jemals das Gefühl gegeben werden, wertlos oder zu nichts nütze zu sein!“

Jenna konnte die Leidenschaft und Heftigkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken, während ihr Erinnerungen durch den Kopf schossen. Schlechte Erinnerungen an die verächtliche Kritik ihres Vaters, an seine Ungeduld und Gleichgültigkeit.

Ihr wurde bewusst, dass Evandro Rocceforte sie musterte. Aber nicht so, wie ein Arbeitgeber seine Angestellte musterte. In seinem abschätzenden Blick lag noch etwas anderes.

Dann war es verschwunden.

Er lehnte sich in seinem großen, modernen Chefsessel aus Leder zurück, der nicht ganz zu dem antiken Schreibtisch passte. Anstatt sich zu dem zu äußern, was Jenna ihm eindringlich klarzumachen versucht hatte, sagte er nur: „Danke für Ihren Bericht. Machen Sie weiter so. Das heißt …“, sein Blick huschte über sie, „… Sie müssen darauf vorbereitet sein, den Unterricht schnell und ohne Vorankündigung zeitlich zu verlegen. Solange ich hier bin, ist er nicht vorrangig. Meine Zeit mit Amelie ist wichtiger. Haben Sie noch Fragen? Wenn nicht, gehen Sie zurück zu Ihrer Schülerin.“

Jenna stand auf und sammelte Amelies Schularbeiten ein. Sie wollte noch eine wichtige Message rüberbringen, um für Amelies Interessen zu kämpfen.

„Obwohl es mir nicht zusteht, das zu sagen, Signor Rocceforte, ich bin ganz einer Meinung mit Ihnen. Der Unterricht ist im Moment für Amelie nicht vorrangig. Weil Sie so lange weg waren, ist es viel besser, dass sie viel Quality Time mit Ihnen hat und …“

„Sie haben völlig recht, Miss Ayrton“, unterbrach er sie schroff. „Es steht Ihnen nicht zu, das zu sagen.“

Eine Sekunde lang erstarrte Jenna. Sie spürte die Wucht seines Missfallens ebenso heftig, wie sie gestern Abend die Wucht seiner Wut gespürt hatte. Aber genau wie gestern Abend fing sie sich wieder. Sie hatte es ihrem Schützling zuliebe gesagt. Für ein kleines Mädchen, das sie so sehr an sich selbst erinnerte, herausgerissen aus allem, was es kannte, um plötzlich bei seinem Vater zu leben, einem Fremden.

Bitte lass es für Amelie besser sein, als es für mich war. Lass ihren Vater eine Bindung zu ihr aufbauen, Zeit mit ihr verbringen. Mach, dass er ein guter, liebevoller Vater werden will!

Jenna sah seine drohende Miene, aber Amelie zuliebe musste sie ihm klarmachen, wie wichtig es für seine Tochter war, dass er für sie da war.

„Als Amelies Lehrerin steht es mir zu, Signor Rocceforte, die Interessen meiner Schülerin zu vertreten“, sagte sie ruhig, den Blick fest auf ihn gerichtet.

Er war ein mächtiger, reicher Mann, aber im Moment war er für sie nur der Vater ihres Schützlings, der Mann, der eine Verantwortung für das seelische Wohl seiner Tochter hatte.

„Amelie ist ein Scheidungskind, und ihr hat jahrelang gefehlt, was sie am meisten braucht: Stabilität und Geborgenheit. Aber was viel wichtiger ist, sie braucht die Gewissheit, dass sie hochgeschätzt wird, erwünscht ist – und geliebt wird. Vor allem das Letztere.“

Ihr war egal, wie ihr Arbeitgeber darauf reagierte. Sie ging aus dem Raum und ließ den eindrucksvollen Italiener hinter sich zurück.

Als sich die Tür schloss und die Engländerin nicht mehr zu sehen war, blickte Evandro den Platz an, wo sie gestanden hatte. Er hatte keine Ahnung, was sie angehabt hatte, wie groß sie war, was für eine Augenfarbe sie hatte.

Aber er konnte Wort für Wort wiederholen, was sie gerade zu ihm gesagt hatte.

Hochgeschätzt, erwünscht … und geliebt.

Der Dreiklang hallte in ihm nach. Das Erste konnte er bezeugen. Das grimmige Gesicht seines Anwalts, als er die Summe gelesen hatte, die sein Mandant Amelies Mutter gezahlt hatte, war der Beweis dafür. Und das Zweite konnte Evandro auch bezeugen. Nachgewiesen durch den erbitterten, ein Jahr lang dauernden Scheidungskrieg.

Das Dritte …?

Er schreckte vor dem Wort zurück. Stattdessen erinnerte er sich an die grausamen Worte, die ihm seine Ehefrau an den Kopf geworfen hatte.

Abrupt schob er seinen Sessel zurück, stand auf, ging zu den Glastüren und stieß sie weit auf. Er brauchte frische Luft.

3. KAPITEL

Jenna und Amelie waren zum Mittagessen sich selbst überlassen. Es wurde im Klassenzimmer serviert und nicht draußen auf der Terrasse, wo sie vermutlich Amelies Vater bei der Arbeit in der Bibliothek gestört hätten.

Amelie war noch immer aus dem Gleichgewicht, und Jenna entschied, dass Ablenkung nötig war. Sie selbst konnte ebenfalls Ablenkung gebrauchen, weil noch immer in ihrem Kopf widerhallte, was sie an diesem Morgen zu Evandro Rocceforte gesagt hatte. War er beleidigt? Wütend? Das kümmerte sie nicht, es kümmerte sie nur, wenn er ihre Worte ignorierte. Weil sie noch immer zu jedem einzelnen stand.

„Wir machen einen Lehrspaziergang!“, verkündete sie, und Amelies Gesicht hellte sich auf.

Gemeinsam gingen sie nach draußen auf die Terrasse, bereit, zu ihrer Wanderung durch die weitläufige Gartenanlage aufzubrechen.

„Da, wo ich in London unterrichtet habe“, sagte Jenna, „gab es keine Wiesen und keinen Wald. Also denk dir nur, was für ein Glück du hast, diese schöne Landschaft und diese schönen Gärten zu haben!“

„Ich bin froh, dass Sie das finden.“

Überrascht drehte sich Jenna um. Evandro Rocceforte kam auf sie zu.

„Ich habe Sie und Amelie durch die Glastüren der Bibliothek gesehen. Wohin gehen Sie?“

Sich bewusst, dass Amelie ihre Hand wie zur Beruhigung in ihre schob, erwiderte Jenna so gelassen sie konnte: „Wir machen einen Lehrspaziergang durch die Gärten.“

„Darf ich mitkommen?“

Sie sah ihn erstaunt an. Nicht nur wegen seiner Frage, sondern auch, weil er in ganz anderem Ton mit ihr sprach als bei ihrem Gespräch mit ihm an diesem Morgen. Dann wurde ihr klar, warum. Es war wegen seiner Tochter, nicht ihretwegen.

Und Jenna war froh darüber. Zum ersten Mal sah sie ihn und Amelie zusammen, und sie war froh, ihn so anders zu erleben als mit ihr am Morgen. Jetzt sprach er im selben freundlichen Ton seine Tochter an.

„Was meinst du, Amelie? Bestimmt gibt es Dinge über die Natur, die ich von Miss Jenna lernen kann, und du auch. Ich zum Beispiel weiß sehr wenig über die Lebensweise von Nacktschnecken.“

Klang da trockener Humor durch? Jenna konnte es nicht entscheiden, ebenso, wie sie nicht wissen konnte, ob seine Bemerkung am Morgen darüber, dass Erwachsene auch lieber spielten als arbeiteten, humorvoll hatte sein sollen.

Sie spürte noch immer die kleine Hand in ihrer und wusste, dass Amelie von Evandros plötzlicher Anwesenheit ebenso verunsichert war wie sie selbst. Ein kleiner dumpfer Schmerz breitete sich in ihr aus. Kein Kind sollte vom eigenen Vater ignoriert werden.

Amelie guckte argwöhnisch. „Ich mag keine Nacktschnecken.“

„Zum Glück mögen sich Nacktschnecken untereinander“, sagte ihr Vater trocken. „Deshalb gibt es im Frühling viele Babynacktschnecken.“

„Nacktschnecken sind Hermaphroditen“, warf Jenna ein.

Das neue Wort weckte Amelies Neugier. „Was bedeutet das?“

„Jede Nacktschnecke ist sowohl ein Mädchen als auch ein Junge“, erklärte Jenna. „Also kann auch jede Schnecke Eier legen. Für uns mag das seltsam scheinen, aber für sie ist es normal.“

„Ich will nicht auch noch ein Junge sein“, verkündete Amelie. „Ich will gar kein Junge sein!“

„Du bist genau richtig so, wie du bist“, sagte ihr Vater. „Und ich bin sehr froh, dass du hierhergekommen bist, um bei mir zu leben.“

Jenna hörte die Wärme in seiner Stimme, und ihre eigene Unsicherheit ließ ein bisschen nach. Er gab seiner Tochter das Gefühl, willkommen zu sein, und das war gut.

„Also? Was ist mit dem Lehrspaziergang? Wohin gehen wir?“, fragte er im selben freundlichen Ton.

„Ich dachte, wir gehen in den Rosengarten, beobachten die Bienen beim Nektarsammeln und finden heraus, wie das den Rosen und anderen Blumen hilft“, erwiderte Jenna.

Sie ging voran und ließ beiläufig Amelies Hand los, als sie den kreisrunden Rosengarten betraten. Die Nachmittagssonne brannte vom Himmel, und sie hoffte, dass es nicht zu heiß wurde. Sie und Amelie trugen Sommersachen, aber ihr Arbeitgeber war im Anzug. Allerdings war er leicht, aus einem erstklassig geschnittenen dunkelgrauen Stoff, der perfekt zu seinen schiefergrauen Augen passte.

Jenna führte die beiden zu einer schönen Strauchrose und begann, die Bestäubung zu erklären. „Jetzt sehen wir mal, ob wir Bienen entdecken, die die Rosen besuchen“, endete sie.

„Da ist eine.“ Evandro zeigte auf eine andere Rose, die gerade von einer dicken Biene untersucht wurde.

„Stimmt! Und schau mal, Amelie, man kann die gelben Pollen von einer vorher besuchten Blume an ihren Beinen sehen.“

Sie beobachteten die Biene, bis sie summend davonflog. Nun erzählte Jenna ihrer kleinen Schülerin spannende Fakten über das Leben der Bienen, während sie gemeinsam weiter nach den emsigen Insekten Ausschau hielten. Dann verließen sie den Rosengarten. Als Jenna den Weg zum Zierteich in der Mitte der Gartenanlage nahm, freute sie sich, zu sehen, dass Amelie jetzt neben ihrem Vater ging.

„Irgendwann in dieser Woche“, sagte er gerade, „setzen wir den Springbrunnen in der Mitte des Teichs in Betrieb.“

Er erklärte ihr den Mechanismus des Springbrunnens, während sie beide auf dem Steinrand des Teichs saßen. Jenna war nicht sicher, wie viel Amelie davon aufnahm. Aber das Wichtige war, dass sie mit ihrem Vater zusammen war.

Jenna hatte es vermieden, ihn direkt anzusehen, seit er sich ihnen angeschlossen hatte, nun blickte sie jedoch zu ihm hin. Ganz erstaunlich, wie anders er jetzt ist, wo er mit seiner Tochter zusammen ist, dachte sie. Oh, diese würdevolle Zurückhaltung war noch da, aber Amelies Vater war jetzt viel lockerer. Jenna merkte, dass ihr Blick auf ihm verweilen wollte …

Dann stand er zum Glück auf. „Wollen wir zurückgehen?“

Sie nickte, ließ die beiden vorangehen und folgte ihnen. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie schön es war, dass Amelie und ihr Vater so zusammen waren, anstatt darauf, wie breit seine Schultern waren, wie dicht und schwarz sein Haar war, wie tief seine Stimme …

Als sie die Terrasse erreichten, wollte sie Amelie zurück ins Klassenzimmer führen, doch Evandro Rocceforte hielt sie zurück.

„Amelie, bitte Signora Farrafacci darum, dass Erfrischungen nach draußen gebracht werden. Du musst Durst haben, ich habe jedenfalls Durst. Und Miss Jenna zweifellos auch.“ Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Als Engländerin finden Sie doch sicherlich, dass es Zeit für den Nachmittagstee ist?“

Froh, die Wiederaufnahme des Unterrichts aufzuschieben, rannte Amelie los, und Jenna war ein wenig verlegen, dass sie jetzt mit ihrem Arbeitgeber allein war.

Aber warum? fragte sie sich. Er war einfach nur der Vater ihrer Schülerin. Und das war sicherlich kein Grund, verlegen und gehemmt zu sein.

„Setzen Sie sich!“ Er zog einen der Stühle um den Tisch unter einem großen Sonnenschirm heraus.

Der Schatten war sehr willkommen. Jenna setzte sich und hoffte, dass Amelie schnell zurückkehren würde.

Evandro nahm ihr gegenüber Platz, aber erst, nachdem er sein Jackett ausgezogen und über die Lehne eines freien Stuhls gehängt und seine Krawatte gelockert hatte. Die Lässigkeit, mit der er das tat, machte die Atmosphäre auf eine Art ungezwungen, die in krassem Gegensatz zu seiner brüsken, geschäftsmäßigen Förmlichkeit an diesem Morgen in der Bibliothek stand.

„Und? Mache ich Fortschritte? Dabei, ein guter Vater zu sein?“, fragte Evandro und lehnte sich zurück.

Er ließ den Blick auf der Frau ruhen, die ihm mutig entgegengetreten war, um ihm zu verdeutlichen, worum es beim Vatersein ging.

„Ja“, antwortete sie schlicht. „Amelie hat sich während unseres Spaziergangs mit der Zeit merklich wohler mit Ihnen gefühlt.“

Er sah sie zögern und nickte ihr aufmunternd zu.

„Ihre Tochter ist zwangsläufig noch ein bisschen schüchtern, aber wenn Sie sie dazu bringen, aus sich herauszugehen, sie loben und ermutigen, wird sie aufblühen. Das wird sie ganz bestimmt!“

Er hörte die Wärme in ihrer Stimme – und noch etwas. Es klang fast beschwörend. Aber warum?

„Ich hoffe, Sie haben nichts gegen meine Idee, Amelie gelegentlich außerhalb des Klassenzimmers zu unterrichten?“

„Wenn heute ein Beispiel dafür war, bin ich damit sehr einverstanden. Überhaupt bin ich mit dem einverstanden, was Sie als Amelies Lehrerin leisten, Miss Ayrton.“

Evandro machte eine Pause. Es gab etwas, was er ihr sagen musste, was er ihr schuldete.

„Ich entschuldige mich, wenn ich heute Morgen etwas schroff zu Ihnen war. Sie müssen verstehen … Das ist alles neu für mich.“ Er heftete die Augen auf ihre, fest entschlossen, ihr seinen nächsten Punkt verständlich zu machen. „Dass ich in Amelies Leben bisher abwesend war, bedaure ich sehr. Aber jetzt wohnt sie endlich hier bei mir, und ich werde mein Bestes tun, um ihr die glückliche Kindheit zu bieten, die sie verdient. Die Art Kindheit, die ihr zu bieten Sie mich so wortgewandt gedrängt haben.“

Sie errötete ein wenig, und Evandro bemerkte, dass es ihr blasses Gesicht hübscher machte. Aus dem Nichts wünschte er, sie würde etwas tragen, was nicht ganz so unscheinbar war wie der knielange beigefarbene Rock und die nicht besonders gut geschnittene beige Bluse, die beide ziemlich unvorteilhaft waren.

Niemand sollte so ohne jeden Schick rumlaufen dürfen, dachte Evandro missbilligend.

Dann dachte er nicht länger an das farblose Aussehen der Lehrerin und konzentrierte sich auf das, was sie sagte.

„Es tut mir leid, wenn ich etwas längst Bekanntes festgestellt habe“, erwiderte sie, „aber wissen Sie, die Kinder von geschiedenen Eltern werden oft …“

Sie verstummte, und Evandro runzelte die Stirn. „Werden was?“

„Unsichtbar“, sagte sie ausdruckslos.

Sie senkte den Blick, die Fingerknöchel ihrer auf dem Schoß verschränkten Hände wurden weiß.

„Sie sagen das, als hätten Sie selbst Erfahrung damit?“

Jenna Ayrton schaute plötzlich auf und richtete haselnussbraune Augen auf ihn.

Nein, nicht allein haselnussbraun. Haselnussbraun mit einem Aufblitzen von Forstgrün in den Tiefen.

„Ja“, antwortete sie. Aber nur dieses eine Wort.

„Erzählen Sie mir mehr!“, befahl Evandro. Es war wichtig, dass er verstand, was negative Auswirkungen auf Amelie haben könnte. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich entschuldige mich. Ich wollte nicht in diesem Ton mit Ihnen sprechen. Aber ich bin es nun mal gewohnt, Befehle zu geben. Trotzdem, bitte erklären Sie es, wenn Sie möchten. Amelie zuliebe.“

„Kinder merken es, wenn sie nicht erwünscht sind“, sagte Jenna Ayrton leise. „Und sie lernen, ihr Benehmen entsprechend anzupassen. Deshalb …“

Sie sprach nicht weiter, und für einen Moment nahm Evandro an, dass sie sich dagegen sträubte, mehr zu sagen. Dann erkannte er, dass sie Amelie gesehen hatte, die aus dem Palazzo auftauchte, gefolgt von einem der Hausmädchen, das ein Tablett mit Erfrischungen trug.

Evandro bedauerte, dass ihr Kommen Miss Ayrton zum Schweigen gebracht hatte. Aber daran war nun nichts zu ändern. Freundlich bedankte er sich bei dem Hausmädchen, als es das Tablett auf den Tisch stellte, und forderte Amelie auf, sich zu setzen.

Es gab eine Kanne Tee für Miss Ayrton, starken Kaffee für ihn und einen Krug frisch ausgepressten Orangensaft für Amelie, dazu einen zweiten mit Wasser für sie alle und einen Teller mit Keksen.

Evandro beobachtete, wie Miss Ayrton ihrer Schülerin Orangensaft einschenkte und ihn stark mit Wasser verdünnte. „Sehr gesund“, sagte er.

„Signorina Jenna sagt, von zu viel Zucker fallen einem die Zähne aus“, informierte ihn Amelie tugendhaft.

Er nickte. „Sehr richtig“, stimmte er zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich kenne jemanden, dessen Zähne ausgefallen sind, alle auf einmal, genau in der Mitte einer Rede, die er bei einem vornehmen Abendessen gehalten hat. Die Zuhörer waren sehr froh, weil seine Rede so langweilig war. Seitdem muss er falsche Zähne tragen, und weil sie nicht gut sitzen, klicken sie, wenn er spricht. So …“

Evandro machte das passende Geräusch, und Amelie kicherte. Es war ein schönes Gefühl, das zu hören. Er blickte zu ihrer Lehrerin und sah das kleine Lächeln auf ihrem Gesicht, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte. Es war überraschend, wie sehr ein Lächeln ihr unscheinbares Aussehen verbesserte.

Er wollte sie wieder lächeln sehen, dann fragte er sich, warum. Jenna Ayrton war hier, um Amelie zu unterrichten. Das war alles.

„Ich freue mich, zu hören, dass du Fortschritte machst, sodass du im Herbst zur Schule gehen kannst. Wie viel lernst du denn über dein neues Heimatland Italien?“ Er lächelte Amelie an, wollte sie dazu bringen, aus sich herauszugehen. Wollte ihrer Lehrerin zeigen, dass er sich bemühte, das zu tun.

„Wir nehmen viel Geschichte durch, und die Berge und Flüsse. Und wo die großen Städte sind.“ Amelie rasselte auf Englisch und Italienisch die Namen von einem halben Dutzend herunter.

„Sehr gut. Und was ist mit der Stadt, in der ich arbeite? Wie heißt die?“

„Turin“, antwortete Amelie. „Torino auf Italienisch.“

„Stimmt genau!“

Evandro machte damit weiter, seine Tochter nach Italiens Bergen zu fragen und erzählte ihr, dass er im Winter gern Ski lief. Dann fragte er, ob sie vielleicht Lust hätte, nächstes Mal mitzukommen, gleich nach Weihnachten.

„Möchtest du das?“, fragte er. „Du könntest Skilaufen versuchen oder Snowboarding. Oder beim Rodeln bleiben.“ Sein Blick huschte zu Miss Ayrton, die schweigend ihren Tee trank, und plötzlich wollte er auch sie dazu bringen, aus sich herauszugehen. „Treiben Sie gern Wintersport, Miss Ayrton?“

Sie sah erschrocken aus, als er sie plötzlich ansprach, aber dann antwortete sie auf die ruhige Art, an die er sich allmählich gewöhnte.

„Ich habe nie Wintersport gemacht.“

„Sie können mit uns kommen!“, sagte Amelie.

Ihre Lehrerin schüttelte den Kopf. „Ich werde im Winter nicht mehr hier sein, Amelie. Sobald du eingeschult bist, gehe ich zurück nach England.“

Evandro sah, wie enttäuscht Amelie war. Unbehagen stieg in ihm auf.

Amelie darf sich niemals zu sehr an irgendeine Frau binden. Es ist zu gefährlich.

Schon wieder hallte in seinem Kopf die Warnung seines Anwalts, die Berenices letzte Gemeinheit betraf. Und sie galt für ihn genauso wie für seine Tochter! Denn auch Evandro durfte sich niemals zu sehr an irgendeine Frau in seinem Leben binden …

Er schüttelte seine beunruhigenden Gedanken ab. Im Allgemeinen war die Warnung vielleicht richtig, aber für die jetzige Situation war sie belanglos. Jenna Ayrton, eine Frau, die kein Mensch überhaupt bemerken würde, wenn sie im Raum war, war vorübergehend Amelies Lehrerin, nichts weiter.

Wenn sie sich erst einmal in der Schule eingewöhnt hatte, würde Amelie ihre Privatlehrerin bald vergessen.

Und Evandro würde dann auch nicht mehr an Miss Ayrton denken …

4. KAPITEL

Jenna prüfte ihr Aussehen in dem eleganten Drehspiegel in ihrem Schlafzimmer. Zu ihrer Überraschung war sie aufgefordert worden, Amelie zum Abendessen mit Signor Rocceforte zu begleiten. Amelie stand neben ihr und musterte ihre Lehrerin zweifelnd.

„Haben Sie kein Cocktailkleid?“, fragte sie, während sie das schlichte, langärmelige marineblaue Kleid kritisch betrachtete.

„Nein. Und selbst wenn ich eins hätte, würde ich es nicht anziehen. Ich bin deine Lehrerin, Amelie. Ich bin eine Angestellte, nicht ein Gast deines Vaters.“

Jenna blickte das kleine Mädchen an und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr war klar, dass das Kind von ihrer Schickeria-Mutter jahrelang wie ein Modepüppchen behandelt worden war, und heute Abend hatte die Kleine sich ziemlich ins Zeug gelegt.

Aus ihrer riesigen Designergarderobe hatte Amelie eine Miniaturausgabe eines Cocktailkleids gewählt. Es war aus rotem Satin, gemustert mit goldenen und schwarzen Strudeln, die die Initialen des Designers ergaben. Für ein Kind ihres Alters war es völlig unpassend, aber als sich Amelie glücklich im Kreis drehte, brachte Jenna es nicht übers Herz, das zu sagen.

Amelies Vater hatte offensichtlich keine solche Skrupel. Als sie ins Esszimmer kamen, runzelte er sofort missbilligend die Stirn über Amelies extravagantes Designerkleid.

„Sie wollte ein Partykleid tragen, um heute Abend besonders hübsch für Sie auszusehen“, warf Jenna schnell ein und war erleichtert, dass er nichts sagte, sondern seinen Blick stattdessen auf sie richtete.

„Anders als Sie selbst, wie ich sehe, Miss Ayrton“, erwiderte er spöttisch, während er ihr sehr schlichtes Kleid musterte.

Sie gab keine Antwort, weil keine nötig war, aber Amelie setzte sich für sie ein.

„Wenn ich größer wäre, würde ich Ihnen eins von meinen Kleidern leihen!“, sagte sie.

Jenna war gerührt.

„Dann kann sie ja dankbar sein, dass du es nicht bist“, murmelte Evandro halblaut.

Anscheinend war das Thema damit für ihn erledigt. Er forderte sie beide auf, sich an den Tisch zu setzen, der edel mit Silberbesteck und Kristallgläsern gedeckt war.

Trotz des förmlichen Rahmens in dem prächtig ausgestatteten Esszimmer war ihr Arbeitgeber eher lässig gekleidet. Er trug eine dunkle Hose und einen grauen Kaschmirpullover. Sogar leger gekleidet hatte er jedoch nichts von seiner imposanten Ausstrahlung verloren, und auch nicht seine beunruhigende Fähigkeit, Jennas Blick auf sich zu ziehen.

Er hob die Weinflasche aus dem silbernen Halter. „Trinken Sie Wein, Miss Ayrton, oder verstößt das gegen Ihre Prinzipien, wenn Sie in Gesellschaft Ihrer Schüler sind?“

Seine Frage hatte einen spöttischen Unterton, aber Jenna ließ sich nicht provozieren. „Wenn Sie nichts dagegen haben, dann ich auch nicht“, erwiderte sie ruhig.

Er füllte ihr Glas, schenkte seiner Tochter Saft ein, dann hob er sein Glas. „Salute!“ , sagte er und blickte Amelie an. „Das sagen wir hier in Italien statt Santé! wie in Frankreich oder Cheers! wie in England. Ist das richtig, Miss Ayrton?“

Sie nickte.

„Gut.“ Er trank einen großen Schluck.

Jenna nippte an ihrem Glas. Der Wein war schwer und berauschend, und aus dem Nichts entspannte sie sich. Erst da erkannte sie, wie nervös sie gewesen war. Die Sorge um Amelie hatte sie umgetrieben – und die Verlegenheit, wieder in Gesellschaft ihres atemberaubend attraktiven Arbeitgebers zu sein.

Ich werde nicht schlau aus ihm mit dieser Mischung aus bissigem Humor und guter Laune, dachte sie. Sie stellte ihr Weinglas ab, und ihr Blick huschte zu ihm, während er den beiden Hausmädchen dankte, die das Essen servierten. Jenna vermutete, dass sich die jungen Frauen seiner grüblerischen, starken Männlichkeit ebenso bewusst waren wie sie. Wie es wahrscheinlich alle Frauen waren.

Es war ein beunruhigender Gedanke. Sie hatte nicht das Recht, sich ihres Arbeitgebers bewusst zu sein, außer als Arbeitgeber.

Dann kam ihr ein vertrauter, wenn auch trostloser beruhigender Gedanke. Es spielte überhaupt keine Rolle, was sie über Evandro Rocceforte dachte – oder irgendeinen anderen Mann. Männer sahen sie nie wirklich, und daran war sie gewöhnt. Es war sicherer so.

Vor langer Zeit hatte Jenna versucht, beachtet zu werden, für jemanden gehalten zu werden, der beachtenswert war. Und sie war kläglich gescheitert. Also war es sicherer, es gar nicht erst zu versuchen.

Sie merkte, dass sich Amelie in Gegenwart ihres Vaters nicht ganz wohlfühlte. Er war noch immer solch eine unbekannte Größe für sie, und es war verständlich, dass sie in seiner Gesellschaft unsicher war.

Jenna wollte nicht, dass das kleine Mädchen jemals sehnsüchtig auf die Aufmerksamkeit seines Vaters wartete, dass es den Schmerz der Zurückweisung kennenlernte, die Einsamkeit, zu der er früher sie verdammt hatte.

Die Einsamkeit, zu der sie noch immer verdammt war …

Sie rüttelte sich in Gedanken auf. Selbstmitleid war sowohl widerwärtig als auch sinnlos. Sie hatte vor langer Zeit akzeptiert, dass sie keine Anziehungskraft auf Männer ausübte, und wenn das zu Einsamkeit führte, dann war es zugleich auch in gewisser Weise beschützend.

„Buon appetito!“

Die tiefe Stimme verbannte ihre introspektiven Gedanken, und Jenna begann mit dem ersten Gang: eine Schichtterrine aus Lachs und Meeresfrüchten in einer Hummercremesuppe, garniert mit Radicchio und Rucola, dazu dünner, knuspriger Toast. Jenna sah zu Amelie, für den Fall, dass sie das raffinierte Gericht nicht meistern konnte. Aber das kleine Mädchen benutzte anmutig die richtige Gabel und aß geschickt die Terrine.

„In Italien und Frankreich werden Kinder nicht früh ins Bett geschickt, Miss Ayrton, sondern verbringen den Abend mit ihren Eltern, und dazu gehören auch Restaurantbesuche“, sagte Evandro, als hätte er bemerkt, dass Jenna seine Tochter verstohlen beobachtete.

„Manchmal hat mich maman mit ihr und ihren Freunden ausgehen lassen“, warf Amelie ein. „Ich musste meine besten Kleider tragen! Aber ich durfte nicht quasseln und kleckern, während ich gegessen habe, oder sie ist böse auf mich geworden …“

Sie hatte fröhlich begonnen und verstummte jetzt unglücklich, wie so oft, wenn sie sich an ihre kapriziöse und anspruchsvolle Mutter erinnerte. Das Mädchen tat ihr leid, und Jenna wollte etwas Beruhigendes sagen, aber Evandro kam ihr zuvor.

„Tja, ich kann sehen, dass du ausgezeichnete Tischmanieren hast!“

Bei dem Lob strahlte Amelie vor Freude, und auch Jenna lächelte. Sie freute sich für das kleine Mädchen und spürte trotzdem einen seltsamen Schmerz in ihrem Inneren. Ihr Vater hatte sie nie für irgendetwas gelobt, sosehr sie sich auch nach einem freundlichen Wort von ihm gesehnt hatte.

Sie wusste, dass solche Erinnerungen so sinnlos wie schmerzlich waren, und konzentrierte sich wieder. Ihr wurde bewusst, dass Evandro sie anblickte.

„Stimmen Sie zu?“, fragte er sie mit einem seltsamen Unterton.

„Ich stimme Ihrer Zustimmung zu“, erwiderte sie leise, aber bestimmt.

Denn falls er fragte, ob es ihre Zustimmung fand, wie er gerade seine Tochter gelobt hatte, dann ja, natürlich. Aber warum er sich für ihre Meinung interessierte, wusste sie nicht.

„Ich werde das als ein einzigartiges Kompliment auffassen“, sagte er lächelnd.

Dann redete er wieder mit Amelie.

„Miss Jenna hat mir erzählt, dass du Spaß an Kunst hast, piccola mia . Sie hat mir heute Morgen ein paar von deinen Werken gezeigt. Ich würde gern mehr davon sehen. Würdest du ein Bild für mich malen?“

Amelies Gesicht hellte sich auf. „Oh, ja! Am allerliebsten male ich Mode. Weil Mode so wichtig ist. Maman sagt, es ist von größter Wichtigkeit, toujours à la mode zu sein!“

Trotz seiner sofort angespannten Miene sagte Evandro nur: „Nun, in modebewussten Städten wie Paris und Mailand ja. Aber erst, wenn du erwachsen bist. Oder zumindest ein Teenager.“

Amelie sah verwirrt aus, als würde das, was ihr Vater gesagt hatte, zu allem im Widerspruch stehen, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Jetzt griff Jenna ein. Ja, Amelie hatte wegen des Einflusses ihrer Mutter einen frühreifen, ungesunden Modefimmel, aber das ließ sich in etwas umlenken, was viel harmloser und passender für ein kleines Mädchen war.

„Was in deinem Alter wirklich Spaß macht, ist, sich zu verkleiden! An der Schule, an der ich in London unterrichtet habe, gab es jedes Jahr einen Weltbüchertag, und alle Kinder haben sich als eine Figur aus einem Buch verkleidet, das sie gelesen hatten. Als was würdest du dich verkleiden, Amelie?“, fragte sie, um sie vom Thema Haute Couture abzulenken.

„Als mittelalterliche Prinzessin!“, sagte sie sofort. „Wie Dornröschen. Aber nachdem sie aufgewacht ist!“

„Perfetto!“ , verkündete ihr Vater, und Amelie freute sich.

Sein Blick glitt zu Jenna, und er hatte wieder diesen spöttischen Gesichtsausdruck, der ihr inzwischen vertraut war.

„Als die strenge Lehrerin, die Sie sind, Miss Ayrton, welche Figur würden Sie für mich vorschlagen? Soll ich mit dem Schlimmsten rechnen? Oder auf das Beste hoffen?“

Das Funkeln seiner Augen verriet ihr, dass dies eine seiner ironischen Bemerkungen war. „Tja, irgendein Ungeheuer wäre viel zu hart, also vielleicht ein unnachgiebiger König, der Ritter in voller Rüstung auf gefährliche Suche schickt?“

Er lachte, dann verzog er bitter den Mund. „Und ich habe gehofft, Sie würden mir die Rolle des Märchenprinzen geben!“

Jenna runzelte die Stirn, als er den Mund noch mehr verzog. Sie beobachtete, wie er noch einen Schluck aus seinem Weinglas trank.

„Vielleicht sind Sie ja ein Prinz“, hörte sie sich sagen, „aber in der Geschichte stehen Sie unter einem bösen Zauberbann.“

Etwas flackerte in seinen schiefergrauen Augen auf.

„Eine böse Hexe hat mich verzaubert?“, fragte er. Jenna spürte eine Bürde in ihm, die plötzlich erdrückend zu werden schien. „Kann solch ein Zauberbann jemals gebrochen werden?“

„Alle solche Zauberbanne können gebrochen werden“, antwortete sie.

„Aber wie?“, fragte er leise, und irgendetwas in seiner Stimme ließ sie frösteln, trotz dieses spielerischen Gesprächs über Märchen.

Dann sagte Amelie: „Die gute Fee bricht immer den Zauberbann, papà!

Der dunkle Blick wechselte von ihr zu dem kleinen Mädchen, und Jenna merkte, dass sie wieder atmen konnte.

„Und wo finde ich diese gute Fee?“, fragte Evandro seine Tochter.

„Sie schwebt in einer silbernen Seifenblase herab“, informierte ihn Amelie. „Mit silbernem Haar und silbernen Flügeln und einem silbernen Zauberstab und einem silbernen Kleid.“

„Warum malst du für deinen Vater nicht ein Bild von ihr?“, schlug Jenna vor.

„Eine ausgezeichnete Idee“, stimmte Evandro zu, jetzt wieder in heiterem Ton. „Wenn wir alle mit unserem ersten Gang fertig sind, machen wir jetzt mit dem zweiten Gang weiter.“

Er drückte einen Summer neben seinem Gedeck, und einen Moment später kamen die Hausmädchen, um ihre Teller abzuräumen und den zweiten Gang, Lammfilet in einer reichhaltigen Soße, zu servieren.

Evandro fragte seine Tochter, was sie über Italiens Geschichte wusste, und das Thema reichte bis durch den letzten Gang, ein Birnenparfait, das Amelie jedoch Mühe hatte, aufzuessen.

Piccolina , du schläfst ja gleich ein!“, sagte ihr Vater. „Zeit, ins Bett zu gehen.“

Jenna wollte aufstehen, aber er hielt sie zurück.

„Nein. Loretta und Maria können sich um Amelie kümmern. Ich möchte bei meinem formaggio gern noch etwas Gesellschaft haben.“

Als Loretta kam, um Amelie nach oben zu bringen, wünschte er seiner Tochter in so sanftem Ton Gute Nacht, wie Jenna ihn noch nie hatte sprechen hören.

„Schlaf gut, meine Kleine!“ Er lächelte. „Und träum von silbernen Feen.“

Als Amelie mit Loretta gegangen war, wurde eine große Käseplatte auf den Tisch gestellt, und Evandro wandte sich wieder Jenna zu. Sie konnte seinen Blick nicht deuten, und die Situation war ihr plötzlich unangenehm. Mit ihrem Arbeitgeber zu essen, um seiner Tochter Gesellschaft zu leisten, war eine Sache, aber hier allein mit ihm zu sitzen schien etwas ganz anderes zu sein.

Seine nächsten Worte ließen sie erkennen, warum er Amelie von Loretta und nicht von ihr hatte nach oben bringen lassen.

Er schob das Käsebrett zu ihr und forderte sie auf, sich zu bedienen. „Also, Ihr Urteil bitte, Miss Ayrton. Wie habe ich mich bisher gemacht? Erfülle ich halbwegs Ihre Bedingungen, was Amelie betrifft?“

Wollte er wirklich ihre Meinung hören, oder war dies eine weitere ironische Herausforderung? Es war schwer zu sagen.

Aber er erwartete eine Antwort.

„Wenn meine Meinung etwas gilt, Signor Rocceforte, würde ich sagen, dass Sie auf dem besten Wege sind, eine gute Beziehung zu Ihrer Tochter aufzubauen. Ich konnte sehen, wie sich Amelie immer mehr entspannt hat. Besonders, als Sie sie gelobt haben.“

„Es gibt ja auch viel zu loben. Abgesehen von ihrer Kleiderwahl.“

Vorsichtig suchte sich Jenna von den Käsesorten etwas aus, und noch vorsichtiger antwortete sie.

„Ich weiß, dass ein Großteil ihrer Garderobe nicht altersgemäß ist. Wenn sich Amelies Mutter am meisten für Mode interessiert hat, dann ist allerdings zu erwarten, dass Amelie das Wohlwollen und die Anerkennung ihrer Mutter zu gewinnen versucht hat, indem sie dieses Interesse nachahmt. Es wäre unfair, sie zu verurteilen für …“

„Für die Sünden ihrer Mutter“, unterbrach Evandro sie scharf.

Er sah weg, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Dann blickte er Jenna plötzlich wieder an, seine Miene finsterer denn je.

„Die Vorliebe meiner Ex-Frau dafür, obszön hohe Summen für Haute-Couture-Kleidung zu verschwenden, war die geringste ihrer Sünden“, stieß er hervor.

Er trank einen Schluck von seinem Wein. Jenna hatte den Eindruck, dass er äußerste Kontrolle über sich selbst ausübte, um seinen Wutausbruch zu bremsen. Starke Emotionen spielten unter diesem Panzer aus Selbstbeherrschung. Wie bitter ist seine Scheidung gewesen? fragte sich Jenna.

Dann, als würde er nur mit Mühe Gedanken verdrängen, die seinen Ärger erregten, sagte er: „Eins ist klar – ich muss Amelie eine neue Garderobe kaufen. Und Sie, Miss Ayrton, müssen bei der Auswahl helfen. Ich verstehe nichts von Kinderkleidung.“

„Wenn Sie es wünschen.“

„Ich wünsche es“, sagte er herrisch. Er runzelte die Stirn. „Heute Nachmittag auf der Terrasse haben Sie mir etwas über Scheidungskinder erzählt. Sprechen Sie weiter, bitte.“

„Kinder können zwischen streitenden Eltern gewissermaßen verloren gehen“, begann Jenna zögernd. „Wie ich sagte, sie können unsichtbar werden. Und manchmal fängt ein Kind an, genau das zu wollen …“

Sie verstummte, sich bewusst, dass sie in einen Bereich geraten war, den sie nicht in Worte fassen wollte. Aber Evandro war anscheinend kein Mann, der Ausweichen erlaubte.

„Ich nehme an, Sie sprechen von sich selbst? Warum sollten Sie unsichtbar sein wollen?“ Seine Miene wurde härter.

„Als meine Mutter bei einem Autounfall starb, wurde ich zu meinem Vater geschickt, um bei ihm und der Frau zu leben, für die er meine Mutter verlassen hatte. Ich war nicht willkommen. Weder meiner Stiefmutter und ihren Kindern, noch meinem Vater.“

Evandros dunkler, unlesbarer Blick ruhte auf ihr. „Wie alt waren Sie?“

„Jünger als Amelie. Gerade sechs Jahre alt.“

Er verzog den Mund.

„Ich habe gewartet. Habe weiter gehofft, dass mein Vater mich eines Tages sehen würde. Dass ich eines Tages nicht mehr unsichtbar für ihn sein würde. Aber es ist nie passiert. Und nach einer Weile schien es besser zu sein, das zu akzeptieren. Sicherer.“

„Sicherer?“

„Sicherer, sich nicht zu wünschen, was nicht sein kann. Sicherer, unsichtbar zu bleiben.“

Evandro nickte. „Und Sie sind noch immer unsichtbar“, sagte er sanft.

Jenna spürte es wie einen Schlag, was seltsam war, weil sie doch sehr wohl wusste, dass sie unsichtbar war. Wusste, dass sie einen Raum betreten konnte, und niemand bemerkte es.

„Wenn das Ihre Sorge um Amelie ist, kann ich Sie beruhigen. Amelie ist sehr sichtbar für mich“, sagte Evandro energisch. „Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, ihr das Gefühl zu geben, erwünscht und hochgeschätzt zu sein, so, wie Sie es mir heute Morgen geraten haben. Ich verspreche Ihnen, Miss Ayrton, dass nichts sie mir wegnehmen wird. Nichts!“

Seine Erklärung sollte ihre Sorge um Amelie zweifellos zerstreuen, aber für einen Moment machten ihr seine Heftigkeit und wilde Entschlossenheit eher Angst.

Auf die abrupte Art, an die sich Jenna allmählich gewöhnte, änderte sich seine Stimmung.

„Schluss mit düsteren Themen. Schwimmt Amelie gern? Es wird jetzt warm genug für den Pool. Und woran sonst hat sie Freude?“

Dankbar für die Rückkehr zu leichteren Themen, antwortete Jenna auf seine Fragen, und redete weiter, bis das Hausmädchen zurückkam und berichtete, dass Amelie im Bett war und darum bitte, dass ihr die Signorina Gute Nacht sagte.

Jenna nahm es zum Anlass, sich zurückzuziehen. Als sie ihrem Arbeitgeber Gute Nacht wünschte, merkte sie, wie sein dunkler Blick forschend über sie huschte, während er mit einem Nicken antwortete.

Erst später, wieder in ihrem Wohnbereich, als Amelie schlief, fragte sich Jenna, warum sie Evandro Rocceforte so viel von ihrer Kindheit erzählt hatte. Es waren Dinge, über die sie noch nie geredet hatte, geschweige denn mit einem Mann wie ihm.

Ein Mann, dessen sanft gesprochene Worte jetzt von Neuem in ihr widerhallten.

Noch immer unsichtbar.

Sie schüttelte verächtlich den Kopf und erinnerte sich an die bitteren Wahrheiten, die sie nicht vergessen sollte.

Natürlich war sie unsichtbar für ihn. Für einen Mann, der nicht nur reich und mächtig war, sondern umwerfend gut aussah, der von den schönsten und faszinierendsten Frauen umschwärmt wurde. Frauen, zu denen sie in einem krassen Gegensatz stand.

Was sonst außer unsichtbar konnte sie für solch einen Mann sein?

Was sonst könnte sie sein wollen?

Jenna erinnerte sich plötzlich daran, wie sie gestern Abend in diesem sinnlichen, allzu entspannenden warmen Badewasser gelegen und Fantasien gehabt hatte, die zu haben sie kein Recht hatte. Fantasien von seinem Blick, der auf ihr ruhte …

Energisch verdrängte sie die Erinnerung. Es war ebenso unangemessen wie sinnlos, so an diesen beeindruckenden Mann zu denken!

Im Esszimmer schenkte sich Evandro einen Cognac ein, lehnte sich zurück und blickte zum unteren Tischende, wo Miss Ayrton gesessen hatte.

Unsichtbar hatte sie sich genannt.

Er dachte über das Wort nach. Es war das genaue Gegenteil von dem, was Berenice war. Sie war eine selbstsüchtige und narzisstische Frau, die verlangte, dass jeder ihr zu Willen war, sie begehrte, in ihren unheilvollen Bann geriet. Wirklich eine böse Hexe. Sie hatte zerstört, was auch immer er von einem jugendlichen Märchenprinzen an sich gehabt hatte.

Das erinnerte ihn an das Gespräch beim Abendessen über Märchenfiguren. Im Geiste hörte er sich fragen, ob solch ein Zauberbann gebrochen werden könne. Und er hörte Amelies Stimme.

Die gute Fee bricht immer den Zauberbann, papà!

Seine Miene veränderte sich. Existierte solch ein Wesen?

Ihm fiel die achtlos dahingeworfene Bemerkung ein, die er gegenüber der Frau gemacht hatte, die ihm vors Auto gelaufen war.

Sie sehen eher aus wie eine Waldnymphe …

So ihr Leben zu riskieren war wirklich tollkühn gewesen, aber sie schien nichts dabei zu finden.

Genauso, wie sie nichts dabei zu finden schien, ihm mutig entgegenzutreten und ihm ruhig und entschlossen seine Verantwortung für Amelie zu erklären.

Und jetzt, nachdem sie ihm von ihrer traurigen Kindheit erzählt hatte, wusste er auch, warum sie das tat.

Evandro kehrte zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück.

War Jenna Ayrton unsichtbar?

Es war schwierig, nicht zuzustimmen. Sie hatte nichts an sich, was seinen Blick auf sie zog. Er ging eine Reihe von Punkten durch. Mittelbraunes Haar, zu einem Zopf zurückgebunden. Kein Make-up, um ihr Gesicht zu betonen. Das schlichte Kleid und die flachen Schuhe hatten ihre Figur auch nicht betont.

Sie tat absichtlich nichts, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie wollte tatsächlich unsichtbar sein.

Während Evandro einen Schluck Cognac trank, dachte er wieder, dass sie etwas an sich hatte, nicht nur, wie bescheiden sie wirkte, sondern wie sie mit ihm sprach, ihm antwortete und ihn mit ihren klaren haselnussbraunen Augen anblickte. Etwas, das …

Das was?

Die Frage schwebte unbeantwortet in der Luft.

5. KAPITEL

Wie er zu Jenna gesagt hatte, nahm sich Evandro jeden Tag Zeit, um mit Amelie zusammen zu sein.

Ohne um Entschuldigung zu bitten, unterbrach er den Unterricht, um Amelie zum Schwimmen an den Pool zu entführen, um mit ihr in der nahe gelegenen Kleinstadt den neuesten Kinderfilm zu sehen oder auf Besichtigungstour zu gehen. Von einem Ausflug kehrten sie mit einem pinkfarbenen Fahrrad zurück, auf dem Amelie danach begeistert über die Terrasse und die Gartenwege sauste.

Sooft ihr Unterricht auch gestört wurde, Jenna konnte sich nur für das kleine Mädchen freuen. Es wärmte ihr das Herz, zu sehen, wie viel Mühe sich Evandro gab, um eine liebevolle Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen.

Ihr stockte plötzlich der Atem. Wenn sie beobachtete, wie die Kleine glücklich zu ihrem Vater lief und von ihm umarmt wurde, empfand Jenna tatsächlich auch ein klein wenig Neid.

Und noch etwas anderes. Etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Was sie nicht erklären konnte. Noch nie empfunden hatte.

Ihr ganzes Leben war sie damit zufrieden gewesen, für sich allein zu sein, aber jetzt, als sie Amelie gerade zum Abschied winkte, die zu einem weiteren Ausflug mit ihrem Vater aufbrach, spürte Jenna die Einsamkeit in ihrem Inneren.

Sie wusste, dass sie nicht so empfinden sollte. Sie hatte kein Recht, so zu empfinden. Amelie war ihre Schülerin, und Evandro war ihr Arbeitgeber. Dieser schöne Palazzo war nur ihr vorübergehender Arbeitsplatz. Aber wie auch immer sie sich beschäftigte – im Pool schwimmen, Waldspaziergänge machen, die nächsten Unterrichtseinheiten planen –, wenn Amelie und Evandro unterwegs waren, das Alleinsein war nicht mehr willkommen.

Es war ein beunruhigendes Gefühl, unzufrieden zu sein, wenn sie für sich allein war. Die ständige Gesellschaft des kleinen Mädchens zu vermissen. Zu erkennen, und das beunruhigte sie am meisten, dass das Highlight des Tages inzwischen das Gespräch war, das sie an den Abenden mit Evandro führte, an denen sie ihre Schülerin zum Essen mit ihm begleitete.

Jenna stellte fest, dass sie sich in seiner Gesellschaft immer wohler fühlte. Sie wunderte sich darüber, suchte nach einer Erklärung. Schließlich war ein Mann wie Evandro Rocceforte weit entfernt von ihrer Welt. Reich, kosmopolitisch, ein viel beschäftigter Großunternehmer. Ein Mann, den an einer Frau wie ihr doch wohl wenig interessieren konnte.

Und trotzdem, jeden Abend, nachdem sie gegessen hatten und Amelie nach oben ins Bett gebracht worden war, füllte Evandro ihre Weingläser auf und fing ein Gespräch mit Jenna an, das nichts mit seiner Tochter zu tun hatte. Übers Zeitgeschehen oder italienische Kunst oder literarische Werke oder irgendein anderes Thema seiner Wahl.

„Sprechen Sie ganz offen, Miss Ayrton“, sagte er dann immer. „Ich möchte Ihre ehrliche Meinung hören. Na los, ich weiß, dass Sie eine haben, und wahrscheinlich eine sehr klare.“

Jenna wunderte sich. Sosehr sie sich auch ständig Evandros eindrucksvoller Persönlichkeit bewusst war, genoss sie es zugleich aus tiefstem Herzen, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er sie ansprach, verlangte er von ihr, dass sie ihm antwortete. Zurückhaltung akzeptierte er nicht, und sie merkte, dass sie vielleicht gar nicht zurückhaltend sein wollte.

Die Tage vergingen. Evandro lud Jenna wiederholt ein, mit ihm und Amelie zu Mittag oder zu Abend zu essen oder mit ihnen zusammen einen Waldspaziergang zu machen.

Jenna gelangte zu einer weiteren Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die alle ihre Grenzen verschob, alle ihre Erwartungen, und die eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Jenna, nicht mehr unsichtbar zu sein.

Nicht für Evandro Rocceforte.

Piccolina , Signora Farrafacci sagt, sie will dir heute Nachmittag beibringen, Kekse zu backen“, verkündete Evandro beim Mittagessen. „In der Zeit werden Miss Ayrton und ich einen flotten Waldspaziergang machen. Bei unserem nächsten Spaziergang zu dritt können wir dann wieder ganz gemütlich gehen, so wie es dir am besten gefällt. Alles klar?“ Er lächelte Amelie an. „Viel Spaß beim Keksbacken!“

Jenna wollte gegen den Spaziergang protestieren, aber Evandro setzte sich über sie hinweg.

„Nein, ziehen Sie sich bitte nicht in Ihr Wohnzimmer zurück. Ich brauche sowohl Bewegung als auch gute Konversation, und nur Sie eignen sich für beides.“

Warum nur sie sich eignete, wollte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht analysieren. Zwar war Jenna Ayrton schlecht angezogen, fest entschlossen, ihr Aussehen herunterzuspielen, und ihr fehlte jeglicher Sexappeal, aber das hatte nichts damit zu tun, warum er Zeit mit ihr zusammen verbringen wollte. Auch wenn die kleine Amelie im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand, bereitete es ihm doch überraschend großes Vergnügen, in Gesellschaft ihrer Lehrerin zu sein. Gesellschaft, die er immer mehr suchte.

Er merkte, dass er sich auf die Gespräche mit ihr freute. Gespräche mit einer Frau, wie er noch nie zuvor einer begegnet war. Einer Frau, die, so zurückhaltend sie auch war, mit jedem Tag unbefangener in seiner Gegenwart wurde. Und er war froh darüber.

Nicht jeder fand es leicht, mit ihm zusammen zu sein. Die Jahre mit Berenice hatten ihn gezeichnet, ihn verbittert. Der Märchenprinz war vor langer Zeit verloren gegangen. Jetzt konnte er schroff und ungeduldig sein, herrisch und zynisch. Aber aus irgendeinem Grund schien er bei Jenna Ayrton heiterer und entspannter zu sein.

Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ, wenn sie sich für Amelie einsetzte, um sie vor den Qualen zu schützen, die sie selbst in ihrer traurigen Kindheit ertragen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie instinktiv seinen sarkastischen Humor zu verstehen schien und mit schlagfertigen Antworten darauf einging.

Und vielleicht lag es daran, dass sie ihm immer offen und ehrlich antwortete. Er konnte dem trauen, was sie sagte. Sie trimmte ihre Antworten nicht, damit sie zu seinen Ansichten passten, und sie versuchte auch nicht, seine zu ändern. Sie akzeptierte einfach ruhig und gelassen die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen.

Jenna Ayrton behauptete sich gegen ihn, sie gab nicht nach. Sie sagte, was sie dachte. Sie täuschte nichts vor. Sie hatte nichts Verschlagenes an sich.

Evandros Miene verfinsterte sich. Das genaue Gegenteil von der Frau, die er geheiratet hatte.

War das der Grund für die Anziehungskraft, die Jenna Ayrton auf ihn ausübte? Und wenn es so war, dann …

Für einen Moment war ihm unbehaglich zumute, dann tat er das Gefühl ab. Warum sollte er sich an die Warnung seines Anwalts erinnern? Wie könnte sie hierfür gelten? Jenna Ayrton war Amelies Lehrerin, sie war nur für den Sommer im Palazzo.

Jetzt, als Evandro am steilen, bewaldeten Hang ein strammes Tempo vorgab, blickte er sich zu der Frau um, die so anders war als seine toxische Ex-Frau. Anders als die Frauen, mit denen er nach seiner Scheidung von Berenice seine Freiheit gefeiert hatte. Sie war ein paar Schritte hinter ihm, blieb aber nicht zurück.

„Als Junge hatte ich ein Baumhaus, in dem ich mich versteckt habe“, sagte er. „Ich könnte es für Amelie wieder aufbauen. Glauben Sie, das würde ihr gefallen?“

„Sie würde es lieben“, erwiderte Jenna. „Jedes Kind würde gern eins haben.“

„Und Sie? Hätten Sie gern ein Baumhaus gehabt?“

„Oh, ja.“

Evandro blieb stehen und ließ sie ihn einholen. „Sie wissen, dass ich mit einsilbigen Antworten nicht zufrieden bin.“

Sie seufzte. „Ein Baumhaus wäre ein guter Platz gewesen, um mich vor meinen Stiefgeschwistern zu verstecken. Ich musste mich hinter den Gartenschuppen kauern, wo überall Brombeergestrüpp und Brennnesseln waren. Manchmal habe ich mich stundenlang dort versteckt und hatte Angst, dass sie mich finden und verspotten und quälen.“

Ihre Miene war trostlos, als Jenna Ayrton in ihre unglückliche Kindheit zurückblickte. Sie hatte befürchtet, dass Amelie in ähnlicher Weise zu einer unglücklichen Kindheit verdammt sein könnte, wenn sich herausgestellt hätte, dass er aus demselben Holz geschnitzt war wie ihr gefühlloser Vater.

Evandro presste die Lippen zusammen. Also Amelies Kindheit war jetzt gesichert. Darüber gab es überhaupt keinen Zweifel. Aber was ihre Lehrerin anging …

Der seelische Schmerz, den sie ertragen hatte, verfolgte sie noch immer. Zerstörte ihr Leben.

Evandro blickte sie an. Das tanzende Sonnenlicht spielte mit ihrem hellbraunen Haar, von dem sich durch das stramme Gehen ein paar zarte Strähnen aus dem Zopf gelöst hatte. Ihre Gesichtszüge wirkten viel weicher. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, und in ihren haselnussbraunen Augen glänzten hier unter dem Blätterdach der Bäume noch mehr grüne Lichter als sonst. Ihre kleinen Brüste hoben sich bei jedem schnellen Atemzug. Evandro dachte wieder daran, wie er sie während der ersten dramatischen Begegnung genannt hatte.

Eine Waldnymphe … Eine Sylphe des Walds, die in den Tiefen des Walds verschwinden könnte, ungesehen.

Unsichtbar.

So unsichtbar, wie ihr herzloser Vater sie sich hatte fühlen lassen.

So unsichtbar, wie sie sich noch immer fand.

Evandros Augen funkelten plötzlich vor Entschlossenheit.

Ich will nicht, dass sie unsichtbar ist! Nicht für sich selbst.

Und auch nicht für mich.

Der letzte Gedanke stieg völlig überraschend in ihm auf, begleitet von einem unerklärlichen Gefühl.

Evandro runzelte die Stirn und bemühte sich, an etwas anderes zu denken …

6. KAPITEL

Evandro stützte den Ellbogen lässig auf den Rand des offenen Fensters der silbergrauen Limousine, in der sie es zu dritt viel bequemer hatten als in dem Superauto, in dem er angekommen war. Er wartete darauf, dass seine Mitfahrerinnen aus dem Palazzo auftauchten, und er freute sich auf den Tag, der vor ihm lag.

Angeblich machten sie den Ausflug, um neue Kleidung für Amelie zu kaufen, aber Evandro wollte heute noch etwas anderes erreichen.

Die Vordertür öffnete sich, und die beiden kamen heraus. Amelie, in einem paillettenbesetzen Top in grellem Pink und einem signalgelben Ballonrock, rannte fröhlich auf ihn zu, als Evandro ausstieg, um die hintere Tür für sie zu öffnen. Über ihren grässlichen Look sagte er nur, sie sähe so blendend aus, er brauche eine Sonnenbrille.

Amelie kletterte hinein und setzte sich in den Kindersitz. Evandro überprüfte, dass sie sicher angeschnallt war, bevor er sich zu Jenna umdrehte.

Sofort bemerkte er, dass sie an diesem Morgen weniger schlicht aussah. Vielleicht, weil sie heute ausgingen.

Das hellblaue Hemdblusenkleid sah überraschend klasse an ihr aus. Der Gürtel betonte ihre schmale Taille, und die Kragenaufschläge – ob sie sich dessen bewusst war oder nicht, und Evandro vermutete, sie war es nicht – lenkten die Aufmerksamkeit dezent auf ihre Brüste unter dem Baumwollstoff des Oberteils.

Wie üblich war sie völlig ungeschminkt, aber ihre Augen und ihr Teint strahlten, vielleicht auch wegen der Aussicht, mal einen Tag herauszukommen.

Was auch immer der Grund für ihr gutes Aussehen war, Evandro begrüßte es.

Energisch schloss er die hintere Tür der Limousine. Er hatte nicht die Absicht, Jenna auf dem Rücksitz neben Amelie sitzen zu lassen.

„Ich möchte Sie hier vorn neben mir haben“, erklärte er und deutete auf den Beifahrersitz. „Damit ich auf die Sehenswürdigkeiten hinweisen kann. Sie sind viel zu lange eingesperrt gewesen, deshalb werden wir heute Shopping mit Sightseeing verbinden.“ Er warf ihr einen zufriedenen Blick zu, als sie sich seinen Wünschen fügte und vorn einstieg. „Es wird Zeit, dass Sie etwas von der Region sehen.“

„Es ist wirklich nicht nötig, mich auf eine Besichtigungstour mitzunehmen …“, begann Jenna.

„Wir werden auch eine nahe gelegene römische Villa besuchen, eine bedeutende Ausgrabungsstätte, die für Amelie lehrreich sein wird, falls Sie Bedenken haben, sich einen Tag freizunehmen.“ Er ließ den Motor an und lenkte das Auto langsam über die Auffahrt. Die Erinnerung daran, wie Jenna ihm vors Auto gelaufen war, damit er nicht gegen den Steinschlag krachte, wurde in ihm wach.

Er wandte ihr das Gesicht zu. „Ich habe Ihnen nie für das gedankt, was Sie damals getan haben. Ich habe Sie nur angeschrien. Höchstwahrscheinlich haben Sie mir das Leben gerettet.“

Ihm wurde plötzlich kalt. Wenn er damals in den Tod gerast wäre, dann wäre Amelie zurück zu Berenice gebracht worden, dazu verdammt, völlig verkorkst aufzuwachsen. Entweder wäre sie so selbstsüchtig und narzisstisch wie ihre Mutter geworden, oder sie wäre über alle Maße verletzt und geschädigt worden, weil sie sich immer nach einer Liebe gesehnt hätte, zu der seine Ex-Frau nicht fähig war.

Es war ein unerträglicher Gedanke.

„Deshalb danke ich Ihnen jetzt“, sagte er.

Ihre Blicke trafen sich, und der Moment hatte eine unvermutete Intensität, selbst wenn es nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte.

Als sich Evandro wieder auf die schmale Privatstraße konzentrierte, wirkte dieser Moment noch in ihm nach.

„Lasst uns Pasta essen!“, verkündete Evandro, als sie sich draußen vor einer Trattoria an einen Tisch setzten. Sie hatten für ihr Mittagessen in einer malerischen kleinen Stadt angehalten, der Blick über den mittelalterlichen Marktplatz war ganz bezaubernd.

Der Tag war bisher wundervoll gewesen. Jenna hatte alles genossen. Zuerst hatten sie die römische Villa besichtigt, dann waren sie weiter durch die hügelige Landschaft gefahren, vorbei an Getreidefeldern und Weinbergen. Evandro hatte auf historisch und geografisch interessante Sehenswürdigkeiten hingewiesen, ihnen etwas darüber erzählt, wie Wein hergestellt wurde und wie die Menschen früher gelebt hatten.

Jenna konnte nicht leugnen, wie schön es war, die Landschaft dieses Teils Italiens zu sehen, den sie noch nie zuvor besucht hatte. Und sie konnte auch nicht leugnen, wie schön es war, einbezogen zu werden. Oder wie schön es war, sich mit Evandro so wohlzufühlen.

In Gedanken ging sie noch einmal durch, wie er ihr dafür gedankt hatte, dass sie ihn davor bewahrt hatte, mit seinem Auto in den Steinschlag zu krachen. Wie er sie dabei angesehen hatte. Der Moment hatte eine Intensität an sich gehabt, die sie ganz still hatte werden lassen.

Ihr Blick glitt jetzt zu ihm, während er mit Amelie besprach, welche Pasta sie wählen sollten, die Köpfe über der Speisekarte zusammengesteckt, einer so hell und einer so dunkel. Jenna fiel ein, dass sie sich schon einmal gefragt hatte, von wem in der Familie Amelie ihr blondes Haar und den hellen Teint hatte. Aber wie wichtig war das? Jennas Miene wurde weicher, während sie die beiden beobachtete, die so normal, so völlig unbefangen miteinander umgingen.

Ihre Sorgen um Amelie waren ausgeräumt.

Sie wird niemals die einsame Außenseiterin sein, die ich als Kind war, dachte Jenna. Es schnürte ihr die Kehle zu. War sie es nicht noch immer? Wie wundervoll es auch war, zu diesem Ausflug eingeladen zu sein, sich so gut mit ihrem Arbeitgeber zu verstehen und ihre Schülerin so gernzuhaben, sie selbst war nur eine Außenseiterin, eine Zuschauerin.

Ich werde im Herbst weg sein, und wahrscheinlich werde ich die beiden nie wiedersehen.

Der Gedanke tat weh, und es schockierte sie, wie heftig der Schmerz war.

Jenna zwang sich, konzentriert die Speisekarte zu lesen. Ja, ihre Zeit in Italien würde enden, ihre Zeit mit Amelie in dem schönen Palazzo, ihre Zeit mit Evandro.

Aber bis dahin würde sie alles genießen, was sie hier hatte.

„Gehen wir jetzt einkaufen?“, fragte Amelie hoffnungsvoll, als sie wieder ins Auto stiegen.

„Ja“, bestätigte ihr Vater, und sie verließen die malerische Kleinstadt auf dem Hügel und fuhren in die größte Stadt der Region, die ein ziemlich großes Geschäftsviertel hatte, einschließlich eines Kaufhauses, wo sie parkten.

In der Kinderabteilung rannte Amelie ausgelassen los.

„Das überlasse ich jetzt Ihnen“, sagte Evandro zu Jenna. „Kaufen Sie ihr alles, was sie braucht. Dazu sollten auch ein paar Teile für besondere Anlässe gehören, die besser sind als ihre derzeitige entsetzliche Sammlung. Ich bin in einer Stunde zurück, um zu bezahlen.“

Und schon war er weg.

Die Stunde verging natürlich wie im Flug. Indem sie Amelies erfreuliche Unentschlossenheit sanft, aber energisch lenkte, half Jenna ihr, eine Anzahl von geeigneten Kleidungsstücken auszuwählen.

Auf die Sekunde genau erschien Evandro wieder.

„Viel besser“, sagte er zu Amelies schlichtem, ärmellosem Gingham-Sommerkleid, und bezahlte es lächelnd samt aller anderen Käufe mit einer sehr exklusiv aussehenden Kreditkarte.

Dann ging er neben Amelie in die Hocke und sprach in leisem, verschwörerischem Ton mit ihr. Amelies Augen leuchteten auf, und sie nickte heftig.

Evandro richtete sich auf und hob die vielen Tragetaschen hoch. „Jetzt sind Sie dran“, sagte er zu Jenna.

Sie starrte ihn an. „Ich verstehe nicht.“

„Amelie möchte, dass Sie ein neues Kleid bekommen“, erklärte er, seine Stimme samtweich. „Um Danke schön zu sagen für all die Mathestunden.“

Amelie zog an Jennas Hand. „Es ist nicht wirklich für die Mathestunden. Weil ich Mathe nicht mag. Also zieht papà Sie nur auf. Aber es ist, um Ihnen zu danken. Es ist ein Geschenk von mir.“ Sie sah plötzlich unsicher aus. „Wenn Sie ein Geschenk von mir haben wollen …“ Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie blickte Jenna ängstlich an.

„Ich würde ein Geschenk von dir wunderbar finden“, sagte Jenna herzlich. „Und ein neues Kleid wäre wirklich toll.“

Wie könnte sie denn das kleine Mädchen zurückweisen? Selbst wenn sie skrupellos, ja schamlos, von Evandro in diese Situation hineinmanövriert worden war. Aber warum? Schmerzhaft ehrlich, wie sie war, kam ihr der Gedanke, dass es männlicher Widerwille dagegen war, mit einer Frau gesehen zu werden, die so anders war als die Frauen, die er sich üblicherweise als Begleitung ausgesucht hätte.

Amelie strahlte bei ihrer Antwort, und Jenna ließ sich lächelnd von ihr in die Damenabteilung führen.

Sie hatte angenommen, dass ihr Arbeitgeber wieder verschwinden würde. Aber er setzte sich ganz selbstverständlich in einen der großen Ledersessel, die extra für Menschen wie ihn aufgestellt waren, die eine Shoppingpause benötigten, und griff nach den bereitgelegten Sportmagazinen.

Glücklich, wieder in ihrem Element zu sein, führte Amelie ihre Lehrerin an den Ständern mit Kleidern entlang, bis sie einen fand, an dem hing, worauf sie aus war.

„Diese sind wie meine, aber in Ihrer Größe“, sagte sie zu Jenna und begann, sie durchzublättern.

Eine Verkäuferin kam zu ihnen und machte begeistert mit.

Jenna gab auf, besiegt.

Am nächsten Tag loggte sich Evandro höchst zufrieden aus, die ganze Arbeit, die er heute hatte erledigen wollen, war fertig. Seine Vorstandsmitglieder waren glücklich, seine Aktionäre waren glücklich, seine Kunden waren glücklich – und er war glücklich.

Einen Moment lang saß er still in der Bibliothek und wunderte sich. Das Gefühl war er nicht gewohnt. Seit Jahren nicht mehr. Dann stand er auf, hörte auf, sich zu wundern, und genoss das Gefühl einfach.

Er sah auf seine Armbanduhr. Vier Uhr. Zeit für den Nachmittagstee. Einen ganz besonderen Nachmittagstee: eine feine Teegesellschaft. Und alle würden entsprechend aussehen.

Auch Jenna Ayrton, die dazu ihr neues Kleid tragen würde. Er hatte sie sehr bewusst schamlos in die Lage hineinmanövriert, es annehmen zu müssen.

Als sie durch den Wald gegangen waren, hatte er beschlossen, sie nicht länger unsichtbar sein zu lassen. Er wollte nicht, dass sie sich endlos vor der Welt versteckte, so wenig von sich hielt.

Heute Morgen hatte er Amelie strenge Anweisungen gegeben, Anweisungen, bei denen ihre Augen vor Freude und Begeisterung aufgeleuchtet hatten, und jetzt, als er aus der Bibliothek schlenderte, glitt sein Blick erwartungsvoll zu der breiten Marmortreppe, die nach unten in die Eingangshalle führte.

Und da waren sie. Amelie und Jenna. Sie kamen gerade die Treppe herunter.

Amelie sah in einem der gestern gekauften Kleider bildhübsch aus. Ihr langes blondes Haar wurde von einem geblümten Band zurückgehalten, die Schleife daran passte zur gelben Schärpe an ihrem Kleid, das mit kleinen gelben Rosen gemustert war. Amelie strahlte übers ganze Gesicht, und als Evandro sah, wie vertrauensvoll sie ihn anlächelte, wurde er von einer Emotion ergriffen, die er so stark noch nie empfunden hatte.

Amelie war hier in Sicherheit. Er würde sich um sie kümmern, so gut er konnte. Und er würde sie beschützen, um ihretwillen und um seinetwillen. Das Kind, das von ihm ferngehalten, als Waffe gegen ihn eingesetzt worden war, war ihm nicht länger fremd.

Er hatte ein Engegefühl in der Brust. War das Fürsorglichkeit – oder Liebe?

Zwar hatte er keine Erfahrung als Vater, zwar hatte er sich Tag für Tag vortasten müssen, um Amelies Vertrauen zu gewinnen, aber jetzt …

Jenna hatte zu ihm gesagt, Amelie brauche die Gewissheit, dass sie hoch geschätzt wurde, erwünscht war und geliebt wurde.

Rührung stieg in ihm auf, als Amelie die Hand ihrer Lehrerin losließ und auf ihn zulief.

Und sie wird hoch geschätzt, sie ist erwünscht, und sie wird geliebt.

Evandro bückte sich, um seine Tochter zu umarmen, spürte, dass sie ihre kleinen Arme um seinen Nacken schlang, und wieder stieg Rührung in ihm auf. Dann richtete er sich auf und richtete den Blick auf Jenna.

Sie war überhaupt nicht mehr unsichtbar!

Meine Waldnymphe.

Der Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf, während er den Blick nicht von ihr losreißen konnte. Ihre schlanke Figur war so graziös wie die einer Waldnymphe in dem wadenlangen grünen Kleid im Stil der fünfziger Jahre.

Zum ersten Mal trug sie ihr Haar offen, im selben Stil wie Amelie, zurückgehalten mit einem grünen Samtband. Und sie war geschminkt. Nicht stark, ein bisschen Mascara, etwas dunkelgrauer Lidschatten, um ihre Augen zu betonen, die jetzt forstgrün waren wie ihr Kleid, und ein Hauch Lipgloss. Aber es genügte, um seinen Blick staunend auf ihre feinen Gesichtszüge zu lenken. Er wollte nur noch bewundern, wollte seinen Blick verweilen lassen.

„Sehen wir hübsch aus, papà ?“, fragte Amelie erwartungsvoll. „Miss Jenna und ich?“

„Ihr seht beide bezaubernd aus!“, sagte er prompt.

Er ließ den Blick noch einmal über Jenna gleiten, wusste, dass es sie zum Erröten brachte, und war froh darüber.

„Endlich!“, sagte er leise zu ihr. „Sie sind aus Ihrem Versteck hervorgekommen, haben sich sichtbar gemacht.“ Er ergriff ihre Hand, die in seiner zu zittern schien, und hob sie formvollendet an seine Lippen. „Verstecken Sie sich nie wieder!“

Für einen Moment hielt er ihren Blick fest, und es war, als würde sich irgendetwas in der Welt um ihn herum verändern. In ihm.

Im Geiste hörte er die düstere Prophezeiung seines Anwalts. Aber Evandro verdrängte sie. Er wollte sich nicht dieses wundervolle Gefühl verderben lassen, das ihn mit einem warmen Leuchten zu erfüllen schien.

Jennas Hand war noch in seiner. Er zog sie in seine Armbeuge, ergriff mit seiner anderen Hand Amelies und führte die beiden lächelnd nach draußen. „Jetzt wird es Zeit für unsere Teegesellschaft.“

Amelie hatte darauf bestanden, dass Jenna ihr neues Kleid anzog und sich schminkte. Wie schon im Kaufhaus hatte Jenna nachgegeben, unfähig, das kleine Mädchen zu enttäuschen. Also hatte Jenna ihr Haar offen gelassen, sich ein Band aus Amelies riesiger Sammlung geliehen, und sich dann, unter Amelies Anleitung, geschminkt. Nicht stark, sondern gerade genug.

Genug, um ihre Augen größer und ihre Wimpern länger wirken zu lassen, ihren Lippen einen zarten Glanz zu verleihen. Ihr Haar offen zu tragen schien ihre Wangenknochen hervorzuheben. Das schön geschnittene Kleid im Stil der fünfziger Jahre betonte ihre zierliche Figur und verlieh ihr Rundungen, die sie nicht zu haben geglaubt hatte.

Staunend hatte Jenna ihr Spiegelbild angestarrt. Sie hatte versucht, sich zu erinnern, wann sie zuletzt Make-up getragen und ihr Haar gestylt hatte, wann sie zuletzt etwas angehabt hatte, was als modisch durchgehen konnte. An der Uni wahrscheinlich, auf einer Erstsemesterparty. Allerdings nahm dort niemand Notiz von einer stillen, langweiligen jungen Frau, die sich nur auf ihr Studium konzentrierte, nicht auf ihr gesellschaftliches Leben. Und als Lehrerin in London musste sie nur gepflegt aussehen und imstande sein, in einer überfüllten Klasse mit vielen Kindern aus gestörten Verhältnissen die Disziplin aufrechtzuerhalten.

Es war ein Leben, himmelweit entfernt von diesem schönen, vornehmen italienischen Palazzo. Himmelweit entfernt von so jemandem wie Evandro Rocceforte.

Jenna zitterte ein bisschen, als sie jetzt, die Hand auf seinem kräftigen Unterarm, mit ihm und Amelie in den Rosengarten ging, wo unter einem Sonnenschirm ein hübscher schmiedeeiserner Tisch gedeckt war.

Hatte Evandro wirklich seinen Blick über sie gleiten lassen und ihr die Hand geküsst, als wäre er der Märchenprinz persönlich?

Und ich Aschenputtel …

Ein Aschenputtel, das sich in seiner Arbeit vergraben hatte. Versteckt. Unsichtbar.

Verstecken Sie sich nie wieder!

Sie hatte seine leise, eindringliche Stimme gehört und sich gewünscht, nicht länger unsichtbar zu sein.

Nicht für Evandro Rocceforte.

7. KAPITEL

„Vielen Dank für die Einladung!“, sagte Evandros Haushälterin hoheitsvoll.

Evandro führte sie galant zu ihrem Platz, als sie in den Rosengarten gerauscht kam, eine prachtvolle Erscheinung in einem himmelblauen Kostüm.

„Signora Farrafacci hat unser Essen zubereitet, deshalb denke ich, es ist nur fair, dass sie es mit uns zusammen genießt.“ Evandro lächelte Jenna an.

„Tja, ich verstehe mich darauf, eine Biskuittorte zu backen, wenn ich das sagen darf“, stimmte seine Haushälterin zufrieden zu.

Sie winkte Loretta und Marie vorwärts, jede stellte ein schwer beladenes Tablett auf den Tisch.

Es war ein vollständiger englischer Nachmittagstee mit winzigen Sandwiches – Jenna entdeckte Ei, Räucherlachs und Gurke – und mehreren Torten. Himbeermarmelade quoll zwischen den Schichten der mit Puderzucker bestäubten Biskuittorte heraus, die flankiert wurde von regenbogenfarbenen kleinen Törtchen mit bunter Buttercremeglasur.

Und dazu gab es nicht nur Tee.

„Welche Teegesellschaft wäre ohne Champagner vollkommen?“, fragte Evandro. Er hob die Flasche aus dem Eiskühler und öffnete sie.

Champagner war ideal für den Anlass. Ein Anlass, den er perfekt organisiert hatte. Er war bester Laune. Alles hatte genau so geklappt, wie er es geplant hatte.

Sein Blick ging zu Jenna, und wieder hatte er große Freude an der Verwandlung, die er in ihr bewirkt hatte. Wer hätte gedacht, dass ein Kleid, eine Frisur, ein Hauch Make-up solch einen Unterschied machen würden? Aber da steckte mehr dahinter. Jenna hatte ein neues Strahlen an sich, einen Glanz in ihren Augen, ein Lächeln, das von innen kam.

Sie weiß, dass sie nicht mehr unsichtbar ist. Das ist es, was den Unterschied macht. Das ist es, was meinen Blick zu ihr zieht …

Evandro unterbrach seine Gedanken. Die Verwandlung, die er in Jenna bewirkt hatte, war für sie, nicht für ihn. Das durfte er nicht vergessen.

Schnell füllte er drei Sektflöten für Signora Farrafacci, Jenna und sich selbst bis zum Rand, dann schenkte er ein Viertel Glas ein, füllte es großzügig mit Orangensaft auf und gab es Amelie.

Er sah Jenna an. „Erschrecken Sie nicht. Hier in Italien, wie in Frankreich, werden Kinder von klein auf mit Wein vertraut gemacht, aber in sehr kleinen Mengen.“ Er wandte sich Amelie zu. „Und? Was hältst du davon?“

Vorsichtig trank sie einen Schluck. „Das kitzelt! Aber es schmeckt toll.“

„Man nennt es Buck’s Fizz“, erklärte ihr Signora Farrafacci. „Ich trinke meinen lieber pur, vielen Dank.“ Sie prostete ihrem Arbeitgeber zu.

Er beobachtete, wie Jenna ebenfalls ihr Glas hob.

„Salute!“ , rief er und stieß mit ihnen und Amelie an. „Und jetzt kann das Festessen beginnen!“

Signora Farrafacci spielte die Gastgeberin und schenkte allen Tee ein, obwohl Amelie lieber bei ihrem Buck’s Fizz geblieben wäre.

Lächelnd lehnte sich Evandro zurück. „Was für ein schöner Nachmittag das ist! Wir sollten das öfter machen, den ganzen Sommer hindurch. Und wir werden uns jedes Mal in Schale werfen.“

Während Jenna an ihrem Champagner nippte, war ihr, als würde er in ihrem Blutkreislauf perlen, sie in eine unbeschwerte und fröhliche Stimmung versetzen, die sie ständig lächeln ließ.

Ihr Blick ging zu dem Mann, der ihr gegenübersaß und freundlich seine Tochter neckte und seine Haushälterin für die Biskuittorte lobte. Ein strahlendes Glücksgefühl stieg in Jenna auf.

Sie konnte den Blick nicht von Evandro abwenden. Er saß entspannt zurückgelehnt auf dem schmiedeeisernen Gartenstuhl. In der Wärme des Nachmittags trug er sein weißes Hemd am Kragen offen und hatte die Ärmel hochgekrempelt. All das betonte nur die männliche Kraft seines Körpers.

Dies war der Mann, der die Verwandlung in ihr bewirkt hatte, sie herausgeholt hatte aus ihrem lebenslangen Verstecken vor der Welt – vor Männern. Der eine Mann auf der Welt, für den sie nicht mehr unsichtbar war.

Vor warmem, wundervollem Glück sprudelte Jenna wie der perlende Champagner in ihrem Glas.

„Ich habe mich satt gegessen, daran besteht kein Zweifel!“ Signora Farrafacci stand auf. „Und jetzt muss ich los. Ich besuche heute Abend meinen Sohn.“ Sie nickte Evandro zu, als er auch aufstehen wollte. „Nein, bleiben Sie sitzen. Danke für diese schöne Teegesellschaft. Und dafür, dass Sie heute um ein kaltes Abendessen gebeten haben, sodass ich weggehen kann.“

Sie hob die Reste ihrer Biskuittorte hoch, und Evandro ermunterte Amelie dazu, die übrig gebliebenen Törtchen in die Küche zu tragen. Jenna wollte damit beginnen, das Geschirr abzuräumen, aber er stoppte sie.

„Nein, bleiben Sie noch eine Weile. Wir haben den Champagner nicht ausgetrunken. Piccolina “, sagte er zu Amelie, „wenn du spielen willst, mach etwas, was dein neues Kleid nicht gefährdet, oder zieh dich um.“

Amelie nickte und folgte Signora Farrafacci.

Evandro griff nach der Champagnerflasche und schenkte ihnen nach. „Und? Hat Ihnen unsere Teegesellschaft gefallen?“

„Sie war ein Triumph!“

Das war die Reaktion, die er erwartet hatte. Er lachte. „Wie Ihr neues Kleid.“ Er ließ bewundernd den Blick über sie gleiten. „Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Unterschied es macht.“

„Danke“, sagte Jenna leise.

Ihr ruhiger, eindringlicher Ton verriet ihm die Tiefe ihrer Gefühle. Verriet ihm, wofür sie ihm dankte.

Evandro ergriff ihre Hand, hob sie an seinen Mund, streifte sie leicht mit den Lippen und ließ sie wieder los. Es schien ihm die richtige Geste zu sein. Mehr könnte …

Was ich getan habe, habe ich Jenna zuliebe getan, ermahnte er sich. Sie soll davon profitieren, nicht ich.

„Und ich danke Ihnen“, sagte er halb ernst, halb sarkastisch. „Das Kleid, das Sie für Amelie ausgesucht haben, ist eine riesige Verbesserung im Vergleich dazu, wie ihre Mutter sie gekleidet hat.“

Jenna lächelte. „Sie sah bezaubernd aus, genau, wie Sie zu ihr gesagt haben“, erwiderte sie herzlich. „Sie will Ihnen gefallen.“

„Sie soll mir nicht gefallen wollen!“ Evandros Stimme klang plötzlich scharf. „Wenn das der Eindruck ist, den ich ihr vermittle, dann scheitere ich gerade mit meinen Versuchen, ein guter Vater zu sein.“

„Nein, Sie scheitern nicht!“, rief Jenna mitfühlend. „Sie sind ein wundervoller Vater! Es ist normal, dass ein Kind seinen Eltern gefallen will. Wenn es gegenseitig ist und Sie ihr auch gefallen wollen – und ich kann erkennen, dass Sie es wollen –, dann ist es völlig in Ordnung. Nur wenn es einseitig ist, wird es gefährlich. Ungesund“, endete sie, und jetzt klang sie traurig.

„Und zwischen Erwachsenen ist es auch ungesund“, stieß Evandro hervor. „Zu versuchen, die Liebe einer Person zu gewinnen, die unfähig ist, sie zu erwidern. In ihren Bann zu geraten.“

„Verzaubert von einer bösen Hexe …“

Die Worte rutschten Jenna heraus und hingen in der Luft zwischen ihnen. Er hatte das bei jenem ersten gemeinsamen Abendessen gesagt. Er musste ihr nicht erklären, wer die böse Hexe war.

„Genau das“, sagte Evandro und hielt Jennas Blick fest. Dann griff er nach seinem Glas und winkte ihr, dasselbe zu tun. „Verschwenden wir nicht Champagner an deprimierende Erinnerungen. Meine Ex-Frau gehört der Vergangenheit an. Wie Ihr Vater. Die einzige Macht, die sie jetzt noch über uns haben, ist die Macht, die wir ihnen zugestehen.“

Evandro stieß mit Jenna an, doch sein Lächeln verlor an Strahlkraft. Für ihn war das, was er gesagt hatte, eine Lüge. Berenice hatte noch immer die Macht, sein Leben zu zerstören.

Aber daran wollte er nicht denken, nicht jetzt, nicht hier.

Jennas Verwandlung war einfach fantastisch. Es bestand sicherlich keine Gefahr darin, ihren Anblick begierig in sich aufzunehmen.

Friedlich nippten sie an ihrem Champagner, während sich die Hitze zu einer milden Wärme abschwächte. Aus dem offenen Fenster von Amelies Spielzimmer hörte Evandro schwach ihre Stimme. Seine Tochter diskutierte mit ihren Puppen über Mode. Er lächelte resigniert. Vielleicht würde Amelie später ja doch in die Modebranche gehen.

Er sagte das zu Jenna.

Sie lächelte. „Tja, welchen Beruf auch immer sie wählt, Mathe wird dafür nicht nötig sein, vermute ich.“

Evandro lachte. „Was hat Sie veranlasst, Sprachen zu studieren?“, fragte er neugierig.

„Ich hatte eine Begabung dafür. Aber im Nachhinein glaube ich, ich habe sie gewählt, weil sie meinen Horizont für ein anderes Leben erweitern sollten als dasjenige, das ich hatte.“

„Ein Fluchtweg?“

Sie nickte. „Aber dann habe ich angefangen, leidenschaftlich gern zu unterrichten. Um die Fähigkeiten von Kindern zu fördern. Um an ihnen wiedergutzumachen, was bei mir versäumt worden ist. Und wie war das bei Ihnen? Hatten Sie überhaupt eine andere Wahl, als Rocceforte Industriale zu übernehmen?“

„Ich wollte es. Vielleicht, weil es mir im Blut liegt. Aber auch, weil es meinem Vater gefallen hat. Oh, es war nicht so, dass ich versucht habe, seine Liebe und Achtung zu gewinnen, ich hatte beides reichlich. Es war ganz ähnlich, als ich …“

Evandro brach ab. Berenices Schatten kündigte sich drohend an. Vielleicht würde es helfen, es auszusprechen. Und wenn es jemanden gab, dem er es sagen konnte, dann dieser Frau hier, die selbst durch die Grausamkeit anderer gezeichnet war.

„Es war ähnlich, als ich Berenice geheiratet habe. Ich wollte es nur zu gerne tun, aber es hat auch meinen Vater glücklich gemacht.“

Er stand auf. Zum Teufel mit der unseligen Frau, die er viel zu schnell geheiratet hatte, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte! Er wollte sie diesen besonderen Tag nicht verderben lassen.

„Kommen Sie.“ Er zog Jenna hoch. „Wir machen einen Spaziergang, um den ganzen Kuchen abzuarbeiten.“

Jenna stand draußen auf der Terrasse. Die untergehende Sonne füllte den Garten mit goldenem Licht. Amelie war für ihre Badezeit Maria übergeben worden, und Evandro war in die Bibliothek verschwunden, um seine E-Mails zu checken. Loretta hatte gerade eben einen Aperitif für sie beide nach draußen gebracht, nachdem Jenna ihr geholfen hatte, den Tisch im Esszimmer zu decken, und die Salate und Antipasti geholt hatte, die nach dem üppigen Nachmittagstee als Abendessen genügen würden.

Noch immer spürte Jenna dieses warme Glühen von Glück, das sie den ganzen Nachmittag erfüllt hatte. Sie drehte sich um, als sie Evandro auf die Terrasse kommen hörte. Ihr Gesicht leuchtete auf, sie konnte nichts dagegen machen.

Leuchtete sein Gesicht auch auf, während er auf sie zukam? Im schwächer werdenden Licht konnte Jenna es nicht erkennen.

Er blieb am Tisch stehen, griff nach den Aperitifs und kam zu ihr herüber.

„Sehen Sie mal, was Sie hiervon halten.“ Er reichte ihr ein Martiniglas.

Sie trank einen Schluck. Der Cocktail schmeckte nach Zitrusfrüchten, schön herb und frisch. Und vermutlich war er stärker, als es nach zwei Glas Champagner vernünftig war. Aber heute war ein besonderer Tag, da konnte man Vorsicht und Vernunft doch sicherlich außer Acht lassen …

„Und?“ Evandro zog fragend die Augenbrauen hoch.

Jenna äußerte ihre Meinung, und er nickte zufrieden.

„Wir trinken auf die untergehende Sonne“, sagte er. Sein Blick richtete sich auf Jenna. „Und mehr als die untergehende Sonne …“

In seiner Stimme schwang etwas mit, was noch nie darin gewesen war. Etwas, was sie wie sein Handkuss ein bisschen zittern ließ.

Während sie an ihren Cocktails nippten, beobachteten sie, wie die Sonne langsam unter den Horizont sank. Es wurde dunkel, und Zikaden zirpten in der Luft. Es war ein seltsam intimer Moment.

Gedanken schwirrten Jenna durch den Kopf, dann beruhigten sie sich. Dies war kein Moment, um sich Sorgen zu machen, sondern um still nebeneinanderzustehen. Nur Evandro und sie …

Ein Geräusch hinter ihr veranlasste sie, sich umzudrehen. Amelie stand an den offenen Glastüren des Esszimmers, gekleidet in ihren Bademantel und Hausschuhe. Jenna hielt ihr lächelnd die Hand hin, und das kleine Mädchen rannte zu ihr und ergriff sie.

Evandro lächelte seine Tochter an. „Wir suchen den ersten Stern, piccolina . Kannst du ihn schon sehen?“

Amelie blickte angestrengt zum Himmel, dann leuchtete ihr Gesicht auf. „Da! Ich sehe ihn, papà ! Da oben!“

„Ja, stimmt!“, rief Jenna.

„Kluges Mädchen.“ Evandro fasste seine Tochter an der anderen Hand und lächelte Jenna an. Ein herzliches, kameradschaftliches und vertrautes Lächeln, das zu verweilen schien.

Sie spürte wieder das Glühen in sich aufsteigen, das sie den ganzen Nachmittag erfüllt hatte: Glück.

So einfach. So kostbar. So ein schönes Gefühl.

So unbekannt in ihrem Leben. Bis jetzt.

Einen Moment lang standen sie noch zusammen da und beobachteten, wie der Stern heller und der Himmel dunkler wurde.

Als wären wir eine Familie. Als wäre Amelie meine Tochter und Evandro mein …

Jenna ließ Amelies Hand los und trat zur Seite. Entsetzt darüber, was sie gerade gedacht hatte.

Was sie gewagt hatte, sich zu wünschen.

Sanft drückte Jenna dem schlafenden Kind einen Kuss auf die Stirn, bevor sie wieder nach unten ging. Lautlos schlüpfte sie ins Esszimmer, wo Evandro noch saß. Seine Miene war verschlossen. Als er sie sah, stand er auf.

„Der Mond ist aufgegangen“, sagte er. „Kommen Sie, und sehen Sie es sich an.“

Zwar war sie seine direkte Art gewohnt, aber jetzt sprach er in einem abgehackten Ton, der anders war. Allerdings war Evandro auch beim Abendessen anders gewesen. Ebenso wie sie.

Obwohl er mit Amelie beim Essen ganz der Alte gewesen war, hatte Jenna gemerkt, dass sein Blick oft zu ihr huschte. Nahm er noch immer in sich auf, wie anders sie aussah, was für eine Verwandlung er in ihr bewirkt hatte? Für ihn war sie sichtbar geworden. Wonach sie sich gesehnt hatte.

Sie war verwirrt gewesen, und schockiert darüber, was sie sich erlaubt hatte, zu denken, während sie – das Kind zwischen sich – nach dem Sonnenuntergang auf der Terrasse gestanden hatten. Trotzdem war sie sich seiner Blicke brennend bewusst gewesen.

Jetzt folgte sie ihm nach draußen auf die Terrasse. Vielleicht hätte sie nicht wieder nach unten kommen sollen. Es wäre besser – sicherer – gewesen, ihn erst morgen wiederzusehen, wenn sie wieder ihre Alltagskleidung trug, ihr Haar zurückgesteckt hatte und ungeschminkt war.

Der gefährliche Gedanke, der ihr vorhin gekommen war, machte ihr noch immer schwer zu schaffen. Jenna wusste, dass sie so etwas nicht denken durfte. Sie wusste, dass es eine Nachwirkung dieses ganz besonderen Tages gewesen war.

Ein Tag, der wie ein wundervolles, kostbares Geschenk war, für das sie ewig dankbar sein würde. Ein Tag wie kein anderer in ihrem Leben.

Aber sie durfte nicht ihre eigenen Sehnsüchte in ihre Lebenswirklichkeit hineininterpretieren. Die Sehnsüchte einer Frau, die niemals zu einer liebevollen Familie gehört hatte, die überhaupt niemals dazugehört hatte. Einer Frau, die niemals jemanden gehabt hatte, der sie liebte. Die Einsamkeit hatte akzeptieren müssen, weil dies alles war, was sie kennengelernt hatte. Alles, was sie vom Leben erwartet hatte.

Aber dass sie nicht länger die Einsamkeit wählen wollte, bedeutete nicht, dass sie hier einen Platz haben konnte. Oder irgendeinen Anspruch auf irgendjemanden hier.

Nicht auf Amelie. Und nicht auf Evandro.

Überhaupt keinen Anspruch, wie oft ihr Blick auch zu ihm glitt, wie äußerst bewusst sie sich auch seiner überwältigenden körperlichen Wirkung auf sie war, die vom ersten Moment da gewesen war.

Nichts davon zählte.

Sie war Amelies Lehrerin, das war alles. Und wenn Amelies Vater sie freundlich und anständig behandelte, bedeutete das nicht …

Es bedeutete gar nichts.

Und trotzdem sehnte sich Jenna danach, dass es etwas bedeutete. Sie wünschte sich, dass Evandro sie auch für sich selbst von unscheinbar in hübsch verwandelt hatte, von langweilig zu begehrenswert. In eine Frau, die die Augen eines Mannes wie Evandro Rocceforte aufleuchten lassen konnte.

Im Geiste hörte Jenna wieder, was er zu ihr gesagt hatte, als er ihr die Hand geküsst hatte.

Verstecken Sie sich nie wieder!

Und sie wollte es nicht. Nicht vor ihm. Er sollte sie sehen, jetzt, heute Abend. Von ihm schön gemacht. Für ihn.

Er war auf der Terrasse stehen geblieben und drehte sich nun zu ihr um. Ihr stockte der Atem. Überall um sie beide herum erfüllte der Chor der Zikaden die Luft, die noch mit dem Duft sommerlicher Blumen parfümiert war. Evandro streckte ihr die Hand entgegen, sagte nichts, wartete nur darauf, dass sie es akzeptierte. Jenna sah ihn an. Seine markanten Gesichtszüge waren in der Dunkelheit überschattet, und sie fing den schwachen Duft seines Aftershave auf.

Seine ausgestreckte Hand berührte ihr Haar. „Tragen Sie es immer lang und offen und bezaubernd. Es mit Nadeln zu verstecken ist ein Verbrechen.“

In seiner Stimme lag ein Lächeln, aber auch mehr. Etwas, was Jenna in ihrem Innersten bewegte.

Ganz leicht streichelte er ihr übers Haar. So leicht, dass sie es kaum spürte, trotzdem ließ es sie zittern. Sie konnte sich nicht rühren, sie konnte nur dastehen und ihn anblicken, ihn sehnsüchtig in sich aufnehmen. Sie wollte nichts lieber, als so hier zu sein. Während sie so aussah, wie sie es jetzt tat, für ihn, für diesen Mann.

Für diesen Mann, der wie kein anderer auf der ganzen Welt war. Nur bei ihm fühlte Jenna sich so, wie sie sich jetzt fühlte.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie sich gerade gesagt hatte. Sie war die Lehrerin seiner Tochter. Nur das.

Aber wie sollte sie nur das denken, während sie ihm so nahe war, während sie ihr offenes Haar wie einen silbernen Fluss über ihre Schultern fließen spürte? Während sie spürte, wie der Stoff ihres wunderbaren Kleids ihre Beine umspielte und sich zugleich eng an ihre Brüste schmiegte …

Das silberweiße Mondlicht schien auf ihr Gesicht, und Jenna wusste, dass es ihre dunkelgrau geschminkten Augen betonte, ihre feinen Gesichtszüge unterstrich und ihre weichen Lippen hervorhob, als sie Evandro ansah, ihr Blick mit allem erfüllt, was sie empfand.

Noch nie war sie sich ihres Körpers so bewusst gewesen. Sie spürte ihr Herz schlagen und den schnellen Puls an ihrem Hals. Ihre Lippen öffneten sich, als würde …

„Oh, Jenna …“, flüsterte Evandro, und es klang wie eine Warnung.

Aber warnte er sie oder sich selbst?

„Jenna. Nicht …“

Als er sich von ihr zurückzuziehen schien, wurden ihre Augen groß vor Bestürzung. Sie hörte sich schwach und verträumt seinen Namen flüstern. „Evandro …“

Ihre ganze Sehnsucht lag im Klang seines Namens, alles, was sie nicht länger leugnen konnte, nicht länger zurückhalten konnte. Es war von Anfang an so gewesen. Und jetzt …

Im Mondlicht sah Jenna seine dunklen Augen aufblitzen. Und die Linien um seinen Mund wurden weicher.

Für einen endlosen Moment blieb die Zeit stehen, die Welt blieb stehen, Jennas Herz blieb stehen. Evandro verharrte regungslos, als würde er innerlich zerrissen von der Anspannung, die seinen Körper quälte. Dann, als würde er sich von Fesseln befreien, neigte er den Mund zu ihrem.

Sein Kuss war beherrscht und langsam.

Jenna schloss die Augen und gab sich Evandro völlig hin, während er sie sanft und sinnlich küsste. Ihr Herz schlug schneller, immer schneller …

Er legte ihr den Arm um die Taille und zog Jenna an sich, und wie von allein hoben sich ihre Hände und pressten sich an seine breite Brust. Jenna spürte die Muskeln, die Kraft unter ihren Handflächen, und sie genoss es.

Sein Kuss vertiefte sich, und Jenna öffnete instinktiv, bereitwillig, oh, so bereitwillig, den Mund, erwiderte Evandros intensiver werdenden Kuss, spürte die Wonnen seiner erregenden Berührung einen Funken in ihr entfachen. Er schob ihr die freie Hand ins Haar, streichelte mit dem Daumen die zarte Haut hinter ihrem Ohr, so sanft und sinnlich, wie er Jenna küsste … und genauso wundervoll erregend.

Sie schmiegte sich an ihn, während er sie fest an sich drückte und küsste, nicht mehr beherrscht jetzt, sondern mit einer wachsenden Leidenschaft, die sie atemlos machte, hilflos. Sie wollte dies, nur dies!

Nichts sonst existierte auf der Welt, nur dieser Moment, in seinen Armen, mit seinem Mund auf ihrem. Evandro nahm sie dorthin mit, wo sie noch nie gewesen war, wohin zu gehen sie ersehnte, wo für immer zu sein sie ersehnte.

Und dann bewegte er sich plötzlich von ihr weg, ließ sie los, schob ihre Hände von sich, trat zurück.

Jenna taumelte, hilflos zurückgelassen, sie öffnete die Augen und sah ihn verstört an. Ihr Herz raste.

„Gehen Sie ins Bett“, sagte Evandro. Seine Stimme klang hart und kalt. Seine Miene war verschlossen. „Dies ist niemals passiert.“

Jenna rührte sich nicht. Sie konnte nicht.

„Dies ist niemals passiert, verstanden?“

Jetzt klang seine Stimme schneidend, und irgendetwas flackerte in seinen Augen.

„Ich übernehme die volle Verantwortung. Das geht auf mein Konto, nicht auf Ihres. Also bin ich schuld, und der Mond ist schuld, und die Sterne sind es. Es ist der Alkohol, den ich getrunken habe, und alles sonst, was Sie mir vorwerfen können. Werfen Sie mir vor, was auch immer Sie wollen, aber gehen Sie.“

Jenna gab keinen Laut von sich. Sie drehte sich nur um und flüchtete.

Sie wurde wieder unsichtbar.

8. KAPITEL

Evandro gab Gas, er wollte so schnell wieder in Turin sein, wie ihn das PS-starke Auto dorthin bringen konnte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass seine Miene düster war.

Wie hatte er das tun können? So leichtsinnig sein können?

Er gestand sich ein, dass er die Gefahr unterschätzt hatte.

Aber ich habe nie gedacht, dass es wirklich eine Gefahr ist. Dass eine unscheinbare Frau das könnte …

Was könnte? Ihm nach und nach unter die Haut gehen, langsam, Tag für Tag?

Er hatte geglaubt, er wäre sicher. Aber er hatte schließlich mehr gewollt als ihre gemeinsamen Spaziergänge und ihr gemeinsames Lachen. Hatte gewollt, dass sie aufhörte, sich hinter ihrer schützenden Unsichtbarkeit zu verbergen.

Allerdings hatte Jenna damit nicht nur sich geschützt, sondern auch ihn.

Das war das Ironische daran. Er hatte sich gesagt, er tue es ihr zuliebe, nicht für sich selbst. Er hatte ihr gezeigt, wie schön sie sein konnte, und hatte es dabei sich selbst gezeigt. Und diese Erkenntnis war sein Untergang gewesen.

Er hätte Jenna niemals mit auf die mondbeschienene Terrasse mitnehmen sollen. Er hätte nie zulassen sollen, dass sie ihn so sehnsüchtig anblickte. Nicht, dass er nicht versucht hatte, zu widerstehen. Aber wie hätte er die Willenskraft aufbringen können, sich von ihr fernzuhalten? Von dem Moment an, als sie in diesem Kleid die Treppe heruntergekommen war und ihm offenbart hatte, wie sie wirklich war, war er wie elektrisiert gewesen. Er hatte sie anschauen, sie in sich aufnehmen wollen, sich nichts davon entgehen lassen wollen, wie unwiderstehlich schön sie jetzt aussah.

Eine Waldnymphe, die ihre schönen Augen zu den Sternen hebt, zum Mond – zu mir.

Und er hatte sie geküsst. Und war verloren gewesen.

Verloren für alle Warnungen, für jede Gefahr.

Verloren für die Gefahr, die er erst richtig erkannt hatte, als Jenna in seinen Armen war. Die Gefahr, die ihn veranlasst hatte, sich von ihr loszureißen, so harte Worte zu ihr zu sagen. Sie dazu zu bringen, zu fliehen.

Nachdem sie ihn hatte stehen lassen, hatte er den Mond, die Sterne, die Nacht und vor allem sich selbst verflucht. Und die grausamen Ketten, mit denen Berenice ihn noch immer fesselte.

Papà ist weg!“, klagte Amelie traurig. Sie wollte sich nicht wieder in die tägliche Unterrichtsroutine eingewöhnen. „Zurück nach Turin.“

„Er muss arbeiten, Amelie, er kann nicht ständig hier sein“, antwortete Jenna ruhig, aber es kostete sie Anstrengung, das zu tun.

Sie war unglücklich und machte sich bittere Selbstvorwürfe wegen ihrer Dummheit. Sie hatte sich an ihn geklammert, als er sie geküsst hatte, seinen Kuss mit solcher Leidenschaft erwidert! Und dann hatte er sie von sich weggeschoben und geleugnet, was passiert war.

Ihm zuliebe und ihr zuliebe musste sie es auch zurückweisen. Sie musste es vergessen.

Aber wie? Wie könnte sie jemals vergessen, in seinen Armen gewesen zu sein? Seinen Kuss vergessen? Alles vergessen, was sie empfunden, wonach sie sich gesehnt hatte? Die Berührungen des Mannes vergessen, in den sie sich verliebt hatte …

Jenna erstarrte. Nein, nein, das konnte nicht sein!

Das war eine Dummheit, die unerträglich war.

Und trotzdem war es unleugbar.

Sie liebte Evandro.

Und es war unerträglich, einen Mann zu lieben, der sie von sich gestoßen hatte, sie weggeschickt hatte.

Aber sie musste es ertragen. Was sonst konnte sie tun?

Nur eins.

Alles, was sie tun konnte, war, es zu ertragen und wieder die Person zu sein, die sie die ganze Zeit gewesen war. Sie würde sich dorthin zurückziehen, wo sie sicher war, wo sie vor noch mehr Zurückweisung geschützt war: in ihre vertraute Unsichtbarkeit.

Evandro stand vor dem nicht angezündeten Kamin im goldenen Salon, der selten geöffnet wurde, außer wenn Gäste da waren.

So wie jetzt.

Die zwölf Gäste, die er aus Turin mitgebracht hatte, füllten den Raum mit hektischer Betriebsamkeit. Bei dröhnender Musik redeten sie laut und kippten seinen Champagner hinunter. Die Glastüren standen weit offen, die Terrasse war wie eine Bühne beleuchtet. Mehrere Paare tanzten dort draußen zur Musik, die durch das ganze Haus und die Gartenanlage pulsierte.

„Mein Schatz! Steh nicht da wie ein Seigneur aus früheren Zeiten. Komm, und tanz!“

Die Frau, die auf ihn zukam, Champagnerglas in der Hand, in einem engen Kleid, das jede üppige Rundung betonte, kannte er gut. Falls körperliche Intimität als „gut kennen“ zählte.

War es nicht viel beeindruckender, zu welch tiefem gegenseitigen Verständnis zwei Menschen gelangen konnten, die einfach gut miteinander harmonierten?

Er verdrängte den Gedanken, der nur bekräftigte, warum er dies tat: Er füllte den Palazzo mit Leuten, die er nicht mochte und die ihm nichts bedeuteten, um Abstand zwischen sich und die Person zu bringen, die ihm etwas bedeutete.

Um sie vor mir zu schützen. Und mich vor ihr.

Die Frau, die ihn gerade in ihre Arme einlud, konnte diesen Schutz bieten.

Bianca Ingrani war ungefährlich, weil er sie nicht begehrte. Im Gegensatz zu …

Evandro sah sich suchend im Raum um. Jenna saß auf einem Stuhl ganz hinten, Knie zusammen, Hände auf dem Schoß verschränkt. Ihr Blick war auf Amelie gerichtet, die, total aufgeregt von all dem Feiern, unter dem Beifall einiger Gäste zur Musik herumwirbelte.

Verärgert runzelte Evandro die Stirn über das Outfit, das seine Tochter trug – noch eins von den grässlichen Kleidern, die ihre Mutter ausgesucht hatte. Warum war dem Kind erlaubt worden, heute Abend so etwas Scheußliches anzuziehen?

Sein kritischer Blick ging zu der Person, die es erlaubt hatte. Ihr Gesicht war still, so still wie der Rest von ihr.

Sie war wieder unsichtbar geworden.

Konnte er es ihr verübeln?

Die Frau, mit der er während seines zügellosen Feierns nach der Scheidung mehrere Nächte verbracht hatte, folgte seinem Blick.

„Wer ist das denn?“, rief Bianca. Dann glitt ihr Blick zu Amelie. „Oh, ich verstehe. So etwas wie ein Kindermädchen“, sagte sie verächtlich. Ihre Stimme wurde honigsüß. „Wie niedlich deine kleine Tochter ist, Evandro. Ich möchte sie so gern kennenlernen. Nur für den Fall, dass ich einmal ihre Stiefmutter werde.“

Mit düsterem Blick beobachtete Evandro, wie sie zu Amelie ging und überfreundlich mit ihr sprach. Dann sah er Jenna an.

Er sagte leise ihren Namen, unhörbar für alle. Trotzdem richtete sie die Augen auf ihn. Aber obwohl sie offen waren, waren sie verschlossen. Ihm verschlossen. Für immer verschlossen.

Wie sie es sein mussten. Er durfte nichts anderes zulassen.

Er sah sie weiter an, seine Miene so verschlossen wie ihr Blick. Sie saß nur wenige Meter von ihm entfernt, doch sie war auf der anderen Seite der Welt.

Ein Wutschrei übertönte den Lärm um ihn herum.

„Du Tollpatsch! Mein Kleid! Du bist direkt gegen mich geprallt mit deinem idiotischen Gehopse.“

Evandro sah ein Champagnerglas über den Boden rollen, der Inhalt war über Biancas elfenbeinfarbenes Kleid verspritzt. Amelie stand erschrocken da, den Tränen nahe. Er wollte zu ihr gehen, aber Jenna war schneller und fasste Amelie an der Hand.

„Du solltest schon längst im Bett sein, Schatz. Du bist so müde, dass du unsicher auf den Beinen bist.“ Jenna blickte Bianca an. „Ich entschuldige mich. Ich hätte Amelie im Auge behalten sollen. Ich hoffe, Ihr Kleid kann gereinigt werden. Amelie, komm mit.“

Evandro beobachtete, wie sie das Mädchen aus dem Salon führte. Jenna hatte ihn nicht angesehen. Als könnte sie es nicht ertragen, das zu tun.

Jenna lag in ihrem Bett und starrte die Zimmerdecke an. Mitternacht war vorbei, und sie hörte noch immer das Gelächter, das Stimmengewirr, die hämmernden Bässe der Musik durch die Fußbodendielen dringen.

Ihn wiederzusehen war eine Qual gewesen – den Mann, in den sie sich dummerweise verliebt hatte. Sie hatte ihn am Nachmittag in seinem Monsterauto zum Palazzo hochrasen sehen, gefolgt von Sportwagen, Cabrios und Limousinen, aus denen Gäste wie Paradiesvögel gestiegen waren, prachtvoll in ihrer Haute-Couture-Kleidung, mit ihren Designersonnenbrillen, ihrem Glamour. Sie waren in den Palazzo geströmt und hatten ihn übernommen.

Und Evandro, der Seigneur, der Millionär … Oder war er ein Milliardär? Auf jeden Fall war er ein Angehöriger einer elitären Welt, zu der sie nicht gehörte und niemals gehören konnte.

Jenna verzog das Gesicht. Sie hatte geglaubt, er fände sie in diesem grünen Kleid schön. Sie hatte gestrahlt bei dem Gedanken daran, dass er sie mit einer Waldnymphe verglichen hatte. Während sie doch die ganze Zeit noch immer unsichtbar gewesen war. So unsichtbar wie heute Abend, als sie unbeachtet in der Ecke gesessen hatte.

Wie könnte sie sich denn mit dieser umwerfend schönen Frau vergleichen, die so hingerissen von ihm gewesen war?

Jenna spürte, wie sich ihr Herz verhärtete. Wie umwerfend schön diese Frau auch war, sie hatte mit ihrer Wut Amelie verstört. Amelie war den Tränen nahe gewesen, als Jenna sie nach oben gebracht und ihr das grässliche Outfit ausgezogen hatte, das sie so gern hatte tragen wollen. Und sie hatte sich ihr gequältes Flüstern anhören müssen, als sie ihr das Nachthemd über den Kopf gezogen hatte.

„Ich habe einmal mamans Wein verschüttet, und es war Rotwein, und er hat Flecken auf ihr Kleid gemacht, und sie war so böse auf mich. Genau wie diese Frau. Ich mag sie nicht!“

Jenna hatte sie umarmt. „Niemand mag diese Frau, Schatz. Sie ist gemein.“

Papà mag sie“, hatte Amelie besorgt gesagt.

Jenna hatte sie zugedeckt und war geblieben, bis das überreizte Kind eingeschlafen war. Dann war sie in ihr eigenes Zimmer gegangen, Amelies Worte waren ihr im Kopf herumgegangen.

Papà mag sie.

Und jetzt ging ihr immer wieder ihr eigenes Wort im Kopf herum.

Närrin.

Welches andere Wort könnte sie beschreiben? Sie, die nie gut genug für irgendjemanden gewesen war.

Am wenigsten für den Mann, in den sie sich verliebt hatte.

Evandro schob sein Schlafzimmerfenster auf. Endlich war überall um ihn herum die Stille der Nacht. Die höllische Musik war verstummt. Derselbe silberweiße Mond, der die Nacht beleuchtet hatte, als er die Frau, die er nicht begehren durfte, in seine Arme gezogen hatte, leuchtete jetzt über der Terrasse und den Gärten.

Wie sehr er sich auch danach sehnte, er durfte Jenna nicht noch einmal in die Arme schließen.

Im Geiste hörte er die immer gegenwärtige Warnung seines Anwalts.

Evandro schob das Fenster zu. Er wusste, dass er zu Bianca gehen sollte, die allzu willig auf ihn wartete. Aber sie war nicht die Frau, die er begehrte.

Deprimiert zog er sich in sein einsames Bett zurück und starrte an die Zimmerdecke. Er würde nicht schlafen können, solange er sich wünschte, was er nicht haben konnte und sich nicht wünschen durfte.

Er versuchte, damit aufzuhören. Aber es gelang ihm nicht.

Jenna ertrug zwei endlos lange Tage. Unaufhörlich gingen Türen auf und zu. Laute Stimmen erfüllten den Palazzo. Autos kamen und fuhren ab, Motoren dröhnten, Kies spritzte unter Reifen auf. Musik spielte drinnen und draußen, Absätze klackten auf dem Marmorboden.

Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, Amelie davon abzuhalten, sich von den Gästen ablenken zu lassen. Schließlich, ermahnte sich Jenna mit bitteren Selbstvorwürfen, war Amelie ihre Schülerin und der einzige Grund, warum sie hier war. Sie durfte das niemals vergessen.

Wie sie es in jener Nacht getan hatte.

Demütigung und Scham brannten in ihr. Dass sie gedacht hatte, ein Mann wie Evandro Rocceforte würde sie zweimal ansehen, wenn er doch erotische Schönheiten wie Bianca Ingrani hatte, die ihn bezauberten!

Aber er würde doch wohl niemals daran denken, sie zu heiraten? Nicht, nachdem sie so streng zu Amelie gewesen war?

Das war Jennas einziger Trost. Nach dem Zwischenfall mit Bianca wollte Amelie nicht mehr mitmachen bei alldem, was unten vorging, deshalb musste Jenna ihn und Bianca nicht mehr zusammen sehen.

Außer in ihrer Fantasie. Aus der konnte sie die quälenden Bilder des glamourösen Paars leider nicht verbannen.

Evandro stand am Ende der Auffahrt und sah erleichtert das letzte Auto abfahren. Sie waren weg. Die ganze verdammte Clique war weg. Sie hatten Bianca mitgenommen und ließen ihn mit einem Entschluss zurück, der sich seit ihrer Ankunft mit jedem Tag verfestigt hatte.

Er hatte sie alle, hatte Bianca hierhergeholt, um sich von der Frau zu lösen, die er nicht begehren durfte.

Aber der Versuch war sinnlos gewesen, er hatte nur das Gegenteil bewirkt.

Im Geiste sah Evandro wieder Jenna, die wie ein Gespenst im Salon saß. Für ihn verloren.

Aber er würde sie nicht verlieren! Er wollte sich einfach nicht von ihr abwenden.

Seine unkluge Heirat hatte genug von seinem Leben ruiniert. Für das, was jetzt passierte, wünschte er Berenice und alle ihre Anwälte zum Teufel.

Er würde so viel Glück an sich reißen, wie er konnte, solange er es konnte. Was auch immer es ihn kostete. Er würde den Preis bezahlen.

Mit glänzenden Augen lief Evandro hinein und sprang die Treppe hinauf.

9. KAPITEL

„Amelie, du hast noch eine weitere Seite mit Rechenaufgaben“, sagte Jenna verständnisvoll, aber energisch. Wie Amelie hatte auch sie den Lärm der abfahrenden Gäste gehört. Jetzt war es ruhig geworden.

„Kann ich nicht gehen und meinen papà suchen? Jetzt, wo all die Leute weg sind?“

„Warte bitte! Er wird nach oben kommen, sobald er Zeit dafür hat!“, erwiderte Jenna, und ihre Schülerin seufzte.

Dann setzte sie sich plötzlich gerade auf und drehte den Kopf zur Tür des Klassenzimmers. Schnelle, unverwechselbare Schritte waren draußen auf dem Treppenabsatz zu hören.

„Papà!“ , rief Amelie überglücklich.

Jenna hatte nur eine Sekunde, um sich zu wappnen, dann flog die Tür auf, und Evandro kam herein.

Amelie stürzte sich auf ihn, und er hob sie hoch und schwenkte sie herum, dann ließ er sie wieder hinunter.

„Zeit, schwimmen zu gehen“, sagte er. „Hol deine Sachen.“

Glücklich sauste das Mädchen aus dem Zimmer.

Und dann ging Evandro zielstrebig auf Jenna zu, schloss sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.

„Wer ist für Eiscreme?“ Evandros Frage schallte über den Swimmingpool.

„Ich! Ich!“

Amelie kam schnell aus dem Wasser und rannte dorthin, wo ihr Vater mit drei Eiswaffeln stand. Sie nahm ihm eine ab und setzte sich auf eine Sonnenliege, um ihr Eis zu essen.

Er ließ sich auf die Liege neben Jenna nieder und gab ihr eine der zwei Eiswaffeln, die er noch hielt.

Sie wusste, dass ihre Augen leuchteten. Seit Evandro sie mit diesem leidenschaftlichen, besitzergreifenden Kuss hingerissen hatte, fühlte sie sich, als würde sie innerlich glühen, als würde die Sonne aus ihrem Innern strahlen.

Konnte es wirklich wahr sein? War es wirklich passiert? War sie in einem einzigen Moment von verzweifeltem Kummer zu strahlendem Glück übergegangen?

Aber es war passiert!

Sein Kuss war alles gewesen, was sie sich hätte erträumen können. Und als er sie losgelassen hatte, hatte er die Hand an ihre Wange gelegt und ihr in die Augen gesehen.

„Verzeih mir“, hatte er gesagt.

Und mehr musste er nicht sagen. Den Rest seiner Entschuldigung hatte Jenna ihm von den Augen ablesen können.

Sie verlangte nicht mehr. Nur dies. Dieses Glück, das so groß war, dass sie es bis ins Innerste empfand. Sie zog es weder in Zweifel, noch analysierte sie es. Sie akzeptierte es einfach. Mit ganzem Herzen.

Evandro lehnte sich zurück an den Stamm der uralten Kastanie, die am Waldrand oberhalb des Gartens stand. Der Nachmittag war schwül geworden, deshalb hatten sie für ein frühes Abendessen ein Picknick hier hochgebracht, wo mehr Schatten war. Ein kleines Stück entfernt spielte Amelie Teddybären-Picknick mit Blättern als Tellern und Eicheln als Tassen. Sie war in ihr Spiel vertieft. Evandro war froh darüber. So konnte er Jenna mehr Aufmerksamkeit schenken.

Er zog sie an sich und drückte sie sanft an seine Schulter.

„Amelie ist glücklich“, sagte Jenna.

„Und das bin ich auch. Total glücklich.“ Weil Glück war, worauf er jetzt Anspruch erhob. Das Glück, mit dem er gar nicht mehr gerechnet hatte. Das Glück, das ihm von dieser besonderen Frau geschenkt worden war, von seiner ganz eigenen Waldnymphe.

Das Glück eines Sommers. Nichts konnte es zerstören …

Von der anderen Seite des Tals war ein leises Grollen zu hören.

Amelie sah auf. „Was war das, papà ?“

„Donner“, sagte er. „Das heiße Wetter muss umschlagen, deshalb kommt ein Gewitter.“

Amelie stand auf. „Ich mag keine Gewitter“, sagte sie ängstlich.

Jenna stand auch auf. „Vielleicht sollten wir besser zurückgehen, Evandro. Wälder sind bei einem Gewitter nicht der sicherste Ort.“

Sie räumte schnell das restliche Geschirr in den Picknickkorb, während Evandro sich widerstrebend erhob.

„Vielleicht zieht es vorbei“, sagte er.

Aber Amelie ging bereits los, ihre Teddybären an die Brust gedrückt, und Jenna folgte ihr mit der Wolldecke und den Kissen, überließ ihm den Picknickkorb. Der Himmel verdunkelte sich über ihnen, die untergehende Sonne war hinter schweren Wolken verschwunden. Froh blickte Evandro zu den düsteren Wolken empor. Bei Einbruch der Dunkelheit würde er endlich bekommen, was sein Herz begehrte …

Die stille Dunkelheit der Nacht umfing Evandro und Jenna, als sie sich umarmten. Sie spürte seinen kräftigen Körper auf ihrem, und sie fand es wundervoll. Fand es wundervoll, dass Evandro sie begehrte.

Freude erfüllte Jenna. Sie empfand die erregende Lust seines Kusses. Und es war eine Lust, die gerade erst begann, die sich immer mehr steigerte, als er die Hand sanft, aber beharrlich zwischen ihre Schenkel schob. Mit der anderen Hand verwöhnte er geschickt ihre Brüste, bis Wellen einer Lust, die Jenna noch nie kennengelernt hatte, ihr kleine Seufzer entlockten.

Evandro löste den Mund von ihrem, küsste sich einen Weg zu einer Brust und dann zur anderen, bis Jenna vor Wonne nach Luft rang. Als er behutsam ihre Schenkel spreizte und mit langsamen, sicheren, unendlich geschickten Bewegungen fand, was er suchte, wurde die Lust so köstlich, dass Jenna aufstöhnte.

Sie wusste, dass Evandro sie für ihn bereit machte. Sie stöhnte wieder, bog sich ihm entgegen, als er wieder mit dem Mund ihre Brüste reizte. Ihre Lust stieg immer mehr. Es war, als würde sich ihr Körper, getrieben von einem Instinkt älter als die Zeit, selbst bereit machen, um Evandro aufzunehmen.

Er küsste sie noch einmal auf den Mund, bevor er mit einer Bewegung so sanft und ruhig, dass Jenna keinerlei Angst empfand, langsam in sie eindrang. Seine Selbstbeherrschung war vollkommen, sie wusste das, und sie wusste, dass er ihr zuliebe seine ganze Willenskraft darauf verwendete, diesen Moment so zu machen, wie er sein sollte: eine wunderschöne Vereinigung zweier Menschen.

Und Jenna nahm ihn in sich auf, hielt ihn zärtlich in ihren Armen.

Evandro lag still, während sich ihr Körper an seinen anpasste, bevor er sich unendlich langsam und unendlich erregend in ihr zu bewegen begann. Er streichelte ihr übers Haar, und seine Hand zitterte leicht, als er sich auf den Ellbogen stützte, weil er, wie Jenna wusste, sie nicht mit seinem Gewicht belasten wollte.

Sein Blick hielt im schwachen Licht der sternklaren Nacht den ihren fest, als Evandro sie sanft und wundervoll auf den Mund küsste. Wieder hatte Jenna das Gefühl, als würde sie innerlich glühen. Eine außergewöhnliche, intensive Hitze durchflutete sie, eine Lust, die sie nie kennengelernt und sich auch nie vorgestellt hatte. Staunen erfüllte sie.

Und es ging immer weiter, durchströmte sie, berauschte sie, dieses Einswerden mit ihm. Vage wurde ihr bewusst, dass er sich schneller in ihr bewegte, dass sich seine muskulösen Oberschenkel anspannten und er sich aufbäumte, während sie innerlich erbebte. Sie spürte ihre Körper miteinander verschmelzen.

Schrie sie auf? Jenna wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es der schönste Moment ihres Lebens war und dass sie gab und ihr gegeben worden war, ein Geschenk, dessen Wert unermesslich war.

Liebe strömte aus ihr. Und es spielte keine Rolle, wenn es eine Liebe war, um die Evandro nie gebeten hatte, die er nie gesucht hatte. Weil es ihr Geschenk war, das sie ihm für diesen Moment der leidenschaftlichen Vereinigung machte.

Evandro nahm Jenna in die Arme. „Habe ich dir wehgetan? Nicht um alles in der Welt wollte ich …“

Sie hörte das Zittern in seiner Stimme und küsste ihn beruhigend auf den Mund. „Du wirst mir niemals wehtun“, sagte sie.

Es war zu dunkel, als dass er es sehen konnte, aber in ihrem Blick war all die Liebe, die sie für ihn empfand und immer empfinden würde.

In den frühen Morgenstunden kam das Gewitter mit ohrenbetäubendem Donner, Blitzen, die die Dunkelheit durchzuckten, und sintflutartigem Regen.

Evandro stand auf und schloss das Schiebefenster, als ein weiterer Blitz den Himmel erhellte und noch ein Donnerschlag krachte.

„Amelie!“, rief Jenna besorgt.

„Ich gehe zu ihr.“ Evandro zog seinen Bademantel an und verließ das Zimmer.

Nur einen Moment später kehrte er zurück.

„Sie schläft tief und fest.“

Er legte seinen Bademantel ab, ging zurück ins Bett und schloss Jenna in die Arme. Es war alles, was er wollte.

Gewissheit erfüllte ihn. Und Trotz. Er hatte seine Erklärung abgegeben: Er hatte Anspruch auf Jenna erhoben. Auf diese Frau, die alles war, was Berenice nicht war und mit ihrer bösartigen Seele auch nie sein könnte. Jenna konnte mit ihrer Freundlichkeit und Ehrlichkeit, ihrem Mitgefühl, ihrer ruhigen Art und unaufdringlichen Schönheit den verderblichen Einfluss seiner verfluchten Ehe vertreiben.

Er würde sich nicht noch einmal von Jenna abwenden.

Wenn er damit ein Risiko einging, so war es ihm egal. Er würde sich der Gefahr stellen. Aber bis es dazu kam, falls es dazu kam, würde er all das Glück erleben, das ihm das Leben nach so vielen bitteren, vergeudeten Jahren ja wohl schuldete.

All das Glück, das ihm die Frau in seinen Armen schenken konnte.

Seine süße Jenna, die Seine, sein Geschenk und seine Belohnung. Er zog sie fester an sich, spürte, wie sie sich an ihn schmiegte und wieder einschlief.

Ihr Platz war bei ihm. Nur bei ihm.

Mit Jenna sicher und geborgen in seinen Armen schlief Evandro ein.

Draußen zuckte aus den abziehenden Gewitterwolken ein Blitz und beleuchtete den Wald oberhalb des Gartens mit gespenstisch grellem Licht. Und am Waldrand wurde die Kastanie, unter der Evandro und Jenna nur vor ein paar Stunden noch gesessen hatten, von einem letzten Blitz in der Mitte gespalten.

10. KAPITEL

„Tja, das erspart uns das Wässern“, sagte Evandro fröhlich, während er den vom Regen stark beschädigten Garten betrachtete.

Zärtlich sah er Jenna an, und ihr Anblick, wie sie neben Amelie auf der noch feuchten Terrasse in der frischen, klaren Morgenluft stand, ließ sein Herz höherschlagen.

Ich habe sie beide, Jenna und Amelie. Alles, was ich mir jemals hätte wünschen können.

Er legte Jenna den Arm um die Schultern und ergriff mit der anderen Hand Amelies. Sie waren die Seinen. Die Frau, auf die er Anspruch erhoben hatte, und das Kind, das er immer beschützen und wertschätzen würde. Er würde sie niemals loslassen.

Für einen Moment hörte er im Geiste Berenices spöttisches, rachsüchtiges Lachen. Er verbannte es.

„Und? Was wollen wir mit diesem wundervollen Tag anfangen?“, fragte er. „Ihn am Pool verbringen? Oder wollen wir eine weitere Teegesellschaft und uns wieder schick machen? Oder geben wir eine Dinnerparty und verkleiden uns noch eleganter?“

„Verkleiden!“, rief Amelie. „Können wir uns verkleiden, wie es die Kinder an Miss Jennas Schule getan haben?“

Evandro lächelte sie an. „Warum nicht? Wirst du die silberne Fee sein, die du uns beschrieben hast?“ Er blickte Jenna an. „Aber das solltest eigentlich du sein. Du bist die gute Fee in meinem Leben, die den bösen Zauberbann bricht …“

„Und du, Evandro, bist mein Märchenprinz“, sagte sie herzlich.

Er lachte und gab ihr einen leichten Kuss auf den Mund, dann führte er sie und Amelie zum Frühstückstisch. Als sie sich hinsetzten, kam ihm eine neue Idee.

„Wie wäre es, wenn wir Urlaub machen? Am Meer?“

Amelies Augen leuchteten auf. „Ja! Ans Meer!“

„Jetzt haben wir die Bescherung“, murmelte Jenna lächelnd. „Jetzt kannst du es nicht mehr zurücknehmen.“

Evandro grinste. „Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas zurückzunehmen.“

Nein, jetzt gab es kein Zurück mehr. Und nichts, was vielleicht noch kam, würde sein neu gefundenes, wunderbares Glück bedrohen. Wieder erfüllte ihn dieser leichtsinnige Trotz.

Sein Blick glitt zwischen Jenna und Amelie hin und her, dann hinaus über den sonnenbeschienenen Garten dorthin, wo am Waldrand die vom Blitz getroffene Kastanie brandgeschwärzt und verkrüppelt wankte. Opfer des Unwetters, das alles zerstört hatte, was ihm getrotzt hatte.

„Es ist herrlich hier!“

Jenna stützte sich auf die Handflächen und lehnte sich im warmen Sand zurück. Ihr Haar wurde von einem bunten Stirnband zurückgehalten, und sie hob genießerisch das Gesicht zur Sonne.

Zurzeit war das ganze Leben herrlich. Wie könnte es anders sein?

Ihr Blick glitt zu Evandro, der neben ihr im Sand lag, und sie bekam Herzklopfen. Evandro in einem Businessanzug war überwältigend eindrucksvoll. Evandro in Chinos und einem am Kragen offenen Hemd war unwiderstehlich attraktiv. Aber Evandro, wenn er nur Badeshorts trug und sein ganzer prächtiger Körper zu sehen war, war einfach atemberaubend.

„Du siehst aus wie ein Fünfzigerjahre-Filmstar“, sagte er jetzt bewundernd. „Unwiderstehlich!“

Sein Blick ließ Jenna wünschen, sie wären nicht am Privatstrand in diesem extrem luxuriösen Familienresort, sondern in ihrem Schlafzimmer.

Um sich von ihren Gedanken abzulenken, schaute sie dorthin, wo Amelie mit einem kleinen Mädchen spielte, mit dem sie sich angefreundet hatte. Sie bauten eine Sandburg.

„Amelie so glücklich zu sehen, ist wundervoll“, sagte Jenna. „Du bist ein wundervoller Vater, Evandro. Du würdest alles für sie tun.“

Sie stockte beim Sprechen, weil sie sich an ihren eigenen Vater erinnerte, der nichts für sie getan hatte, der sie nie geliebt oder gewollt hatte. Sie senkte den Blick, wollte jetzt nicht daran denken.

Amelie kam zu ihnen gerannt und fragte, ob sie und Luisa sich im Strandbistro Eiscreme kaufen dürften.

„Wenn Luisas Eltern es ihr erlauben“, sagte Evandro, und die Mädchen sausten dorthin, wo Luisas Eltern mit einem Kleinkind bei sich auf Sonnenliegen unter einem Sonnenschirm saßen.

Die Mutter antwortete mit einem Nicken auf die Bitte ihrer Tochter und lächelte zu Jenna und Evandro hinüber, als die Mädchen zum Bistro liefen.

„Sie beide haben eine wunderschöne kleine Tochter“, rief die Frau ihnen zu. „Mit ausgezeichneten Manieren.“

„Das Kompliment gebe ich voll und ganz zurück“, versicherte Evandro ihr lachend.

Jenna merkte, dass die andere Frau für einen Moment ihren Blick auf Evandro verweilen ließ, und sie konnte es ihr nicht missgönnen.

Doch ihre Worte blieben Jenna im Gedächtnis haften.

Sie beide haben eine wunderschöne kleine Tochter.

Und mit diesen Worten kam die Erinnerung zurück, wie sie mit Amelie und Evandro auf der Terrasse des Palazzo gestanden und in den Abendhimmel geblickt hatte.

Wie eine Familie …

Damals war es nicht wahr gewesen, und Jenna hatte sich für den Gedanken ausgeschimpft.

Aber waren sie jetzt eine Familie?

Zwar liebte sie ihn, und er begehrte sie wohl, aber war das genug, um ihren Traum wahr zu machen?

Und war es auch sein Traum?

Die Frage ging ihr nicht aus dem Kopf und blieb unbeantwortet.

Unbeantwortbar.

Nach vierzehn Tagen am Meer sagte Evandro, er könne es nicht länger aufschieben, im Büro vorbeizuschauen.

Also fuhren sie Richtung Norden, ins Landesinnere nach Turin. Amelie und ihre Freundin Luisa hatten sich hoch und heilig versprochen, sich als Beweis ihrer dauerhaften Freundschaft täglich Nachrichten zu senden.

In Turin machte es sich Jenna mit Amelie in Evandros modernistischem Apartment gemütlich und nutzte die Zeit, die er im Büro war, um wieder ihre Schülerin zu unterrichten. Evandro brachte sich auch ein und half seiner Tochter jeden Abend bei Mathe.

„Stell dir vor, wie es wäre, wenn ich nicht richtig rechnen könnte“, sagte er zu Amelie. „Ich wäre nicht in der Lage, zu sagen, ob ich überhaupt Geld verdiene. Oder, viel schlimmer, ob die Brücken und Staudämme, die Rocceforte Industriale baut, auch ganz bestimmt nicht einstürzen!“

„Du kannst so gut mit ihr umgehen“, sagte Jenna zu ihm, als Amelie schließlich freibekam, um vor dem Abendessen mit Luisa online ihr Lieblingscomputerspiel zu spielen. „Der geborene Vater. Es liegt offensichtlich in den Genen.“

Aber er antwortete nicht. Er stand einfach auf, seine Miene war plötzlich verschlossen.

Nur einen Moment später lächelte er. „Also? Welche kulinarischen Freuden warten heute Abend auf uns?“

„Ich dachte, ich mache mal etwas völlig anderes“, erwiderte Jenna trocken. Sie kannte die Grenzen ihrer Kochkünste. „Nudeln, die völlig anders geformt sind als die von gestern Abend.“

Evandro lachte, ging in die Küche, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an die Frühstückstheke, um Jenna bei der Zubereitung der Soße zu beobachten, die sie aus dem Gemüse zubereitete, das sie an diesem Morgen frisch gekauft hatte.

Es war für Jenna ein Vergnügen, sich mit Amelie hinauszuwagen. Nicht nur, um die geschäftige Großstadt zu erkunden, sondern auch, um sich wie eine italienische Hausfrau zu fühlen, die den täglichen Einkauf erledigte.

Wie eine Familie …

Als Jenna die klein geschnittenen Fleischtomaten zur Soße gab und einrührte, sehnte sie sich schmerzlich danach, dass es für immer so sein könnte. Vielleicht würde Evandro sie eines Tages auch so lieben, wie sie ihn liebte.

Und eines Tages würde er vielleicht eine Zukunft sehen, zu der sie gehörte. Eine glückliche Zukunft für ihn und Amelie, nachdem ihm seine Ehe das Leben zur Qual gemacht hatte.

Aber würde er kommen, dieser Tag? Konnte er kommen?

Jenna war froh, als das Klingeln von Evandros Telefon die Gedanken unterbrach, die ebenso fruchtlos wie schmerzlich waren.

Evandro nahm sein Telefon von der Frühstückstheke. Er erwartete, dass es der Projektmanager war, den er gebeten hatte, sich heute Abend bei ihm zu melden. Aber es war jemand anders.

„Evandro, mein Schatz, meine Spione sagen mir, dass du wieder in der Stadt bist!“

Als er die erotische Stimme hörte, fluchte er stumm, dass er den Anrufer nicht geprüft hatte, bevor er rangegangen war.

„Bianca.“ Ihm war bewusst, dass Jenna aufgehört hatte, die Soße zu rühren, und sich halb zu ihm umdrehte, bevor sie völlig erstarrte.

„Du musst dich ja auf dem Land zu Tode gelangweilt haben, als wir alle weg waren“, schnurrte Bianca. „Komm für Drinks rüber, und für alles andere, wozu du Lust hast.“

„Das wird nicht möglich sein. Ich habe Amelie bei mir.“

Biancas Verärgerung war offensichtlich. „Wie schade. Natürlich gibt es Kindermädchenagenturen, bei denen man jemanden zum Babysitten bestellen kann“, sagte sie hoffnungsvoll.

„Danke, aber ich habe schon jemanden. Die Frau, die du für Amelies Kindermädchen gehalten hast. Jenna“, hörte sich Evandro erwidern. Dann verfluchte er sich.

Warum hatte er das Bianca verraten?

„Jenna? Du hast diese unscheinbare Frau in dein Apartment gebracht?“

Evandro hatte es plötzlich satt. Er hatte Biancas hartnäckige Versuche satt, ihre Affäre zu erneuern. Er wollte sie schnellstmöglich loswerden.

„Ja. Jenna ist mit mir hier.“ Er holte Luft. „Bianca, es tut mir leid, wenn du dir Hoffnungen gemacht hast, dass wir wieder zusammenkommen, aber das ist nicht möglich. Ich bin weitergegangen.“ Aus Höflichkeit schlug er einen versöhnlichen Ton an. „Unsere gemeinsame Zeit war schön, und ich wünsche dir alles Gute.“

Er legte auf, wollte nur noch mit ihr fertig sein. Er sah Jenna an, die wieder die Soße rührte, aber mit ruckartigen, mechanischen Bewegungen. Nachdem er das Telefon hingelegt hatte, schlang er ihr von hinten die Arme um die Taille und liebkoste mit dem Mund ihren Nacken.

„Entspann dich! Ich habe Bianca gerade unmissverständlich den Laufpass gegeben.“

„Sie ist so unglaublich schön“, hörte er Jenna ein bisschen wehmütig sagen.

„Für mich nicht – nicht mehr. Und außerdem …“ Seine Stimme wurde härter. „Denkst du im Ernst, ich möchte irgendetwas mit einer Frau zu tun haben, die so wütend mit Amelie gesprochen hat? Die sie so verstört hat? Nein. Das mit Bianca ist vorbei. Sie bedeutet mir nichts.“

Weil er nicht wollte, dass sie sich noch eine Sekunde länger Sorgen wegen Bianca Ingrani machte, drehte er Jenna zu sich herum und küsste sie, leicht zuerst, dann tiefer. Er spürte, wie sich Leidenschaft zwischen ihnen aufbaute, ließ sie jedoch widerstrebend los. Jetzt war nicht der richtige Moment, insbesondere, da von der Tür her Amelies Stimme zu hören war.

„Ist das Abendessen fertig? Darf ich den Käse reiben? Luisa und ich haben nach Einhörnern gesucht. Sie hat eins gefunden, und ich habe zwei gefunden!“

Sie plapperte fröhlich weiter, während sie Parmesan aus dem Kühlschrank nahm, sich auf einen der hohen Barhocker an der Frühstückstheke setzte und zu reiben begann. Evandro holte eine Flasche Weißwein aus dem Weinkühlschrank und schenkte Jenna und sich ein, als sie die Pasta aufsetzte.

Eine traute, häusliche Alltagsszene. Sie drei beim Abendessen, heiter, liebevoll und vereint.

Etwas, was ich mit Berenice niemals hatte, dachte Evandro. Am Anfang seiner Ehe hatte er gehofft, dass es so werden könnte. Bevor diese Hoffnungen zerstört worden waren.

Seine Ex-Frau hatte alles zerstört. Alles, worauf sie Einfluss hatte.

Evandro blickte Amelie und dann Jenna an. Ihn fröstelte plötzlich. Was noch würde sie zu zerstören versuchen, diese Frau, die sein Leben verflucht hatte?

Aber er wusste es schon. Er wusste genau, was sie als Nächstes würde zerstören wollen.

Wenn sie es jemals herausfand …

11. KAPITEL

Vierzehn Tage später kehrten sie in den Palazzo zurück. Evandro hatte seine Arbeit gelegentlich unterbrochen und Jenna und Amelie die Sehenswürdigkeiten der Region gezeigt, von der bezaubernden Landschaft um Turin bis zu den Alpenseen und Bergen weiter weg, sodass es ein zweiter Urlaub geworden war.

Amelie rannte mit Loretta und Maria nach oben, um ihnen ihre Urlaubssouvenirs zu zeigen und ihnen die Geschenke zu geben, die sie für sie gekauft hatte. Für jede einen eleganten Schal aus einem sehr exklusiven Modehaus in Turin.

Nicht nur die Schals waren dort gekauft worden. Evandro hatte Amelie mit einigen klug ausgewählten modischen Sachen verwöhnt, und Jenna war auch von ihm verwöhnt worden.

Sie hätte sich die Kleidungsstücke von ihrem Gehalt als Lehrerin niemals leisten können – nicht einmal von dem großzügigen Honorar, das er ihr zahlte. Er hatte darauf bestanden, ihre Garderobe zu vergrößern, und sie hatte nachgegeben. Denn Jenna liebte es, seine Augen aufleuchten sehen, wenn sie die schönen Outfits trug, mit denen er sie überhäuft hatte.

An ihrem ersten Abend zurück im Palazzo wartete ein Festessen auf sie drei. Als Jenna mit Amelie das Esszimmer betrat, ging ihr Blick sofort zu Evandro, der in seinem Smoking großartig aussah. Hitze durchflutete sie, als er den Blick über sie gleiten ließ. Das schöne Abendkleid, das sie trug – dunkelrosa, schräg geschnitten – verlieh ihrer Figur einen sinnlichen Zauber, der nur für ihn bestimmt war.

Er küsste ihr galant die Hand. „Wunderschön!“, sagte er rau. Dann sah er Amelie an. „Und hier ist ja noch eine Schönheit!“, rief Evandro und küsste auch ihr die Hand, aber mit übertrieben lauten Schmatzern, die sie zum Kichern brachten.

Amelies Kleid war hellrosa, mit einem kleinen Bolerojäckchen. „Welche von uns ist hübscher, papà ? Du musst zwischen uns wählen!“

Jenna wartete auf eine witzige Bemerkung darüber, dass seine Tochter Unmögliches von ihm verlangte, doch Evandro sagte nichts. Stattdessen sah sie etwas in seiner Miene, was sie reglos werden ließ. Im nächsten Moment war es verschwunden, sodass Jenna glaubte, sie hätte es sich nur eingebildet.

Er füllte ihre Gläser mit Champagner und stark verdünntem Buck’s Fizz für Amelie. „Wir trinken darauf, wieder zu Hause zu sein!“

Bitte lass dies auch mein Zuhause sein! dachte Jenna.

Zuhause für alle Zeit, mit dem kleinen Mädchen, das sie so lieb gewonnen hatte, und dem Mann, den sie immer lieben würde.

Sehnsucht erfüllte ihr hoffnungsvolles Herz. Ein Herz, das sicherlich brechen würde, wenn sie umsonst hoffte.

Zufrieden legte Evandro auf. Er hatte Amelie gerade für das Sommerferienlager der Klosterschule angemeldet, in der sie im Herbst eingeschult wurde. Es würde ihr guttun, einige ihrer zukünftigen Mitschülerinnen kennenzulernen und Spaß an all den Aktivitäten im Ferienlager zu haben.

Er hatte noch ein anderes, viel selbstsüchtigeres Motiv, sie hinzuschicken. Dann hatte er Jenna ganz für sich. Natürlich musste er arbeiten, seine Verantwortung war zu groß, als dass er sie ignorieren könnte, aber die Zeit, die er übrig hatte, wollte er mit Jenna verbringen.

Es klopfte leise an der Tür der Bibliothek. Seine Haushälterin kam mit seinem Spätvormittagskaffee herein.

„Danke.“ Evandro nahm ihr das Tablett ab, stellte es auf seinen Schreibtisch und setzte sich wieder hin. Aber sie ging nicht hinaus. „Gibt es noch etwas, Signora Farrafacci?“ Sie wirkte irgendwie erwartungsvoll, wie sie so dastand und ihn anlächelte.

„Ich wollte nur sagen, wie sehr ich und alle Angestellten hoffen, dass die Paparazzi dieses eine Mal recht haben. Wir würden es mit Sicherheit begrüßen!“

Evandro runzelte die Stirn. „Paparazzi?“, fragte er verständnislos.

„Normalerweise ignoriere ich natürlich all die miesen Artikel“, fuhr seine Haushälterin fort. „Aber in diesem Fall … Solch eine nette junge Frau, Signorina Jenna, und eine viel bessere Wahl, um die Signora Rocceforte zu werden, die Sie verdienen! Nach allem, was Sie durchgemacht haben – und die arme kleine Amelie.“ Signora Farrafacci holte Luft. „Fürs Erste habe ich genug gesagt. Ich lasse Sie jetzt wieder arbeiten.“

Sie rauschte hinaus, ohne zu merken, was für eine Bombe sie gerade hatte platzen lassen.

Als sie die Tür hinter sich schloss, löste sich Evandro langsam aus seiner Erstarrung.

Nach seiner Scheidung, als er seine neue Freiheit als Single gefeiert hatte, hatte er sich an das Interesse der Boulevardzeitungen gewöhnt. Er wusste, dass Bianca sie mit Storys über ihre Affäre versorgt hatte. Sie hatte den Paparazzi Tipps gegeben, in welche Nachtklubs in Turin, Mailand oder Rom er mit ihr gehen könnte. Sie hatte Dinge so hingedreht, dass man sie vielleicht eines Tages nicht mehr zurückhaltend als seine „ständige Begleiterin“ beschreiben würde, sondern als seine Verlobte.

Seine Gedanken rasten. Er hatte die Gefahr gekannt, mit der er spielte, indem er Anspruch auf Jenna erhob. Aber er hatte sich darüber hinweggesetzt. Er hatte sein Bestes getan, um das Risiko auf ein Minimum zu beschränken. Deshalb hatte er ein Familienresort am Meer ausgesucht, das wohl kaum die Aufmerksamkeit der Paparazzi erregte. Und danach, in Turin, hatte er sich draußen nicht mit Jenna sehen lassen. Abgesehen von dieser einen Einkaufstour.

Also wie zum Teufel …?

Evandro riss seine Tastatur zu sich heran und suchte. Einen Moment später hatte er den Artikel auf dem Bildschirm, zusammen mit Fotos.

Er erstarrte wieder.

Bianca. Hatte sie ihrem Ärger darüber, von ihm abgewiesen worden zu sein, gegenüber ihrem fügsamen Schreiberling Luft gemacht, der prompt eine größere Story gewittert hatte und losgezogen war, um danach zu graben?

Der Artikel behauptete, dass Turins begehrtester Junggeselle eine neue Frau in seinem Leben habe, die er mit Samthandschuhen anfasse – keine anrüchigen Nachtklubs und Discos – und mit der er schon zusammenlebe. Er habe sie in seinem Apartment untergebracht.

Keinesfalls, schnurrte der Journalist in honigsüßem Ton, könne diese unbekannte Signorina nur das Kindermädchen der Tochter sein. Nicht, wo doch die Verkäuferin in einer exklusiven Modeboutique bestätigt habe, dass Evandro Rocceforte ein Vermögen für Haute-Couture-Kleidung für sie ausgegeben hatte. Nicht, wo doch alle drei beim Verlassen des Ladens fotografiert worden seien, Evandro Roccefortes Arm um die Schultern der Signorina, und sich die beiden so verliebt angeblickt hätten. Nicht, wo es doch Fotos von den zwei Signorinas auf dem Weg zum Markt gäbe, wie Mutter und Tochter.

Der Artikel trällerte noch weiter.

Kann man schon die Hochzeitsglocken läuten hören? Hat der frisch geschiedene Evandro Rocceforte beim zweiten Mal Glück? Eine glückliche neue Familie, mit einer neuen Mama für seine niedliche kleine Tochter und einer neuen Liebe für unseren umwerfend attraktiven Evandro?

Wir hoffen es! Wir lieben ein Happy End!

Evandro starrte auf den Bildschirm, ihm gefror das Blut in den Adern. Verdammt! Er hätte vorsichtiger sein sollen. Er hätte niemals mit Bianca sprechen sollen. Er hätte Jenna niemals mit nach Turin nehmen sollen.

In ohnmächtiger Wut, von düsteren Vorahnungen erfüllt, umklammerte er die Lehnen seines Chefsessels.

Und im Geiste hörte er die Warnung seines Anwalts, als er die Papiere unterschrieben hatte, die der andere Mann so widerstrebend vor ihn hingelegt hatte.

Sind Ihnen die Auswirkungen klar?

Und das, was sein Anwalt als Nächstes gesagt hatte.

Sie kann Ihre Zukunft zerstören.

Würde der Brief kommen und die Warnung seines Anwalts wahr werden? Würde der Sturm über seinem Kopf losbrechen? Oder würde Berenice niemals von diesem verdammten Artikel erfahren?

Evandro wusste es einfach nicht.

Er konnte nur abwarten. Und hoffen.

„Beweg dich nicht!“

Evandros Stimme klang leise und angespannt, während er auf Jennas nackten Körper blickte, der nur vom Vollmond beleuchtet wurde, der durchs Schlafzimmerfenster schien.

„Beweg dich nicht“, sagte er wieder. „Ich … will dich genau so haben.“

Er kniete neben ihr. Als er eine Brust umfasste und spielerisch den Daumen über ihre Brustwarze gleiten ließ, bis sie sich hart aufrichtete, entfuhr Jenna ein lustvolles Stöhnen. Sie blickten sich in die Augen, als Evandro die andere Hand zwischen ihre Beine schob.

Wieder entfuhr ihr ein Stöhnen, Jenna schloss die Augen und gab sich den fast unerträglich wundervollen Empfindungen hin, die er mit seinem geschickten Streicheln in ihr auslöste. Er beugte sich ein bisschen vor, ließ sie spüren, wie erregt er war, und sie genoss dieses Wissen. Sie sehnte sich danach, ihn zu besitzen, aber noch würde er ihr nicht erlauben, ihn zu nehmen.

Sie wurde immer erregter, das leise, hilflose Stöhnen kam jetzt schneller, ihre Lippen öffneten sich, sie ließ den Kopf zurücksinken, als sie so herrlich, so wunderschön dicht davor war, als Lust von Lust gekrönt wurde, sich immer mehr steigerte, die Erlösung suchte, nach der sich Jenna jetzt verzweifelt sehnte. Die Erlösung, die nur Evandro ihr schenken konnte.

Flehend bog sie sich ihm entgegen. Und dann, gerade als sie dachte, sie könnte nicht noch mehr Erregung ertragen, keinen weiteren Aufschub mehr, bewegte er sich plötzlich und umklammerte mit seinen muskulösen Oberschenkeln ihre Hüften. Eilig hob er Jenna hoch, kam hart und kraftvoll über ihren nackten, sehnenden Körper und drang in sie ein, füllte sie aus.

Sie schrie laut auf vor Lust, hielt sich an seinen Schultern fest, schlang die Beine um seine und schrie wieder auf. Welle auf Welle entfesselter Lust durchflutete sie, verzehrte sie.

Jenna spürte, wie sie miteinander verschmolzen, wie sie eins wurden, und sie rief seinen Namen, schluchzte beinah, während sie ganz langsam hinuntersank von dem unbeschreiblichen Gipfel der Ekstase, auf den Evandro sie gebracht hatte.

Schwer atmend zog er sich zurück und nahm Jenna in die Arme. Sie spürte das hämmernde Pochen seines Herzens, das im Takt mit ihrem schlug.

War es schon einmal so intensiv gewesen? Hatte sein Liebemachen heute Nacht etwas Dringliches an sich gehabt, fast etwas Verzweifeltes, und ein gieriges Verlangen? Als wäre er besessen gewesen von dem Wunsch, sie zu besitzen?

Jenna lag in seinen Armen, während Evandro sie so fest, so eng an sich gedrückt hielt wie noch nie zuvor, als wollte er sie niemals loslassen.

Freude erfüllte sie, und ein so großes Glücksgefühl, dass sich ihr Herz und ihre Atmung beruhigten, dass sie sich entspannte. Sie murmelte seinen Namen wie eine Liebkosung.

Wie sehr sie ihn liebte. So sehr …

Die Worte verschwammen, als Jenna und Evandro eng umschlungen zusammen in einen süßen Schlummer sanken.

Sie frühstückten wie üblich draußen auf der Terrasse. Amelie erzählte ihnen begeistert, was für einen Spaß sie in ihrer ersten Woche im Sommerferienlager gehabt hatte und dass sie schon mächtig gespannt war, was in der zweiten Woche alles passieren würde. Jenna freute sich, dass es ihr gefiel. Nicht nur für Amelie, sondern auch für sich selbst. So lieb Amelie auch war, Evandro für eine Weile ganz für sich zu haben, war wundervoll.

Ihr Blick glitt jetzt zu ihm. Er wirkte irgendwie gestresst. Vielleicht erinnerte er sich gerade an Berenice und seine unglückliche Ehe mit ihr?

Aber er war sie los. Er konnte neues Glück finden. Konnte ein neues Leben anfangen.

Bitte lass es mit mir sein!

Die vertraute Sehnsucht brannte so stark wie immer in ihrem Herzen und kämpfte mit der Angst, dass sie sich nach etwas sehnte, was nie sein konnte.

Maria kam auf die Terrasse und teilte Amelie mit, das Auto stehe bereit, um sie zum Sommerlager zu fahren. Das kleine Mädchen sprang auf, griff nach ihrem Matchbeutel, gab Jenna einen Kuss auf die Wange und umarmte schnell ihren Vater, bevor es fröhlich loslief.

„Für Sie, Signore“, sagte Maria zu Evandro, legte einen Stapel Post neben seinen Teller und ging wieder hinein.

Wie jeden Morgen blätterte er die Post sofort durch. Jenna vermutete, dass er nach Briefen suchte, die mit einer dringenden Angelegenheit bei seiner Arbeit in Zusammenhang standen. Als er den Stapel zur Hälfte durchgesehen hatte, erstarrte Evandro. Abrupt zog er einen der Briefe heraus und stand auf.

„Entschuldige mich.“

Seine Stimme klang schroff, und Jenna sah ihm die Anspannung an, als er ins Haus ging. Sie konnte ihm nur nachstarren. Ihr war plötzlich kalt.

Irgendetwas ist nicht in Ordnung, dachte sie.

Und all die Ängste, die sie zu zerstreuen versucht hatte, stürmten wieder auf sie ein.

Das geprägte Briefpapier lag auf Evandros Schreibtisch, der Name der Anwaltskanzlei, die Berenice nutzte, sprang ihm ins Auge. Und was ihr Anwalt geschrieben hatte, war unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Also war der Brief gekommen.

Der Sturm brach los, er war ihm nicht entronnen.

Erinnerungen an jenes allererste Abendessen mit Jenna, als sie über Hexen und böse Zauberbanne gesprochen hatten, verspotteten ihn.

„Alle solche Zauberbanne können gebrochen werden“, hatte sie zu ihm gesagt.

Dieser nicht.

Evandro schlug mit der Faust auf den Brief des Anwalts, den Brief, der Berenices letzte Waffe gegen ihn aktivierte. Die Waffe, die er nicht abwehren konnte. Die er nicht besiegen konnte.

Seine Trotzreaktion war umsonst gewesen. Jetzt konnte er nur tun, was getan werden musste. Er hatte keine andere Wahl, als das Versprechen zu erfüllen, das er gegeben hatte – ganz egal, wie viel es ihn kostete.

Und es würde ihn viel kosten. Aber nicht nur ihn.

Das war das Bitterste von allem.

Jenna war im Klassenzimmer und ordnete Amelies Schulbücher. Jetzt, wo sie den ganzen Tag im Sommerferienlager war, gab es keinen Unterricht, deshalb legte Jenna diejenigen zur Seite, die sie selbst mit nach Italien gebracht hatte, und den Rest in einen Schrank. Sie war in gedrückter Stimmung. Das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, quälte sie noch immer.

Sie hörte Evandros unverwechselbare schwere Schritte auf dem Treppenabsatz, bevor er die Tür öffnete. Aber er kam nicht herein, sondern blieb regungslos in der offenen Tür stehen. Jenna sah ihn an. Sein Gesicht war starr, die tiefen Linien um seinen Mund waren ausgeprägter als sonst, seine Miene war verschlossen. Ihr verschlossen.

Plötzlich wurde Jenna von großer Angst gepackt.

„Jenna.“

Schroff sagte Evandro ihren Namen. Er zwang sich, zu sagen, was er sagen musste, so, wie er es sagen musste. „Ich habe gehört …“, begann er, und die Lüge bildete sich heraus, die akzeptable, notwendige Lüge. „Ich habe von meiner Tante gehört. Sie ist die ältere Schwester meines Vaters und lebt in Sorrent. Sie möchte Amelie kennenlernen. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit dazu, weil sie Berenice nicht mochte und die Abneigung gegenseitig war. Und natürlich hätte ich gern, dass Amelie ihre Großtante kennenlernt.“

Er versuchte, so zu klingen, als würden sie ein normales Gespräch führen.

Aber Jenna stand wie erstarrt da. Langsam wich ihr die Farbe aus dem Gesicht.

Sie weiß es. Sie weiß, was ich gerade tue.

Er zwang sich, weiterzusprechen. Es gab keinen anderen Weg, dies zu tun.

„In Anbetracht dessen, dass Amelie jetzt im Sommerferienlager ist und ich mit ihr nach Sorrent fahren werde, wenn es zu Ende ist … Und dass dann ja schon gleich das Schuljahr anfängt … Nun, es scheint dies der passende Moment zu sein, um …“ Evandro schaffte es, die Schultern zu zucken, obwohl sie sich bleischwer anfühlten. „Der Sommer mit dir ist schön gewesen“, sagte er. „Und ich werde mich dankbar daran erinnern. Aber …“

„Du bist weitergegangen“, sagte Jenna.

Ihre Stimme war ausdruckslos, ihr Blick auch.

Das waren die Worte, die er gewählt hatte, um Bianca aus seinem Leben zu bekommen. Evandro nickte. Es kostete ihn seine ganze Kraft, das zu tun.

„Wann soll ich abreisen?“, fragte Jenna.

Er antwortete nicht. Konnte nicht. Also gab sie selbst die Antwort.

„Heute wäre am besten, denke ich. Nur … Amelie wird traurig sein. Sie hat mich sehr lieb gewonnen. Und ich sie“, flüsterte Jenna.

Sie schien zu zittern, und es erforderte all seine Willensstärke, zu bleiben, wo er war.

„Ich sorge dafür, dass sie es versteht.“ Seine Stimme klang schroff, selbst für ihn.

Mehr davon konnte er nicht ertragen. Keine Sekunde länger. Er drehte sich um und ging weg.

Und ihm war, als hörte er Berenices boshaftes, höhnisches Lachen.

Langsam sank Jenna zu Boden und schlang die Arme um ihre Knie. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Heftiger Schmerz schnitt ihr ins Herz.

Wie konnte Evandro ihr das antun? So rücksichtslos, so gefühllos? Hatte sie ihm überhaupt nichts bedeutet?

Ihr fiel ein, wie kühl er Bianca aus seinem Leben befördert hatte. Aber zu ihr war er netter als zu mir, er hat ihr zumindest noch alles Gute gewünscht, dachte Jenna.

Sie gab einen erstickten Laut von sich. Vor Schmerz brach ihr das Herz, so sehr quälten sie Evandros Gleichgültigkeit und Kälte – und ihre mit Füßen getretene Liebe.

Amelie brach in Tränen aus. Evandro hatte sie aus dem Sommerferienlager abgeholt und ihr gesagt, dass Jenna abgereist war.

„Ich will nicht, dass sie geht! Ich will nicht, dass sie das tut!“, schluchzte sie. „Ich will, dass sie hier bei uns bleibt, papà !“

Mit tränenüberströmtem Gesicht bat sie ihn flehentlich darum, klammerte sich verzweifelt an ihn.

„Hol sie zurück, papà ! Bitte, bitte hol sie zurück!“

Er umarmte sie fest. Ihr Kummer tat ihm in der Seele weh.

„Ich kann nicht. Ich kann nicht.“

Denn Jenna durfte niemals zurückkommen.

12. KAPITEL

Jenna schloss ihre Wohnung auf. Sie war stickig, deshalb ging sie mechanisch herum und öffnete die Fenster. So mechanisch, wie sie heute Morgen aus dem Klassenzimmer des Palazzo in ihr Schlafzimmer gegangen war und ihre Sachen gepackt hatte.

Nicht diejenigen, die Evandro ihr gekauft hatte. Sie gehörten ihr nicht. Sie waren für eine Frau, die sie nicht länger war.

Eine Frau, die sich nach dem gesehnt hatte, was ihr Herz begehrte, nach dem, was sie niemals haben konnte. Die sich nach einer Familie gesehnt hatte, die sie niemals haben konnte. Die sich nach Liebe von einem Mann gesehnt hatte, der sie niemals lieben würde …

Nachdem sie den Koffer geschlossen und Reisepass und Brieftasche in ihre Handtasche gesteckt hatte, war Jenna noch einmal in Amelies Schlafzimmer gegangen. Kummer hatte sie gequält, und Mitleid mit dem Kind, das nach Hause kommen und feststellen würde, dass sie weg war.

Eine alte Erinnerung war wach geworden. Daran, wie man ihr gesagt hatte, ihre Mutter sei bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Ihr gesagt hatte, sie werde jetzt bei ihrem Vater leben, den sie gar nicht kannte.

Aber Amelies Vater war nicht wie ihrer. Das war ihr Trost. Amelie hatte einen Vater, der sie liebte, der für sie da sein und sie immer beschützen würde. Deshalb hatte sie Glück. Und Jenna war nie ihre Mutter gewesen, nur ihre Lehrerin.

Deshalb hinterließ Jenna als ihre Lehrerin eine Nachricht für Amelie. Sie schrieb, wie gut sie bei all ihren Schularbeiten gewesen sei und dass sie hoffe, die Schule würde ihr gefallen.

Ich werde den wundervollen Sommer, den ich in diesem schönen Palazzo mit Dir und Deinem Vater verbracht habe, immer in Erinnerung behalten. Sei brav, Schatz, und kümmere dich um Deinen Vater, denn er liebt Dich sehr.

Mehr hatte Jenna nicht schreiben können, weil ihr vor Tränen alles vor den Augen verschwommen war. Tränen wegen des kleinen Mädchens, das sie so lieb gewonnen hatte und jetzt nie wiedersehen würde.

Den Mann, den sie liebte, würde sie ebenfalls nicht wiedersehen.

Denn auch für ihn war Jenna wieder unsichtbar geworden.

Evandros Blick glitt zu Amelie, die mit dem Puppenhaus spielte, das er ihr in Neapel gekauft hatte. Sie schob Möbel herum, räumte Zimmer um, aber lustlos.

„Sie ist unglücklich“, sagte seine Tante, die seinem Blick in ihren Salon folgte. Sie saßen draußen auf dem Balkon ihrer großen Wohnung mit Aussicht auf den Golf von Neapel. Sie sah wieder ihren Neffen an, wartete auf eine Antwort. Eine Erklärung.

Es kam keine.

„Du hast mir erzählt, sie hätte sich sehr gut an das Leben hier bei dir in Italien angepasst. Also warum ist sie so unglücklich?“

Evandro wusste, dass er etwas sagen musste. Aber er wusste auch, dass seine Tante kein Blatt vor den Mund nahm. In Bezug auf seine Heirat hatte sie es mit Sicherheit nicht getan. Als sie seine Braut an Evandros Hochzeitstag zum ersten Mal getroffen hatte, hatte sie sie sofort unsympathisch gefunden.

„Ich wiederhole: Warum ist das Kind unglücklich?“

„Amelie vermisst ihre Lehrerin.“ Er versuchte, gleichmütig zu klingen. „Diejenige, die ich für den Sommer eingestellt habe, um Amelie für die Einschulung im Herbst fit zu machen. Deshalb habe ich es für eine gute Idee gehalten, sie hierherzubringen, damit sie dich kennenlernt. Ich dachte, ein Tapetenwechsel könnte helfen.“

„Es gab da einen Artikel in einer dieser Klatschzeitungen, in denen du regelmäßig aufgetaucht bist. Du weißt schon, als dich die Hexe von einer Ehefrau endlich in Ruhe gelassen hat und du deine Freiheit mit irgendwelchen sexy Frauen gefeiert hast!“, sagte seine Tante. „Nur war dieser letzte Artikel anders. Und die Frau, die darin erwähnt wurde, war es auch.“

Sie blickte Evandro an und nippte an ihrem Martini, während sie auf seine Antwort wartete.

Wieder kam keine.

„Es ist nicht nur Amelie, die ihre Lehrerin vermisst, stimmts?“

Er sah weg, unfähig, den allzu aufmerksamen Blick seiner Tante zu erwidern.

„Du Idiot, Evandro! Oh, du Idiot!“, sagte sie sanft.

Aber das musste ihm niemand sagen. Er war ein Blödmann, war es schon, seit er Berenice geheiratet hatte.

Er würde niemals von ihrer Bösartigkeit frei sein.

Niemals.

Jenna war dabei, sich eine neue Stelle zu suchen, denn sie wollte aus London wegziehen. In den Norden, Süden, Osten, Westen … Es war egal, wohin.

Weil es nur einen Ort gab, wo sie sein wollte, und der war ihr jetzt für immer versperrt. Versperrt durch den einen Mann, mit dem sie zusammen sein wollte und es nie wieder sein konnte. Im Geiste sah sie alles vor sich, so real, als wäre sie dort. Sie sah den Palazzo, die schöne Gartenanlage. Sie sah Loretta, Maria und Signora Farrafacci. Und Amelie, die die Treppe herunterrannte, auf sie zustürzte, um sie zu umarmen …

Und immer Evandro, wie er auf die Terrasse kam, sich auf seinem Esszimmerstuhl zurücklehnte, sie in seine Arme zog, den Kopf neigte, um sie zu küssen …

Jenna sah es alles vor sich, aber es war, als wäre sie ein Gespenst, das durch die Szene schwebte, unsichtbar für jene vor ihr. Eine Außenseiterin, die nicht das Recht hatte, dort zu sein, die nicht das Recht hatte, dazuzugehören.

Nicht das Recht hatte, sie alle zu lieben.

Vor Qual stieß Jenna einen Schrei aus, dann presste sie die Hand auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. Um alles zum Schweigen zu bringen, was in ihrem Innern schrie. Um die schmerzliche Sehnsucht nach dem zu ersticken, was nie wieder sein konnte.

Evandro blickte auf seine Armbanduhr. Amelie blieb heute länger in der Schule. Eine Chorprobe, wie ihm wieder einfiel. Er würde sie später abholen, vielleicht in einem Restaurant mit ihr zu Abend essen. Irgendetwas tun, um sie aufzuheitern. Obwohl sie sich in der Klosterschule eingewöhnt hatte, sah sie immer noch viel zu oft traurig aus.

Aber zumindest erwähnte sie Jenna seltener. Dafür war er dankbar, und nicht nur Amelies wegen.

Nein, darauf würde er sich nicht einlassen. Er weigerte sich, wieder damit anzufangen. Mit diesem allerletzten Moment, als er es Jenna gesagt hatte. Kurz und sachlich.

Es war die beste Methode gewesen, es zu beenden.

Und Jenna war gegangen. Sie hatte ihren Koffer gepackt und den Palazzo verlassen, als wäre sie nie hier gewesen. Sie war still und unauffällig einfach verschwunden.

Wieder unsichtbar geworden.

Evandro arbeitete so oft wie möglich vom Palazzo aus, trotzdem musste er manchmal in Turin sein und weiterhin einige Geschäftsreisen machen. Aber Amelie ging es gut hier mit seiner Haushälterin und den Angestellten, die sich um sie kümmerten, wenn er unterwegs war. Und er telefonierte dann jeden Abend mit ihr, brachte ihr immer ein kleines Geschenk mit, wenn er nach Hause kam.

Er organisierte sein Leben um sie herum, tat für sie alles, was er konnte, damit sie glücklich war. Alles, was er tun musste. Alles. Koste es, was es wolle.

Ein wirklich in sein Kind vernarrter Vater …

Mit einer ruckartigen Bewegung griff Evandro nach dem Telefon. Der Nachmittag war fast vorbei, und er hatte Geschäftsgespräche zu führen. Was brachte es, daran zu denken, was es ihn gekostet hatte? Warum sollte er an den Preis denken, den er bezahlt hatte?

Nichts. Es hatte gekostet, und er hatte bezahlt, das war alles.

Bevor er die Nummer eintippen konnte, klopfte es an der Tür zur Bibliothek. Als Signora Farrafacci hereinkam, erkannte er sofort, dass sie in heller Aufregung war.

„Was ist los?“, fragte er stirnrunzelnd. Er wusste, dass seine Haushälterin über Jennas abrupte Abreise bestürzt gewesen war, aber er hatte zu keiner Diskussion darüber ermutigt, und sie hütete sich, zu fragen.

„Da ist … jemand gekommen“, sagte sie atemlos. „Jemand, der verlangt, Sie zu sprechen.“

„Wer?“ Sein erster Gedanke war, dass Amelie etwas zugestoßen war. Angst packte ihn.

„Es ist …“ Signora Farrafacci zögerte, dann stieß sie wütend hervor: „Signora Rocceforte!“

Evandro erstarrte.

Jenna blickte aufs Wasser. Der Herbst verkürzte die Tage, und die kühle Luft deutete schon die Kälte des Winters an. Das Mündungsgebiet der Themse in der Nähe der Pendlerstadt in Essex, in der sie eine befristete Stelle als Lehrerin gefunden hatte, war eine trostlose Sumpflandschaft! Außer für die unzähligen Seevögel, die hier Zuflucht fanden.

Würde sie selbst auch hier Zuflucht finden? Vor dem Schmerz, vor den Erinnerungen. Vor dem, was hätte sein können, aber niemals sein konnte.

Jenna zwang sich, weiter am Ufer entlangzugehen. Sie durfte sich ihrem Kummer nicht hingeben, durfte nicht endlos ihren Verlust beklagen.

Sie musste sich ein neues Leben aufbauen. Sie musste akzeptieren, dass sie sich Illusionen gemacht hatte. Sie hatte die Frau sein wollen, die von Evandro geliebt wurde, aber sie war es nie gewesen. Und schließlich hatte er sie zurückgewiesen und hinausgeworfen.

Er hatte sie mit nichts weiter als ein paar kurzen Worten weggeschickt. Jenna ballte die Hände zu Fäusten, teils vor Schmerz, teils vor Wut. Solch eine Behandlung hatte sie nicht verdient! Solch eine gefühllose Beendigung dessen, was zwischen ihnen gewesen war. Vor allem, da es aus dem Nichts gekommen war …

Stirnrunzelnd blieb Jenna stehen.

Aber war es das?

Evandro hatte gesagt, er hätte von seiner Tante gehört, die gern Amelie kennenlernen wollte. War das der Brief, der an dem Morgen in der Post gewesen war? Derjenige, den er in die Hand genommen hatte, bevor er sich kurz angebunden entschuldigt hatte und hineingegangen war?

Jenna erinnerte sich daran, wie sie ihm nachgeblickt und gedacht hatte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Was konnte an einer Einladung von seiner Tante so verkehrt sein?

Aber war dieser Brief von seiner Tante gewesen? Ein großer weißer Umschlag, geschäftsmäßig, die Adresse aufgedruckt, nicht handgeschrieben, wie es doch sicherlich eine ältere Tante getan hätte, wenn sie an ein Familienmitglied schrieb …

Und die Marke …

Jennas Augen weiteten sich plötzlich.

Keine italienische. Eine französische.

Evandro hatte gesagt, seine Tante lebe in Sorrent.

Aus einem Impuls heraus kehrte Jenna um. Der Evandro, der sie so gefühllos weggeschickt hatte, war nicht der Evandro, den sie kannte. Nicht der Evandro mit dem trockenen Humor, der ihre Gesellschaft, die Gespräche mit ihr offen genossen hatte, der sie in die Arme genommen hatte, mit in sein Bett – und in sein Leben! Der sie geküsst und umarmt und mit ihr gelacht hatte.

Der Evandro, den sie kannte, war überhaupt nicht so wie der Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht, der sie quer durchs Klassenzimmer angesehen hatte, gefühllos und gleichgültig, verschlossen, die Linien um seinen Mund tief ausgeprägt. Er hatte sie weggeschickt, als wäre er gezwungen, es zu tun.

Wodurch?

Und Jenna erinnerte sich daran, was ihr bei jenem allerersten Abendessen mit ihm und Amelie über die Lippen gekommen war.

Sie stehen unter einem bösen Zauberbann.

Seine Ehe war eine Katastrophe gewesen. Jenna wusste das – der ganze Haushalt wusste das! Aber Evandro war frei, und seine geliebte Tochter Amelie war jetzt bei ihm, sicher und beschützt vor ihrer selbstsüchtigen Mutter. Es gab nichts mehr, was Berenice tun konnte, um ihm zu schaden.

Oder doch?

Jenna ging schneller, ein Gefühl von Dringlichkeit erfüllte sie.

Evandro saß in der Bibliothek, in dem Ledersessel neben dem nicht angezündeten Kamin. Die Nacht Ende Oktober war noch mild, aber der Kamin war auch aus einem anderen Grund nicht angezündet. Er wollte keine Flammen sehen und keinen Rauch riechen, denn das würde ihn nur noch mehr an das grauenhafte Unglück erinnern, das in seinem Haus geschehen war.

Es war lange nach Mitternacht, und im Palazzo war alles still. Evandro trank seinen Brandy aus, griff nach der Karaffe und füllte sein Glas wieder. Er sollte aufhören, zu trinken, aber er hatte keine Lust dazu.

Sein Kiefer tat weh, und Evandro berührte seine linke Wange, dann ließ er die Hand sinken. Er wollte den Schmerz nicht bemerken, der trotz des Alkohols noch immer in ihm pochte. Stattdessen trank er einen weiteren Schluck Brandy. Vorsichtig streckte er die Beine aus, versuchte, bei der Anstrengung, die es kostete, nicht zusammenzuzucken.

Wenn er genug trank, würde er vielleicht hier im Sessel einschlafen. Das wäre jedenfalls besser, als sich in sein Zimmer zu schleppen und dann im Bett zu liegen, allein bis auf seine Erinnerungen.

Es waren zu viele Erinnerungen. Zu schmerzlich, um sie zu ertragen. Zu unerträglich.

Erinnerungen an eine Frau, die er nie wiedersehen würde. Die für immer außer seiner Reichweite war.

Für immer.

Die vernichtenden Worte trafen ihn bis ins Mark.

Emotionen loderten wie Flammen über ihn hinweg. Es war qualvoll.

In wütender, unerträglicher Verzweiflung schleuderte Evandro sein Glas in den Kamin. Es zersplitterte, aber er hörte den Krach nicht. Er hörte nur einen lauten, elenden Schrei, der wie das Brüllen eines verletzten Tiers klang.

Nur vage war ihm bewusst, dass der Schrei von ihm gekommen war.

Jenna fuhr hoch, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Herz hämmerte.

Ein Traum, nur ein Traum. Aber dieser Schrei …

Auch er gehörte zu ihrem Traum!

Aber er hatte so real geklungen, dass sie ihn noch immer zu hören glaubte. Jennas Augen waren offen, aber es war nicht ihr Zimmer, das sie sah. Sie hörte ihr schweres Atmen, ihr Herz klopfte immer noch heftig, als sie aus dem Bett stieg und zum Fenster ihrer winzigen Wohnung ging. Sie zog die Vorhänge auf, um auf die Straße zu blicken, menschenleer jetzt, lange nach Mitternacht, als könnte sie dort draußen sehen, was in ihrem Kopf war.

Dann wandte sie sich wie betäubt ab. Ein Traum, sagte sie sich wieder. Dieser schreckliche, verzweifelte Schrei war nur ein Traum.

Und wenn nicht?

So zu denken war albern. Irrational. Trotzdem, der Traum war so verstörend gewesen, dass sie irgendetwas tun musste, was sie vielleicht beruhigte.

Zittrig nahm Jenna ihren Laptop, setzte sich aufs Bett und loggte sich ein. Sie ließ außer Acht, wie spät es war. Zwar musste sie morgen in der Schule sein und Unterricht geben, aber sie konnte jetzt sowieso nicht mehr schlafen.

Wonach sie suchte, wusste sie nicht, allerdings tippten ihre Finger wie von selbst „Evandro Rocceforte“ in die Suchmaschine ein. Auf halbem Weg durch die erste Seite mit Ergebnissen sprang ihr eine Artikelüberschrift ins Auge. Sie klickte den Link an und begann zu lesen. Es war eine aktuelle Presseerklärung von Rocceforte Industriale.

Mit Bedauern geben wir den Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden Evandro Rocceforte aus gesundheitlichen Gründen bekannt. Ernannt wurde von ihm an seiner Stelle …

Jenna las nicht weiter.

Eine schreckliche, kalte Angst erfüllte sie.

13. KAPITEL

Jenna stand am Straßenrand, wo der Regionalbus sie abgesetzt hatte. Sie hatte in der Stadt kein Taxi finden können, und jetzt wartete die steile Auffahrt zum Palazzo auf sie.

Wenigstens hatte sie kein Gepäck. Das wäre eine Anmaßung gewesen, die viel zu weit ging. Ein großer Teil von ihr sagte ihr noch immer, dass es verrückt von ihr war, so etwas zu tun: die Schule anrufen und mitteilen, sie würde heute nicht kommen, dann zum Flughafen Southend fahren, den ersten Flug nach Bergamo nehmen und mit dem Zug weiterfahren.

Aber eine schreckliche Angst und die Erinnerung an diesen furchtbaren Traum hatten sie angetrieben. Und dazu die Bekanntgabe, die sie gelesen hatte.

Was bedeutete „aus gesundheitlichen Gründen“? Was für eine furchtbare Krankheit würde Evandro dazu bringen, sich aus der Chefetage seines eigenen Unternehmens zurückzuziehen?

Jenna ging die schmale Auffahrt hoch. Ihre Gedanken waren noch immer so durcheinander wie gestern Nacht.

Dieser Brief, den er bekommen hatte. Wie schnell und rücksichtslos er sie weggeschickt hatte. Ihr Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Und jetzt die Bekanntgabe „aus gesundheitlichen Gründen“. Hatte in diesem Brief womöglich gestanden, dass er unheilbar krank war? Hatte er sie deswegen fortgeschickt?

Die Fragen schwirrten ihr durch den Kopf und steigerten ihre Angst.

Jenna umrundete die Felsnase und ignorierte die Stelle, wo die Auffahrt zur Vorderseite des Palazzo weiterging. Stattdessen nahm sie die Abkürzung durch den Wald zur Gartenanlage an der Rückseite.

Schock und Entsetzen durchzuckten sie. Die Hinteransicht war genau so, wie sie immer gewesen war. Aber weiter nach vorn hin war der Palazzo eine geschwärzte Ruine. Die Eingangshalle mit dem Marmorboden war halb offen zum Himmel. Und in der Luft hing der schwache Geruch nach Rauch, Asche und Zerstörung.

Wie betäubt ging Jenna ungläubig durch die Gärten, mit jedem Schritt klopfte ihr Herz härter und schneller. Als sie die Terrasse erreichte, trat eine dunkle Gestalt aus dem Palazzo.

Jenna stieß einen Schrei aus.

Evandro blieb abrupt stehen.

Dieser Schrei …

Er strengte seine verletzten Augen an. Eine Frau kam auf ihn zu. Mal war sie deutlich zu sehen, mal unscharf. Die letzte Frau auf der Welt, die ihn so sehen sollte.

Die einzige Frau auf der Welt, die er sehen wollte.

Und dann war sie da, vor ihm. Eine Frau, die nicht hier sein sollte, die keinen Grund hatte, hier zu sein. Eine Frau, der das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.

Sein Sehvermögen hatte gelitten, aber wenn er sich anstrengte, konnte er etwas erkennen. Ein stechender Schmerz schoss über sein Gesicht.

„Warum bist du gekommen?“ Seine Stimme klang schroff, und er sah Jenna zusammenzucken. Aber vielleicht nicht allein wegen seines Tons.

„Ich musste es tun“, erwiderte sie. „Ich habe dich rufen hören. In einem Traum. Dann habe ich online einen Artikel gefunden, in dem es hieß, du hättest dich aus gesundheitlichen Gründen von deinem Posten als Vorstandsvorsitzender zurückgezogen. Aber darin stand nicht … stand nicht …“

Sie verstummte, und in ihrem Blick war das, was er jetzt in allen Blicken sehen würde.

Mitleid und Entsetzen.

„Wie …?“ Sie schluckte, sprach nicht weiter.

Evandro holte Luft. „Komm herein, wenn du willst.“ Seine Stimme war weniger schroff, nur rau. „Ich muss mich hinsetzen“, fuhr er fort. „Laufen ist noch immer schwierig, wie du sehen kannst.“

Er zeigte ihr den Stock in seiner rechten Hand, der nicht verhinderte, dass er stark hinkte. So wie jetzt, als er unter Schmerzen in die Bibliothek zurückging. Erleichtert ließ er sich in den tiefen Ledersessel neben dem nicht angezündeten Kamin sinken und deutete auf den Sessel gegenüber.

Abrupt setzte sich Jenna hin. Ihr standen noch immer der Schock, das Mitleid und das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

„Erzähl mir alles!“, bat sie.

Evandro lehnte seinen Stock an den Kaminsims und streckte vorsichtig sein Bein aus, das von herabstürzendem Mauerwerk so schwer verletzt worden war.

„Meine Frau ist zu Besuch gekommen“, antwortete er kurz angebunden.

Jenna starrte.

„Meine Ex-Frau“, verbesserte er. „Aber sie hat das nie akzeptiert. Sie hat darauf bestanden, hier die Nacht zu verbringen. Am liebsten mit mir zusammen.“

Er hörte Jenna die Luft einziehen, machte aber weiter.

„Als ich ihre Einladung abgelehnt habe, hat sie sich wütend in ihr Zimmer zurückgezogen. Eins der Gästezimmer an der Vorderseite war für sie hergerichtet worden … Sie hat immer wieder nach mehr Champagner, Wein und Likör verlangt. Sie hat getrunken und geraucht. Irgendwann muss ihr eine glühende Zigarette auf den Boden gefallen sein. Dort hat sie auf dem Teppich geschwelt, bevor sich der Brand an ihren abgelegten Kleidungsstücken entlanggearbeitet und die Vorhänge erreicht hat. Die Rauchmelder gingen los, der Haushalt wurde wach, die Feuerwehr wurde gerufen. Aber die Stadt ist ein ganzes Stück entfernt, wie du weißt. Und in alten Häusern breitet sich Feuer sehr schnell aus.“

Evandro verstummte. Die Erinnerung an das Inferno trug er jetzt ständig mit sich herum. An das Prasseln der Flammen und das Krachen brennenden Holzes, an den erstickenden Rauch …

„Ich habe versucht, sie zu retten. Bitte, halt mir das zugute. Ich hatte sie zur Hölle gewünscht, aber nicht so.“

Er bemühte sich, die richtigen Worte zu finden.

„Man sagt, sie sei an Rauchvergiftung gestorben. Und weil sie von so viel Alkohol in ihrem Organismus schon halb bewusstlos gewesen sei, habe sie wohl kaum etwas mitgekriegt von dem, was mit ihr passierte. Sie ist in aller Stille beigesetzt worden. Das Familiengrab auf dem Friedhof. Anstandshalber. Amelie zuliebe …“ Er sprach nicht weiter.

„Amelie. Bitte sag mir, dass sie nicht mit angesehen hat, wie …“ Jennas Stimme klang angstvoll.

„Sie war nicht hier“, erzählte Evandro ihr. „Sobald Berenice aufgetaucht ist, habe ich die Schule angerufen und darum gebeten, Amelie für die Nacht bei den Internatsschülerinnen unterzubringen. Sie konnte erst zurückkommen, als der Palazzo gefahrlos bewohnbar und ich aus dem Krankenhaus heraus war. Jetzt ist sie wieder hier, und sie geht jeden Tag zur Schule. Man hielt es für das Beste, wenn sie ihren normalen Tagesablauf einhält. Um das Trauma zu minimieren.“

„Und du?“, fragte Jenna. „Dein Trauma?“

„Ich bin am Leben. Das ist alles, was zählt. Für Amelie.“

„Nicht nur für Amelie“, sagte Jenna.

Und obwohl vor seinen von Feuer und Rauch noch immer geschädigten Augen alles verschwamm, sah er Tränen über ihre Wangen strömen.

Jenna konnte nicht aufhören, zu weinen. Er hatte versucht, die Frau zu retten, die ihn so viele Jahre lang gequält hatte, die so leichtsinnig nicht nur ihn, sondern alle hier gefährdet hatte. Trotzdem hatte er versucht, sie zu retten. Auf solche Kosten.

Durch die Tränen, die sie nicht aufhalten konnte, erblickte Jenna sein schwer gezeichnetes Gesicht. Die Verbrennungen auf seiner linken Gesichtshälfte waren noch nicht vollständig geheilt, und die gezackte Schnittwunde über seinem linken Auge sah aus wie ein bläulicher Blitz.

Mitleid schnürte ihr die Kehle zu. Und so viel mehr als Mitleid. Ihr Herz war übervoll davon.

Evandro hielt ihr ein Taschentuch hin. Es war groß und aus feiner Baumwolle, mit seinen Initialen an der Ecke.

„Genug Tränen, Jenna“, sagte er. „Ich werde überleben. Und gerade du solltest nicht um mich weinen. Nicht nach dem, was ich dir angetan habe.“

Evandro stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, ohne seinen Stock zu nehmen. Sein unsicherer Gang machte ihn langsam, was ihn frustrierte. Er riss die Schublade auf und holte den Briefumschlag heraus, der dort seit dem Tag gelegen hatte, als er Jenna weggeschickt hatte. Dann lehnte er sich an die Schreibtischkante, um sein schmerzendes Bein zu entlasten, und blickte zu Jenna.

„Dieser Brief“, sagte sie matt. „Als ich die Bekanntgabe deines Rücktritts gelesen habe, dachte ich, in dem Brief hätten schlimme Neuigkeiten gestanden … Dass du schwer krank bist. Weil in der Presseerklärung gesundheitliche Gründe erwähnt wurden …“

Sie sprach unzusammenhängend und saß sehr still, die Knie zusammengedrückt, die Hände auf dem Schoß verkrampft.

„Jenna, seit meiner Scheidung gebe ich guten Stoff für die Klatschpresse ab. Die Journalisten bekommen Hilfe – von Bianca, zum Beispiel. Sie hat ihnen gern Tipps gegeben, als ich mit ihr herumgezogen bin. Teils weil sie es genossen hat, im Rampenlicht zu stehen, teils weil sie hoffte, es würde ihr bei ihrem Ziel helfen, die nächste Signora Rocceforte zu werden. Natürlich hatte sie nie eine Chance, aber die Schmierfinken hätten es geliebt, solch eine Story zu bringen. Deshalb …“

Evandro stoppte. Dann machte er resigniert weiter. Es hatte keinen Sinn, mit dieser traurigen Geschichte anzufangen, nur um sie jetzt zurückzuhalten.

„In einem dieser Schundblätter erschien ein Artikel, nachdem wir aus Turin zurückgekehrt waren, Jenna. Darin stand, wie ganz anders du bist als solche Frauen wie Bianca. Der Reporter hat versucht, dich in die Rolle hineinzumanövrieren, die Bianca niemals bekommen konnte. Er hat geschrieben, du wärst für mich womöglich das, was sie nie gewesen sei und auch nie werden könne. Die Folge davon war dieser Brief.“ Evandro ließ den Umschlag auf den Schreibtisch fallen, als wäre es gefährlich, ihn anzufassen.

Er starrte darauf, dann richtete er den Blick wieder auf Jenna und zwang sich, weiterzumachen. Sie dazu zu bringen, zu verstehen, was er getan hatte. Warum er es getan hatte. Nicht, damit sie ihm verzieh, aber damit sie verstand.

„Jenna, ich wusste von Anfang an, dass es unklug ist, mehr für dich zu sein als dein Arbeitgeber und der Vater deiner Schülerin. Ich wusste, dass es unklug ist, mehr zu wollen. Unklug, mir zu wünschen, dass du für mich deinen Schutzmantel der Unsichtbarkeit ablegst. Unklug, dich im Mondschein zu küssen. Deshalb habe ich dich damals weggestoßen. Nur deshalb habe ich Bianca und ihre Clique hierhergebracht. Ich wollte mein Verlangen nach dir verbannen, indem ich mein Haus mit Ablenkung überflute. Aber die ganze Anstrengung hat mir nur bewiesen, dass ich mit dir zusammen sein will. Du bist alles, was Berenice nicht war. Deine ruhige Art, deine unaufdringliche Schönheit, deine elfenhafte Anmut. Und vor allem deine Ehrlichkeit, deine Freundlichkeit und dein Mitgefühl. Du warst alles, wonach ich mich sehnte. Du warst die Frau, die ich wollte. Die Frau, die ich brauchte, um wieder ein intaktes Leben zu haben.“

Evandro holte tief Luft. „Und so habe ich Bianca und ihre Clique hinausbefördert und dich ungeachtet der Gefahr zur Meinen gemacht. Ein gefährliches Wort, Jenna. Meine. Und ich kannte die Gefahr! Ich wusste, dass ich dich niemals in meinen Armen halten sollte, dich niemals küssen sollte, dich niemals in mein Bett lassen sollte, in mein Leben, in mein …“

Er sprach nicht weiter. Sie hatte durch ihn genug erlitten.

„Ich wusste es“, fuhr er stattdessen fort, „aber ich habe es ignoriert. Ich bin das Risiko eingegangen, obwohl mir klar war, wie real dieses Risiko ist, weil du ganz anders als Bianca bist.“

„Was für ein Risiko, Evandro?“, fragte Jenna verwirrt. „Warum?“

„Das Risiko, dass ich zwischen dir und Amelie würde wählen müssen.“

Jenna hörte die Worte, aber sie konnte sie nicht glauben. Entsetzen über das, was er gesagt hatte, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Ich würde dich niemals zwingen, so etwas zu tun! Wie konntest du denken, dass ich nach dem, wie mein Vater sich für meine Stiefmutter und gegen mich entschieden hat, jemals von dir verlangen würde, dass du das Amelie antust? Und warum sollte ich? Amelie ist ein Schatz! Ich liebe sie ebenso sehr, wie ich …“ Sie brach mitten im Satz ab. „Ich würde dich niemals zwingen, zu wählen.“

„Du nicht“, sagte Evandro bedrückt. „Du wärst nicht diejenige gewesen, die mich dazu gezwungen hätte.“

Jenna runzelte verständnislos die Stirn. „Aber wer?“

„Berenice.“

„Berenice?“ Jetzt verstand sie überhaupt nichts mehr.

Er stieß sich von der Schreibtischkante ab, um sich in den Chefsessel sinken zu lassen.

„Mein Vater wollte Rocceforte Industriale durch eine Fusion mit einem ähnlichen französischen Unternehmen vergrößern. Trans-Montane war in finanziellen Schwierigkeiten, hätte aber gut zu uns gepasst. Berenice hatte Stimmrechtsanteile an dem Unternehmen geerbt, deshalb war die Fusion am einfachsten durchzuführen, indem wir unsere beiden Familien vereinigen. Zu sagen, dass ich dafür war, wäre eine Untertreibung. Ich war froh, meinen Vater zufriedenzustellen, und froh, dem Unternehmen zu helfen, das schon über hundert Jahre im Besitz unserer Familie war, aber ich habe nicht allein deshalb geheiratet.“

Evandro zögerte, und Jenna sah etwas in seiner Miene, was ihr einen Stich gab.

„Ich hatte einen Blick auf Berenice geworfen und war verloren. Ich war fünfundzwanzig, voller romantischer Vorstellungen. Mein Vater war hocherfreut. Ich würde eine Ehefrau haben, um die mich jeder Mann beneiden würde und die auch noch unseren Umsatz verdoppeln würde. Und ich würde eine Liebesheirat eingehen, so wundervoll, wie er es erlebt hatte – seine Ehe war ihm durch den Tod meiner Mutter zwei Jahre davor genommen worden. Er wollte mich so gern glücklich verheiratet sehen, mich leidenschaftlich verliebt sehen.“

Evandros Miene wurde hart, zynisch.

„Zufälligerweise wollte meine Ehefrau genau das auch. Ich sollte schwer verliebt sein, in sie vernarrt. Sie wusste, dass es mich gefügig machen würde. Leicht zu manipulieren. Es war dasselbe Ziel, das sie für all die unglücklichen Männer hatte, die sie anlockte. Aber bei mir, ihrem Ehemann, war es noch wichtiger, dass ich der bis über beide Ohren verliebte Idiot blieb, der glaubte, er hätte seine Traumfrau gefunden. Ich sollte ihr treuer, liebender Ehemann sein, der die Rechnungen für alle ihre Extravaganzen bezahlte, der sie mit allem überhäufte, was sie sich wünschte. Der ihre Launenhaftigkeit ertrug, ihre Reizbarkeit, ihre Selbstsucht und ihren Narzissmus, der ihr ihre ständigen Affären verzieh. Und ich sollte mich auch noch für privilegiert halten, weil ich das tun durfte.“

Seine Miene wurde noch härter.

„Als ich Berenices oberflächliche Anziehungskraft durchschaut habe, sie so gesehen habe, wie sie wirklich ist, konnte sie das nicht ertragen. Es hat sie wütend gemacht. Sie hat ihren ganzen Charme spielen lassen, um mich zurück in ihre manipulativen Klauen zu ziehen. Sie war fest entschlossen, mich nicht nur wieder in ihrem Netz zu fangen, sondern mich auch dafür zu bestrafen, dass ich versuchte, mich von ihr zu distanzieren. Mich dafür zu bestrafen, indem sie mir das Herz bricht. Sie konnte es nicht. Sie konnte mich nicht dazu bringen, total verliebt zu sein in eine Frau, die keine Liebe für irgendjemanden, geschweige denn ihren Ehemann, empfand. Sie hatte ihre Macht über mich verloren. Amelie zuliebe, obwohl ich sie so selten sah, und auch meinem Vater zuliebe bin ich mit Berenice weiter verheiratet geblieben. Aber nach seinem Tod konnte ich es nicht länger ertragen und habe mich von ihr scheiden lassen. Ich war fertig mit ihr.“

Jenna sah etwas in seinem Gesicht, was sie bis ins Mark erschütterte.

„Aber Berenice war mit mir noch nicht fertig. Und als ich das Sorgerecht für Amelie gefordert habe, hat sie zugeschlagen. Meine Entschlossenheit, ihr Amelie zu entreißen, hatte ihr gezeigt, wie viel sie von mir verlangen konnte, bevor sie das Sorgerecht abtrat – und es verlieh ihr eine neue Macht über mich. Nicht nur, um mich zu zwingen, ihr zusätzlich zu ihrer Abfindung ein Vermögen für Amelie zu zahlen, sondern um ihre Rachegelüste zu befriedigen, weil ich es gewagt hatte, mich von ihr scheiden zu lassen. Weil ich ihr das Vergnügen verweigert hatte, mir das Herz zu brechen. Sie wusste, dass sie mir trotzdem das Herz brechen konnte, indem sie Amelie benutzte. Das war der Preis dafür, dass sie das Sorgerecht schließlich an mich abtrat.“

Jenna sah Evandros Blick zu dem Brief schnellen, der auf dem Schreibtisch lag, bevor er die Augen wieder auf sie richtete.

„Ich sollte ein Dokument unterschreiben, über das mein Anwalt entsetzt war. ‚Sie geben ihr die Macht, Ihre Zukunft zu zerstören‘, hat er gesagt. Ich konnte mich nicht darum kümmern. Ich dachte nur daran, dass Amelie für immer zu mir kommen würde und der Sorgerechtsstreit vorbei wäre. Berenice wollte mir das Herz brechen, indem sie mich zwang, zwischen Amelie und irgendeiner Frau zu wählen, die mir vielleicht einmal etwas bedeuten würde. Bianca und ihresgleichen störten Berenice nicht. Sie wusste, dass es nur Frauen für Affären waren. Aber du, Jenna, warst anders. Dieser Artikel in der Boulevardzeitung mit den Spekulationen darüber, was du mir bedeutest, hat Berenice erreicht. Und sie hat, genau wie ich befürchtet habe, sofort zugeschlagen.“

Evandro blickte wieder auf den Brief.

„Er ist von ihren Anwälten. Wie Berenice es angedroht hatte, wird in dem Schreiben die Wiederaufnahme des Sorgerechtsstreits angekündigt. Außer wenn ich tue, was ich in diesem Dokument zugesichert hatte. Und deshalb habe ich dich weggeschickt, Jenna.“ Evandro holte erschöpft Luft. „Berenice hat mich gezwungen, zwischen Amelie und dir zu wählen. Und ich hätte Amelie niemals ihrer für sie so schädlichen Mutter zurückgeben können. Also habe ich getan, was in dem Brief ihrer Anwälte verlangt wurde. Ich habe dich weggestoßen. Dich zurück nach England geschickt. Mit dir Schluss gemacht. Aus und vorbei …“

Jenna schwirrte zu viel im Kopf herum, viel zu viel. Ihre Gefühle waren ein einziges Chaos, und sie war völlig überwältigt. Aber eine Sache kristallisierte sich heraus. Eine Sache, die keinen Sinn ergab. Etwas, was Jenna veranlasste, sich zu erheben und den halben Weg zu Evandros Schreibtisch zu gehen, bevor sie stehen blieb.

„Alles, was du mir von Berenice erzählt hast, alles, was Signora Farrafacci über sie herausgerutscht ist, alles, was Amelie gesagt hat … Und jetzt, wie sie durch ihren unverantwortlichen Leichtsinn ihren schrecklichen Tod verursacht hat … Alles aus Amelies instabilem Leben mit ihr, so absolut ungeeignet für ein Kind … Dass sie Amelie als Trumpfkarte bei eurer Scheidung benutzt hat … Und dann noch ihr Hedonismus, ihre übersteigerte Selbstliebe, ihr Egoismus, ihr Trinken und ihre ständigen Seitensprünge … Alles weist darauf hin, dass sie doch wohl überhaupt keine Chance gehabt hätte, die Sorgerechtsentscheidung rückgängig zu machen. Also wie kann sie dich und Amelie in dieser Weise bedroht haben?“

Jennas Ton wurde drängender.

„Evandro, welcher Richter würde Amelie solch einer Mutter zurückgeben? Würde sie ihrem Vater wegnehmen …?“

„Ich bin nicht Amelies Vater“, unterbrach er sie leise.

14. KAPITEL

Jenna wurde reglos, sie starrte Evandro verständnislos an.

„Ich bin nicht Amelies Vater“, wiederholte er. „Wer ihr Vater ist, wusste nicht einmal Berenice. Es gäbe eine reiche Auswahl an internationalen Kandidaten. Berenice hatte kein Interesse daran, ihn zu identifizieren. Sie hat die Information plötzlich fallen lassen, als sie mich mit dem Baby gesehen hat. Bis dahin hatte sie mich glauben lassen, es sei von mir. Zu jener Zeit hatte ich mir noch vorgemacht, ein Kind könnte vielleicht meine kaputte Ehe retten. Aber als Berenice mich Amelie in den Armen halten sah – ein typischer in sein Kind vernarrter italienischer Vater –, konnte sie den Anblick nicht ertragen. Es machte sie so wütend, dass ich irgendjemandem außer ihr Aufmerksamkeit schenkte, dass sie mir höhnisch ins Gesicht schleuderte, ich würde mich gerade dem Kind eines anderen Mannes widmen.“

Evandros Miene umwölkte sich.

„Da wusste ich, dass unsere Ehe vorbei ist. Aber das wirklich Grausame an diesem Moment war nicht das, was Berenice mir an den Kopf geworfen hatte, sondern die Tatsache, dass jetzt ein unschuldiges Kind im giftigen Netz von Berenices Eifersucht, Bosheit und Selbstsucht gefangen war. Die Wahrheit über Amelies Abstammung wurde ihre stärkste Waffe gegen mich.“

Er sah weg, hinaus auf die Terrasse, als würde dort draußen Amelie mit ihrem pinkfarbenen Fahrrad hin und her rasen, das blonde Haar wehend. Das blonde Haar, das sie weder von Berenices noch von Evandros Seite hatte. Jenna hatte endlich eine Antwort auf diese Frage.

„Dass ich kein gesetzliches Anrecht auf ein Kind hatte, das ich liebte, obwohl es nicht von mir war, war eine Waffe, die Berenice alles einbrachte, was sie wollte. Sie musste nur dem Gericht mitteilen, dass ich nicht Amelies Vater bin, und einen DNA-Test verlangen, um es zu beweisen. Mein Anspruch auf das alleinige Sorgerecht würde sich in nichts auflösen. Selbst wenn ein Richter entschieden hätte, dass sie als Mutter ungeeignet ist, wäre Amelie nicht zu mir gekommen. Sie wäre in Pflege gegeben worden, verloren in einem System, das es mir vielleicht schließlich erlaubt hätte, sie zu adoptieren. Aber wie langwierig wäre das Verfahren gewesen? Und eine Garantie dafür gab es nicht. Vergiss nicht, dass ich jahrelang kaum Kontakt mit Amelie hatte. Dafür hatte Berenice gesorgt, die immer mit ihr unterwegs war, sie ständig durch Europa und Amerika schleifte, und so verhinderte, dass ich eine Beziehung zu Amelie aufbaute.“

Evandros Stimme wurde ausdruckslos.

„Ich war Berenices Ziel. Mich wollte sie leiden sehen. Aber Amelie wäre ihr Opfer gewesen. Sie wollte Amelie gegen mich einsetzen. Und ich konnte sie nicht Berenice überlassen. Ich musste um Amelie kämpfen.“

In seinen Augen blitzte eine Emotion auf, die Jenna bis ins Mark traf.

„Ich habe versucht, Amelie ein so guter Vater zu sein, wie ich konnte, obwohl ich nicht ihr Vater bin. Weil sie niemanden anders als mich hat, der sie beschützt! Ich weiß, dass ich nicht ihr Vater bin, aber …“

Jenna stürzte vorwärts und schlug mit den Händen auf den Schreibtisch. Ihre Augen funkelten vor Ungestüm. „Du bist ihr Vater! Glaubst du, es erfordert nur irgendwelche Gene, um einen Vater abzugeben? Mein Vater hat mir seine Gene gegeben – und nichts sonst. Er hat nie zu mir gestanden. Er hat für eine andere Frau meine Mutter verlassen und unsere Familie zerstört, und als ich ihm aufgezwungen wurde, hat er mich nur seinen Groll und seine Ablehnung spüren lassen. Er hatte nie etwas für mich übrig. Aber du liebst Amelie. Es ist Liebe, Evandro, die dich zu ihrem Vater macht. Liebe und Loyalität. Die unerschütterliche Loyalität eines echten Vaters, wie du es bist und immer sein wirst, der das Glück seines Kindes über alles andere stellt. Du bist Amelies Vater, Evandro, und keine Macht der Welt kann etwas anderes behaupten.“

Er hievte sich aus dem Sessel hoch und kam um den Schreibtisch zu ihr, blieb aber einen Meter von ihr entfernt stehen.

„Danke“, sagte er leise. „Und danke dafür, dass du es verstehst. Dass du weißt, warum ich Amelie wählen musste …“

Er sah weg, als könnte er es nicht ertragen, sie anzublicken. Jennas Gefühle gerieten völlig durcheinander.

„Ich wünschte, du hättest es mir erzählt, Evandro. Mir gesagt, womit Berenice drohte. Ich hätte es verstanden. Ich wäre sofort abgereist. Du hättest mir nicht sagen müssen, ich solle gehen.“

Während sie an der Themse spazieren gegangen war, hatte sie erkannt, dass der Mann, der sie so verächtlich aus seinem Leben ausgeschlossen hatte, nicht derselbe Mann sein konnte, bei dem sie solches Glück gefunden hatte. Dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Das Gefühl war so stark gewesen, dass es den schrecklichen Traum ausgelöst hatte, der sie dazu gezwungen hatte, hierherzukommen und diesen Schauplatz der Verwüstung und Zerstörung zu entdecken.

Aber welchen Sinn hatte es?

Für sie selbst keinen, erkannte Jenna schmerzerfüllt.

In ihrem Traum hatte Evandro nach ihr gerufen. Doch es war nur ein Traum gewesen. Zu hoffen, dass sein Verlangen nach ihr real sein könnte, war töricht von ihr gewesen.

Weil Evandro ihre Liebe offensichtlich nicht erwiderte. Er hatte sie noch immer nicht in seine Arme geschlossen.

Er war von Frauen wie Bianca zu ihr weitergegangen, weil sie ihm geholfen hatte, eine Beziehung zu Amelie aufzubauen. Weil sie ihm Trost gebracht hatte nach allem, was er durchgemacht hatte. Weil sie ihm geholfen hatte, seine quälende Vergangenheit hinter sich zu lassen, sodass er wieder weitergehen konnte – weg von ihr. Er würde sie niemals so lieben, wie sie ihn liebte.

Es tat entsetzlich weh, es zu denken, es zu wissen, aber sie musste sich damit abfinden. Den Kummer, den es ihr bereitete, würde sie ihr ganzes Leben mit sich herumtragen.

„Aber ich musste dir sagen, du sollst gehen, Jenna“, antwortete Evandro. „Ich musste es dir sagen, und zwar genau so gefühllos, wie ich es getan habe.“

Sie sah ihn verständnislos an.

„Weil ich dich dazu bringen musste, mich zu hassen“, erklärte er.

Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Blick war leer. Seine Worte ergaben keinen Sinn.

„Jenna, ich habe dir nichts von Berenices Drohung erzählt, weil ich wusste, dass du mich Amelie zuliebe verlassen würdest. Und ich wollte sichergehen, dass du mich mit Erleichterung verlässt. Erleichterung darüber, einen Mann los zu sein, der seine Beziehung mit dir so gefühllos beenden konnte. Es war das Beste, was ich für dich tun konnte, Jenna. Dich dazu bringen, mich zu hassen, damit es dir freisteht, einen Mann zu finden, der deiner würdig ist. Und du wirst einen Mann finden, der deiner würdig ist.“

Es hatte ihr das Herz gebrochen, dass Evandro sie weggeschickt hatte. Und gerade eben hatte es ihr noch einmal das Herz gebrochen, als sie erkannt hatte, dass er sie erneut wegschickte, obwohl die Bedrohung, die Berenice darstellte, verschwunden war. Dass er sie durch Willenskraft zwingen wollte, einen anderen Mann kennenzulernen, war, als würden Pfeile ihr zweimal gebrochenes Herz durchbohren.

Kalte, trostlose Verzweiflung erfüllte Jenna. Sie sollte gehen, sofort. Sie gehörte nicht hierher – nicht mehr. Sie war unerwünscht und ungeliebt. Überflüssig für ihn. Das hatte er deutlich gemacht. Machte es mit seinen nächsten Worten noch klarer und brach ihr noch einmal das Herz.

„Es war gut, dass du nach England zurückgekehrt bist, Jenna. Zurück in dein eigenes Leben. Ein Leben, das dir allein gehört. Ein Leben, das du eines Tages mit einem Mann teilen wirst, dem du dein Herz schenken kannst.“

Abrupt wandte sich Evandro ab und hinkte zu den Glastüren, die auf die Terrasse führten. Er blickte zu ihr zurück, sein Gesicht angespannt. Das Sonnenlicht von draußen ließ die Narben in seinem Gesicht noch stärker hervortreten.

Und was Jenna jetzt in seinem Gesicht sah, war unerträglich – aber nicht wegen irgendwelcher Narben.

„Berenice ist an jenem Tag voller Schadenfreude hierhergekommen“, sagte Evandro. „Um ihren Sieg über mich zu feiern. Um zu feiern, dass ich ihrer Drohung nachgegeben hatte. Aber auch wenn ihr Tod ihr diese Macht genommen hat, er hat ihr eine andere gegeben. Ihren endgültigen Triumph.“

Die Verbitterung in seiner Stimme tat Jenna bis ins Innerste weh.

„Ihr Tod hat mich zu dem entstellten und verkrüppelten Wrack gemacht, das ich jetzt bin.“

Evandro blickte halb blind hinaus auf die in herbstliches Sonnenlicht getauchten Gärten des Palazzo, dann wandte er das Gesicht wieder der Frau zu, der er nicht gegenüberstehen wollte. Er wünschte aus tiefster Seele, dass sie nicht hierhergekommen wäre. Dass sie ihn nie so gesehen hätte.

Er presste die Lippen zusammen. Aber es war gut, dass sie ihn so sah. Damit sie einsah, dass Berenice sie beide endgültig auseinandergebracht hatte.

Er ließ seine Augen auf seiner lieblichen Waldnymphe ruhen.

Ein letztes Mal.

In der Stille im Zimmer konnte er das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims hören. Amelie würde bald aus der Schule nach Hause kommen, und sie durfte Jenna nicht sehen.

„Jenna.“ Er hinkte auf sie zu. Er brauchte seinen Stock. Sein Bein schmerzte, wenn er ohne ihn lief. „Du musst gehen. Amelie wird bald hier sein, und ich will nicht, dass sie dich sieht.“ Er blieb stehen. „Es würde sie aus dem Gleichgewicht bringen. Sie würde denken, dass du zurückgekommen bist, um zu bleiben.“

Sie schluckte, dann nickte sie. Wie dünn sie aussah, wie blass. Sie wirkte auf ihn, als wäre eine Welt für sie zusammengebrochen.

„Es tut mir leid, Evandro“, sagte sie. „Mir tut all dies so leid. Ich wünschte, mir könnte auch Berenice leidtun, aber so kann ich nicht empfinden. Ich kann ihr nicht verzeihen. Nicht das, was sie dir zugefügt hat, nicht nur während eurer Ehe, sondern noch jetzt …“

Jenna sprach nicht weiter. Sie senkte den Kopf.

Er war nur noch deprimiert. „Jenna, fahr zurück nach England, und sei dankbar, dass du mit mir fertig bist. Dafür, dass du davongekommen bist.“

Sie blickte auf. „Davongekommen?“

„Ja! Geh, Jenna! Flieh, so schnell du kannst!“

Evandro wollte, dass sie ging. Er konnte dies nicht länger aushalten. Konnte es nicht ertragen, sie dort stehen zu sehen, so nahe und trotzdem so unendlich weit weg.

Aber sie rührte sich nicht. Irgendetwas daran, wie sie ihn ansah, war jetzt anders. Etwas, was er nicht verstand. Ihr Blick hing an ihm, die Intensität davon ging ihm durch und durch.

Sie holte tief Luft, als würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen.

„Wenn Berenice niemals gedroht hätte, das Sorgerecht für Amelie zurückzufordern, hättest du mich dann auch weggeschickt? Oh, vielleicht nicht damals und nicht so, wie du es an jenem Tag getan hast. Aber vielleicht etwas später? Vielleicht nach Amelies Einschulung? Sag es mir, Evandro! Hättest du mich jemals weggeschickt?“

Evandro konnte Jennas konzentriertem Blick nicht entrinnen. Und er konnte auch einer Antwort auf ihre Frage nicht entrinnen.

Seine Antwort war nur ein Wort. Das war alles, wozu er in der Lage war.

„Nein“, sagte er.

Jenna schloss die Augen. Ihr war ganz schwach geworden bei dem Gefühlsaufruhr, der sie durchströmte. So schwach, dass sie kaum die Lider heben konnte, um Evandro wieder anzusehen.

Er stand noch an derselben Stelle, noch immer ließ die Sonne die Narben auf seinem Gesicht überdeutlich hervortreten.

Aber das eine Wort, das er gesagt hatte, erfüllte Jenna mit Mut. Mit Mut und so viel mehr.

Mit all der Liebe, die sie für ihn empfand.

„Und warum schickst du mich dann weg?“, fragte sie.

Seine Miene wurde grimmig. „Glaubst du wirklich, ich könnte jetzt irgendetwas anderes tun?“

„Was hat sich denn geändert?“, fragte Jenna herausfordernd. „Willst du mich fortschicken, weil du jetzt hinkst und Narben im Gesicht hast?“

Sie ging auf ihn zu. Er konnte sie wegschicken, und sie würde verschwinden – aber nur aus einem einzigen Grund. Dem einzigen Grund, der irgendeinen Einfluss hatte.

Sie würde nur gehen, wenn Evandro sie nicht liebte. Das war der einzige Grund, aus dem sie ihn verlassen würde.

„Tu das nicht, Jenna“, sagte er. „Verschwende dich nicht an mich.“

Sie ignorierte ihn, blieb einen Meter von ihm entfernt stehen, blickte ihn unverwandt an. Sie hatte ihm etwas zu sagen, und er würde es sich anhören.

„Du zeigst deine Liebe, indem du diejenigen beschützt, die du liebst, sogar auf Kosten deines eigenen Glücks. Du hast sie für Amelie gezeigt, deine Tochter, indem du sie vor Berenice beschützt hast, was auch immer es erforderte. Du hast mich beschützt, indem du mich weggeschickt hast. So gefühllos du konntest, weil du dachtest, du würdest mir die Freiheit schenken, indem du mich dazu bringst, dich zu hassen. Und jetzt denkst du, dass dies ein weiteres Geschenk ist, stimmts? Das Geschenk, mich von einem Mann zu befreien, der sich für ein ‚entstelltes und verkrüppeltes Wrack‘ hält.“

Jenna zitierte, wie sich Evandro selbst beschrieben hatte, und ihre Miene veränderte sich, als sie ihm ihre entscheidende Frage stellte. Die Frage, von der ihr Lebensglück abhing.

„Glaubst du wirklich, dass irgendwelche Narben und ein Hinken mich davon abhalten würden, dich zu lieben?“

Jenna hörte ihre Worte nachhallen, die Liebeserklärung, die sie nicht zurücknehmen konnte, nicht zurücknehmen wollte.

„Ich habe mich in dich verliebt, Evandro. Und ich werde für immer in dich verliebt bleiben. Keine der Narben in deinem Gesicht kann daran etwas ändern!“

Sie ergriff seine Hand und sah ihn an. Ihm war nichts anzumerken, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie musste es ihm verständlich machen. Alles wagen.

„Ich liebe dich. Und ich weiß nicht, ob du mich auch liebst, doch eins weiß ich, Evandro. Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben.“

Einen langen, endlosen Moment sagte er nichts. Und dann …

„Womit habe ich dich verdient? Von Anfang an bist du ein unverdientes Geschenk gewesen. Dich wegzustoßen war ein Schmerz, den ich nie wieder empfinden möchte. Und gestern Nacht saß ich hier und wusste, dass ich dich niemals bitten durfte, zu mir zurückzukommen, entstellt, wie ich bin. Und ich schrie vor Verzweiflung. Ich glaubte, dass Berenices Rache gründlicher war, als sie es sich hätte erträumen können …“

Jenna legte ihm den Zeigefinger an die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Sie ist tot, Evandro. Sie kann keinem von uns noch länger wehtun. Und wir haben uns. Für immer!“

Sanft berührte Jenna seinen Mund mit ihrem. Dann zog sie sich zurück. Aus seinen Augen sprach alles, wonach sie sich so sehr gesehnt hatte. All seine Liebe zu ihr.

„Meine schöne Waldnymphe, die ich so sehr liebe“, sagte er rau.

Und ihr wollte das Herz bersten vor strahlender Freude, als sie es hörte.

Evandro küsste sie zärtlich, und sie spürte Tränen ihre Wimpern benetzen. Aber sie würde sie nicht vergießen. Dies war ein Moment der Freude. Nichts als Freude nach so viel Kummer, Leid und Unglück. Jetzt sollte die Freude herrschen …

Für sie beide.

Und für noch jemanden.

Auf der Terrasse waren Schritte zu hören.

Papà! Ich bin zu Hause. Bist du hier drin?“

Amelie platzte durch die offenen Glastüren herein, dann blieb sie abrupt stehen und ließ ihre Schultasche auf den Boden fallen. Evandro löste den Mund von Jennas.

Amelie stieß einen Freudenschrei aus. „Du bist gekommen! Du bist gekommen!“

Sie stürzte sich auf Jenna, die auf die Knie sank und gerührt das kleine Mädchen umarmte, das sie so lieb gewonnen hatte.

„Ich habe es mir so gewünscht! Ich habe gehofft und gehofft!“, rief Amelie an Jennas Hals. „Und du bist gekommen!“

Schwankend ging Evandro neben ihnen in die Hocke und legte den Arm um sie beide.

„Ja, piccolina , sie ist gekommen, und wir lassen sie nie wieder gehen, stimmts?“

Jennas Herz sang, und sie strahlte vor Freude.

Er richtete sich auf, und Jenna erhob sich ebenfalls. Sie sah ihn zusammenzucken, als er sein kaputtes Bein belastete.

„Schatz, dein Vater muss sich hinsetzen.“

Amelie und Jenna machten ein Riesentheater um ihn, als sie ihm zu seinem Ledersessel halfen.

„Bitte Signora Farrafacci um eine Flasche Champagner, piccolina. Weil wir feiern wollen! Und komm nicht zu schnell zurück, weil …“ Evandro flüsterte Amelie verschwörerisch etwas zu, und ihr Gesicht hellte sich auf, bevor sie davonsauste.

Evandro ergriff Jennas Hand. „Ich weiß, dass ich niederknien sollte, aber wenn ich das tue, komme ich vielleicht nie wieder hoch, deshalb …“ Er zog Jenna auf die Armlehne des Sessels, ergriff auch ihre andere Hand und hob abwechselnd jede an seine Lippen.

Er sah Jenna tief in die Augen, sein Blick sanft leuchtend und voller Liebe. Seine Stimme klang zärtlich und war erfüllt mit allem, was sie sich zu hören wünschen könnte.

„Willst du, meine geliebte Jenna, meine wahre Liebe sein, mein ganzes Leben lang, und dein ganzes Leben lang meine Liebe annehmen? Du bist mein Glück und meine Freude und die Wonne meines Herzens. Du bist meine Sinnenlust, die Gefährtin meiner Tage, die Leidenschaft meiner Nächte. Sei die Meine, wie ich der Deine bin, jetzt und bis in alle Ewigkeit.“

Jenna spürte wieder Tränen ihre Wimpern benetzen. Mit zarten Küssen küsste Evandro ihre Tränen weg.

„Ist das ein Ja?“, fragte er.

Sie hörte den Humor in seiner Stimme. Und so viel mehr.

„Jetzt und bis in alle Ewigkeit“, antwortete sie.

Einen Moment lang blickten sie sich tief in die Augen, sicher und geborgen in dem Wissen, dass alles, was sie getrennt hatte, für immer verschwunden war. Dann küsste Evandro sie wieder zärtlich. Sie war seine wahre Liebe, würde es immer sein, und ihr Herz schlug noch höher vor Freude. Die Zeit blieb stehen, und die Ewigkeit begann.

Die Tür zur Bibliothek wurde aufgestoßen. Amelie platzte herein. Ihr folgten Signora Farrafacci, Loretta und Maria, die Champagner, Gläser und einen Krug mit Orangensaft für Amelie brachten.

Es gab ein lärmendes Durcheinander aus Begrüßungen, Glückwünschen und Gelächter, Amelie tanzte ausgelassen herum, der Champagnerkorken knallte, und es wurden noch mehr Gläser für die Haushälterin und die Hausmädchen geholt. Jenna umarmte alle, Trinksprüche wurden ausgebracht.

Jennas Blick glitt über das fröhliche Gewimmel, bevor er, wie er es immer tun würde, zu ihrem geliebten Evandro zurückkehrte.

Der Meine, oh, endlich der Meine. Wie ich die Seine bin.

Für immer und ewig.

EPILOG

Amelie sendete eine Nachricht an ihre Freundin.

Luisa, sie hat ihn geheiratet! Und ich war Brautjungfer. Ich habe ein cremefarbenes Kleid mit Spitze getragen, und ich werde dir ein Foto senden, weil es wunderschön ist. Ich darf es bei besonderen Partys wieder tragen, sagt meine neue Mama.

Es war keine große Hochzeit, weil papàs schlimmes Bein noch immer nicht ganz heil ist, und er braucht eine Augenoperation, damit er wieder richtig gut sehen kann. Und unser Zuhause wird noch immer repariert. Es ist sehr traurig, dass so viel abgebrannt ist, und noch trauriger ist, dass meine arme maman tot ist. Aber papà sagt, sie hatte schon lange eine Art Krankheit im Kopf. Deshalb bin ich ja zu ihm nach Italien gekommen, um bei ihm zu leben. Die arme maman! Ich lege nachher frische Blumen auf ihr Grab.

Die Mutter Oberin sagt, Gott hat mir eine neue Mama geschickt. Nicht, um sie zu ersetzen, sondern als eine zusätzliche Mama, eine, die lebendig ist. Und ich darf sie genauso lieben wie papà, was ich schon tue.

Papà hat gefragt, ob ich gern einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester hätte, und ich habe Ja gesagt. Also wird er Mama bitten, ein Baby für mich wachsen zu lassen. Und für sie beide, weil sie auch gern ein Baby bekommen würden, sagt meine neue Mama. Ich kann helfen, einen Namen auszusuchen, wenn er oder sie geboren ist.

Es wird ziemlich lange dauern, bis es so weit ist, deshalb feiern wir Weihnachten ganz allein, und dann fahren wir für Neujahr nach Sorrent. Meine Großtante ist sehr alt, aber ich mag sie.

Ich werde jetzt Schluss machen, weil meine Finger müde sind und es Zeit fürs Abendessen ist. Ich darf anziehen, was ich will, sagt Mama, weil Wochenende ist. Also werde ich den Ballonrock mit dem paillettenbesetzen Top tragen. Ich liebe das Outfit, auch wenn Mama und papà es nicht tun, aber sie sagen es nicht. Meine maman im Himmel hat es mir gekauft, deshalb finde ich, ich sollte es für sie tragen.

Als sie nach unten kam, sagte sie das zu Jenna, die sie sanft küsste und erwiderte, sie tue das Richtige. Es war sehr hart für Amelie gewesen, zu erfahren, dass Berenice tot war. Aber zu wissen, dass ihr Vater alles versucht hatte, um sie zu retten, hatte etwas Tröstendes für das kleine Mädchen gehabt.

„Es ist schrecklich, dass ich deine maman nicht retten konnte“, hatte Evandro zu Amelie gesagt und seine aufrichtige Trauer darüber hatte ihr unglaublich gutgetan …

Für Evandro wiederum waren Jennas Worte heilsam gewesen, denn sie halfen ihm dabei, seinen Frieden mit Berenice zu machen.

„Kein Kind wird böse geboren“, hatte ihm Jenna erklärt. „Das ist eine der wichtigen Lektionen, die Lehrkräfte lernen müssen. Irgendetwas hat Berenice seelisch verkorkst, selbst wenn wir es nicht verstehen können. Vielleicht können wir nur sagen, dass sie etwas Krankhaftes in sich hatte. Hab Mitleid, Evandro, weil sie nicht fähig war, ein Glück zu kennen, wie wir es kennen.“

Jennas Blick ging nun zu Amelie, und ihre Augen leuchteten auf vor Liebe zu dem kleinen Mädchen.

„Berenice hat uns beiden ein so großes Geschenk gemacht, Evandro“, sagte Jenna leise. „Sie hat uns Amelie geschenkt. Deine wunderbare Tochter.“

„Und deine.“ Er nahm Jenna in die Arme. „Denk niemals auch nur für einen Moment etwas anderes.“

„Unsere geliebte Tochter.“ Sie lächelte.

Und als sie Hand in Hand zum Abendessen gingen, erinnerte Jenna sich daran, wie sie drei damals auf der Terrasse gestanden hatten, um den ersten Stern am Abendhimmel zu suchen. Es hatte sich für Jenna angefühlt, als wären sie eine Familie.

Aus tiefstem Herzen hatte sie sich nach einem Glück gesehnt, das nun Wirklichkeit geworden war.

Sie waren eine Familie.

Liebevoll vereint.

Für ihr ganzes Leben.

– ENDE –

1. KAPITEL

„Ruinieren Sie mich!“

Amy Miller blinzelte verwirrt. Sie musste Luca Albizzi, den König von Vallia, missverstanden haben. Es war aber auch eine ziemlich nervenaufreibende Situation, schließlich hatte sie erst hier in der VIP-Lounge von Londons exklusivstem Hotel herausgefunden, wer ihr potenzieller Kunde war.

Es war alles sehr geheimnisvoll gewesen. Amys Assistentin hatte einen total verwirrenden Anruf bekommen und Amy nur mitteilen können, dass sie dringend jemanden im nobelsten Hotel der Stadt beraten müsste – jetzt oder nie. Amy war der so vagen wie herrischen Aufforderung nur gefolgt, weil sie gedacht hatte, dass es sich bei der hippen Adresse finanziell vielleicht lohnen könnte. Es kam öfter vor, dass Promi-Manager die Identität eines Kunden verbargen, wenn sie Amy und ihr Team in einer Krisensituation kontaktierten.

Also hatte sie ihre Tasche genommen und war in der Erwartung durch die Stadt geeilt, dem geouteten Sohn eines Parlamentsmitglieds oder einer mit Sexvideos erpressten Erbin zu begegnen.

Der Hotelmanager hatte sie zur Königssuite geschickt – ein Name, den Amy trotz der beiden wachsamen Männer in dunklen Anzügen vor der Tür nicht wortwörtlich genommen hatte. Einer hatte ihre Tasche durchsucht, während der andere ihre Jacke überprüfte. Erst dann hatten sie die Tür geöffnet, und Amy hatte zögernd die leere Lounge betreten.

Als sie Tasche und Jacke auf einem Barhocker ablegte, kam ein etwa dreißigjähriger Mann mit hellbraunem Haar aus einem der Nebenzimmer. Er trug ein helles Hemd ohne Krawatte zu einer dunkelgrauen Hose und hatte eine so gebieterische Ausstrahlung, dass es sie fast umhaute. Sein sonnengebräunter Teint betonte den brennenden Blick seiner blauen Augen.

Noch bevor sie ihn erkannte, durchzuckte es sie heiß, und ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Verlangen. Es war eine Reaktion, die so unerklärlich wie verstörend war, vor allem, als ihr Verstand endgültig registrierte, wer der Mann war, der sie auslöste.

Schon seit Wochen kündigten die Medien den Londoner Staatsbesuch des kürzlich zum König von Vallia gekrönten Goldenen Prinzen an. König Luca galt nicht nur als mächtig, privilegiert und sündhaft attraktiv, sondern auch als moralisch über jeden Zweifel erhaben. Medienberichten zufolge hatte er beim gestrigen Dinner im Buckingham Palast ein tadelloses Benehmen an den Tag gelegt. Wenn überhaupt hatte er nur einen einzigen Fauxpas begangen, nämlich die verführerischen Blicke einer verheirateten Herzogin zu ignorieren.

„Nennen Sie mich Luca“, sagte er, nachdem er sich vorgestellt und vorgeschlagen hatte, dass sie sich setzten.

Mit zitternden Beinen ließ Amy sich aufs Sofa sinken. Noch nie hatte ein Promi sie so nervös gemacht. Eigentlich redete sie ständig mit reichen und hochstehenden Leuten und war nicht auf den Mund gefallen. Oder aufs Ohr. Oder aufs Gehirn. Sie versuchte, sich einzureden, dass er auch nicht anders als andere Männer war, aber das stimmte nicht. Ganz und gar nicht.

Als sie sah, dass seine Lippen sich bewegten, versuchte sie, sich auf seine Worte zu konzentrieren, war jedoch so abgelenkt von seiner himmlisch tiefen Stimme und seinem italienischen Akzent, dass sie kaum mitbekam, was er sagte. Unwillkürlich dachte Amy an heiße, schwüle Nächte, schmale Kopfsteinpflastergassen und aus offenen Fenstern dringende Violinenklänge. Sie stellte sich vor, wie er sie in einen dunklen Hauseingang zog und mit seinen sinnlichen Lippen …

„Und?“, drang seine Stimme in ihr Bewusstsein vor. „Machen Sie es?“

Mühsam riss Amy sich aus ihrer völlig unpassenden Fantasie. Was war bloß los mit ihr? Er war schließlich ihr potenzieller Kunde, verdammt noch mal!

Es überlief sie eiskalt, als ihr auffiel, dass sie schon wieder auf jemanden stand, der tabu für sie war. O Gott, warum bekam sie ausgerechnet bei einem Mann Herzflattern, der ihr so richtig schaden konnte? Wenn sie jetzt nicht aufpasste, könnte ihr stürmisches Verlangen eine ähnliche Katastrophe heraufbeschwören wie damals!

Amy versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich war auch sie nicht ganz machtlos. Sie konnte den Auftrag einfach ablehnen – etwas, das sie in Anbetracht von König Lucas Wirkung auf sie vermutlich auch tun sollte. Und das würde sie auch, aber erst, wenn sie wusste, was er von ihr wollte. Danach würde sie ihn an eine ihrer Kolleginnen verweisen … auch wenn die Vorstellung sie irgendwie deprimierte.

„Sorry“, stieß sie hervor. „Haben Sie gerade gesagt, jemand versucht, Sie zu ruinieren? Dann ist London Connection genau die richtige Firma für Sie.“ So, jetzt klang sie fast wieder wie die kompetente und selbstsichere Mitgründerin einer PR-Firma, als die ihre Visitenkarte sie auswies.

„Nein, ich will, dass Sie mich ruinieren.“

Ihr Herz machte einen Satz und galoppierte dann weiter. Wusste er etwa von ihrer Vergangenheit? Bei dieser Vorstellung wurden ihre Ohren so heiß, dass sie zu glühen schienen.

Er kann nichts davon wissen, versuchte sie sich zu beruhigen. Ihre Eltern und die Schuldirektorin hatten den Skandal gründlich und effizient unter den Teppich gekehrt. Damals hatte Amy gelernt, dass solche Dinge komplett aus dem kollektiven Bewusstsein rausgehalten werden können, wenn auch nicht aus der eigenen Erinnerung. Trotzdem rang sie nervös die Hände im Schoß. „Die Aufgabe unserer Firma ist es, einen Ruf wiederaufzubauen.“

Sie hatte das schon so oft gesagt, dass sich die Worte unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt hatten, was ihr jetzt dabei half, mit ruhiger, fester Stimme zu reden. „Wir nutzen die Medien und Online-Netzwerke, um das Image unserer Kunden und Kundinnen zu schützen und zu verbessern. Und wenn eine Marke oder ein Image bereits beschädigt sind, steuern wir die Art, wie darüber berichtet wird. Spinnen eine neue Story.“

Sie lächelte beim Reden, hielt die Hände locker im Schoß gefaltet und die Knöchel überkreuzt, doch ihr Blut war immer noch in Wallung. Der Mann hatte sogar dann noch eine magnetische Ausstrahlung, wenn er ungeduldig die Stirn runzelte! Und was für ein markantes Kinn er hatte … Überhaupt sah der König aus, als hätte jemand einen Marmorblock der Farbe „nacktes Gold“ oder „Herbstbräune“ genommen und daraus ein Ebenbild männlicher Kraft, Zielstrebigkeit und Herrschaftsgewalt gemeißelt.

„Ich weiß, was Ihre Firma macht“, erwiderte er ungeduldig. „Deshalb habe ich Sie ja angerufen.“ Abrupt stand er von seinem Sessel auf und begann, rastlos in dem großen Raum auf und ab zu gehen, sodass die schlichten, halb zugezogenen Vorhänge vor den Fenstern mit Panoramablick auf die Themse in Bewegung kamen.

Amy hatte bisher kaum Gelegenheit gehabt, sich die nobel eingerichtete Suite anzusehen, so sehr traten die Details vor diesem dynamischen Mann in den Hintergrund. Er bewegte sich so geschmeidig und sicher wie ein Athlet, und seine maßgeschneiderte Kleidung betonte nur, wie gut er gebaut war.

Vor einem Spalt im Vorhang blieb er stehen und schob die Hände in die Hosentaschen, wobei sich der Stoff seiner Hose extrem aufregend über seinem knackigen Hintern spannte.

Normalerweise starrte Amy keine Männer an. Die Männer, denen sie bei ihrer Arbeit begegnete, waren für sie nichts weiter als Kunden, egal, wie reich, berühmt oder attraktiv. Sie hatte der Liebe zwar nicht komplett abgeschworen, war aber extrem vorsichtig. Ab und zu ging sie mit jemandem aus, aber noch nicht mal die sehr netten Männer, die sie zum Essen einluden und sie hinterher höflich fragten, ob sie sie küssen durften, ließ sie an sich heran.

Sie konzentrierte sich lieber auf ihre Karriere. Schließlich hatte Amy damals von einem echten, leibhaftigen Lehrer gelernt, dass es nicht gut war, blindlinks dem eigenen Herz – oder der eigenen Libido – zu folgen. Das endete bloß damit, dass man benutzt wurde und sich hinterher wie Abfall fühlte!

Und trotzdem saß sie jetzt hier und führte sich auf wie ein liebestoller Teenie, nur weil sie eine besonders attraktive männliche Rückenansicht vor sich hatte. Dabei wollte dieser Mann gar nichts von ihr. Er triefte einfach von Natur aus vor Sexappeal, und das auch noch völlig unbewusst. Das war Verführung auf Höchstniveau und total unfair!

„Aber ich will, dass Sie es diesmal genau anders herum angehen“, fuhr Luca fort und blickte sie über die Schulter hinweg an. „Dass Sie einen Skandal erzeugen, statt einen zu beseitigen.“

Süffisant hob er eine Augenbraue. Anscheinend hatte der König sie gerade dabei erwischt, wie sie ihm bewundernd auf den Hintern stierte.

Ihr Gesicht war nun bestimmt genauso rot wie ein Schaufenster im Amsterdamer Rotlichtbezirk. Sie räusperte sich verlegen. „Für so etwas sind Sie im falschen Stadtteil Londons. Vielleicht sollten Sie eine Frau aus einem anderen Gewerbe engagieren?“

Er verzog keine Miene, also bemühte sich auch Amy um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.

„Ich rede von einem gelenkten Skandal.“ Luca drehte sich jetzt komplett zu ihr um, die Hände immer noch in den Hosentaschen vergraben, und sah sie intensiv an. „Ich habe gründlich recherchiert und Sie ausgesucht, weil Sie ideal für den Job sind.“

Amy erstarrte wieder vor Schreck. „Warum sagen Sie so etwas?“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Wegen der Art, wie Sie auf die Diffamierung der Frau reagiert haben, die den Sportverein verklagt hat. Das war nicht einfach, nachdem die Fans sie so heftig attackiert hatten.“

Amy atmete unauffällig auf. Dann sprach er also nicht über ihre persönliche Vergangenheit. „Stimmt“, bestätigte sie nickend. „Das war eine ganz schöne Herausforderung.“

Sie und ihre Kolleginnen und besten Freundinnen Bea und Clare hatten den Fall praktisch umsonst angenommen, weil sie so entsetzt darüber gewesen waren, wie man mit der Frau umgegangen war. Sie hatte ein paar Sportler angezeigt, die sie in einem Club belästigt hatten.

„Ich sollte Sie vielleicht darauf hinweisen, dass genau diese gegnerische Agentur berühmt dafür ist, Menschen an den Pranger zu stellen.“

„Aber bei Ihrer Kundin hat sie versagt. Dank Ihrer Bemühungen.“ Er winkte ab. „Nein, diese Firma kommt für mich nicht infrage. Außerdem hat sie einen obszönen Betrag dafür kassiert, einer Frau zu schaden, die ohnehin schon geschädigt war. Während Sie nur Geld verloren haben, obwohl Sie den Fall gewinnen konnten. Oder irre ich mich?“ Der König durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick.

Amy fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und schlug sehr langsam die Beine übereinander – eine einstudierte und inzwischen reflexartige Geste, wenn sie sich einem Mann gegenüber auf dem Prüfstand fühlte und ihn ablenken wollte. Normalerweise funktionierte das immer gut, und sie gewann kostbare Sekunden, um sich ihre Worte zurechtzulegen.

Sein Blick fiel auf ihr nacktes Schienbein, das unter ihrem nicht ganz zugeknöpften Rock hervorlugte, und wanderte dann kurz zu ihrem Knöchel, bevor er den offenen Kragen ihres Hemdblusenkleides und schließlich ihre Lippen betrachtete. Als er ihrem Blick begegnete, hob Luca spöttisch einen Mundwinkel, als wolle er sich für ihre nette Geste bedanken, ihr aber gleichzeitig vermitteln, dass sie doch bitte schön beim Thema bleiben sollten. Was sie nicht nur irritierte, sondern auch zutiefst verunsicherte.

Schluckend befahl sie sich weiterzureden. „Ich gebe grundsätzlich keine Informationen über die finanzielle Situation meiner Kunden weiter.“ Was sie jedoch dringend tun musste, war, Bea zu bitten, ein paar Informationslöcher zu stopfen. „Würden Sie mir verraten, wie Sie diesen Eindruck gewonnen haben?“

„Ihre Kundin hat in einem Interview gesagt, dass die öffentliche Meinung hinter sich zu haben leider keine Anwaltskosten abdeckt, dass sie aber hofft, vom Sportverein eine Entschädigung zu erhalten, die ihr erlauben wird, Sie angemessen zu bezahlen.“

Amys Nervenenden begannen zu prickeln, als er auf sie zukam und ein Blatt Papier vor sie auf den Couchtisch legte. „Ich will die Kosten Ihrer Kundin sowie meine eigenen übernehmen. Reicht der Betrag?“

Beim Anblick der Zahlen klappte Amy die Kinnlade nach unten. Egal ob Pfund, Euro oder Rubel – bei so vielen Nullen konnte sie den Auftrag unmöglich ablehnen, sonst würden Bea und Clare sie zum Gehhirnscan schicken. „Das … das ist sehr großzügig von Ihnen“, stammelte sie. „Aber was Sie da von uns verlangen, verstößt gegen unsere Unternehmensphilosophie. Ich muss das eigentlich erst mit meinen Kolleginnen besprechen.“

Warum war Clare nur gerade geschäftlich in Übersee? Normalerweise trafen sie so weitreichende Entscheidungen immer alle gemeinsam.

„Ich will nicht Ihre Kolleginnen“, sagte Luca schroff. „Ich will Sie. Und je weniger Menschen Bescheid wissen, desto besser.“

Seine Worte und sein intensiver Blick brachten Amy so durcheinander, dass es ihr schwerfiel, ihre Verwirrung zu überspielen. „Ich verstehe nicht.“

Es war allgemein bekannt, dass der neue König von Vallia ganz anders war als sein Vorgänger. Lucas Vater war … Na ja, die Klatschmagazine hatten ihn „König Lustmolch“ genannt, das sagte vermutlich genug. Es wäre viel naheliegender, wenn Luca sie damit beauftragen würde, den Ruf seines Vaters posthum zu verbessern. Oder die feinen Risse in seinem eigenen Image als König zu kitten. Man munkelte nämlich, dass er sich mit seiner neuen Position etwas schwertat.

Amy runzelte die Stirn. „Soweit ich informiert bin, genießen Sie einen hervorragenden Ruf. Warum sollten Sie einen Skandal wollen?“

„Arbeiten Sie schon für mich?“ Luca zeigte auf den Zettel. „Kann ich davon ausgehen, dass meine Informationen streng vertraulich behandelt werden?“

Sie öffnete den Mund, um Nein zu sagen, musste jedoch plötzlich an ihren Fünfjahresplan denken. Wenn sie diesen Auftrag annahm, konnte sie den Treuhandfonds ausschlagen, der an ihrem dreißigsten Geburtstag in anderthalb Jahren in ihren Besitz übergehen sollte. Das war zwar vielleicht kindisch von ihr, aber ihre Eltern hatten ihr den Fonds schon zwei Mal vorenthalten, und es wäre eine Riesengenugtuung, ihnen sagen zu können, dass sie sich ihr Geld sonst wohin stecken konnten, nachdem sie es ihr jahrelang wie einen Köder vor die Nase gehalten hatten!

Und Bea und Clare konnten auch finanzielle Sicherheit gebrauchen. Sie wollten alle, dass ihre Agentur London Connection Erfolg hatte, um mehr Menschen helfen zu können. Auf keinen Fall wollten sie wie so viele ihrer Konkurrenten Existenzen zerstören oder rufschädigend tätig sein. Bea und Clare würden wahrscheinlich Vorbehalte gegen Lucas Auftrag haben, aber irgendwie hatte Amy das Gefühl, dass es sich nicht nur um die alberne Laune eines Playboys handelte. Dafür wirkte er viel zu entschlossen.

Abgesehen von diesen Überlegungen war sie neugierig. Luca faszinierte sie. Wenn er ihr Kunde wurde …

O nein, als Kunde war er absolut tabu für sie! Das war eine eiserne Regel in ihrem Geschäft. Andererseits war das natürlich auch etwas Positives, da Amy sich jederzeit hinter dieser Regel verstecken konnte, wenn es sein musste.

„Ich werde meinen beiden Geschäftspartnerinnen irgendetwas sagen müssen“, wandte sie ein. Ihr Blick fiel wieder auf die exorbitante Summe auf dem Zettel.

„Sagen Sie ihnen einfach, Sie arbeiten für die Wohltätigkeitsstiftung meiner verstorbenen Mutter, die medizinische Versorgung in armen Ländern finanziert. Demnächst findet eine Gala statt. Mein Personal glaubt, dass es bei diesem Termin darum geht.“

„Also, wenn Sie so geschickt lügen können, wozu brauchen Sie dann mich?“, scherzte sie.

Wieder nicht die Spur eines Lächelns.

„Das ist nicht gelogen. Die Frau, die die Stiftung leitet, ist gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Der ganze Laden braucht dringend frisches Blut und einen Schubs ins einundzwanzigste Jahrhundert. Sie treffen sich mit dem Team, erkundigen sich nach den bisherigen Vorbereitungen für die Gala und machen Vorschläge, um die Gäste zu höheren Spenden zu animieren. Alles andere bleibt strikt unter uns.“

Sein Angebot war viel zu hoch für solch einen Job, aber Amy würde schon irgendeine Erklärung einfallen. Jetzt musste sie sich nur entscheiden, ob sie den Auftrag annehmen wollte oder nicht. Und da es schön dumm von ihr wäre, sich so viel Geld entgehen zu lassen!

Sie leckte sich die trockenen Lippen. „Also gut“, sagte sie nickend. „Ich helfe Ihnen dabei, die Stiftung zu modernisieren – und einen Skandal zu verursachen.“ Sie stand auf und streckte ihm ihre Hand hin. Als Luca sie mit sichtlicher Befriedigung schüttelte, erschauerte sie unwillkürlich. Warum musste er nur so verdammt attraktiv und perfekt und sexy sein? „So, und jetzt verraten Sie mir, warum um alles in der Welt ich Ihren Ruf ruinieren soll.“

„Ganz einfach“, sagte er trocken. „Weil ich nur so die Krone von Vallia an meine Schwester abtreten kann.“

2. KAPITEL

Luca ließ Amys Hand nur widerstrebend los. Amy Miller duftete so verführerisch wie Biscotti – nach Mandeln und Anis. Es würde nicht leicht sein, im Flugzeug neben ihr zu sitzen! Aber sie war jetzt seine Angestellte, und damit war er der Thronübergabe an seine Schwester schon einen bedeutenden Schritt näher. Er konnte es kaum erwarten.

„Benissimo“ , sagte er in seiner Muttersprache. „Brechen wir auf.“

„Was?“ Amy blinzelte ihn erschrocken aus meergrünen Augen an. „Wohin denn?“

„Ich werde in Vallia erwartet. Wir setzen unser Gespräch unterwegs fort.“

Panik flackerte in ihrem Blick auf, doch sie beherrschte sich rasch. „Ich muss erst unseren Vertrag aufsetzen und von Ihnen unterschreiben lassen und dann ein paar Recherchen anstellen und …“

„Ich will dieses Gespräch an einem sicheren Ort fortsetzen“, fiel er ihr ungeduldig ins Wort.

„Mein Büro ist absolut sicher. Wir brauchen nicht nach Vallia zu fliegen.“

Luca hob eine Braue. Amy tat so, als läge sein Heimatland auf einem anderen Planeten. „Es sind nur drei Stunden. Mein Jet steht schon bereit.“

Amy öffnete den hübschen Mund, aber es kam nichts heraus.

Luca hatte anfangs Zweifel gehabt, was sie anging. Er traute grundsätzlich niemandem, der bei jeder Party im Mittelpunkt stand und ständig von verwöhnten und aufmerksamkeitsheischenden Promis umgeben war. Ihre Website war mit Selfies mit Stars, Fotos von Szene-Events und Einträgen im Influencerinnenstil gespickt und erinnerte ihn nur allzu ungut an die oberflächlichen Amüsements seines Vaters.

Andererseits hatte Amy Miller einen ausgezeichneten Ruf und war ihm wärmstens empfohlen worden, als er ein paar diskrete Nachforschungen angestellt hatte. Im Gespräch wirkte sie sachlich und kompetent, obwohl sie genau zu wissen schien, wie ablenkend es wirkte, wenn sie ihr herrliches rotblondes Haar zurückwarf. Diese Frau war einfach verdammt attraktiv mit ihrer Pfirsichhaut und der niedlichen Stupsnase in ihrem ansonsten eher aristokratischen Gesicht. Sie hatte eine elektrisierende Ausstrahlung.

Und genau das war sein Problem. Er konnte es sich nämlich nicht erlauben, seine Instinkte auszuleben, wenn er sich sexuell zu einer Frau hingezogen fühlte. Er war nicht wie sein zügelloser Vater und wollte auch nie so werden, auch wenn er vorübergehend gewisse Menschen davon überzeugen musste, ihm ähnlich genug zu sein, um die Krone nicht zu verdienen.

„Aber …“ Aufgebracht fuchtelte sie mit einer Hand in der Luft herum. „Ich habe noch andere Kunden. Ich kann für Sie doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen.“

„Ich dachte, das ist mit meinem Honorar abgedeckt. Wenn nicht, hätten Sie das vorher sagen müssen.“

Autor

Julia James
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