Die silberne Göttin

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Zwei Tage und Nächte hält ein Unwetter die schöne lantha in der Burg von Robert Armstrong, Baron Duncan, fest - und als der Baron sie zu den Eltern zurückbringt, weiß er, was von ihm erwartet wird: Nur eine rasche Vermählung kann lanthas Ruf jetzt noch retten! Für Robert ist der Antrag allerdings mehr als eine Frage der Ehre. Denn die silberne Göttin", wie er sie heimlich nennt, hat sein Herz betört. So unnahbar sie sich nach einer bösen Erfahrung auch gibt - hinter ihrer kühlen Fassade kann er die Leidenschaft spüren. Und er ist entschlossen, sie zu entfachen ... "


  • Erscheinungstag 19.02.2019
  • Bandnummer 42
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737283
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Im Norden von London, 1801

Ich glaube, ich sterbe.

Sie fühlte keine Schmerzen mehr.

Vielleicht hatte ihre Qual einen Punkt erreicht, wo sie einfach nichts mehr spürte, während sie auf der hart gefrorenen Erde lag und immer wieder in gnädigem Dunkel versank.

Der Tod wäre eine Erlösung.

Sie waren noch immer da. Sie hörte, wie sie herumgingen. Und sie konnte sie riechen. Ein fremder Geruch nach erregten, gierigen Männern.

Sie versuchte, ein Zittern zu unterdrücken.

Sie durfte sich nicht bewegen, sie durfte noch nicht einmal atmen.

Vielleicht glaubten sie ja wirklich, dass sie tot war. Oh Gott, lass es so sein! Mach, dass sie es glauben! Denn dann würden sie es nicht noch einmal tun.

Verzerrte Bilder tanzten vor ihren geschlossenen Augen. Köpfe, die blutrote Masken trugen. Funkelnde Augen, die sie anstarrten. Durch die Mundöffnungen strömte heißer Atem. Messer blitzten.

Schmerz. Überall nur Schmerz.

Eine Maske nach der anderen.

Barmherzige Dunkelheit schien sie aufnehmen zu wollen. Sie sehnte sich nach ihr. Plötzlich ein lautes, wieherndes Lachen, das klatschende Geräusch von Händen, die auf Fleisch schlugen. Dann ein wütend gezischtes Flüstern: „Still, du Narr!“

Sie hielt den Atem an. Leder knarrte. Pferde galoppierten davon. Leere. Stille.

Der Geruch nach Blut. Kälte.

Und tiefes Dunkel.

1. KAPITEL

Cumbria, England, 1807

Er saß mit erhobenen Händen im Sattel seines braunen Hengstes und bemühte sich, sich nicht zu bewegen. All seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Pistole, die auf sein Herz zielte. Diese Pistole lag ruhig in den behandschuhten Händen einer Dame. Um die Wahrheit zu sagen, es war keine sehr kräftige Dame, eher zierlich und zart gebaut. Doch eine Dame, die zu allem entschlossen zu sein schien.

Er konnte sie vielleicht entwaffnen. Vielleicht. Eine rasche Gegenwehr, ein schneller Griff. Es könnte gelingen. Vielleicht. Doch er riskierte damit auch, dass er oder sein Pferd erschossen wurde. Robert Armstrong gehörte nicht zu den Männern, die das Wort vielleicht sehr mochten. Nicht, wenn eine Pistole auf ihre Brust gerichtet war. Nein, im Augenblick schien es angebrachter zu sein, eine gewisse Zurückhaltung zu wahren. Er tat sein Bestes, seiner Stimme einen beruhigenden Ton zu verleihen.

„Madam, ich versichere, dass ich Ihnen nichts Böses will. Wenn Sie mir nicht erlauben, abzusteigen und Ihnen zu helfen, Ihr Pferd zu befreien, wird die nächste Lawine nicht nur Ihr Gig, sondern auch Sie samt Ihrem Pferd unter sich begraben.“

Wie um seine Worte zu unterstreichen, prasselte eine kleine Kaskade von Eisklumpen den Hang herab und landete vor den Füßen der immer noch unbeirrt auf ihn zielenden Dame. Sie blickte kurz zu Boden und richtete dann sofort wieder die Waffe auf ihn. „Ich fürchte, Sie haben recht. Ihre Hilfe ist mir sehr willkommen. Sie dürfen absteigen.“

Rob hob spöttisch die Brauen. „Da bin ich Ihnen aber zu Dank verpflichtet.“

Er fühlte sich ganz und gar nicht willkommen, während er sich jetzt aus dem Sattel schwang und durch den tiefen Schnee zu der umgestürzten Kutsche watete. Die Frau trat vorsichtig beiseite, richtete aber weiterhin die Pistole auf seinen Rücken. Sicher würde sie ihn nicht hinterrücks erschießen, während er sich bemühte, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

Oder vielleicht doch?

Leise auf das verstörte Pferd einredend, das immer noch im Geschirr gefangen war, griff Rob nach den Zügeln, während er versuchte, sich ein Bild von der Lage zu machen. Der abrutschende Schnee hatte den Wagen in die Schneewehe auf der anderen Straßenseite stürzen lassen. Er war dabei umgeworfen und fast völlig mit Schnee bedeckt worden. Die grimmige Dame hinter ihm konnte froh sein, dass sie bei dem Unfall herausgeschleudert worden war. Eine Stange der Kutschengabel war gebrochen. Das aus dem Gleichgewicht gebrachte Pferd war mit dem Hinterbein darüber getreten und hatte sich so selbst fest zwischen dem gesplitterten Stumpf und der noch unversehrten Stange verkeilt.

„Da hast du dich aber in eine verteufelte Klemme gebracht, was, alter Bursche? Das Beste wird sein, dich so schnell wie möglich daraus zu befreien, sonst erwischt es mich auch noch.“

Rob betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Hang über ihnen. Er war nicht sehr hoch, dafür aber steil und fast ohne jeglichen Bewuchs. Der überraschend milde Tag hatte den Schnee angetaut und ihn abrutschen lassen. Doch bald würde es wieder frieren. Rob konnte fühlen, dass die Temperatur sank. Der aufkommende Wind blies glitzernde Schneeschauer vom Rand des Abhangs hin zu einem sich auftürmenden blau-grauen Wolkengebirge. Ein weiterer Sturm. Die Lage verschlechterte sich.

Jeden Augenblick konnte der Wind eine neue kleine Lawine auslösen. Rob zog ein Messer aus dem Stiefelschaft. Da hörte er, wie hinter ihm jemand scharf den Atem einzog. Er blickte über die Schulter.

„Was tun Sie da?“ Das Gesicht der Dame war schon zuvor sehr blass gewesen. Jetzt war es todesbleich. Und die zuvor so ruhige Hand, welche die Pistole hielt, zitterte nun. Kein gutes Zeichen.

Rob richtete sich auf und runzelte die Stirn. „Madam, bitte! Senken Sie die Waffe. Ich habe keine Lust, dieses unglückliche Zusammentreffen mit einer Kugel im Leib zu beenden. Ich muss die Riemen von der Kutschengabel schneiden, denn ich habe keine Zeit, mich mit vereisten Schnallen abzumühen.“

„Ich …“ Sie holte tief Luft und hörte auf zu zittern. Die Pistole schwankte noch ein wenig, dann endlich senkte sich die Mündung. „Ja, natürlich. Bitte, fahren Sie fort.“

Rob schickte einen gereizten Blick zum Himmel und machte sich wieder an die Arbeit. Was quälte diese Frau nur? Die verkrampfte Haltung ihres schlanken Körpers, ihre zusammengepressten Hände, ihre angespannten Züge, alles an ihr drückte Angst aus. Aber er hatte doch nichts getan, was ihr hätte Angst einjagen können? Außer … Ja, er hatte sein Messer gezückt. Bis dahin war sie nur wachsam gewesen, doch jetzt sah sie völlig verschreckt aus. Warum nur?

Rob beschloss, sich diese Frage für später aufzuheben, und wandte sich wieder der Aufgabe zu, das kleine Pferd zu beruhigen. Er musste es aus seiner Zwangslage befreien. Ein paar Schnitte mit dem scharfen Messer, und es war geschafft. Er nahm sich nur noch die Zeit, das Messer in die Scheide zurückzustecken und den Griff eines rechteckigen Lederkoffers zu packen, der aus dem Wagen geschleudert worden war. Dann führte er das stark lahmende Kutschpferd zu seiner Herrin.

„Ich fürchte, er hat eine Sehnenzerrung. Er wird nicht fähig sein …“

Ein tiefes Grollen und ein leichtes Vibrieren des Bodens waren die einzigen Warnungen. Rob ließ die Zügel los und stürzte auf die Frau zu. Ohne lange nachzudenken, warf er sie sich über die Schulter und rannte mit weit ausholenden Schritten durch den weichen Schnee. Die Pistole flog im hohen Bogen davon und entlud sich mit einem lauten Knall. Beide Pferde galoppierten vor Angst laut wiehernd vor ihm her. Eine Wand aus Steinen, Erde und halbgefrorenem Schnee donnerte brüllend den Abhang hinab auf sie zu. Mit jeder Sekunde wurde sie schneller. Rob verdoppelte seine Anstrengungen. Verzweifelt versuchte er, den Hang zu überqueren und so aus der Reichweite der Lawine zu kommen.

Plötzlich stolperte er und fiel mit der Frau zu Boden.

Sofort warf er sich über sie und bemühte sich, den Lederkoffer schützend über den eigenen Kopf zu halten. Ein Felsbrocken schlug auf dem Koffer auf und sprang weiter. Noch einer. Ein Klumpen aus Erde und Eis traf ihn an der Schulter, und eisig kalter Schneematsch füllte seine Stiefel und fiel ihm in den Kragen. Großer Gott! Wurden sie verschüttet?

Die Zeit schien kein Ende nehmen zu wollen, während die donnernde Lawine immer näher kam. Dann endete das Brüllen so abrupt, wie es begonnen hatte. Rob war der Panik nahe und kämpfte sich nach oben. Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung konnte er Kopf und Oberkörper freibekommen. Es herrschte eine erschreckende Stille. Vorsichtig setzte er sich auf und blickte umher.

Und erschauderte.

Er lag genau am Rand eines großen Geröllfeldes, das nun einen Teil des engen Tales ausfüllte. Die umgestürzte Kutsche war überhaupt nicht mehr zu sehen, die Straße war unter Schnee und Erde verschwunden. Rob zog sein Bein aus dem Schnee und wandte sich an die immer noch still daliegende Dame. „Madam, sind Sie verletzt?“

Sie lag wie erstarrt neben ihm, die Augen fest geschlossen. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen. Zum ersten Mal bot sich Rob die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Das silbrige Haar, das unter der Kapuze ihres Hermelinmantels hervorlugte, hatte ihn getäuscht. Sie hatte das glatte Gesicht einer noch sehr jungen Frau, sicher nicht älter als Mitte Zwanzig. Sie regte sich nicht.

„Miss? Miss?“ Beunruhigt wegen ihrer Blässe, schüttelte er sie sanft an der Schulter. Hatte er sie erdrückt? „Miss, können Sie sprechen?“

Ihre Lider zitterten, und dann schaute Rob plötzlich in Augen, die so tiefblau waren wie ein Gebirgshimmel. Ihre Klarheit verschlug ihm den Atem. Und die Sprache. „Äh … äh, Miss …“ Er räusperte sich. „Sind Sie verletzt?“

Sie holte tief Luft und schluckte. „Nein … Nein, ich glaube nicht.“

Mühsam versuchte sie, sich aufzusetzen. Sofort kniete Rob sich hin und streckte ihr die Hand entgegen. Sie betrachtete sie einen Moment lang ernsthaft und ließ es dann zu, dass er ihr beim Aufstehen half. Verwirrt schaute sie um sich. „Was ist mit meiner Kutsche passiert?“

„Ich befürchte, sie ist nun völlig verschüttet.“

„Und meine Pistole?“

Rob zuckte die Achseln. Von der war genauso wenig zu sehen. „Ich habe keine Ahnung.“ Er stampfte auf, um den Schnee von seinen Stiefeln zu schütteln, und klopfte seine Kleidung ab. Suchend blickte er sich nach den Pferden um. „Ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich von hier fortkommen.“

„Aber wo …?“ Die Dame drehte sich im Kreis und suchte nach der verschütteten Straße. Der stärker werdende Wind presste ihren feuchten Mantel eng um ihre schmale Gestalt, und sie zitterte. Ein paar Schneeflocken tanzten um sie herum.

„Mein Zuhause ist dort oben. Auf dem Felsen.“ Rob deutete auf eine alte Burg, deren Umrisse man in einiger Entfernung vor dem Hintergrund der sich immer mehr auftürmenden Wolken wahrnehmen konnte.

Die Dame schaute ihn mit großen Augen an. „The Eyrie? Ich dachte, dort wohnt niemand.“

„Sie war für einige Jahre unbewohnt. Ich bin erst vor kurzem aus Indien zurückgekehrt. Ich bin Robert Armstrong.“

„Baron Duncan?“

„Derselbe.“

„Ich verstehe. Ich …“ Sie hob stolz den Kopf. „Ich bin Iantha Kethley.“ Sie reichte ihm nicht die Hand.

Noch schenkte sie ihm ein Lächeln.

Nun gut. Das war nicht gerade die Belohnung, die sich ein galanter Retter, der soeben ein schönes Mädchen aus höchster Bedrängnis befreit hatte, erträumte. Wenigstens könnte man sie schön nennen, wenn sie sich dazu herablassen würde zu lächeln.

Während er nach seinem eigenen Braunen pfiff, holte er das Kutschpferd herbei, das einige Yards entfernt verloren im Schnee gestanden hatte. Fachmännisch strich er ihm mit der Hand über das Bein. „Wir werden beide mein Pferd benutzen müssen. Ihrem armen Pony geht es, nachdem es zweimal mit knapper Not entkommen ist, zu schlecht. Lassen Sie mich als Erster aufsteigen. Dann werde ich Sie vor mich in den Sattel heben.“

„Oh …“ Wieder flackerte Angst in diesen ungewöhnlichen Augen auf. „Nein. Das ist … Ich ziehe es vor, hinter Ihnen zu sitzen. Ich steige zuerst auf.“

„Aber die Straße ist sehr steil. Sie könnten hinunterrutschen. Es wäre wirklich sicherer –“

„Ich sitze hinter Ihnen.“ Trotzig reckte sie das Kinn vor.

Rob seufzte. „Wie Sie wünschen. Wir haben keine Zeit zum Streiten.“ Er blickte zu den immer tiefer hängenden Wolken hinauf, und zum Dank für seine Mühen fiel ihm Schnee aufs Gesicht. „Was immer wir tun werden, wir sollten es bald tun. Dieser Sturm wird ziemlich schnell über uns hereinbrechen.“

Als er sie hochheben wollte, wehrte sie ab und trat einen Schritt zurück. „Mein Malzeug.“ Sie deutete auf den Lederkoffer. „Ich werde es tragen.“

„Ihr Malzeug?“ Rob unterdrücke ein wütendes Schnauben. „Nun gut. Sobald Sie oben sitzen.“ Er packte sie, bevor sie noch weitere Einwände hervorbringen konnte. Ihre Taille war so schmal, dass er sie mit seinen Händen umfassen konnte. Sie schien fast zu hoch zu fliegen, als er sie jetzt seitwärts hinter den Sattel setzte. Nachdem sie die richtige Position gefunden hatte, reichte er ihr den Koffer und ergriff die Zügel. Vorsichtig stieg er in den Sattel, indem er das Bein über den Kopf des Pferdes schwang. Der Braune tänzelte unruhig und zeigte so, dass er diese ungewohnte Art, in den Sattel zu steigen, nicht mochte.

Kaum saß Rob im Sattel, als sich ihm etwas Scharfes zwischen die Schulterblätter bohrte. Was war denn jetzt schon wieder?

Als er sich umwandte, musste er feststellen, dass die leidgeprüfte Dame den Koffer mit dem Malzeug zwischen sich und seinen breiten Rücken gezwängt hatte und nun versuchte, sich um das sperrige Gepäckstück herum an ihm festzuhalten. Das war nun wirklich zu viel!

„Geben Sie das her!“ Ohne große Umstände entriss er ihr den Koffer und legte ihn vor sich über den Sattel. Mit einer Hand hielt er ihn fest. „Wir haben keine Zeit für solchen Unsinn! Halten Sie sich jetzt an mir fest.“

Er lenkte sein Pferd über die Böschung unterhalb des steil aufragenden Felsens und machte sich auf dem kürzesten Weg auf zu dem alten Schloss. Jetzt heulte bereits ein starker Wind. Schneeböen trafen sie von der Seite, die Eiskristalle brannten auf ihren Gesichtern. Unten im Tal verschwand das, was von der Straße noch übrig geblieben war, unter immer höheren Schneewehen. Der Pfad hier würde sie direkt hinauf zu seinem Besitz führen. Sein Brauner hätte den Weg in kurzer Zeit geschafft, doch das lahme Kutschpferd hielt ihn auf. Aber sie würden auch so noch rechtzeitig Schutz finden.

Als die Pferde, die sich mühsam durch den Schnee vorwärts kämpften, an einem steilen Hang stolperten, hörte Rob einen unterdrückten Aufschrei hinter sich, und die schlanken Arme, die ihn umschlungen hatten, waren plötzlich nicht mehr da. Der Braune bäumte sich leicht auf, als sich die Last auf seinem Rücken verschob. Rob brachte ihn zum Stehen und blickte sich erschrocken um. Er sah seine Mitreisende im Schnee sitzen. Die Röcke waren ihr bis über die Knie gerutscht und zeigten weiße, kniehohe Lederstiefel.

Und im Schaft des einen Stiefels steckte eine Pistole.

Großer Gott, die Frau war ja bis an die Zähne bewaffnet!

Zu seiner großen Erleichterung schien sie sich nur erschreckt zu haben und war immerhin nicht bewusstlos. Hastig stand sie auf und kam zu Rob, der sich die Bemerkung: Ich habe es Ihnen ja gesagt höflicherweise verkniff. Sie hatte wenigstens den Anstand, bekümmert dreinzuschauen. Eine zarte Röte lag auf ihren Wangen. Er streckte die Hand aus. „Stellen Sie Ihren Fuß auf meinen, und stoßen Sie sich ab, wenn ich Sie hochziehe.“

Wortlos gehorchte sie, und Rob, der ihr zuvor den Malkoffer übergeben hatte, zog sie in seine Arme und setzte sie vor sich in den Sattel. Während er dem Pferd die Absätze in die Flanken drückte, legte er automatisch die Arme enger um die Dame. Sofort wurde sie am ganzen Körper steif. Verwirrt runzelte er die Stirn. Was stimmte bloß nicht mit ihr? Schließlich wollte er sie ja nicht entführen. Ganz im Gegenteil, er war dabei, sie zu retten!

Er parierte sein Pferd. „Miss Kethley.“ Sie antwortete nicht, und ihr Gesicht konnte er nicht sehen, weil sie entschlossen nach vorne blickte wie eine Gefangene, die tapfer ihrem Schicksal ins Auge sah. Rob fasste sie am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.

„Bitte, Miss Kethley, sagen Sie mir, womit ich Sie gekränkt habe.“ Sie schüttelte den Kopf. Schließlich öffnete sie den Mund, um ihm zu antworten. Doch sie schloss ihn wieder und blieb stumm. „Habe ich Sie auf irgendeine Art verletzt oder beleidigt?“

Sie schluckte mühsam und schüttelte wieder den Kopf. „N…“ Sie befeuchtete die Lippen und versuchte es noch einmal. „N…nein.“

„Und ich werde es auch nicht.“

Rob presste gekränkt die Lippen zusammen und ritt weiterhin den Berg hinauf.

Iantha saß vor dem Baron im Sattel, durch seinen Körper gegen den Schnee geschützt, und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie würde ihre Angst bezwingen. Schließlich hatte der Mann nichts getan, was diese Angst rechtfertigte. Er benahm sich korrekt und anständig – sogar ritterlich. Doch sie hatte geglaubt, das Herz bliebe ihr stehen, als er auf sie drauf gefallen war. Selbst das Gebrüll der Lawine war von dem Aufruhr in ihrer Seele übertönt worden. Die Angst, lebendig begraben zu werden, verblasste vor der Furcht, die das Gewicht seines Körpers in ihr hervorrief.

Wenn sie doch nur diese verhassten Bilder aus ihrer Erinnerung verbannen könnte! Dann wäre sie jetzt einfach nur erleichtert darüber, nicht länger um ihr Gleichgewicht kämpfen zu müssen. Außerdem schirmte die kräftige Gestalt ihres Retters sie gegen Wind und Schnee ab, sodass sie die Kälte nicht mehr als so beißend empfand wie zuvor. Trotzdem schienen ihre Finger an dem Malkasten festgefroren zu sein, und sie konnte die Zehen nicht mehr spüren.

Während sie so dasaß, stellte sie fest, dass seine Lordschaft viel größer war, als es ihr aus der Entfernung vorgekommen war. Seine breiten, muskulösen Schultern hatten ihn viel kleiner erscheinen lassen. Er war ein großer Mann. Stark. Sie ermahnte sich, daran zu denken, dass er seine Stärke nur dazu benutzt hatte, ihr zu helfen. Um ihre aufkommende Panik unter Kontrolle zu halten, durfte sie nur daran denken.

Beherrschung. Beherrschung war die Festung, in der sie sich verstecken konnte.

Und sie war fest entschlossen, diese Beherrschung aufrecht zu erhalten.

Gerade als Iantha glaubte, Kälte und Wind würden nie aufhören, erreichten sie die Straße, die das Schloss mit dem Tal verband. Noch einige Schlitterpartien, und sie fanden sich in einem großen, steinernen Stallgebäude wieder, umgeben von Stille und willkommener Wärme. Iantha reckte ihre schmerzenden Schultern und blickte sich um. Ein grauhaariger, stämmiger Pferdeknecht kam eilig auf sie zu.

„Mylord! Endlich sind Sie heil wieder zu Hause. Burnside und ich haben gerade beratschlagt, ob wir eine Suche starten sollen.“ Er reichte hinauf, blinzelte Iantha zu und nahm ihr den Malkasten aus den klammen Fingern. „Und wen haben wir denn da?“

Er setzte den Lederkasten ab, streckte ihr die Arme entgegen, und Iantha ließ sich aus dem Sattel gleiten. Vorsichtig setzte er sie auf dem Boden ab und hielt vorsichtshalber ihren Arm fest. Und das war auch gut, denn die halberfrorenen Füße und Beine drohten, ihr den Dienst zu verweigern. Iantha hielt sich mit der anderen Hand am Sattel fest.

„Hast du je erlebt, dass ich nicht wieder heil aufgetaucht bin, Feller?“ Seine Lordschaft sprang gewandt vom Pferd und lächelte dem Stallknecht zu.

„Nein, Mylord, außer damals in Orissa. Da waren Sie keineswegs heil.“ Feller grinste. „Ich hab’s ja zu Burnside gesagt. ‚Pass nur auf, wie ein falscher Penny wird er wieder auftauchen, ganz bestimmt‘, hab ich gesagt. Und da sind Sie!“

„Und da bin ich“, stimmte ihm Seine Lordschaft zu. „Diese Dame hier ist Miss Kethley. Wie du siehst, haben sie und ihr Kutschpferd auf der Straße ein Missgeschick erlitten.“

„Das sehe ich.“ Feller wandte sich um und musterte das kräftige Pferd. Er runzelte die Stirn. „Das Bein von dem armen Kerl scheint ein bisschen geschwollen zu sein.“

Als er Ianthas Arm losließ, um zu dem Pferd zu gehen, fühlte sie, wie ihre Knie nachgaben, und sie klammerte sich fester an den Sattel.

„Vorsicht!“ Lord Duncan trat rasch vor und legte fürsorglich den Arm um sie. „Fühlen Sie sich nicht gut?“

„Doch, doch.“ Iantha schüttelte den Kopf. „Nur kalt und steif. Es wird mir gleich besser gehen.“

„Vielleicht.“ Er blickte sie zweifelnd an. „Soll ich Sie tragen?“

„Nein!“ Die Zurückweisung klang schroffer, als sie beabsichtigt hatte. „Ich meine … Ich danke Ihnen. Es ist nicht nötig.“

„Dann lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Es sah aus, als würde Seine Lordschaft immer noch zweifeln. „Sie müssen an ein Feuer. Wir werden durch das alte Schloss hinaufsteigen. So entgehen wir dem Wind.“ Er schlang fest den Arm um sie und führte sie zu einer seitlichen Tür.

Nah. Er war viel zu nah.

Iantha schloss die Augen, atmete tief durch und untersagte es sich, sich seinem Arm zu entziehen. Wenn sie das jetzt täte, würde sie sich sicher im nächsten Augenblick auf dem Boden wiederfinden. Für ein paar Minuten konnte sie seine Nähe sicher ertragen.

Beherrschung.

Er führte sie durch die Stalltür und eine ziemlich steile Wendeltreppe hinauf. Oben angekommen, gingen sie durch eine Anzahl kurzer Korridore mit niedrigen, schmalen Türen. Jede von ihnen führte in eine andere Richtung.

„Das hier ist der Eingang zum ursprünglichen Schloss“, erklärte er. „Die Biegungen waren dazu gedacht, eindringende Feinde aufzuhalten. Dieser Teil des Schlosses wurde schon vor langer Zeit aufgegeben, doch wir benutzen ihn noch, um bei schlechtem Wetter vom Stall hinaufzukommen.“

Sie kamen jetzt von einem leeren Raum mit kahlen Mauern durch eine nicht ganz so alte Tür in eine weite Empfangshalle. Lord Duncan nahm den flachen Hut von den dichten braunen Locken und schlug ihn gegen sein Bein, um den Schnee zu entfernen.

„Das hier ist das neue Gebäude.“ Er lächelte. „Relativ neu. Der ältere Teil wurde im 14. Jahrhundert gebaut, der neue Teil im frühen 16. Jahrhundert. Er ist beträchtlich komfortabler als es der alte jemals war, aber auch er hat so seine Besonderheiten.“ Er zog an einer Klingelschnur. „Burnside! Burnside, wo bist du?“

„Ja, Mylord?“ Der Herbeieilende blieb beim Anblick von Iantha plötzlich stehen und schaute dann fragend zu Lord Duncan.

„Miss Kethley wurde vom Sturm überrascht und wird bei uns bleiben. Bitte, sagt Thursby, er soll gehen und das Schlafzimmer meiner Großmutter herrichten und dann Miss Kethley heißes Wasser bringen.“

„Oh. Natürlich, Mylord. Sofort. In der Bibliothek brennt ein Feuer, wenn Miss Kethley möchte …“

„Sehr gut.“ Seine Lordschaft wandte sich wieder an Iantha. „Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?“

„Ich danke Ihnen.“ Iantha erlaubte ihm, ihr den Mantel abzunehmen und nutzte die Gelegenheit, sich von Robs stützendem Arm zu entfernen. Als sie die Kapuze abstreifte, wappnete sie sich innerlich gegen das, was kommen mochte. Doch Rob war sicher zu sehr Gentleman, um eine Bemerkung wegen ihres silberweißen Haars zu machen.

Und natürlich war er es auch.

Nachdem er Lord Duncan aus seinem dicken Mantel geholfen hatte, verschwand Burnside mit den nassen Kleidungsstücken so schnell, wie er gekommen war. Seine Lordschaft öffnete eine Tür, die von der Eingangshalle in einen behaglichen Raum führte. Bücher füllten die Wände, und noch mehr Bücher und Schriftrollen waren aufgestapelt oder in lagen in Kisten. Einige besaßen weiche, auf eine kunstvolle, exotische Art verzierte Ledereinbände, doch andere hatten gar keinen Einband.

„Verzeihen Sie mir die Unordnung. Ich bin dabei, meine eigene Bibliothek mit der meines Vaters zusammenzulegen.“ Er zog einen Sessel näher zum Feuer und führte sie zu dem Sitzplatz.

„Ich habe in Indien viele interessante Bücher gefunden. Einige davon sind sehr alt. Ich habe verschiedene Sprachen studiert, um die Texte lesen zu können.“ Er zog noch einen Sessel für sich selbst heran, setzte sich und streckte seine kräftigen Hände zum Feuer hin.

Iantha faltete die Hände im Schoß und räusperte sich. „Lord Duncan, ich habe das Gefühl, ich sollte sagen … Bitte verzeihen Sie mir, wenn es den Anschein hatte, als wüsste ich Ihre Hilfe nicht zu schätzen. Ich empfand die Situation als sehr … beunruhigend.“

Seine Lordschaft hob die Brauen. „Offenbar.“

„Ich bin dankbar. Ich bin es wirklich.“ Sie blickte ihn offen an. Auf seinem Gesicht lag ein kleines, spöttisches Lächeln, und in seinen Augen ein kaum wahrnehmbares Funkeln. „Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Sie nicht gekommen wären. Ich hatte nicht gedacht, dass in den Hügeln so viel Schnee liegen würde – und schon gar nicht, dass sich der nächste Sturm schon wieder zusammenbraute.“

Er nickte. „Ein trügerisch milder Tag. Ich bin selbst auch der Versuchung erlegen hinauszugehen. Sehr ungewöhnlich, dass wir so früh im Jahr schon so viel Schnee haben.“

Iantha zwang sich zu einem schüchternen Lächeln. „Und es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen jetzt zur Last falle.“

„Aber nicht im Geringsten, Miss Kethley. Meine einzige Sorge ist Ihre Bequemlichkeit. Es ist eine sehr unangenehme Situation für Sie. Ich bedauere, dass ich noch nicht einmal eine Hausdame habe, geschweige denn eine Zofe, die Ihnen jetzt zur Hand gehen könnte. Ich bin etwas früher zurückgekehrt, als mein Verwalter erwartet hat, und deswegen konnte er noch nicht das gesamte Personal einstellen. Glücklicherweise hat er aber bereits eine gründliche Reinigung angeordnet. So müssen Sie wenigstens nicht im Staub ersticken. Und im Keller gibt es Essbares in Hülle und Fülle.“ Er wandte sich um, weil sich die Tür öffnete. „Ja, Burnside?“

„Ich dachte, der Dame würde vielleicht eine Tasse Tee gut tun.“ Burnside drückte sich durch die Tür und setzte vorsichtig ein großes Tablett mit einer Teekanne und Tassen auf dem Tisch ab.

„Eine sehr gute Idee. Danke.“ Lord Duncan drehte sich lächelnd zu seinem Diener um. „Und was gibt es zum Dinner? Ich erwarte wenigstens drei Gänge.“

Burnside zwinkerte einer erschrockenen Iantha zu. „Mein Herr macht nur Spaß. Er weiß, dass er von mir einfache Kost erhält. Die einfache, gute Küche des Nordens. Allerdings mit ein paar indischen Verfeinerungen.“ Er verbeugte sich vor seinem Arbeitgeber und ging zur Tür. „Oben brennt ein Feuer, Mylord. Und wenn Miss Kethley soweit ist, wird heißes Wasser am Kamin bereitstehen.“

„Ich danke Ihnen. Wir warten noch ein bisschen, bis der Raum sich erwärmt hat.“ Burnside verließ die Bibliothek, und Seine Lordschaft wandte sich wieder Iantha zu. „Burnsides Essen ist einfach, da hat er recht, aber sehr gut. Zumindest werden Sie nicht verhungern.“ Er sah zum Tablett. „Wären Sie so nett und würden den Tee einschenken, Miss Kethley? Ich würde mich zu ungeschickt anstellen.“

Was für ein seltsamer Haushalt! Etwas verwirrt griff Iantha nach der Teekanne. „Aber gerne. Milch?“

„Nein, danke.“

Sie reichte ihm die Tasse und schenkte sich selbst ebenfalls ein. Da sie die Situation wie einen gesellschaftlichen Anlass handhabten, und eine Konversation unbedingt zum Teetrinken dazu gehörte, gab sich Iantha große Mühe, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. „Wie lange lebten Sie in Indien, Mylord?“

„Dreizehn Jahre.“

„Waren Sie bei der East India Company?“

„Nein, ich ging als privater Handelsmann dorthin. In schweren Zeiten war das Vermögen der Armstrongs zusammengeschrumpft. Mein Vater fand, dass die Umstände es rechtfertigten, ins Handelsgeschäft einzusteigen.“

„Ich verstehe.“ Iantha überdachte diese Information, während sie am Tee nippte. Es war ein etwas ungewöhnlicher Schritt für einen Adligen, doch zweifellos besser, als in edler Armut zu leben. „Gefiel es Ihnen dort nicht?“

„Oh ja doch! Ich fühlte mich dort sehr wohl. Es gab so viel zu sehen, zu hören, zu riechen und zu berühren.“ Als er ihr über den Rand seiner Tasse zulächelte, bildeten sich kleine Lachfalten um seine Augen. Er hatte ein wirklich sehr einnehmendes Lächeln. „Der Orient ist ein wahres Fest für die Sinne. Neues Essen, neues Stoffe, strahlende Farben. Jeden Tag mehr neue Erfahrungen, als die englische Seele verkraften kann.“

„Aber Sie sind wieder nach Hause gekommen.“

Einen Herzschlag lang starrte er in die Flammen, bevor er sie ansah. „Man möchte immer nach Hause kommen.“

Da sie nicht wusste, was sie dem noch hinzufügen konnte, nippte Iantha weiter still an ihrem Tee. Lord Duncan atmete tief durch. „Es gab aber auch noch andere Gründe.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr, und Iantha hatte den Eindruck, dass etwas ungesagt geblieben war. „Zum einen ist der Gewinn zu abhängig geworden vom Opiumhandel mit China. Die East India Company besitzt nur in Bengalen das Monopol auf den Anbau, aber ich konnte es nicht über mich bringen, Opium zu verkaufen. Wenn Sie die armen Teufel gesehen hätten … Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber ein Sklave des Opiums zu sein, ist eine verflucht schlimme Sache.“ Er setzte seine Tasse ab und stand auf. „Doch ich kann Sie nicht ewig mit Indien langweilen. Haben Sie Ihren Tee ausgetrunken? Dann werde ich Sie nach oben begleiten.“

Iantha stand ebenfalls auf und zögerte nur eine Sekunde, bevor sie den Arm nahm, den er ihr bot. Doch sie hielt größtmöglichsten Abstand zu ihm. Er legte prüfend die andere Hand auf ihren Ärmel. „Ich fürchte, Ihr Kleid ist immer noch nass. Sie brauchen ein anderes.“

Iantha blickte auf den schmutzigen Saum ihres weißen Wollkleides. „Das wäre eine Wohltat, doch ich wüsste nicht, wie das gehen sollte.“

„Ich glaube, in dem Schlafzimmer, das wir für Sie vorbereitet haben, sind noch einige Kleider, die meiner Großmutter gehörten.“ Er musterte sie und lächelte, während sie zwei breite, lange Treppen hinaufstiegen. „Zu ihrer Zeit war sie eine sehr modisch gekleidete Dame, doch das liegt leider schon lange zurück. Sie war auch sehr sparsam. Alles hat sie aufgehoben. Irgendetwas Trockenes, Sauberes müssten Sie eigentlich finden. Nur werden Sie damit sicher kein Muster an Modebewusstsein sein.“

Zum ersten Mal, seit der Schnee ihren Wagen unter sich begraben hatte, musste Iantha leise lachen. Aber dann dämmerte ihr langsam die Erkenntnis. Wie es schien, würde sie für längere Zeit hier bleiben müssen.

Großer Gott im Himmel! Wie sollte sie das überleben? Wie konnte sie einen Haushalt voller Männer, voller Fremder ertragen, und das für eine so lange Zeit?

Beherrschung. Sie musste sich auf ihre Beherrschung verlassen. Und auf ihren Verstand.

2. KAPITEL

Nach einem längeren Kampf mit den Knöpfen ihres im Rücken zu schließenden Gewandes schlüpfte Iantha mit einem Seufzer der Erleichterung aus ihrem verschmutzten Kleid. Dankbar tauchte sie ein Tuch in das warme Wasser und rieb sich damit über Arme, Gesicht und Hals. Langsam entspannten sich ihre verkrampften Muskeln. Was für eine Wohltat für ihre eiskalte Haut und ihren schmerzenden Körper! Ein richtig heißes Bad wäre der Himmel gewesen, doch unter den gegebenen Umständen konnte sie wohl kaum um eines bitten. Lord Duncan war mehr als nur höflich gewesen, da wollte die dem wenigen Personal, das er hatte, keine Schwierigkeiten machen.

Noch wollte sie sich in einem Haus voller Männer völlig nackt ausziehen. Das sehr feminin in weichen Pastelltönen eingerichtete und nach altem Holz duftende Schlafzimmer, in welches Lord Duncan sie geführt hatte, besaß zwei Türen. In beiden steckten gut funktionierende Schlüssel. Nach einem kurzen Blick in den angrenzenden Salon schloss Iantha die Türen ab. Sie behielt auf bewundernswerte Art die Kontrolle über das unbehagliche Gefühl, das sie quälte.

Ihre Unterröcke waren in keinem besseren Zustand als ihr Kleid, und sie ließ sie ebenfalls zu Boden fallen. Die eng sitzenden Stiefel stellten ein größeres Problem dar, aber nach einigem Gezerre gelang es Iantha, sie samt ihren Strümpfen auszuziehen. Nie mehr würde sie die Dienste einer Zofe für selbstverständlich halten. Im Gegenteil, sie würde Molly ein hübsches Geschenk machen, wenn sie wieder zu Hause wäre.

Wenn sie wieder nach Hause käme. Sie brauchte nur einen kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen. Vor lauter Schnee konnte man nichts erkennen, und der Wind heulte hinter den Scheiben.

Iantha atmete tief durch und bemühte sich, die aufsteigende Panik zu beherrschen, während sie den Kleiderschrank öffnete und sich auf seinen Inhalt konzentrierte. Er enthielt tatsächlich eine Fülle von Seiden- und Satinroben. Sie zog ein Kleid aus blassblauem Brokat hervor, besetzt mit Kaskaden von weißer Spitze, und breitete es auf dem Bett aus. Es war wirklich zauberhaft, doch man musste es mit einem Reifrock tragen. Das war also nicht ganz das Richtige. Außerdem würde sie es nie ohne fremde Hilfe anziehen können, geschweige denn mit einem Reifrock.

Iantha hängte es in den Schrank zurück und nahm ein anderes. Seine lavendelfarbene Seide würde gut zu ihren Augen passen und ihren feinen Zügen und der hellen Haut schmeicheln. Das eng sitzende Oberteil wurde vorne geschnürt, sodass sie sich das Kleid selber anziehen konnte, und der viereckige Ausschnitt zeigte nicht so viel Dekollete, wie es gewöhnlich bei Abendkleidern üblich war. Als sie fortfuhr, den Schrank zu durchsuchen, fand sie genügend Unterröcke, um den üppigen Rock aufzubauschen, damit sie nicht Gefahr lief, beim Gehen über ihn zu stolpern. Glücklicherweise schien die frühere Lady Duncan etwas kleiner als Iantha gewesen zu sein.

Sie schlüpfte in das Kleid und verbarg die Pistole wieder unter ihren Röcken. Dann verbrachte sie eine Weile damit, sich mit dem Kamm, den sie auf dem altmodischen Toilettentisch gefunden hatte, die zerzausten Haare zu frisieren. Sie ordnete die schimmernden Locken zu einer schlichten Frisur, indem sie sie mit ihren eigenen silbernen Haarkämmen teilweise hochsteckte. Die restlichen Haare fielen ihr in weichen Wellen in den Nacken. Zumindest war ihr Haar, als es seine Farbe verlor, lockig geblieben.

Iantha fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, als sie mit den Gewändern ihrer Großmutter Verkleiden gespielt hatte. Sie öffnete die Tür und warf einen Blick hinaus in den Flur. Als sie niemanden sah, schlug sie die Richtung ein, aus der sie, wie sie glaubte, mit Lord Duncan gekommen war, und machte sich auf die Suche nach der Halle. Sie hatte bereits erkannt, dass es der falsche Weg war, als sie um eine Ecke bog und beinahe mit einer höchst wunderlichen Erscheinung zusammengestoßen wäre.

Iantha schnappte erschrocken nach Luft und fuhr zurück.

Die Erscheinung tat es ihr nach.

Aber dann verbeugte sie sich.

„Ich bitte um Vergebung, Madam, dass ich Sie erschreckt habe. Ich bin Vijaya Sabara.“

Iantha starrte den schlanken, mittelgroßen Mann an, dessen Kopf von einem Turban aus kostbarer Seide umhüllt war. Die olivfarbenen Wangen und das Kinn waren von einem gepflegten Bart bedeckt. Ein großer Saphir, der an seiner Kopfbedeckung befestigt war, hing ihm mitten in die Stirn. Und seine Kleidung … Sie konnte nicht aufhören, sie erstaunt zu betrachten. So farbenprächtig. So prächtig. So …

So fremdländisch.

„Ich … oh … Wie … wie geht es Ihnen?“ Wie schrecklich ungeschickt! Der Mann musste sie ja für eine Närrin halten. Iantha errötete.

„Danke, sehr gut.“ Er zog verwundert die Brauen hoch. „Ich wusste nicht, dass wir hier eine Dame beherbergen.“

„Lord Duncan rettete mich vor dem Sturm. Ich bin Iantha Kethley. Könnten Sie mir den Weg zum Speisezimmer zeigen?“

„Ah. Bitte erlauben Sie mir, dass ich Sie dorthin geleite. Sie gehen genau in die falsche Richtung.“ Die Erscheinung bot Iantha nicht den Arm an, doch sie forderte sie mit einer eleganten Handbewegung auf, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Die junge Frau wandte sich um und begleitete den Mann den Weg zurück, den sie gekommen war. Was für einen Anblick mussten sie beide wohl abgeben, sie in ihrem altmodischen Kleid, er in seinem juwelengeschmückten seidenen Gewand? Wie Gäste einer Maskerade!

In Ianthas Kopf drehte sich alles. Sie schien den Bezug zur Realität zu verlieren, sie fühlte sich fast wie die Heldin in einer Schauergeschichte. Der Sturm hatte sie aus ihrer eigenen Zeit, von ihrem angestammten Platz hinweggefegt … wohin? Würde sie als Nächstes einem Gespenst begegnen, das seinen Kopf unter dem Arm trug? Der Himmel mochte es verhüten!

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie Lord Duncans kräftige Gestalt die Treppe heraufkommen sah. Wenigstens sah er in seinen Kniehosen aus Wildleder und dem sauberen Mantel um die breiten Schultern sehr englisch, vertraut und normal aus. Die Wirklichkeit hatte sie wieder.

„Da sind Sie ja, Miss Kethley. Ich komme, um Sie zum Essen zu geleiten. In diesem Gemäuer kann man sich leicht verirren.“

„Ja. Das habe ich mich bereits.“ Sie lächelte. „Wie es scheint, muss ich heute ziemlich oft gerettet werden.“

Seine Lordschaft schmunzelte. „Es ist uns ein Vergnügen. Ich sehe, dass Sie bereits meinen Freund Prinz Vijaya begegnet sind. Auf Wunsch seines Vaters, dem Maharadscha von Orissa, ist er mit mir nach England gekommen, um unser Land besser kennen zu lernen.“

Vor der Tür eines kleinen Esszimmers angekommen, verbeugte sich der Inder erneut. „Stets zu Ihren Diensten, Miss Kethley. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“

Ohne eine weitere Erklärung verschwand er den Gang hinunter. Iantha blickte Seine Lordschaft fragend an.

„Vijaya zieht es vor, allein zu speisen.“ Rob führte sie in den Raum, bot ihr einen Stuhl an und setzte sich dann ihr gegenüber. „Viele Inder sind der Meinung, dass Essen eine private Angelegenheit ist. Und wenn man an die Tischmanieren einiger unserer besten Leute denkt, kann man ihren Standpunkt verstehen.“

Ein Lächeln ließ ihr Gesicht weicher erscheinen. Er hatte also mit seiner früheren Beurteilung recht gehabt. Seine verzweifelte Dame war schön, wenn sie lächelte. Außerordentlich schön sogar. „Dieses Kleid steht Ihnen sehr gut. Sie erinnern mich an die Jugendbildnisse meiner Großmutter, mit ihrem gepuderten Haar.“

Ihr Lächeln erlosch, und sie blickte auf ihre gefalteten Hände nieder.

Die Dame schien, was ihr Haar betraf, empfindlich zu sein. „Verzeihen Sie mir. Es scheint, als wäre ich nicht sehr taktvoll gewesen, doch ich finde Ihr Haar sehr hübsch. Mögen Sie es nicht?“

Sie zog die reizende Nase kraus, aber sie wich seinem Blick nicht aus. „Man wünscht wohl kaum, so alt auszusehen, wenn man erst vierundzwanzig ist.“

„Alt?“ Er lachte schallend. „Meine liebe Miss Kethley, Sie könnten gar nicht alt aussehen, selbst wenn …“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ganz egal, unter welchen Umständen. Dazu sie sind Sie viel zu schön.“

„Jetzt schmeicheln Sie mir“, meinte sie mit schief gelegtem Kopf und zog die Brauen hoch. Doch dabei umspielte ein Lächeln ihren Mund.

Rob lächelte zurück. „Halten Sie mich für einen Mann, der Übung mit Schmeicheleien hat?“

Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Nein“, sagte sie schließlich. „Sie sehen eher wie ein Mann aus, der sagt, was er denkt.“

„Das stimmt. Ich bin ein offener Mann, und ich sage ganz offen, dass ich Sie ungewöhnlich apart finde. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?“

„Danke.“ Ihr zustimmendes Nicken bezog sich auf sein Angebot, nicht auf sein Kompliment. „Ich weiß, dass der Sturm noch immer tobt, aber … Gibt es keine Möglichkeit, meinen Eltern in Hill House eine Nachricht zukommen zu lassen? Ich sagte ihnen noch nicht einmal …“

„Dass Sie ausgefahren sind? Ich habe mich schon gefragt, wer Ihnen erlaubt hat, allein hier heraufzukommen.“ Rob blickte ernst. „Es tut mir leid, aber ich kann unmöglich in diesen Schneesturm hinaus. Innerhalb einer Stunde wäre ich tot.“

„Oh nein! Das verlange ich auch nicht. Ich hoffte nur …“ Sie seufzte. „Es war dumm von mir. Verzeihen Sie.“

Rob wollte tröstend ihre Hand ergreifen, doch bei der kleinsten Bewegung nahm Iantha die schlanke Hand vom Tisch und legte sie in den Schoß. Es war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass sie, als er ihr leicht die Hand auf den Rücken legte, während er sie zum Stuhl geleitete, schon bei der leisesten Berührung zur Seite getreten war. Auch hatte sie seinen Arm nicht genommen, als sie gemeinsam die Treppe hinuntergeschritten waren. Allem Anschein nach war seine gerettete Schönheit ihrem Retter gegenüber ziemlich misstrauisch. Und unter diesen Umständen … Nun, vielleicht würden die Zeit und die nähere Bekanntschaft das ändern.

„Nein, nicht dumm – es ist durchaus verständlich.“ Er goss sich Bier aus einem Krug in seinen Humpen. „Sie sind gewiss in einer sehr unangenehmen Situation, doch ich weiß nicht, was ich heute Nacht noch dagegen tun könnte – und vielleicht auch morgen noch nicht. Sie leben also bei Ihren Eltern. Da Sie die Anrede ‚Miss‘ akzeptieren, gehe ich davon aus, dass Sie nicht verheiratet sind?“

„Nein. Bin ich nicht.“ Sie nahm einen winzigen Schluck Wein. Die Gefahr, durch den starken Wein betrunken zu werden, schien bei dieser vorsichtigen Dame nicht groß zu sein. „Ich lebe bei meiner Familie. Mein Vater ist der Viscount Rosley. Ich habe noch zwei jüngere Brüder und eine Schwester, die auch noch zu Hause sind. Dann habe ich auch noch eine ältere Schwester – sie hat Lord Rochland geheiratet – und einen älteren Bruder bei der Kavallerie.“

„Eine vielversprechende Familie, in der Tat. Fahren Sie oft allein aus?“

„Von Zeit zu Zeit.“

„Und Ihre Eltern haben nichts dagegen?“

Ein schelmisches Lächeln erhellte ihr sonst so ernstes Gesicht. Bezaubernd. „Ich sage nicht, dass sie nichts dagegen haben. Doch sie verstehen mich …“ Sie wurde wieder ernst. „Es gibt Augenblicke, da muss ich einfach mit mir allein sein. Und ich ertrage es nicht, lange drinnen zu bleiben. So nehme ich dann meine Malsachen, gehe ins Hügelland und male etwas, das weit ist und mich wieder aufrichtet. Ich war ungefähr eine Stunde gefahren, als das Missgeschick passierte. Ich hatte vor, The Eyrie im Schnee zu malen.“

„Ach so, jetzt verstehe ich die Sache mit dem Malkoffer. Dann ist das Malen wohl ihre Lieblingsbeschäftigung?“

„Ja. Manchmal schreibe ich auch Gedichte … und andere Sachen.“

In diesem Augenblick erschien Burnside mit einem großen Tablett. Vorsichtig setzte er es auf der Anrichte ab und begann ungeschickt, den Tisch zu decken. „Sie müssen entschuldigen, Miss, aber ich bin in so etwas nicht sehr geschickt. Bis der Butler auftauchen wird, essen wir normalerweise in der Küche.“

„Du lieber Himmel! Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache. Ich wäre glücklich gewesen, in der Küche zu essen.“

„In meinem Haus muss keine Dame in der Küche essen“, stellte Rob entschieden fest. „Für einen ungehobelten Burschen wie mich ist das gut genug, aber Sie … Nein.“

„Ungehobelt? Ganz und gar nicht. Wirklich, Sie sind das Idealbild eines Gentlemans.“ Die Dame lachte und errötete leicht. Es war ein angenehmes, wohl tönendes Lachen. „Trotz eines eher unglücklichen Zusammentreffens.“

„Ich muss gestehen, ich habe noch vor einer Pistolenmündung die Bekanntschaft einer Dame gemacht. Eine ganz neue Erfahrung.“ Er lächelte. „Diese Erfahrung hat mich dazu gebracht, mein bestes Benehmen an den Tag zu legen. Doch ich fürchte, ich werde es nicht lange durchhalten.“

Vielleicht sollte er es doch, in Anbetracht der Pistole, die sie vielleicht immer noch unter ihren Unterröcken verbarg. Er entdeckte einen traurigen Ausdruck in den Augen der jungen Frau. Einen Ausdruck, der in ihm den Wunsch weckte, sie in seine starken Arme zu nehmen und zu trösten, sie zu beschützen.

Aber nicht heute Nacht.

Er durfte die Pistole nicht vergessen.

Rob hob die Haube von einer Servierplatte und enthüllte große Brötchen, in die Wurst gestopft war. „Darf ich Ihnen etwas von Burnsides ausgezeichnetem Essen auflegen? Und auch etwas Apfelmus?“

„Gerne, danke. Was ist in der Terrine? Es riecht sehr interessant.“ Sie lehnte sich etwas vor und schnupperte.

„Lammcurry.“ Er hob den Deckel. Der Duft nach Fleisch und Gewürzen erfüllte den Raum. „Ich bin sicher, Sie werden es mögen. Doch ich warne Sie, es ist sehr stark gewürzt.“ Er löffelte Reis auf ihren Teller und fügte etwas von dem Curry hinzu. „Ich schlage vor, Sie probieren es sehr vorsichtig.“ Mit diesen Worten lud er sich eine tüchtige Portion auf den eigenen Teller.

Sie nahm die Gabel und versuchte einen kleinen Bissen. „Mmm. Das ist sehr gut. Oh Gott!“ Sie schnappte nach Luft und griff nach ihrem Weinglas.

Hastig fasste Rob nach ihrer Hand und hinderte sie am Trinken. „Der Wein macht es nur noch schlimmer. Besser Sie nehmen etwas von dem Brot.“

Sie nickte und befolgte schnell seinen Rat. „Du lieber Himmel!“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich habe noch nie so scharfen Pfeffer gegessen. Aber das Gericht hat einen ausgezeichneten Geschmack. Vielleicht muss man sich an die Schärfe erst gewöhnen.“

„Das muss man bestimmt.“ Rob lachte. „Sind Sie wieder in Ordnung?“ Er nahm einen großen Bissen von seiner eigenen Portion.

„Oh ja. Ich war nur überrascht.“ Sie versuchte das Curry noch einmal. Eine tapfere Dame.

„Burnside kann für Sie ein weniger scharfes Currypulver zusammenmischen. Ich möchte doch nicht, dass mein erster Gast mich mit verbranntem Mund wieder verlässt.“

„Das möchte ich auch nicht.“ Schnell nahm sie einen weiteren Bissen Brot und tupfte sich dann entschlossen die Lippen mit der Serviette. „Ich glaube, fürs Erste ist das genug. Aber ich möchte es irgendwann noch einmal probieren, vielleicht mit etwas weniger Pfeffer.“

„Sie scheinen erstaunlich abenteuerlustig zu sein. Dabei sehen Sie so … so zerbrechlich aus.“

Sie starrte nachdenklich ins Feuer. „Vielleicht würde ich Abenteuer mögen. Zerbrechlichkeit kann sehr lästig sein.“

Rob dachte eine Weile über diese Antwort nach. Die junge Frau war in ein Abenteuer verwickelt, aus dem sie kaum unversehrt herauskommen würde. „Miss Kethley, ich fürchte, dass dieses Abenteuer hier Ihrem Ruf sehr schaden wird. Ich denke, wir sollten darüber reden …“

Sie blickte ihn mit ihren strahlend blauen Augen an. „Lord Duncan, ich versichere Ihnen, dass eine Schädigung meines guten Rufes absolut kein Problem darstellt.“

Trotz all seiner Bemühungen war sie nicht bereit, auch nur noch ein Wort über diese Angelegenheit zu verlieren.

Der Sturm tobte die ganze Nacht hindurch bis in den Morgen hinein. Und wenn Iantha sich auch beim Frühstück angenehm mit Lord Duncan unterhielt, danach einige Zeit mit ihm zusammen in der Bibliothek verbrachte und sich seine Bücher anschaute, so war sie sich doch der wachsenden Spannung in ihrem Innern bewusst. Dem Drang, von hier fort zu kommen. Hinaus zu kommen.

Einen gewissen Abstand zwischen sich und die überwältigende Männlichkeit Seiner Lordschaft zu bringen.

Er hatte nichts getan – absolut nichts –, was sie erschreckt haben könnte. Er beachtete jede Anstandsregel. Er nahm alle Mühen auf sich, um ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Er rührte sie nicht an. Und doch schien er mit seiner großen Gestalt und seiner lauten Stimme den Raum auszufüllen. Und … und noch mit etwas anderem. Eine unbezwingbare Energie ging von ihm aus, wurde spürbar in seinem herzlichen Lachen, in seiner Begeisterung für seine Bibliothek, in seiner unbändigen Lebensfreude.

So sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr einfach nicht, Seine Lordschaft zu ignorieren. Bei den meisten Menschen gelang ihr das hervorragend. Die Schutzmauern aus intelligenter Konversation und absoluter Beherrschung ihrer Gefühle waren mit Bedacht aufgebaut, und sie pflegte sie sorgsam. Selbst Menschen, die sie mochte, mussten außerhalb dieser Mauern bleiben. Doch Lord Duncan … Selbst als sie über alte Hindumanuskripte sprachen und über sein Studium der verschiedenen Sprachen, das er zusammen mit Vijaya betrieb, ertappte sie sich dabei, dass sie mehr mit dem Mann als mit dem eigentlichen Gesprächsthema beschäftigt war.

Sie musste wieder nach Hause.

Kurz nachdem sie ein leichtes Mittagessen zu sich genommen hatten, ließ der Wind nach. Die Wolken verschwanden hinter dem Gebirge und machten einer gleißenden Helligkeit Platz. Iantha spähte aus dem Fenster.

„Endlich! Jetzt kann ich zu meinen Eltern zurückkehren und Sie von einem ungebetenen Gast befreien, Lord Duncan.“

Seine Lordschaft gesellte sich zu ihr. „Alles andere als unerwünscht, Miss Kethley.“

Iantha lächelte. „Sie sind sehr galant, Mylord, aber schließlich war ich doch wirklich ein ungebetener Gast. Würden Sie mir ein Pferd zur Verfügung stellen? Ich fürchte, ich kann Sie nicht auf die gleiche Weise verlassen, wie ich gekommen bin.“

„Ich befürchte, Sie können das Schloss überhaupt nicht verlassen, Miss Kethley, zumindest für eine ganze Weile nicht. Nein, warten Sie.“ Er hob die Hand, als sie protestieren wollte. „Nur weil der Sturm sich gelegte hat, heißt das noch lange nicht, dass die Straßen frei sind.“

„Aber ich muss nach Hause. Meine armen Eltern –“

„Ich bin sicher, dass sie außerordentlich besorgt sein werden. Aber das ändert auch nichts an den Schneeverwehungen. Nach einem Sturm dieses Ausmaßes werden sie völlig vereist sein.“

Iantha fühlte, wie ihr das Herz sank. Sie musste fort. Er konnte sie nicht zum Bleiben zwingen. Er würde es auch nicht tun. Sie richtete sich auf und warf Seiner Lordschaft einen eisigen Blick zu. „Nichtsdestotrotz muss ich es versuchen. Kann ich nun ein Pferd haben oder nicht?“

Seine Lordschaft ließ ein verärgertes Schnauben hören. „Etwas sagt mir, dass Sie sich, sollte ich Ihnen ein Pferd verweigern, zu Fuß aufmachen werden. Nun gut, Miss Kethley. Holen Sie Ihren Mantel und treffen Sie mich dann in der Eingangshalle.“

Iantha eilte die Treppen hinauf, zog eilig ihre eigenen Kleider an und warf sich ihren Pelzmantel über. Wenige Minuten später traf sie Lord Duncan in der Halle. Er trug seinen schweren Wintermantel und einen Hut. Wortlos führte er sie in den alten Teil des Schlosses.

Doch statt zu den Ställen hinunterzugehen, wandte er sich um und stieg die ausgetretenen Stufen einer Wendeltreppe empor. Iantha blieb stehen und blickte unwillig auf die alte Treppe. „Wo wollen Sie hin, Mylord?“

Er erwiderte ihren verärgerten Blick genauso finster. „Zu den Zinnen, Miss Kethley.“

Iantha spürte, wie Panik in ihr aufstieg. „Nein! Ich steige nicht mit Ihnen dort hinauf. Ich gehe nach Hause. Ob Sie mitgehen oder nicht.“

Doch bevor sie noch durch das alte Portal des Schlosses flüchten konnte, stürzte er die Stufen hinunter und packte sie am Arm.

„Miss Kethley, Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe. Wenn Sie unbedingt gehen wollen, dann werfen Sie wenigstens zuvor einen Blick auf das, was Sie draußen erwartet. Wenn Sie dann immer noch aufbrechen wollen, bin ich bereit, Sie zu begleiten.“

Er drehte sich um und zog die widerstrebende Iantha die ersten Stufen einfach mit sich. Nach einigen Schritten riss sie sich los und starrte ihn wütend an. „Gut denn. Wenn Sie darauf bestehen, werde ich hinaufsteigen.“

Seine Lordschaft antwortete nicht, doch er trat zur Seite und forderte sie auf voranzugehen. In dem alten Schloss war es bitterkalt. Iantha hätte gerne ihre behandschuhten Hände in die Taschen ihres Mantels gesteckt, doch sie musste beim Treppensteigen ihre Röcke raffen. Ihre Nase begann zu laufen, und ihr blieb nichts anderes übrig, als so unauffällig wie möglich vor sich hin zu schniefen. Endlich erreichten sie eine schwere Holztür. Lord Duncan beugte sich vor und drückte die Tür auf. Iantha trat ins Freie. Vor ihr breitete sich eine blendende Landschaft aus. Als sich ihre Augen nach der Dunkelheit in dem alten Gemäuer an das Licht gewöhnt hatten, erblickte sie ein funkelndes Märchenland. Gegen die dunklen Wolken im Hintergrund zeichnete sich eine schneebedeckte Landschaft ab, wo nur noch die höchsten, windgepeitschten Hügel aus der weißen Pracht hervorschauten. An vielen, von deren Gipfeln sonst Wasserfälle herabstürzten, hingen nun wie Diamanten funkelnde Kaskaden aus Eis. Überall, wo die Sonne schräg auf die Hügel schien, sprang ein Regenbogen auf.

Autor

Patricia Frances Rowell
Patti Rowell schreibt als Patricia Frances Rowell, ihrem echten und vollständigem Namen unter dem sie aber niemand jemals „gerufen“ hat. Sie und ihr Ehemann, Johnny, haben sieben Kinder, mehrere Stiefkinder und acht Enkelkinder. Sie leben auf einem ca. 32 Hektar großen Waldgrundstück im Norden Louisianas in einem selbstgebauten Haus. Patti...
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