Die Suite im Pera Palas

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Wenn Nicola das gewusst hätte! Ausgerechnet der Verleger Richard Russell, der sie gefeuert hat, ist ebenso wie sie Teilnehmer der Reisegruppe in die Türkei. Doch bereits in Istanbul spürt Nicola, dass sie sich in ihm getäuscht hat. Und als Richard sie für zwei Tage in ein Luxushotel einlädt, sagt sie einfach Ja …


  • Erscheinungstag 30.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757700
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nicola Temple liebte es, die Straße hinunterzugehen, in der Charles Dickens von 1851 bis 1860 gelebt und Bleak House geschrieben hatte. Oder über einen Platz in der Nähe, wo Virginia Woolf in einem der Häuser, die 1941 durch einen Bombenangriff zerstört worden waren, einige ihrer Romane verfasst hatte. Das waren die schönen Seiten an ihrem Leben in London, wie Nicola fand.

Ihre Eltern lebten auf dem Land, und Nicola hätte pendeln können, hatte es jedoch vorgezogen, unabhängig zu sein und das Stadtleben zu genießen, nachdem sie dort eine Stelle als Verlagslektorin bekommen hatte. Sie empfand ihren Beruf als Berufung und tat ihre Arbeit mit großem Engagement.

Heute war Nicola mit einer ihrer Autorinnen zum Lunch verabredet, in einem Bistro am Covent Garden. Ihr Spesenkonto erlaubte es ihr nicht, ihre Autoren in die eleganten Restaurants auszuführen, in die die Bestsellerautoren von Barking & Dollis eingeladen wurden, aber Nicola war überzeugt, dass der eine oder andere der Schriftsteller, die sie betreute, das Zeug dazu hatte, ein berühmter Bestsellerautor zu werden.

Die meisten ihrer Kollegen wohnten am Stadtrand und kamen im Allgemeinen nicht vor zehn ins Büro. Nicola dagegen erschien bereits um neun, um noch eine Stunde in Ruhe arbeiten zu können, ehe das Telefon zu läuten begann.

Am Empfang im Foyer saßen zwei junge Frauen. Die eine bediente die Telefonzentrale, in der beinahe ununterbrochen Anrufe eingingen, während die andere für die Post und die jeweiligen Besucher zuständig war.

An diesem Morgen wartete bereits ein junger, künstlerisch wirkender Mann auf einem der Ledersofas, der eine große Mappe bei sich trug, in der sich vermutlich Entwürfe für Buchumschläge befanden.

Nicola lächelte allen dreien zu. „Guten Morgen, Polly. Morgen, Fiona.“

Dann lief sie die Treppe zur zweiten Etage hinauf. Hier war die gesamte Bürofläche in gläserne Kabinen aufgeteilt, wobei die Größe von der Position des jeweiligen Lektors abhing. Im Augenblick war es hier menschenleer, und Nicola hatte den gesamten Raum für sich, bis Gordon hereinkam, der Kollege, der für die Krimiabteilung verantwortlich war.

„Hallo, Nicola. Hast du Lust auf einen Kaffee?“

Die Kaffeemaschine war grundsätzlich immer Gordons erster Anlaufpunkt.

„Ja, das wäre schön.“

Wenig später kehrte er mit zwei Bechern zurück.

„Ich habe gehört, der neue Chef ist da“, meinte Gordon. „Jetzt fängt bestimmt jeden Moment die große Säuberungsaktion an.“

Er sprach von Richard Russell, dessen Bild in allen amerikanischen und britischen Fachzeitschriften erschienen war, als seine Ernennung zum neuen Präsidenten von Barking & Dollis bekannt wurde. Obwohl Russell dem Verlag schon ein oder zwei flüchtige Besuche abgestattet hatte, war Nicola ihm noch nicht begegnet, da sie an dem betreffenden Tag auswärts zu tun gehabt hatte. Es gab zahlreiche Spekulationen darüber, wie der neue Chef die Firma aus ihrer schweren finanziellen Misere zu befreien gedachte.

„Was glaubst du, was er tun wird?“, fragte Nicola.

„Etwas ziemlich Drastisches, das ist schon mal sicher. Aber von uns muss sich keiner Sorgen machen. Wir sind unser Geld wert. Allerdings …“ Gordon unterbrach sich. „Das hört sich an wie mein Telefon. Bis später …“ Er eilte davon.

Nicola sah ihm nach. Die eine Wand seines Büros stand voller Bücher, darunter einige der bekanntesten Titel auf dem Sektor der Kriminalromane. Gordon hatte von dem neuen Präsidenten zweifellos nichts zu befürchten. Leider war unter den von Nicola betreuten Büchern bisher keines von ähnlicher Qualität gewesen. Aber zumindest eine ihrer Autorinnen hielt sie für fähig, eines Tages die Bestsellerlisten zu erreichen. Auch wenn in den vergangenen Monaten viele Angestellte aus dem Verlagswesen ihren Arbeitsplatz verloren hatten, war Nicola daher nicht allzu beunruhigt.

Am Nachmittag, als sie von ihrem Geschäftsessen zurückkehrte, fand Nicola auf ihrem Schreibtisch eine Nachricht vor.

„Bitte sofort bei Mr. Russells Sekretärin melden.“

Nicola nahm den Hörer ab und tippte die Durchwahl der Chefetage.

„Hier ist Nicola Temple. Sie wollten mich sprechen?“

„Mr. Russell möchte Sie sehen. Im Augenblick ist er allerdings beschäftigt. Ich rufe zurück, sobald er frei ist.“

Nicola warf einen Blick in den Spiegel, um ihre Erscheinung zu überprüfen, und versuchte dann weiterzuarbeiten. Es fiel ihr jedoch schwer, sich darauf zu konzentrieren. Was mochte Russell von ihr wollen? Sie lediglich kennenlernen?

Nach nur zehn Minuten rief seine Sekretärin zurück.

„Mr. Russell möchte Sie jetzt gern sprechen.“

Die Chefsuite befand sich im obersten Stockwerk. Das Vorzimmer lag dem Lift genau gegenüber, links davon der Sitzungssaal, rechts ein Konferenzraum.

Die Sekretärin bedeutete Nicola mit einem Kopfnicken, dass sie durchgehen könne. Sie klopfte an und wurde sogleich hineingerufen. Mit einem Lächeln trat sie ein.

Der neue Präsident war noch mit einem Computer-Notebook beschäftigt, hörte jedoch einen Augenblick später auf zu arbeiten und erhob sich. Er war Respekt einflößend hochgewachsen und unterzog Nicola einer eindringlichen Betrachtung. Und es war keine freundliche Musterung, denn er lächelte nicht.

„Setzen Sie sich, Miss Temple“, sagte er, ohne ihr die Hand zu geben. „Ich wollte Sie eigentlich schon früher sprechen, aber Sie waren nicht im Hause. Wo sind Sie gewesen?“

„Zum Mittagessen mit einer Autorin.“

Er hob die schwarzen Brauen.

„Ein ausgedehntes Essen“, erwiderte er trocken. „Sie sind fast bis vier Uhr weggeblieben.“

„Wir hatten eine Menge zu besprechen, und deshalb habe ich sie noch bis zum Bahnhof begleitet.“

„Und was war der Zweck dieser langen Besprechung? Was haben Sie damit erreicht?“

Es war nicht leicht, seine Fragen so knapp und präzise zu beantworten, wie er dies zu erwarten schien.

„Wir haben über vieles gesprochen … Ich denke, Margaret fühlt sich jetzt ermutigt und angeregt. Sie bekommt von ihrem Ehemann wenig Unterstützung, und …“

„Ausgedehnte Geschäftsessen sind eine Zeitverschwendung, die ich zu beschneiden gedenke“, fiel er Nicola ins Wort. „Dieser Verlag ist in Schwierigkeiten, Miss Temple, und aus diesem Grunde gibt es keine andere Möglichkeit, als einschneidende Maßnahmen zu ergreifen.“

In seiner harten Miene und dem stahlblauen Blick, den er auf sie richtete, las Nicola düstere Anzeichen, sodass ihr der Mund trocken wurde.

„Hier …“ er klopfte auf seinen Kleincomputer, „habe ich alle Barking & Dollis-Akten, seit – meiner Ansicht nach viel zu spät – diese Firma angefangen hat, moderne Technologien einzusetzen. Ich habe die letzten beiden Wochen damit verbracht, die Berichte über jeden einzelnen Mitarbeiter sowie die Gewinnspannen jedes Buchtitels zu studieren, den B & D in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat. Und nun ist es meine unangenehme Aufgabe zu tun, was schon lange hätte getan werden müssen.“ Er hielt inne, den unerbittlichen Blick weiterhin auf Nicolas Gesicht gerichtet.

Sie wusste, gleich würde er das unwiderrufliche Urteil über sie verhängen, gegen das kein Einspruch erhoben werden konnte.

„Die Bücher, die Sie seit Beginn Ihrer Laufbahn hier angenommen haben, sind nicht gut genug verkauft worden, als dass sie ihren Platz auf unserer Vertragsliste verdient hätten. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Ihre Dienste nicht mehr länger benötigt werden.“

Obwohl Nicola geahnt hatte, was kommen würde, konnte sie noch immer nicht glauben, dass Russell sie tatsächlich entlassen hatte.

„Sie meinen … ich bin gefeuert … einfach so?“, brachte sie nach kurzem Schweigen mühsam hervor.

Er nickte.

„Ich möchte, dass Sie ihren Arbeitsplatz sofort räumen, heute Nachmittag noch. Es bringt nichts, entlassene Mitarbeiter ihre Kündigungsfrist hier absitzen zu lassen. Es ist besser, wenn sie sofort mit der Arbeitssuche beginnen.“

„Das … glaube ich einfach nicht.“ Sie stockte. „Ich kann nicht glauben, dass ich nach dreieinhalb Jahren fristlos entlassen werde. Ich bin kein Faulpelz, Mr. Russell. Ich habe einen großen Teil meiner Freizeit für den Verlag geopfert. Und abgesehen davon, was wird aus meinen Autoren? Wollen Sie die auch abschieben?“

„Hätte ich diesen Verlag geleitet, wären die meisten von ihnen gar nicht erst angenommen worden“, gab er kurz zurück. „Wir werden unsere vertraglichen Verpflichtungen erfüllen, aber diejenigen, bei denen es lediglich die Option auf das nächste Buch gibt, werden sich wohl nach etwas anderem umsehen müssen. Es ist hart, das weiß ich. Aber so ist das Geschäftsleben nun mal … und das Verlagswesen ist ein Geschäft. Nicht wie ehemals eine Beschäftigung für Gentlemen oder junge Damen mit literarischen Neigungen.“

„Das ist unfair“, protestierte Nicola. „Das mag auf einige der Frauen im Verlagswesen zutreffen, aber sicher nicht auf mich. Ich werde nicht von reichen Eltern unterstützt und bin auch nicht darauf aus, meine Zeit irgendwie auszufüllen, bis ich heirate. Meine Arbeit ist das Wichtigste für mich.“

„Es ist zwecklos, Miss Temple. Ich habe meine Entscheidung nach äußerst sorgfältiger Überlegung getroffen. Personalkürzungen sind unumgänglich. Und Sie werden mir doch zustimmen, dass Sie als junge alleinstehende Frau eher in der Lage sind, eine Rationalisierungsmaßnahme zu überleben als ein Mann, der Frau und Kinder zu versorgen hat, nicht wahr?“

„In den meisten Fällen, ja, aber es könnte immerhin sein, dass ich ein Elternteil versorge, der auf mein Einkommen angewiesen ist. Das trifft für viele alleinstehende Frauen zu.“

„Ich habe Ihre Daten vor mir.“ Russell tippte ein paar Tasten an und begann zu lesen. „Sie leben von montags bis freitags in London und verbringen die meisten Wochenenden bei Ihren Eltern in Kent. Ihr Vater ist Filialleiter einer der größten Versicherungsgesellschaften in unserem Land. Ihre Mutter arbeitet in mehreren Wohltätigkeitsvereinen mit. Sie haben also niemanden, der von Ihnen abhängig wäre.“

„Außer mir selbst“, entgegnete sie. „Meine Eltern können es sich nicht leisten, mich zu unterhalten. Und bei all den so genannten ‚Rationalisierungen‘ auf dem Verlagssektor in letzter Zeit sind mehr qualifizierte Leute arbeitslos, als Stellen zur Verfügung stehen. Ich habe keine Chance auf einen neuen Job.“

„Vielleicht nicht im Verlagswesen“, meinte Russell ruhig. „Aber erstens wird die gegenwärtige Rezession nicht ewig dauern, und zweitens können Sie Ihre Fähigkeiten auch in anderen Bereichen anwenden. Möglicherweise kann Ihr Vater seine Beziehungen für Sie spielen lassen.“

„Ich möchte meinen Berufszweig aber nicht wechseln, und ich denke nicht, dass ich es verdient habe, hinausgeworfen zu werden. Zwar kann ich nicht leugnen, dass keines der Bücher unter meiner Regie hervorragend gelaufen ist, aber es waren auch keine völligen Nieten darunter. Es braucht eben Zeit, einen Autor richtig aufzubauen.“

„Ich habe in die Bücher hineingeschaut, die Sie für uns erworben haben, Miss Temple, und sie scheinen mir hauptsächlich auf eine Leserschaft von Hausfrauen mittleren Alters aus der Mittelschicht abgezielt zu sein.“

„Von denen gibt es eine ganze Menge, Mr. Russell,“, gab Nicola zurück. „Sie …“

„Ich fürchte, ich habe keine Zeit, die Lesegewohnheiten unseres Publikums zu diskutieren“, unterbrach er sie. „Ich bin zu sehr damit beschäftigt, einen Weg zu finden, wie ich diese Firma vor dem Konkurs bewahren kann.“ Er stand auf. „Nicht ich bin für Ihre missliche Lage verantwortlich. Ihr verständlicher Zorn sollte sich auf die frühere Geschäftsleitung richten, die es versäumt hat, sich mit den Veränderungen im Verlagswesen auseinanderzusetzen und sich entsprechend darauf vorzubereiten. Ich bedaure, dass wir Sie nicht länger beschäftigen können, aber ich glaube, dass Sie durchaus auch in einer anderen Branche Fuß fassen dürften. Sie besitzen viele ausgezeichnete Fähigkeiten, die Ihnen dabei behilflich sein werden. Ihr Zeugnis bekommen Sie morgen.“ Russell öffnete die Tür und hielt Nicola die Hand entgegen. „Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss Temple.“

Automatisch ergriff sie seine Hand.

„Auf Wiedersehen.“ Nicola spürte seine Ungeduld.

„Auf Wiedersehen.“ Zu ihrem Erstaunen klang ihre Stimme wie immer. Innerlich jedoch begann Nicola zu zerbrechen.

„Am besten, Sie setzen sich erst einmal einen Augenblick“, sagte Russells Sekretärin und brachte ihr ein Glas Wasser. „Trinken Sie. Falls es Ihnen ein Trost ist, Sie sind nicht die einzige“, meinte sie mitfühlend. „Heute Nachmittag werden eine Menge Schreibtische geräumt.“

Nicola fühlte sich wie betäubt, so als hätte sie gerade einen Schlag auf den Kopf bekommen.

„Wer sind die andern?“

„Drei aus dem Lektorat, zwei von der Werbung, einer aus der Rechtsabteilung und sechs aus den anderen Bereichen. Zwölf insgesamt. Das ist die größte Umstrukturierungsaktion, die ich je erlebt habe, und ich bin schon seit sechzehn Jahren hier. Vielleicht bin ich bei der nächsten Welle dabei. Wer weiß, vielleicht importiert er eine amerikanische Sekretärin, um mich zu ersetzen …“

Ein kleiner Apparat, der der Chefsekretärin an der Bluse steckte, begann zu piepen.

„Ich muss reingehen. Er mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.“ Sie klopfte Nicola freundlich auf die Schulter und folgte dann dem Ruf ihres Vorgesetzten.

2. KAPITEL

Als Nicola kurz nach sechs an einem Samstagmorgen Ende Januar in Heathrow ankam, war Flugsteig eins voller Menschen mit aufs Gepäck geschnallten Skiern.

Sie stellte sich in die Check-in-Schlange und hielt dabei Ausschau nach jemand mit der gleichen dunkelgrünen Segeltuchtasche und dem Aufdruck Amazing Adventures in Neonrosa an der Seite. Nachdem ihr Gepäck gewogen und mit Etiketten versehen worden war, schlang sie sich den kleinen Rucksack, in dem sich ihre Kamera und alle Wertsachen befanden, an einem Riemen über die Schulter, passierte die Sicherheits- sowie die Passkontrolle und ging in die Abflughalle.

Ihr Pass musste demnächst erneuert werden, aber zwischen dem siebzehnjährigen Mädchen auf dem Foto und der Art, wie sie heute aussah – ohne Make-up, die schulterlangen, hellen Haare im Nacken zusammengebunden –, gab es keinen großen Unterschied. Mit siebzehn hatte Nicola reif ausgesehen für ihr Alter. Sie war kein sonderlich hübsches Mädchen gewesen, wenn auch ein aufmerksamer Betrachter in ihrem Gesicht etwas hätte entdecken können, das bloße Schönheit überdauerte. Heute, mit ihrer sportlichen Kleidung und dem klaren Teint, wirkte sie jünger als sechsundzwanzig. Der Schock von vor drei Jahren hatte keinerlei sichtbare Narben hinterlassen.

Flug BA 676 nach Istanbul wurde kurz vor acht aufgerufen. Die meisten Passagiere, die sich vor der Abflugrampe versammelten, waren türkische Geschäftsleute mit Aktenkoffern und dunklen Mänteln. Einige jedoch waren ebenso gekleidet wie Nicola. Sie trugen Wanderschuhe, Jeans, Sweatshirts und gefütterte Jacken.

Nicola sah zu, wie die letzten Fluggäste durch die Ticketkontrolle geschleust wurden, da weiteten sich ihre dunkelgrauen Augen vor Entsetzen.

Der hochgewachsene Mann, der auf die Gruppe zuging, war ihr bekannt. Zwar hatte sie ihn nur ein einziges Mal gesehen, aber seine Gestalt hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Dieser Mann hatte sie in das schlimmste Tief ihres Lebens gestürzt. Als Nicola ihm damals begegnet war, an jenem unvergesslichen Tag im Chefzimmer von Barking & Dollis, war er wie ein einflussreicher, internationaler Geschäftsmann gekleidet gewesen. Heute Morgen jedoch trug er einen grünen Kaschmirpullover sowie eine dieser weiten Hosen mit den zahllosen Taschen, wie sie ihr Bruder auf seinen Expeditionen zu tragen pflegte. Nach seiner Kleidung zu schließen, musste er also ebenfalls Teilnehmer der Amazing Adventures-Gruppe sein.

Dass ausgerechnet Richard Russell während der nächsten sechzehn Tage einer ihrer Reisegefährten sein sollte, erfüllte Nicola mit Bestürzung.

Er hat kein Recht, hier zu sein, dachte sie verärgert. Einer wie er sollte in einen exklusiven Wintersportort fahren, wo die Wirtschaftsbosse zu dieser Jahreszeit verkehren, und sich nicht in einen Urlaub für Leute mit schmaler Geldbörse hineindrängen.

In diesem Augenblick jedoch wurden die Türen geöffnet, und die Passagiere begannen, an Bord zu gehen. Das Flugzeug war in zwei Hälften aufgeteilt. Auf den vorderen teureren Sitze nahmen einige der Geschäftsleute und eine elegante Dame Platz, während Nicola und ihre bislang unbekannten Reisegefährten im hinteren Teil saßen.

Richard Russell verstaute gerade sein Handgepäck im oberen Schließfach, als sie sich mit abgewendetem Gesicht hastig an ihm vorbeidrückte.

Wenigstens ist es mir erspart geblieben, auch noch neben dem Kerl zu sitzen, dachte Nicola. Sie befestigte ihren Sicherheitsgurt. In der noch ungeheizten Maschine war es recht kühl. Dass sie fröstelte, war jedoch eher ihrer inneren Anspannung zuzuschreiben. Die unerwartete Begegnung mit Richard Russell brachte Nicola die Erinnerung an all das Elend der Monate nach ihrer Entlassung zurück. Nicht nur ihre Karriere war damals zerstört worden, sondern ebenfalls ihr Privatleben. Der Verlust ihres Arbeitsplatzes hatte sie auch die Beziehung mit dem Mann gekostet, den sie geliebt hatte. Ian, der ebenso wie sie im Verlagswesen tätig war, hatte geglaubt, dass Nicolas Entlassung sich möglicherweise nachteilig auf seine Zukunftsaussichten auswirken würde. Zwar hatte er sie nicht gerade wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, mochte sich jedoch nicht mehr in ihrer Begleitung auf gesellschaftlichen Anlässen der Branche blicken lassen. Und allmählich war die Zeit, die sie miteinander verbrachten, immer weniger geworden. Irgendwann war Nicola dann zu Ohren gekommen, dass Ian sich mit einer anderen Frau traf. Als sie ihn daraufhin zur Rede gestellt hatte, hatte er zugegeben, dass dies der Wahrheit entsprach, und das war das Ende ihrer Beziehung gewesen. Mittlerweile war Nicola darüber hinweggekommen, aber es hatte eineinhalb Jahre gedauert, bis sie die Trennung von Ian überwunden hatte.

Und obwohl der Job, den sie jetzt hatte, gut bezahlt war und ihren Neigungen einigermaßen entgegenkam, hatte sie darin kaum Aufstiegschancen, und außerdem empfand sie die Arbeit als längst nicht so befriedigend wie diejenige, die sie verloren hatte. Sie hatte überlebt und war noch immer finanziell unabhängig, fühlte sich jedoch nicht mehr glücklich und ausgefüllt wie zuvor.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte Nicola, dass sie eine fantastische Landschaft von zerklüfteten Bergen und riesigen gefrorenen Seen überflogen. Tatsächlich waren die Seen nichts anderes als die glatte Oberfläche der Wolken, und die märchenhaften Gipfel waren die Spitzen der Alpen. Eine Weile ließ sie der Gedanke an ihr Ziel, das ehemalige Konstantinopel, die Stadt von Suleiman dem Prächtigen und das Herz des legendären ottomanischen Reiches, Richard Russell vergessen.

Als Nicola sich jedoch einige der anderen Herrscher Konstantinopels ins Gedächtnis rief und deren Grausamkeiten gegenüber ihren Untergebenen, kehrten auch ihre Gedanken wieder zu dem Mann zurück, der ihre Karriere und die von elf weiteren Kollegen ruiniert hatte, mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der Sultan Mehmet der Eroberer befohlen hatte, sieben der Konkubinen seines verstorbenen Vaters zu ertränken.

Was Richard Russell getan hatte und in der Presse als einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des britischen Verlagswesens genannt worden war, mochte nicht ganz so brutal sein wie der Befehl zur Hinrichtung unerwünschter Sklavenmädchen. Aber Nicola zweifelte nicht daran, dass Russell, hätte er in jenen Zeiten gelebt, denjenigen gegenüber in seiner Gewalt zu ähnlicher Grausamkeit fähig gewesen wäre.

Am Flughafen in Istanbul gehörte Nicola zu den Letzten, die durch die Passkontrolle gingen. Glücklicherweise war von Richard Russell weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt, und er ist doch nicht in unserer Gruppe, dachte sie. Na ja, zwei Wochen in billigen Pensionen sind bestimmt nicht das, was er sich als Freizeitbeschäftigung aussuchen würde, nach allem, was man so von ihm hört.

Russells Vater war Senator in Amerika, sein Großvater ein Multimillionär, zu dessen Konzern einer der größten Verlage der Vereinigten Staaten gehörte. Mütterlicherseits stammte Russell von britischen Aristokraten ab, und seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er, wie alle seine englischen Vorfahren, in Eton erzogen wurde.

Weshalb jemand wie er allerdings Touristenklasse flog, war Nicola nach wie vor ein Rätsel. Verstohlen betrachtete sie ihre zukünftigen Reisegefährten. Im Grunde war sie für alles aufgeschlossen, solange Russell nicht mit von der Partie war.

Nachdem sie den Zoll hinter sich hatten und in die Flughafenhalle kamen, wurden sie dort von einer lächelnden jungen Frau mit einem schwarzen Lockenschopf begrüßt. Diese schlug vor, am besten gleich in der Bank am anderen Ende der Halle Geld zu wechseln, ehe die Gruppe den Flughafen verließ.

„Lassen Sie Ihr Gepäck ruhig hier. Ich werde darauf aufpassen.“

Auf dem Weg zur Bank fiel Nicola auf, wie wenig Frauen im Vergleich zu Männern in dem Gebäude zu sehen waren. Sie war es nicht gewohnt, von so vielen Männern offen angestarrt zu werden, und fühlte sich daher etwas unbehaglich.

Aber sie vergaß das Angestarrtwerden augenblicklich, als sie sah, wer am Kassenschalter der Flughafenbank stand. Richard Russell. Und zu seinen Füßen lag eine Amazing Adventures-Tasche. Er war also doch einer von ihnen.

Nachdem die Gruppe Geld gewechselt hatte, die Reisetaschen alle im Bus verstaut waren und jeder seinen Platz eingenommen hatte, griff die junge Türkin zum Mikrofon.

„Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Nuray, ich bin Ihre Reiseführerin. Ihr Hotel liegt in der Altstadt in der Nähe des Großen Basars und der berühmten Blauen Moschee.“

Nicola hörte interessiert zu, war sich jedoch die ganze Zeit über der Anwesenheit ihres Feindes bewusst. Russell saß zwei Reihen vor ihr auf der anderen Seite des Ganges, und alles, was sie von ihm sehen konnte, waren seine langen Beine, ein Teil seiner breiten Schulter sowie die markante Linie seines Profils. Seine Haarfarbe war beinahe ebenso dunkel wie die Nurays, und nach seiner gebräunten Haut zu urteilen, war es nicht allzu lange her, dass er in der Sonne gelegen hatte.

Bisher scheint er mich noch nicht bemerkt zu haben. Und wenn, dann wird er sich wohl kaum an mich erinnern. Wieso sollte er? Ich war keine zehn Minuten bei ihm drin, und schließlich bin ich nicht die Einzige gewesen, die er an dem Tag rausgeworfen hat.

„Die Vororte großer Städte sind nie sonderlich anziehend, nicht wahr?“, sagte da Nicolas Sitznachbarin. „Hallo, ich heiße Hilary Goodge.“

Es war schwer zu sagen, wie alt sie sein mochte, denn trotz der weißen Haare hatte ihr Gesicht kaum Falten, außer um die freundlich blickenden haselnussbraunen Augen. Zudem wirkte sie sehr fit, und mit einem raschen Blick stellte Nicola fest, dass sie keinen Ehering trug.

Als Nicola sich ebenfalls vorgestellt hatte, erkundigte sich Miss Goodge: „Ist dies Ihre erste Reise in die Türkei?“

„Ja.“

„Meine auch, allerdings nicht die erste Amazing Adventures-Tour. Letztes Jahr war ich in Nepal mit dabei.“

„Oh, das muss ja spannend gewesen sein.“

Miss Goodge nickte. „Ja, sehr. Sind Sie auch schon einmal mit den AA unterwegs gewesen?“

„Nein, aber mein Bruder. Er hat die Peru-Tour mitgemacht.“

Gegen vier Uhr Ortszeit erreichten sie das Hotel. Als sie ausstiegen, erschienen zwei barfüßige Kinder und bettelten schweigend, nur mit Gesten, um Geld.

Nicola drehte es das Herz im Leibe herum. Im Moment hatte sie lediglich große Geldscheine in der Brieftasche und war deshalb genauso wie die anderen Reisenden gezwungen, die Bitten der Kinder zu ignorieren. Aber der Anblick der kleinen schmutzigen Füße, die vor Kälte dunkelrot angelaufen waren, peinigte sie sehr.

„Wahrscheinlich machen die ein gutes Geschäft damit, sich vor einem Hotel zu postieren, in dem westliche Touristen absteigen“, bemerkte eine ironische Stimme hinter ihr, eine Stimme, die Nicola überall wieder erkannt hätte, aufgrund ihres besonderen Timbres und ihres Akzents, einer Mischung aus Harvard und Oxford.

Mit blitzenden grauen Augen wandte Nicola sich um.

„Das ist die herzloseste Bemerkung, die ich je gehört habe. Wie würde es Ihnen denn gefallen, an einem kalten Tag wie heute barfuß herumzulaufen?“

Ihr zorniger Ton erregte die Aufmerksamkeit einiger anderer Reiseteilnehmer.

„Überhaupt nicht“, antwortete Richard Russell ruhig. Er gab den Kindern das Geld, das er ihnen hatte geben wollen, als Nicola ihn angefahren hatte. „Aber Taten sprechen mehr als Worte“, fügte er trocken hinzu und sah sie mit erhobenen Brauen an.

Dann ging er, um seine Tasche aus dem Stauraum des Busses zu holen.

Auch wenn Nicola nicht damit gerechnet hatte, dass er sie wieder erkennen würde, wurmte es sie eigenartigerweise doch, dass sie ohne ein Zeichen des Erkennens von einem Menschen gemustert wurde, der einen derartig katastrophalen Einschnitt in ihrem Leben verursacht hatte.

Angeführt von ihrer türkischen Reiseleiterin, trugen die Reisenden ihr Gepäck ins Hotel. Mit seinem Marmorfußboden, den Kronleuchtern und dem in Rot und Weiß gehaltenen Dekor war es luxuriöser, als Nicola erwartet hatte.

Wenig später jedoch, in dem Doppelzimmer auf der sechsten Etage, das sie mit Miss Goodge teilte, blickte sie aus dem Fenster und sah, dass sich hinter dem Hotel ein slumartiges Viertel erstreckte. Rasch ließ Nicola die Netzgardine wieder herab, wobei ihr erneut Richard Russells pointierte Erwiderung von vorhin einfiel.

„Nuray hat gesagt, das Leitungswasser in Istanbul ist äußerst chlorhaltig. Ich werde mir also ein bisschen die Beine vertreten und Mineralwasser besorgen“, sagte Miss Goodge. „Falls Sie weggehen, geben Sie den Schlüssel bitte an der Rezeption ab, ja?“

Nicola nickte.

„Ich dusche erst einmal. Es könnte sein, dass wir dazu später wenig Möglichkeit haben werden. Im Prospekt hieß es, dass die Unterkünfte unterwegs teilweise recht primitiv sind.“

„Das macht mir nichts aus. Aber einigen der anderen vielleicht. Es ist zwar noch etwas früh, um die Leute zu beurteilen, aber es würde mich nicht wundem, wenn der große Mann mit den blauen Augen der einzige Teilnehmer ist, der mit allem mühelos fertig wird. Er sieht ausgesprochen zäh aus.“

„Wie kommen Sie darauf?“, wollte Nicola wissen.

„Er erinnert mich an einen Expeditionsleiter, der einmal an die Schule kam, in der ich unterrichtete. Dieser Mann hier besitzt dieselbe Ausstrahlung. Sie wissen, wie früher der Stahl für Schwertklingen immer wieder geglüht und abgekühlt wurde, um seine Härte und Biegsamkeit zu verbessern und ihn zu veredeln? Das Leben unterwirft manche Menschen einem ganz ähnlichen Prozess … Und das macht sie widerstandsfähiger als die meisten von uns.“

Autor

Anne Weale
Jay Blakeney alias Anne Weale wurde am 20. Juni 1929 geboren. Ihr Urgroßvater war als Verfasser theologischer Schriften bekannt. Vielleicht hat sie das Autorengen von ihm geerbt? Lange bevor sie lesen konnte, erzählte sie sich selbst Geschichten. Als sie noch zur Schule ging, verkaufte sie ihre ersten Kurzgeschichten an ein...
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