Die Tür zu seinem Herzen

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"Was willst du hier?" Jericho klingt furchtbar feindlich, aber seine Ranch ist der einzige Ort, wo Camille untertauchen kann! Doch bald droht dem schönen City Girl auch hier Gefahr – diesmal für ihr Herz. Denn aus Feindschaft wird Sicherheit, aus Sicherheit wird Verlangen …


  • Erscheinungstag 26.12.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536233
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Geh irgendwohin, wo niemand dich sucht. Diese warnenden Worte gingen Camille Parker einfach nicht aus dem Kopf, während sie über die dunkle Landstraße raste. In einer Kurve verlor sie fast die Kontrolle über den Wagen. Leise fluchend nahm sie den Fuß vom Gaspedal und lenkte das rechte Vorderrad wieder auf den Asphalt zurück. Wenn sie sich selbst umbrachte, würde man sie nicht ermorden müssen.

Camille fuhr noch langsamer und hielt nach einem Briefkasten Ausschau. Sie müsste bald da sein. Endlich entdeckte sie die von zwei hohen Bäumen flankierte Einfahrt und hielt neben dem Briefkasten an. Hoffentlich stand ein Name darauf und nicht nur eine Hausnummer. Doch dann fiel ihr Blick auf die roten Worte „Jericho und Jeanette Jones“, und sie atmete erleichtert auf. Trotz ihrer Angst wurde ihr warm ums Herz, als sie den Namen ihrer einstigen Freundin las. Sie vermisste Jeanette so sehr und würde es auch immer tun.

Camille war sich sicher, dass ihr niemand von New York aus gefolgt war, trotzdem schaute sie in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass sie allein war. Dann bog sie auf die lange Einfahrt ein und gab auf dem Splitt vorsichtig Gas. Jetzt, wo sie so kurz vor dem Ziel war, wollte sie nichts mehr riskieren.

Was, wenn Jericho sie nicht ins Haus ließ? Er hasste sie schließlich und sie hasste ihn. Der Ausdruck eingeschworene Feinde war ihr fremd, aber er beschrieb ihre Beziehung besser als jeder andere.

Nicht genug damit, dass er Jeanette dazu gebracht hatte, die Verlobung mit ihrem Bruder zu lösen und stattdessen ihn zu heiraten. Nein, er hatte Jeanette auch noch mitten in diese Einöde verfrachtet und sie hier sterben lassen. Camilles Augen füllten sich automatisch mit Tränen, als sie daran dachte, wie sie von Jeanettes Tod erfahren hatte – zufällig, durch den Nachruf im Rundbrief der Ehemaligen ihrer Highschool. Noch ein Grund mehr, Jericho abgrundtief zu hassen.

Das Haus tauchte nun hinter einer Kurve auf. Sie hielt davor an, öffnete die Fahrertür und seufzte schwer, als ihr einmal mehr Zweifel kamen.

Was, wenn er sie nicht aufnehmen würde?

Sie wehrte sich gegen die Angst, die sie hierhergeführt hatte. Ohne es zu wollen, hatte sie ihren Chef Donald Wilcox dabei belauscht, wie er jemanden angewiesen hatte, sie zu beseitigen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Panisch hatte sie versucht, Rafael Delgado, ihren Kontaktmann beim FBI, zu erreichen, und daraufhin erfahren, dass dieser nach einem Verkehrsunfall im Koma lag. Jetzt wusste sie nicht mehr, wem sie noch vertrauen konnte. Deshalb musste sie für eine Weile untertauchen.

Bei ihren Eltern oder ihrem Bruder in Chicago konnte sie sich nicht verstecken, denn dort würden die Killer sie garantiert zuerst suchen. Ihre Verfolger konnten außerdem mühelos herausfinden, wer ihre Freunde waren. Das galt für die, die sie in Chicago zurückgelassen hatte, und auch für die in New York, mit denen sie an der Wall Street zusammengearbeitet hatte. Zu denen konnte sie also auch nicht fliehen. Sie wollte ihre Familie und ihre Freunde nicht in Gefahr bringen, deshalb brauchte sie einen Zufluchtsort, von dem niemand etwas wusste oder an dem niemand sie vermuten würde.

Die Double J Ranch war genau der richtige Ort. Sie und Jericho hatten seit fünf Jahren kein freundliches Wort mehr miteinander gewechselt, und was noch wichtiger war, sie hatte ihn keinem Kollegen gegenüber je erwähnt. Niemand in den Banker-Kreisen von New York würde sie jemals mit einem Pferdezüchter aus North Carolina in Verbindung bringen. Sweet Briar, die nächste Stadt, lag fast eine Stunde entfernt von hier am Atlantik.

Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf, als sie sich vorstellte, wie er ihr die Tür vor der Nase zuschlug. Das durfte einfach nicht passieren, denn er war ihre letzte – ihre einzige – Hoffnung.

Sie konnte weder ihre Kreditkarten benutzen noch etwas von ihren Konten abheben, denn sie wusste genau, dass sie damit eine verräterische Spur hinterlassen würde. Erst als sie fast in North Carolina gewesen war, hatte sie daran gedacht, an einem Geldautomaten zu halten. Doch da war es schon zu spät gewesen. Also hatte sie das Hotelzimmer gestern bar bezahlt und besaß jetzt nur noch die dreihundert Dollar, die sie immer bei sich hatte – nicht für echte Notfälle, sondern um spontan shoppen gehen zu können. Sie fragte sich, wie lange das Geld wohl reichen würde.

Nun stieg sie aus, eilte die Stufen hinauf und klingelte mehrmals. Ein Hund begann daraufhin zu bellen, kratzte an der Tür und verstummte wieder. Sie lauschte, aber nichts geschah. Sie war versucht, gegen die Tür zu hämmern, doch nach einem Moment klingelte sie einfach sekundenlang weiter. Der Hund bellte erneut.

Sie hatte keine Ahnung vom Leben auf einer Ranch. War Jericho gerade im Haus oder in der Scheune? Wo war die Scheune? Was sollte sie tun, wenn er gar nicht hier war?

Sie hatte schließlich nicht angerufen, um sich anzukündigen. Wie auch? Sie kannte seine Telefonnummer gar nicht. Außerdem hatte sie sicherheitshalber ihr Handy zerstört und die Einzelteile in den Straßen von New York verstreut, damit sie nicht geortet werden konnte. In ihrer Situation konnte sie nicht vorsichtig genug sein. Sie war zwar noch nie von Killern verfolgt worden, hatte aber das getan, was sie aus Kinofilmen kannte.

Als sie die Faust hob, um an die Tür zu klopfen, wurde sie plötzlich aufgerissen. Sie verlor daraufhin das Gleichgewicht und fiel auf den Mann vor ihr. Er fing sie auf, und sie nahm einen Hauch seines äußerst männlichen Dufts wahr. Pinie, Leder und Seife. Vor allem aber roch er nach Sicherheit und Geborgenheit. Nach einem Zuhause.

Etwas unsanft schob er sie von sich. Sie hob den Kopf und schaute in seine dunkelbraunen Augen, in denen ein schockierter Ausdruck aufblitzte und kurz darauf von Zorn und Hass verdrängt wurde.

„Was willst du hier?“ Jerichos Stimme war noch kälter als sein Blick. „Ich habe gefragt, was du hier willst.“

„Ich … brauche eine Unterkunft“, stammelte sie.

Als er sich vorbeugte, wurde ihr bewusst, wie zaghaft sie geklungen hatte. Sie räusperte sich und versuchte es erneut: „Ich brauche eine Unterkunft.“

Er kniff die Augen zusammen und wich zurück. Würde er sie hereinbitten oder ihr die Tür vor der Nase zuknallen? Hastig betrat sie deshalb das Haus. Ein paar Schritte entfernt hockte ein schwarzer Labrador.

„Warum?“ Jericho schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ist mir auch egal. Mich wundert es nur, dass du glaubst, du könntest bei mir bleiben. Ich dachte, diese Ranch ist für dich nur ein staubiger Fleck Erde mitten im Nirgendwo, und ich nur ein Farmer, der sich von einer reichen Frau aushalten lassen will. Das waren doch deine Worte damals, oder nicht?“

Camille wich seinem wütenden Blick nicht aus. Genau das hatte sie fünf Jahre zuvor gesagt, als Jeanette ihr anvertraut hatte, dass sie die Verlobung mit Camilles Bruder lösen und mit Jericho nach Las Vegas durchbrennen würde.

Er griff nach dem Türknauf. Wenn sie sich nicht beeilte und ihm ihre Notlage erklärte, würde er sie garantiert hinauswerfen, und wohin sollte sie dann gehen? Mit dreihundert Dollar würde sie nicht sehr weit kommen.

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Bitte. Du musst mich hierbleiben lassen.“ Sie hörte die Panik in ihrer Stimme selbst. Wenn sie jetzt den Kopf verlor, würde sie ihn nicht überzeugen können.

„Ich muss gar nichts.“

Er fing an den Knauf zu drehen.

„Bitte, Jericho. Schick mich nicht weg. Du bist der einzige Mensch, der mir noch helfen kann. Es gibt Leute, die mich umbringen wollen. Wenn sie mich finden, bin ich tot.“

Jemand wollte sie ermorden? Etwas Besseres fiel ihr nicht ein? Dies war die Frau, die sich in sein Hotelzimmer in Chicago geschlichen hatte – eine Stunde, bevor er nach Las Vegas fliegen wollte, um Jeanette zu heiraten. Er würde nie vergessen, wie er aus dem Bad gekommen war und Camille in einem sexy Nichts auf seinem Bett gelegen hatte. Er wusste noch immer nicht, was für ein Spiel sie damals gespielt hatte, aber er war nicht interessiert gewesen. Er hatte Jeanette nie etwas davon erzählt. Sie hatte bis zuletzt geglaubt, dass Camille Parker ihre Freundschaft wert gewesen war, doch er wusste es besser.

„Guter Versuch, Camille, aber das kaufe ich dir nicht ab. Ich bin deine Spielchen leid.“

„Aber es ist wahr“, rief sie. „Wenn du mich hinauswirfst, töten sie mich.“

Jericho musterte sie aufmerksam. Der herablassende Gesichtsausdruck, den sie sonst immer getragen hatte wie andere Frauen einen Lieblingslippenstift, war verschwunden. Jetzt rümpfte sie nicht mehr die Nase, sondern knabberte nervös an den Lippen.

Ungerührt ließ er den Blick an ihr hinabwandern. Sie war hochgewachsen und schlank, titelbildschön. Früher war sie immer perfekt frisiert und makellos gekleidet gewesen, doch jetzt war das schulterlange Haar zerzaust und ihre Kleidung war zerknittert, als hätte sie darin geschlafen. Sie wirkte tatsächlich verängstigt.

„Was ist passiert?“

Camille holte tief Luft. „Das ist eine lange Geschichte.“

„Komm einfach auf den Punkt, ich habe keine Zeit für unwichtige Details, und wenn du die Wahrheit sagst, hast du auch keine.“

„Das stimmt.“ Sie sah ihm in die Augen. „Ich habe es dir gerade gesagt. Jemand will mich töten.“

„Aber warum bist du hier? Gibt es in Chicago keine Polizei?“

„Ich bin vor acht Monaten nach New York gezogen, um dort einen neuen Job anzufangen.“

„Okay, aber auch dort gibt es Polizei.“

„Zu der kann ich nicht gehen, denn ich weiß nicht, wem ich noch vertrauen kann. Ich weiß aber, dass bei den Behörden mindestens eine Person in die Sache verwickelt ist. Vielleicht haben sie auch jemanden bei der Polizei sitzen.“

Ihre Geschichte war viel zu verworren, um sie sich an der Haustür anzuhören, deshalb zeigte er zum Wohnzimmer hinüber und ließ ihr den Vortritt.

Überrascht atmete sie auf und schaute sich unsicher um, bis er auf die Sessel am Kamin zeigte. Er und Jeanette hatten viele Winterabende am flackernden Feuer verbracht. Doch seit ihrem Tod war der Kamin kalt. Er hatte diesen Raum gemieden, weil er die Erinnerungen einfach nicht ertrug.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte er automatisch.

„Nein danke“, sagte sie und ließ sich in einen Sessel sinken. Sofort legte der Hund seinen Kopf auf ihren Schoß.

„Shadow, bei Fuß.“

Shadow rannte aus dem Zimmer, doch schon eine Minute später kehrte er zurück und legte Jericho ein Kauspielzeug vor die Füße. Doch Jericho ignorierte den Gummiknochen und lehnte sich gegen den Kamin.

„Ich arbeite bei einer Investmentbank.“

Er nickte und bedeutete ihr, fortzufahren. Er hatte schließlich nicht den ganzen Abend Zeit.

„Vor ein paar Monaten habe ich an einem der Konten meines Chefs gearbeitet und dabei festgestellt, dass mit den Zahlen etwas nicht stimmte. Er war gerade nicht im Büro, und ich hatte mit einem Kunden zu tun. Jedenfalls kamen mir die Zahlen verdächtig vor. Also habe ich nachgeforscht und dabei herausgefunden, dass einer der Vizepräsidenten die Konten frisiert hat. Beträge tauchten auf und verschwanden dann einfach wieder. Ich wusste, dass das Ganze illegal war. Wahrscheinlich hätte ich einfach kündigen sollen, aber ich wollte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen, deshalb habe ich mir den Kontoverlauf genauer angesehen und dabei festgestellt, dass es tatsächlich um Geldwäsche ging. Ich habe es sofort den Aufsichtsbehörden gemeldet. Der FBI-Agent, der darauf angesetzt wurde, brauchte aber mehr Informationen, also habe ich weitergeforscht.“

Sie machte eine kurze Pause. „Gestern Nachmittag war ich auf dem Weg zu einer Besprechung und brauchte einen Stift. Als ich mir einen aus dem Materialraum holte, hörte ich zufällig, wie mein Chef mit jemandem redete. Er erwähnte dabei meinen Namen und beauftragte seinen Gesprächspartner, mich zu töten und es wie einen Unfall aussehen zu lassen.“ Fröstelnd schlang sie die Arme um ihre Taille. „Ich habe gewartet, bis alle weg waren, und bin dann sofort geflüchtet. Ich wusste, dass ich nicht mehr nach Hause konnte.“

„Das klingt aber ziemlich abenteuerlich.“

„Ich weiß, was ich gehört habe!“

„Vielleicht geht ja nur deine Fantasie …“

„Ich habe es mir bestimmt nicht eingebildet“, unterbrach sie ihn mit einem wütenden Blick. „Sie wollen mich zum Schweigen bringen.“

Er schloss die Augen. Vielleicht log sie, aber warum sollte sie das tun? Sie schien wirklich Angst zu haben, und eine so gute Schauspielerin war sie nicht. Andererseits hatte sie auch so getan, als wäre sie Jeanettes Freundin, also spielte sie ihm vielleicht jetzt auch nur etwas vor. Trotzdem fragte er sie, warum sie ausgerechnet zu ihm gekommen war.

„Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Zu meinen Eltern konnte ich nicht, denn dort werden sie mich zuerst suchen. Das gilt auch für Rodney und meine Freunde. Von dir weiß niemand in New York etwas, also werden sie auch nicht herkommen.“

„Was ist mit dem FBI-Agenten, den du erwähnt hast?“

„Ich habe sofort in seinem Büro angerufen und daraufhin erfahren, dass er einen Verkehrsunfall hatte. Das ist bestimmt kein Zufall.“

„Unfälle passieren andauernd, Camille.“ Trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Jericho ging im Zimmer auf und ab und versuchte zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. Die Geschichte klang tatsächlich verrückt genug, um wahr zu sein. Vielleicht war Camille ja wirklich in Gefahr.

Und wenn schon. Sie waren schließlich nicht befreundet. Ganz im Gegenteil, aber …

„Wir haben seit fünf Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Du und deine Familie habt Jeanette verstoßen, weil sie sich in mich verliebt hat und jetzt erwartest du von mir, dass ich dir helfe?“

Sie ließ den Kopf sinken, doch nach ein paar Sekunden nickte sie und stand auf. „Ich verstehe. Entschuldige, dass ich dich gestört habe.“ Sie ging zur Tür.

Er sollte sie gehen lassen. So, wie sie mit Jeanette umgegangen war, hatte sie es nicht anders verdient. Er war ihr gegenüber zu nichts verpflichtet. Es musste doch noch jemand anderen geben, bei dem sie unterschlüpfen konnte. Aber sie war zu ihm gekommen. Sosehr er sie auch verachtete, er wusste, dass Jeanette sie wie eine Schwester geliebt hatte. Sie hatte die ganze Parker-Familie geliebt und nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie sich eines Tages versöhnen und wieder Freundinnen werden würden.

Jeanette und Camille waren zusammen aufgewachsen. Als Jeanette mit siebzehn Jahren ihre Eltern durch einen Flugzeugabsturz verloren hatte, waren die Parkers für sie da gewesen und hatten sie aufgenommen. Auch wenn er Camille hasste, musste er ihr helfen, weil ihre Familie einst Jeanette geholfen hatte.

„Warte.“

Sie drehte sich um. Hätte er in ihrem Blick auch nur einen Hauch von Triumph wahrgenommen, hätte er sie ohne zu zögern, aus dem Haus geworfen, aber in ihren Augen las er nur Angst und einen Funken Hoffnung. In diesem Moment wusste er, dass es richtig war, sie aufzunehmen.

„Du kannst bleiben.“

Ihre Knie zitterten, deshalb eilte er hinüber und hob sie hoch, bevor sie zusammenbrechen konnte. Ihr milder Duft umhüllte ihn, und im Hinterkopf registrierte er, wie perfekt sie in seine Arme passte.

„Es geht mir gut. Ich kann stehen“, sagte sie mit leiser Stimme, die ihre Worte Lügen strafte. „Nur ein kleiner Schwächeanfall, mehr nicht. Ich hatte die ganze Zeit solche Angst.“

Er ignorierte ihren Protest und legte sie vorsichtig aufs Sofa. „Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“

„Ich weiß es nicht genau.“

„Eine einfachere Frage: Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“

Sie lachte bitter. „Das Gespräch habe ich gestern gegen zwei Uhr nachmittags mitgehört. Danach bin ich panisch durch die Stadt gehetzt und habe mich zuerst auf den Weg nach Maine gemacht, bevor mir die Idee kam, zu dir zu fahren. Irgendwann nach Mitternacht bin ich schließlich in einem schäbigen Hotel in Virginia abgestiegen, aber ich habe dort nicht sehr gut geschlafen.“

Er stand auf. „Ich mache dir jetzt eine Suppe warm. Gib mir deine Schlüssel, damit ich deinen Wagen in den Schuppen fahren kann. Ich glaube zwar nicht, dass dich hier jemand suchen wird, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.“

Sie packte seinen Arm, und ihm wurde seltsam warm.

„Danke“, flüsterte sie. „Du rettest mir das Leben.“

Ihre Dankbarkeit war ihm fast so unangenehm wie die Reaktion seines Körpers auf ihre Nähe. „Ich begleiche nur eine Schuld.“

„Welche Schuld denn?“

„Deine Eltern haben Jeanette damals geholfen, als sie nach dem Tod ihrer Eltern kein Zuhause mehr hatte. Also helfe ich jetzt dir. Wenn das hier vorbei ist, sind wir quitt, und ich muss dich nie wiedersehen.“

Nach diesen Worten ging er in die Küche. Je früher er sie satt und sicher im Gästezimmer untergebracht hatte, desto besser. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sie nicht so schnell aus dem Kopf bekommen würde.

Camille sah sich in der Küche um, während sie die Suppe mit Hühnchen und Reis aß. Obwohl der Raum groß und modern eingerichtet war, passte er zum Rest des Farmhauses. Die geblümten Vorhänge erinnerten sie daran, dass Jericho nicht immer allein hier gelebt hatte. Jeanette hatte ihre Spuren hinterlassen.

Schuldbewusst schloss Camille die Augen. Hatte sie wirklich mit ihrer besten Freundin gebrochen, nur weil diese sich verliebt hatte? Sicher, Jeanette hatte Rodney das Herz gebrochen, aber sich so behutsam wie nur möglich von ihm getrennt. Trotzdem hatte Camille ihr nicht vergeben können. Jetzt war Jeanette tot, und Camille würde sich nie mit ihr versöhnen können.

Sie legte den Löffel nieder, denn ihr war der Appetit vergangen. Was für eine Ironie des Schicksals. Sie hatte Jeanette aus ihrem Leben gedrängt, weil diese sich für Jericho entschieden hatte, und jetzt drängte sie sich in Jerichos Leben hinein.

„Stimmt etwas nicht mit der Suppe?“, fragte er scharf, als wartete er nur darauf, dass sie sich beschwerte. Suchte er nach einem Grund, sie hinauszuwerfen?

„Sie schmeckt viel zu gut, um aus einer Dose zu kommen.“

„Ich bin mit einem Koch befreundet.“

Oder vielleicht mit einer Köchin? Aus irgendeinem verrückten Grund störte sie die Vorstellung, dass eine Frau sich in seiner Küche ausbreitete. Sie hatte kein Recht, ihn so etwas zu fragen, trotzdem war sie neugierig auf den Mann, in den ihre Freundin sich verliebt hatte.

Eines wusste sie allerdings – Jericho war verlässlich. Er mochte sie nicht, wahrscheinlich hasste er sie sogar, dennoch bot er ihr Unterschlupf.

Ihr Löffel stieß gegen die Schale, und ihr wurde bewusst, dass sie weitergegessen hatte, ohne es zu merken.

„Noch mehr?“, fragte Jericho.

Sie schüttelte den Kopf. Dabei hatte ihre Mutter ihr beigebracht, eine Frage immer richtig zu beantworten. Offenbar war sie erschöpfter, als sie gedacht hatte. Das gedämpfte Licht und die Wärme der Küche taten ihr gut. So ruhig hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie auf die kriminellen Aktivitäten ihrer Firma gestoßen war. „Nein danke.“

Sie stand schnell auf, um abzuwaschen. Sie wollte auf keinen Fall wie das verwöhnte, reiche Mädchen wirken, für das er sie zweifellos hielt.

„Ich mache das schon“, sagte er und nahm ihr die Schale ab.

„Nicht nötig.“

„Ich bestehe darauf.“ Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

„Danke.“ Sie wartete geduldig, bis er fertig war.

„Ich zeige dir jetzt, wo du kampieren kannst.“

Kampieren. Ein Cowboy-Wort. Doch es besaß einen schönen Klang. Es klang nach ehrenhaften Männern, die über ihre Weiden ritten und dafür sorgten, dass kein Tier und Mensch zu Schaden kamen.

Camille folgte Jericho über einen schmalen Flur und dann eine Treppe hinauf. Das Haus war nicht so groß wie die Villa an der Chicago Gold Coast, in der sie aufgewachsen war, aber dafür viel behaglicher. Jericho führte sie an einer geschlossenen Tür vorbei, machte dann kurz kehrt und öffnete sie einen Spaltbreit. „Das Gästebad.“

Anschließend ging er weiter und öffnete eine weitere Tür. „Wäscheschrank.“ Er nahm Handtücher, zwei Laken und zwei Decken heraus und reichte sie ihr.

Dann öffnete er die dritte Tür. „Hier schläfst du. Das einzige Bett, in dem du willkommen bist.“

Camille fühlte, wie sie heftig errötete. Bevor ihr eine passende Erwiderung einfiel, verschwand Jericho jedoch. Sie hörte die Treppenstufen knarren, dann fiel eine Tür laut ins Schloss.

Keine Frage, was sie damals getan hatte, war nicht zu rechtfertigen. Sie hatte sich in sein Hotelzimmer geschlichen und einfach in sein Bett gelegt. Wahrlich nichts, worauf sie stolz war. Dabei hatte sie gar nicht geplant, ihn zu verführen, sie hatte nur beweisen wollen, dass Jericho nicht der Mann war, als der er sich ausgab. Sie hatte gewollt, dass Jeanette zu Rodney zurückkehrte und alles wieder so lief, wie es sollte. Sie hatte erwartet, dass Jericho ihr Angebot annahm, denn dann hätte sie es Jeanette erzählen können.

Aber sie hatte sich in ihm getäuscht. Jericho hatte sie kurz angesehen, angewidert das Gesicht verzogen und das Zimmer verlassen. Sie hatte darauf gewartet, dass Jeanette sie zur Rede stellte, aber das war nie passiert. Offenbar hatte Jericho ihr den peinlichen Vorfall verschwiegen.

Zutiefst erschöpft von der Flucht und den Gedanken, die sie quälten, zog sie die Schuhe aus und ließ sich auf das ungemachte Bett fallen. Sie wollte nur kurz die Augen schließen und an nichts mehr denken müssen.

Nach einer Weile raffte sie sich wieder auf, schnappte sich die Handtücher und ging ins Bad. Als sie dort eine neue Zahnbürste und Zahnpasta fand, hätte sie fast einen Freudenschrei ausgestoßen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie sich die Zähne geputzt hatte.

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