Die Weihnachtskapitulation (2 Miniserien)

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GEFANGEN IM PALAZZO DER LEIDENSCHAFT

Aufgeregt steigt Lily in die Luxuslimousine: Nett von ihrem Bruder, ihr den Wagen zum Flughafen in Rom zu schicken! Aber warum bringt man sie zu einem dunklen, verlassenen Palazzo? Und warum tritt ihr dort nicht Felix entgegen - sondern dessen Arbeitgeber, der mächtige Dmitri Scarletti? Der nicht nur umwerfend attraktiv ist - sondern auch sehr wütend? Erst als sich die Nacht über die Ewige Stadt herabsenkt, versteht Lily: Ein gefährliches Spiel um Liebe und Ehre ist im Gange. Doch da ist es bereits zu spät: Der italienische Graf hat sie in seinen erotischen Bann gezogen.

DAS WUNDER DIESER EINEN NACHT

"Du willst das Baby, aber nicht mich?" In seinem ganzen Leben war Forde Masterson noch nicht so fassungslos! Sieht Melanie denn nicht, welch überwältigendes Geschenk ihnen die letzte gemeinsame Liebesnacht beschert hat - eine Chance, ihre Ehe zu retten, zu dritt für immer glücklich zu sein? Doch die Verzweiflung in den Augen seiner Frau ist nicht gespielt: Melanie kann ihm einfach nicht vertrauen. Aber Forde beschließt, mit Herz, Seele und seiner ganzen Liebe um das Glück zu kämpfen. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür, die Zeit der Wunder …

KEINE CHANCE FÜR DIE LIEBE?

Romantische Weihnachtszeit? Jonas hält nichts von solcher Gefühlsduselei. Deshalb ist der reiche Makler sicher: Mary fasziniert ihn nur, weil sie ihm ihr Haus nicht verkaufen will. Mit Liebe hat das nichts zu tun! Doch im Kerzenschein des Heiligen Abends kommen ihm erste Zweifel …

EIN AUSFLUG INS GLÜCK

Der reiche Kanadier Zac Lawson sieht aus wie ein Filmstar! Für einen wie ihn bin ich garantiert nicht schön genug, glaubt Rachel. Zu einem Wochenende auf dem Land lädt er sie bestimmt nur ein, weil er sich gern mit ihr unterhält. Doch dann geraten sie unterwegs in einen Schneesturm …


  • Erscheinungstag 21.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728489
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carole Mortimer, Helen Brooks

Die Weihnachtskapitulation (2 Miniserien)

Carole Mortimer

Gefangen im Palazzo der Leidenschaft

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2011 by Carole Mortimer
Originaltitel: „A Night in the Palace“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: PRESENTS EXTRA
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2104 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Rita Koppers

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733700157

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Ein dringender Aufruf für Ms Giselle Barton, Flug 13-30 nach Rom. Bitte kommen Sie umgehend zu Schalter sechs im Abflugterminal. Ms Giselle Barton – bitte sofort zu Schalter sechs.“

Lily Barton – nur ihre Mutter, die Lily schmerzlich vermisste, hatte sie je Giselle genannt – kämpfte sich gerade durch den Flughafen, während sie ihren unhandlichen Koffer hinter sich herzog. Sie steuerte auf die lange Schlange zu, die am Schalter zweiundfünfzig wartete, um für den Flug nach Rom einzuchecken. Fassungslos stöhnte sie auf, als ihr klar wurde, dass Schalter sechs am anderen Ende lag, wo sie gerade hergekommen war.

Das Taxi, das sie sich an diesem kalten Dezembermorgen zwei Tage vor Weihnachten bestellt hatte, war verspätet bei ihrem Apartment eingetroffen. Auf der Fahrt zum Flughafen kamen sie dann in dem Schnee der vergangenen Nacht nur langsam voran, sodass Lily sicher der letzte Passagier in der Schlange für den Flug nach Rom sein würde. Was zur Folge hatte, dass man ihr vermutlich den schlechtesten Platz im Flugzeug zuweisen würde – wahrscheinlich eingequetscht zwischen zwei übergewichtigen Geschäftsmännern. Sicher würden diese den ganzen Flug über auf den Ausschnitt ihres blauen Pullovers unter ihrer dicken Jacke starren, die sie gegen das frostige englische Wetter schützen sollte.

Zu ihrem Unglück war auch noch eine der Rollen des alten, verbeulten Koffers abgebrochen, als der Taxifahrer ihn vor dem Flughafen aus dem Kofferraum hob. Da sie sich nicht mehr einhaken ließ, hatte Lily es in ihre ohnehin schon übervolle große Schultertasche gesteckt, die nun noch schwerer war als zuvor. Ihr Koffer drohte jetzt ständig umzufallen, als sie ihn hinter sich herzog.

Sollte man sie jetzt auch von der Liste für den Flug nach Rom streichen, da sie so spät dran war und die Maschine vielleicht überbucht, wie oft zu dieser Jahreszeit, würde sie sich einfach hinsetzen und weinen. Denn ein weiterer Tiefschlag würde diesem ohnehin schon katastrophalen Tag die Krone aufsetzen.

„Ms Giselle Barton – bitte kommen Sie umgehend zu Schalter sechs in der Abflughalle.“

„Ist ja gut“, murmelte Lily, als die Ansage erneut über den Lautsprecher dröhnte. Sie umfasste den Griff ihres Koffers, um in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen war. Die Stimme hatte diesmal herrischer geklungen, was wahrscheinlich bedeutete, dass man sie tatsächlich von der Passagierliste gestrichen hatte. Und zweifellos würde man ihr anbieten, ersatzweise einen Flug nach den Feiertagen zu nehmen.

Verdammt!

Lily hatte sich in letzter Minute dazu entschieden, Weihnachten in Rom bei ihrem Bruder zu verbringen. Felix war vor einigen Monaten dorthin gezogen, um als Assistent bei Graf Dmitri Scarletti zu arbeiten. Sie hatte diesen Entschluss gefasst, nachdem ihr ursprünglicher Plan für die Feiertage ins Wasser gefallen war. Dabei hätte sie doch wissen sollen, dass Danny, mit dem sie sich seit zwei Monaten traf, seine geschiedene Mutter Weihnachten nicht allein lassen würde. Erstens lebte er noch bei Miriam, und zweitens hatte diese sehr deutlich gemacht, dass sie nicht die Absicht hatte, Lily zu sich einzuladen. Genau der richtige Zeitpunkt, wie sie bedauernd beschlossen hatte, um diese Beziehung zu beenden, die vermutlich sowieso zum Scheitern verurteilt war.

Zum Glück hatte sie sich emotional nicht ernsthaft auf Danny eingelassen, der an derselben Schule als Lehrer arbeitete wie sie. Es hatte zwar Spaß gemacht, mit ihm ins Kino oder zum Essen zu gehen, aber seine dominante, fordernde Mutter war ihr ein Gräuel.

Aufregung machte sich in ihr breit, kaum dass Lily sich dazu entschieden hatte, über Weihnachten nach Rom zu fliegen. Sie war noch nie dort gewesen oder überhaupt irgendwo anders außerhalb von England. Und es wäre schön, ihren Bruder nach all den Monaten der Trennung wiederzusehen. Der Tod ihrer Eltern hatte sie beide noch mehr zusammengeschweißt. Sie telefonierten und mailten sich zwar regelmäßig, doch es war etwas ganz anderes, tatsächlich Zeit mit dem temperamentvollen Felix zu verbringen.

Nun ja, es wäre aufregend gewesen, Weihnachten bei ihrem Bruder in Rom zu sein, nachdem Danny sich als eine solche Enttäuschung erwiesen hatte. Da man sie jedoch von der Passagierliste streichen würde, musste sie die Feiertage wohl in England vor dem Fernseher verbringen, mit einer Tüte Chips. Na toll, sagte sich Lily. Sie hatte einfach nicht richtig nachgedacht!

Erhitzt und besorgt kam sie schließlich am anderen Ende des Gebäudes an, um sich in einer überfüllten Halle wiederzufinden. Verwirrt suchte sie nach Schalter sechs.

Doch es schien diesen Schalter nicht zu geben. Fünf, ja. Und auch Schalter sieben. Aber keinen Schalter sechs …

„Miss Barton?“

Lily drehte sich so abrupt um, dass sie beinah über ihren Koffer gefallen wäre. Sie blies sich eine platinblonde Strähne aus dem Gesicht, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die schöne, dunkelhaarige Flugbegleiterin, die sich hinter einem nicht nummerierten Schalter erhoben hatte und einen guten Kopf größer war als sie mit ihren knapp einssechzig. „Ich bin Lily Barton, ja …“

Zweifelnd sah die andere Frau sie an. „Lily? Aber …“

„Schon in Ordnung. Das ist eine Familienangelegenheit.“ Lily hatte keine Lust, ihr zu erklären, dass ihr Bruder den Namen Giselle als Kind nicht hatte aussprechen können. Zunächst hatte er „Lelly“ zu ihr gesagt, später war dann „Lily“ daraus geworden. Und dabei war es zum Glück geblieben. Denn „Giselle“ klang wie der Name irgendeiner ältlichen Tante. Vielleicht würde sie eines Tages wirklich zu einer werden, aber im Moment zog sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren eindeutig „Lily“ vor. „Sehen Sie.“ Sie fischte ihren Ausweis aus der Umhängetasche und hielt ihn der anderen Frau vor die Nase.

Bedauernd stellte sie fest, dass das Foto ihr nicht gerade schmeichelte. Sicher, ihr langes, glattes und natürlich platinblondes Haar sah recht annehmbar aus, aber sie hatte die blauen Augen bei dem Blitzlicht weit aufgerissen, sodass sie ein wenig erschrocken dreinblickte. Da sie nicht hatte lachen dürfen, wirkte sie leicht bekümmert und ihr Hals beinah zu zart für die hellblonde Mähne.

„Falls Sie mir sagen wollen, dass ich heute doch nicht nach Rom fliegen kann“, begann sie und steckte den Ausweis zurück in die Tasche, „möchte ich Sie vorwarnen. Sollte jetzt noch etwas schiefgehen, werde ich vermutlich einen hysterischen Anfall bekommen.“

Die kühle Miene der Frau wurde ein wenig weicher. „Harter Vormittag, was?“

Lily verdrehte die Augen. „Könnte man so sagen.“

Als die Flugbegleiterin leise lachte, war von ihrer geschäftsmäßigen Art nichts mehr zu spüren. „Dann bin ich froh, dass ich Ihnen nicht noch mehr Schwierigkeiten machen muss.“

„Ach nein?“ Jetzt war es an Lily, zweifelnd dreinzublicken. Und hoffnungsvoll.

„Ganz und gar nicht. Bitte, lassen Sie mich den hier nehmen.“ Die Frau umfasste den Griff von Lilys Koffer, ehe sie davonging. Sie schaffte es sogar, den Koffer mit dem abgebrochenen Rad elegant hinter sich herzuziehen. Natürlich!

„He!“ Schnell hatte Lily die Frau eingeholt und griff nach deren Arm. „Wo wollen Sie denn mit meinem Koffer hin?“

Geduldig lächelte diese. „Ich gebe den Koffer für Sie auf. Danach bringe ich Sie in die VIP-Lounge.“

Überrascht sah Lily sie an, ehe sie den Kopf schüttelte. „Da muss eine Verwechslung vorliegen.“ Obwohl es kaum zwei Frauen mit dem Namen Giselle Barton geben würde – die obendrein beide heute einen Flug nach Rom gebucht hatten. „Ich habe Economyclass gebucht. Also steht mir demnach nur ein Platz in der überfüllten Abflughalle zu – falls ich Glück habe.“ Sie lächelte bedauernd.

Die schwarzhaarige Schönheit erwiderte ihr Lächeln. „Heute Morgen wurde für Sie umgebucht.“

„Umgebucht?“ Flehentlich blickte Lily sie an. „Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass ich nach Norwegen fliege oder irgendwo anders hin, wo es garantiert noch kälter ist als in England.“

Wieder lachte die Flugbegleiterin. „Nein, Sie fliegen nicht nach Norwegen.“

„Dann nach Island? Oder vielleicht Sibirien?“ Gequält verzog Lily das Gesicht. Der Dezember war in diesem Jahr in England besonders kalt gewesen. Auch wenn sie annahm, dass in Rom nicht mehr als zehn Grad wären, wäre es dort zumindest um einiges wärmer als im verschneiten London.

„Auch dort fliegen Sie nicht hin. Sie stehen immer noch auf der Liste für den Flug nach Rom.“

„Da bin ich ja erleichtert!“ Lily runzelte die Stirn. „Hören Sie, mir ist durchaus bewusst, dass ich mit meinem zerzausten Aussehen wie ein Landei wirken muss, aber ich brauche wirklich keine Hilfe. Es ist nur so, dass ich heute zum ersten Mal fliege, und offenbar lässt meine Organisation ziemlich zu wünschen übrig.“

Die Flugbegleiterin biss sich auf die Lippe, offenbar um ein Lachen zu unterdrücken. „Deshalb habe ich ja auch vor, für Sie einzuchecken.“

„Ehe Sie mich zur VIP-Lounge bringen?“, wiederholte Lily langsam.

„Ja. Wenn Sie mir bitte einfach folgen wollen …?“

Doch Lily blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es liegt eine Verwechslung vor. Ja, ich bin tatsächlich Giselle Barton. Und ich habe einen Flug nach Rom gebucht. Aber in der Economyclass …“

„Jetzt nicht mehr“, versicherte die andere Frau knapp. „Graf Scarletti hat heute Morgen persönlich bei der Airline angerufen und einen Platz in der ersten Klasse für Sie gebucht. Außerdem hat er angeordnet, dass man sich persönlich um Sie kümmern soll – vor und während des Flugs.“

Graf Scarletti?

Graf Dmitri Scarletti?

Etwa der vermögende, einflussreiche Mann mit russischen und italienischen Vorfahren, für den Felix zurzeit in Rom arbeitete? Nun ja, zwei würde es sicher nicht davon geben. Also musste er es sein!

„Am Flughafen Leonardo da Vinci steht dann ein Wagen für Sie bereit“, fügte die Frau mit neidvollem Blick hinzu.

Felix sollte sie doch in Rom am Flughafen abholen …

Aber vielleicht brauchte Graf Scarletti ihren Bruder heute in seinem Büro, sodass dieser Lily nicht wie vereinbart abholen konnte. Vielleicht hatte der Graf deshalb für sie umgeplant?

Felix würde ihr zweifellos alles erklären, sobald sie in seinem Apartment angekommen war, das er in Rom gemietet hatte …

Als Lily einige Stunden später am Flughafen Leonardo da Vinci ausstieg, war sie ganz benommen von all der Fürsorge vor und während des Flugs.

Sonia, so hieß die Flugbegleiterin, hatte pflichtbewusst ihren Koffer aufgegeben, ehe sie sie zu der VIP-Lounge geführt hatte – obwohl Lily trotz Umbuchung nicht zu den VIPs gehörte.

Dort war sie von weiteren Angestellten mit Essen und Getränken versorgt worden, ehe man sie kurz vor dem Abflug persönlich in die Maschine begleitet hatte – zu ihrem Sitz in der ersten Klasse, wo ihr kein übergewichtiger Geschäftsmann die Sicht versperrte. Man hatte ihr Champagner und Kanapees gereicht, bis sie beim besten Willen nichts mehr hinunterbekommen konnte. Nach dem dritten Glas Champagner war sie schließlich eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als das Flugzeug landete.

Falls sie angenommen hatte, dass dieser persönliche, ihr etwas peinliche Service ein Ende hatte, sobald sie erst einmal ausgestiegen war, dann hatte sie sich geirrt. Kaum hatte sie die Ankunftshalle betreten, entdeckte sie ein Schild mit ihrem Namen, das ein großer, muskulöser Mann in Chauffeuruniform hochhielt – wobei dieser Mann eher wie ein Bodyguard aussah.

Nachdem er sich als Marco vorgestellt und überprüft hatte, dass sie tatsächlich Giselle Barton war, hob er ihren schweren Koffer hoch, als wäre dieser leicht wie eine Feder. Dann trug er ihn nach draußen zu der Limousine, die im Halteverbot parkte. Lily blieb also nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Ihre Versuche, ihm in schlechtem Italienisch Fragen zu stellen, scheiterten kläglich. Erst als sie Felix’ Namen und den des Grafen Scarletti erwähnte, erhielt sie ein knappes „Sì“ als Antwort. Mehr sagte er nicht, während er sich versicherte, dass sie hinten in der Limousine bequem saß. Dann schloss er entschieden die Tür und verfrachtete ihr Gepäck in dem geräumigen Kofferraum.

All das wurde von Dutzenden Paaren neugieriger Augen beobachtet, während die Menschen sich offenbar fragten, ob die Frau mit dem langen, silberblonden Haar, den abgetragenen Jeans und der dicken Jacke wohl irgendeine Berühmtheit war – die ihre Kleidung offensichtlich in einem Secondhandladen kaufte.

Als Marco endlich hinter das Steuer der langen schwarzen Limousine schlüpfte und sich wenig später in den Verkehr einreihte, war Lily vor Verlegenheit errötet. Die gläserne Trennscheibe zwischen Vorder- und Rücksitzen vereitelte obendrein jeden weiteren Versuch, Fragen zu stellen.

Da ihr nichts anderes übrig blieb, lehnte Lily sich in ihrem Ledersitz zurück und genoss die Aussicht, als sie ins Zentrum der Stadt fuhren.

Mit der Temperatur hatte sie richtig gelegen. Es war zwar nicht unbedingt T-Shirt-Wetter, aber bestimmt um die zehn Grad wärmer als in England. Und von Schnee war weit und breit nichts zu sehen. Obendrein schien die Sonne und ließ alles in hellerem, wärmerem Licht erstrahlen. Lily war begeistert von Rom. Von den vielen Autos allerdings weniger. Mehr als einmal wäre Marco um Haaresbreite mit einem anderen Wagen zusammengestoßen, doch in seiner stoischen Ruhe achtete er nicht auf die wild gestikulierenden Fahrer.

Es schien ihr, als würde an jeder Straßenecke ein imposantes Museum, eine Statue, ein Brunnen oder eine Krippenszene stehen – wobei es schließlich auch bald Weihnachten war. Viele der Straßencafés waren geöffnet – auch wenn die Kunden Mantel und Schal trugen, um sich warm zu halten.

Kein Wunder, dass Felix sich in diese Stadt verliebt hatte. Und offenbar nicht nur in die Stadt. Vor einigen Wochen hatte er ihr mitgeteilt, dass er sich mit einer jungen Italienerin namens Dee traf, die er ihr so bald wie möglich vorstellen wollte.

Rom war offenbar eine Stadt, in der man sich schnell verliebte …

Verwirrt runzelte Lily die Stirn, als Marco etwa eine halbe Stunde später nicht vor einem Apartmentkomplex hielt, sondern vor einem imposanten Tor aus massivem Holz, das mindestens viereinhalb Meter hoch und in eine Mauer eingelassen war.

Automatisch ging es wieder zu, nachdem er es passiert hatte, wenig später aus dem Wagen stieg und ihr die hintere Tür aufhielt.

Trotz des geschäftigen Lärms in der Stadt war es hinter diesen Mauern seltsam still, wie Lily merkte, als sie in dem schattigen Innenhof ausstieg. Richtiggehend gespenstisch.

Lily zog die Jacke fester um sich und wandte sich an den Chauffeur. „Mi scusi, signor – parla inglese?“

„No“, antwortete er knapp. Dann trat er an den Kofferraum, um ihr Gepäck herauszunehmen.

Gesprächig ist er nicht gerade, dachte sie bedauernd. Eine große Hilfe war er ihr also nicht.

Ihr wurde bewusst, dass die ganze Aufmerksamkeit, die man ihr am Londoner Flughafen und während des Flugs geschenkt hatte, ihr ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben hatten. Denn tatsächlich hatte sie den Flughafen Leonardo da Vinci mit einem Mann verlassen, den sie eigentlich gar nicht kannte und von dem sie gerade einmal seinen Vornamen wusste. Und nicht Marco hatte Felix erwähnt und den Namen des Grafen, sondern sie selbst. Obendrein hatte er sie zu einem Gebäude gebracht, das aussah, als wäre es einmal ein Palast gewesen. Aber es könnte sich ebenso gut um ein Bordell handeln, wenn auch ein teures und exklusives.

Lily dachte an die Artikel, die sie in den letzten Jahren in verschiedenen Zeitungen gelesen hatte. Es ging darum, dass blonde, blauäugige Frauen lukrativ verkauft wurden. Frauen, die scheinbar spurlos verschwunden waren. Dabei hatte man sie irgendwo eingesperrt, um ihre Körper so lange zu benutzen und zu missbrauchen, bis sie nicht mehr jung genug waren, um die Aufmerksamkeit der reichen Kunden erregen zu können. Entweder entledigte man sich ihrer dann, oder sie wurden in ein anderes Bordell verschleppt, wo die Kunden nicht so wählerisch waren.

Sie war wirklich ein Landei! Man sollte sie nicht allein auf die Straße lassen. Und ihr ganz sicher nicht erlauben, allein nach Rom zu fliegen …

Nun doch ein wenig verängstigt, drehte sie sich zu dem Chauffeur um, der ihren Koffer auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof abstellte. „Signor, ich muss wirklich …“

„Das ist alles, danke, Marco.“

Einen Moment lang war Lily wie erstarrt, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die raue, autoritäre Stimme hörte. Schließlich drehte sie sich um und sah zu dem Balkon im ersten Stock hoch. Ihr stockte der Atem, als sie den Mann entdeckte, der dort oben im Schatten stand und zu ihnen herunterblickte. Sie konnte seine Züge nicht ausmachen, sah aber selbst aus diesem Abstand, dass er groß war und eine ungezügelte Kraft ausstrahlte.

Handelte es sich vielleicht um den Bordellbesitzer?

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich im Stillen. Natürlich stimmte das nicht, weil dies kein Bordell war. Sicherlich gab es eine vernünftige Erklärung dafür, dass man sie hierher gebracht hatte. Die ihr der Mann oben auf dem Balkon sicher geben konnte, da er in perfektem Englisch gesprochen hatte, das nur einen leichten Akzent verriet.

Lily drehte sich wieder um, weil sie Marco für seine Hilfe danken wollte – und stellte erschrocken fest, dass er bereits im Haus verschwunden war, während sie wie gebannt zum Balkon hochstarrte.

Ob das Absicht gewesen war? Hatte man sie ablenken wollen, damit Marco ungesehen verschwinden konnte und sie dem anderen Mann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war?

Wieder sah sie hoch, diesmal wütend. Verdammt, sie war sechsundzwanzig Jahre alt, britische Staatsbürgerin und Lehrerin mit einem kleinen Apartment in London! Da würde sie sich ganz sicher nicht von einem Mann einschüchtern lassen, der ihr noch nicht einmal sein Gesicht zeigte.

„Ach du meine Güte!“, stieß Lily leise hervor. Der Mann schien ihre wirren Gedanken erraten zu haben, denn plötzlich trat er an die Balustrade und sah zur ihr herunter.

Sie hatte recht gehabt. Er war mindestens einen Kopf größer als sie. Und selbst in dem teuren Designeranzug, dem schneeweißen Hemd und der sorgfältig gebundenen grauen Seidenkrawatte verströmte er eine ungezügelte Kraft. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine.

Doch es waren sein südländisch geschnittenes Gesicht und sein mitternachtsschwarzes Haar, die Lily faszinierten. Er hatte einen dunklen Teint, helle Augen, eine gerade Nase, ein ausgeprägtes Kinn und wohlgeformte Lippen. Er lächelte nicht, vielmehr wirkte sein perfekt geschnittenes Gesicht arrogant.

Er sah aus, als wäre er einer ihrer verrückten Fantasien entsprungen – ein Mann, wie ihn sich jede Frau wünschte.

Er hob eine perfekt geschwungene schwarze Braue, und ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf ihren atemlosen Ausruf von eben reagierte. „Ich fürchte, so weit bin ich noch nicht, Miss Barton.“

Der Mann kannte ihren Namen! „Und ich fürchte, Sie sind mir gegenüber im Vorteil, Signor.“

Er nickte knapp, ehe er zu der Treppe ging, die vom Balkon in den Innenhof hinunterführte. „Wenn Sie einen Moment warten – ich komme herunter, dann stelle ich mich Ihnen vor …“

„Nein!“

Abrupt blieb er oben an der Treppe stehen. „Nein?“

„Nein.“ Lily ließ sich nicht beirren. Sie straffte die Schultern. Herausfordernd sah er sie an, aber sie wollte sich nicht von ihm einschüchtern lassen. „Sie können mir auch von dort oben sagen, wer und was Sie genau sind.“

„Wer und was ich genau bin?“, wiederholte er in sanftem, aber ein wenig drohendem Ton.

„Genau.“ Lily nickte.

Der Mann legte den Kopf schräg, während er sie gnadenlos von dem silberblonden Schopf bis zu den engen Stiefeln musterte. Er wirkte ein wenig amüsiert, als sein Blick zurück zu ihrem Gesicht glitt, das nun leicht gerötet war. „Was glauben Sie denn, wer ich bin?“, meinte er langsam.

Sie war froh, dass er nicht mitbekam, wie schnell ihr Herz klopfte. „Wenn ich das wüsste, müsste ich ja nicht fragen.“

Der Mann schien völlig entspannt, wie er dort oben an der Treppe stand. „Lassen Sie mich mal überlegen … Am Flughafen sind Sie zu einem Mann ins Auto gestiegen, der Ihnen unbekannt ist, und haben ihm gestattet, Sie irgendwohin zu fahren, obwohl Sie das Ziel nicht kannten. Und all das haben Sie zugelassen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wer oder was Sie am Ende dieser Reise erwartet?“ Seine hellen Augen funkelten nun verächtlich.

Lily spürte, wie ihr die Wangen brannten. Ihr war schon bewusst geworden, was sie getan hatte. Da konnte sie es nicht gebrauchen, wenn ein arroganter und gefährlich attraktiver Italiener – mit Betonung auf „gefährlich“ – es ihr unter die Nase rieb.

Finster sah sie ihn an. „Ich dachte, der Fahrer würde mich zum Apartment meines Bruders bringen. Offensichtlich hätte ich ein bisschen vorsichtiger sein sollen …“

„Ein bisschen?“, wiederholte er missbilligend. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie haben sich extrem naiv verhalten.“

„Doch, ich nehme es Ihnen übel.“ Sie funkelte ihn verärgert an. „Und falls Sie auf den Gedanken gekommen sein sollten, von meiner Familie Lösegeld zu fordern, ehe Sie mich freilassen, kann ich Ihnen nur sagen, dass mein Bruder – als einzig noch lebender Verwandter – genauso arm ist wie ich.“

„Ach ja?“ Seine Miene hatte nun etwas Hartes, Einschüchterndes.

„Ja“, erwiderte Lily zufrieden. „Und jetzt sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie wollen.“

Ungläubig schüttelte der Mann den Kopf. „Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?“

„Eins weiß ich – dass Ihre Verzögerungstaktik mich allmählich durcheinanderbringt.“ Sie presste die Fingerspitzen in die Handflächen. „Ich weiß auch, dass ich die feste Absicht habe, zur Polizei zu gehen und von diesem Vorfall zu berichten, sobald ich freigelassen werde.“

Erstaunt zog er die Brauen hoch. „Dann wäre es wohl kaum in meinem Interesse, Sie freizulassen, stimmt’s?“

Was ihr selbst bewusst geworden war, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte. „Es ist wohl verständlich, wenn ich wissen will, wer Sie sind und warum ich hier bin.“

„Das ist es“, gab er langsam zurück. „Ich bin Graf Dmitri Scarletti, Miss Barton.“ Seine Haare schimmerten blauschwarz, als er sich leicht verbeugte. „Und Sie stehen zur Zeit im Innenhof des Palastes der Scarlettis.“

Oh.

Der Arbeitgeber ihres Bruders.

Der Mann, der angeordnet hatte, dass man sich bis zu ihrer Ankunft hier um sie kümmerte.

Und sie hatte es ihm gerade damit zurückgezahlt, dass sie ihn bezichtigte, sie entführt zu haben und gefangen halten zu wollen!

2. KAPITEL

Unter anderen Umständen hätte Dmitri sich vielleicht über Giselle Bartons entsetzten Gesichtsausdruck amüsiert, als sie seine Worte verarbeitete. Doch im Moment konnte er nichts Amüsantes an dem finden, was irgendein Mitglied der Familie Barton sagte oder tat. Selbst eines, das so unerwartet hübsch war wie Giselle …

Unverwandt betrachtete er sie, als er die Treppe hinunterging. Noch nie hatte er Haare in dieser Farbe gesehen, die so seidig waren und von solcher Fülle, das man als Mann versucht war, die Finger hindurchgleiten zu lassen …

Ihre Augen hatten die Farbe eines klaren Sommertags, auch wenn ihr Blick im Moment aufgewühlt wirkte. Die Nase war klein und gerade über einem perfekt geschwungenen Mund, der dazu geschaffen schien, geküsst zu werden. Das schmale Kinn hingegen hatte sie nun trotzig gehoben, während Giselle ihn stirnrunzelnd ansah.

Ihre Figur konnte er unter der unförmigen Jacke, die sie über einem blauen Pullover trug, nicht genau ausmachen. Ihre Beine in den abgetragenen Jeans wirkten jedenfalls wohlgeformt, und sie schien kleine Füße zu haben, soweit die unvorteilhaften Stiefel ein Urteil zuließen. Ja, Giselle Barton war viel hübscher, als er erwartet oder sich vor allem gewünscht hatte.

Mit seinen sechsunddreißig Jahren hatte er sich einen gewissen Ruf erworben – sowohl im Geschäftsleben als auch privat. Er war ein Mann, an dessen Arm immer eine schöne Frau hing, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte. Ein Mann, der die ätherische Schönheit und das unabhängige Auftreten dieser Frau als Herausforderung empfunden hätte. Doch er musste sich um Wichtigeres kümmern, und ihre überraschende und zarte Schönheit verkomplizierte die Angelegenheit nur, was er nun wirklich nicht brauchte.

Sie schluckte, ehe sie sprach. „Ich … Sieht so aus, als müsste ich mich bei Ihnen entschuldigen, Graf Scarletti.“ Jetzt war es offensichtlich Verlegenheit, die ihr die Röte in die Wangen trieb. „Ich hatte ja keine Ahnung … Ihr Chauffeur hat mir kein Wort gesagt …“

„Er war angewiesen, es nicht zu tun“, warf Dmitri ein.

Ihre blauen Augen weiteten sich, als Giselle unsicher zu ihm hochsah. Er stand nun wenige Zentimeter vor ihr, doch ihr silberblonder Schopf reichte ihm nicht einmal bis zu den breiten Schultern.

„Ach, wirklich?“

„Ja“, bestätigte Dmitri, dann beugte er sich hinunter, um ihren verbeulten Koffer zu nehmen, ehe er damit in Richtung Palazzo ging. „Wenn Sie mir folgen möchten? Drinnen wartet eine kleine Erfrischung auf Sie.“

Dieser zweifellos attraktive Mann musste nur mit dem Finger schnippen, und sie würde ihm überallhin folgen, wie Lily missmutig feststellte. Dabei hatte er es nicht einmal versucht. Er erwartete lediglich, dass sie ihm folgte.

Da sie sich an diesem Tag bereits zum Narren gemacht hatte, wollte sie sich auf keinen Fall noch länger derart naiv verhalten. Also blieb sie stehen und fragte fordernd: „Wo ist Felix?“

Seine breiten Schultern in dem maßgeschneiderten Jackett verspannten sich, als der Graf abrupt in der Tür stehen blieb. Langsam drehte er sich zu ihr um und sah sie unter gesenkten Lidern mit seinen unfassbar hellen grünen Augen an. Ein faszinierendes Grün, wie sie eben herausgefunden hatte. Genauso faszinierend wie alles andere an ihm.

Jetzt merkte sie auch, dass er jünger war, als sie zuerst angenommen hatte. Wahrscheinlich Mitte dreißig. Sein attraktives Gesicht hatte einen rücksichtslosen Zug, der ihm in der Geschäftswelt sicher von großem Vorteil war, mit dem er in seinem Privatleben aber bestimmt eher Furcht weckte. Deshalb sollte sie lieber vorsichtig sein …

Forschend betrachtete er sie. „Eine interessante Frage.“

Prompt zuckte sie zusammen. „Ach ja?“ Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen. „Ist ihm irgendetwas passiert?“ Schnell durchquerte Lily den Innenhof und sah Graf Scarletti fragend an. „Sagen Sie bitte nicht, dass er einen Unfall hatte.“ Wie sie bereits selbst erlebt hatte, konnte Autofahren in Italien zu einer ernsthaften Bedrohung für die Gesundheit werden.

„Die Antwort auf Ihre Fragen lautet: Ich weiß es nicht.“ Seine raue Stimme mit dem kühlen Unterton jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Aber … ich verstehe nicht.“ Lily musste schneller gehen, um mit ihm Schritt halten zu können, als er die kühle Eingangshalle des Palazzo betrat.

Sie blieb stehen, überwältigt von dem großartigen Anblick, der sich ihr bot. Antike Möbel standen auf einem wunderschönen Marmorboden, ein Kristallleuchter hing von der gewölbten Decke, und die Gemälde an den Wänden, offensichtlich Originale, gaben dem Ganzen zusätzlich den Anstrich von Reichtum und Luxus.

Und es war sehr ruhig – kein Geräusch war zu hören, außer dem Echo ihrer Schritte, als Lily dem Grafen in einigem Abstand durch die marmorne Eingangshalle folgte, ehe er in einem Zimmer am Ende des langen Ganges verschwand.

Dies war zugegebenermaßen ein riesiges Haus – ein Palast –, und soweit sie wusste, lebten hier nur Graf Scarletti und seine Schwester Claudia. Dennoch musste es hier noch mehr Menschen geben. Bedienstete, die das Haus sauber und staubfrei hielten? Andere, die das Abendessen für ihren padrone und dessen Schwester zubereiteten? Doch da war nichts als eine gespenstische Stille …

Kaum war Lily eingetreten, blieb sie abrupt stehen. Der Raum war von einer solch eleganten Schönheit, dass sie einen erstaunten Laut ausstieß. Die Wände schimmerten in einem Weiß, das mit Gold durchwirkt war – Blätter aus echtem Gold? Auch in diesem Raum hing ein Kristallleuchter an der Decke. Ein tiefblauer Aubusson-Teppich bedeckte den Großteil des Marmorbodens, und die wunderschönen Möbel, auf denen zahlreiche kostbare chinesische Figuren standen, stammten offensichtlich aus dem neunzehnten Jahrhundert. Gemälde zierten die Wände, und die riesigen Fenster, die fast bis zum Boden gingen, boten einen atemberaubenden Blick auf die Stadt Rom.

Und inmitten all dieser Eleganz stand Graf Scarletti, groß und beeindruckend, neben einem reich verzierten Kamin, in dem ein Feuer knisterte und diesem wunderschönen Raum zusätzliche Wärme verlieh – eine Wärme, die ihm, wie Lily fand, gänzlich fehlte.

Sie kuschelte sich in ihre Jacke, als ihr erneut ein Schauer über den Rücken lief. „Sie wollten mir eben erklären, warum Felix mich nicht, wie geplant, am Flughafen abgeholt hat.“

Langsam hob er eine dunkle Braue. „Wollte ich das?“

Lily war verwirrt. Von dem Wenigen, was Felix ihr über seinen Arbeitgeber erzählt hatte, hatte sie den Eindruck eines harten, aber fairen Vorgesetzten gewonnen, der nicht mehr von seinen Angestellten forderte als das, was er selbst auch tun würde. Von einem kalten und distanzierten Mann, der nicht besonders hilfsbereit war, hatte er dagegen nichts erzählt.

Scharf atmete sie ein. „Sie …“

„Vielleicht sollten Sie sich lieber den Tee einschenken, ehe wir unser Gespräch fortsetzen.“ Er deutete auf ein Silbertablett mit Teekanne und Tassen auf einem niedrigen, reich verzierten Beistelltisch.

Nein, sie würde den Tee nicht einschenken. Sie wollte wissen, wo Felix steckte und warum er nicht am Flughafen erschienen war – und zwar sofort! Nur ihre guten Manieren und die Tatsache, dass dieser Mann der Arbeitgeber ihres Bruders war, hielten sie davon ab, unfreundlich zu sein. Zumal der Graf sich die Mühe gemacht hatte, ihren Flug umzubuchen und ihr seinen Chauffeur zum Flughafen zu schicken.

Dmitri hätte beinah darüber gelacht, wie Giselle Barton um gutes Benehmen rang. Beinah. Denn bis er erfuhr, wie viel sie über den derzeitigen Aufenthaltsort ihres Bruders wusste, würde er ihr mit dem gleichen Misstrauen begegnen, mit dem er nun Felix betrachtete.

„Sie brauchen sicher eine kleine Erfrischung nach Ihrem Flug, Miss Barton.“

„Eigentlich nicht. Ich habe im Flugzeug mehr als genug Champagner getrunken“, gab sie reumütig zu.

„Ach ja?“, meinte Dmitri mit offener Missbilligung.

Röte färbte ihre blassen Wangen. „Dank Ihrer Umbuchung in die erste Klasse.“

„Das war das Mindeste, was ich tun konnte“, gab er knapp zurück.

„Nun, ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen.“

Doch sie sah verlegen aus, als wäre sie derlei Aufmerksamkeiten nicht gewohnt. Was vermutlich stimmte. Denn er hatte in den vergangenen Monaten bei den Gesprächen mit Felix erfahren, dass seine Eltern tot waren und seine einzige Schwester allein in London lebte.

„Nun, jedenfalls habe ich Ihre Zeit schon lange genug in Anspruch genommen. Wenn Sie mir dann bitte ein Taxi rufen könnten, das mich zu Felix’ Apartment bringt?“

„Später vielleicht.“ Dmitri machte einige Schritte, um sich in einen der ausladenden Sessel neben dem Kamin zu setzen, doch er merkte sofort, dass sie zurückwich. Vielleicht hatte er genau das verdient. Normalerweise hatte er sich streng unter Kontrolle, doch jetzt schaffte er es kaum, seine Wut im Zaum zu halten.

Eine Wut, die Giselle offensichtlich spürte, selbst wenn sie den Grund dafür nicht kannte.

Falls sie wirklich nichts davon wusste …

Im Moment spielten sie beide Katz und Maus miteinander. Keiner verriet dem anderen, was er wusste. Stattdessen verbargen sie das, was sie wirklich dachten und fühlten, hinter einer höflichen Fassade.

Egal, wie das Ergebnis ihres Gesprächs aussehen mochte, Giselle würde den Palast erst verlassen, wenn er es wollte.

Dmitri setzte sich, legte ein Bein über das andere und sah sie spöttisch an. „Vielleicht könnten Sie dann wenigstens mir eine Tasse Tee einschenken?“

„Ich … Ja, natürlich.“ Mit einem dumpfen metallenen Knall ließ sie ihre Schultertasche auf den Boden fallen. „Das war die Rolle, die heute Morgen an meinem Koffer abgebrochen ist“, erklärte sie verlegen.

Gewandt stand Dmitri auf. „Wenn Sie sie mir geben würden …“

Lily starrte einige Sekunden lang auf die schlanke, elegante Hand und stellte sich vor, wie sein dunkler Teint sich von ihrer viel blasseren Haut abheben würde …

Ihr brannten die Wangen, als ihr bewusst wurde, was sie da eben gedacht hatte. Du meine Güte, dieser Mann dort war Graf Dmitri Scarletti! Ein sehr vermögender und erfolgreicher Mann, der sich bestimmt nur mit schönen und erfolgreichen Frauen umgab. Sie, die nur Lehrerin war und sich als durchschnittlich hübsch empfand, würde ihn nicht interessieren. Also konnte sie sich ihre Fantasien sparen.

Lily senkte den Kopf, um ihre Röte zu verbergen, ehe sie neben ihrer Tasche in die Hocke ging. „Ich fürchte, es ist kaputt.“ Trotzdem hielt sie ihm die Rolle hin, denn er war so unwiderstehlich in seiner Arroganz, dass sie nicht anders konnte.

Eine bezwingende Arroganz, die durchaus berechtigt war, wie ihr bewusst wurde, als er die Rolle mit wenigen Handgriffen wieder befestigte.

Verdammt, sie hatte sich den ganzen Tag mit diesem Koffer abgemüht, und Graf Scarletti hatte ihn im Handumdrehen wieder repariert! „Danke“, murmelte sie und richtete sich auf, um Tee einzuschenken. Gleichzeitig war sie sich jedem seiner Schritte bewusst, als er durch das Zimmer schlenderte, um seinen Platz am Kamin einzunehmen.

„Gern geschehen“, antwortete er ruhig.

Lily wich seinem eindringlichen Blick aus, als sie ihm eine Tasse Tee reichte – sorgsam darauf bedacht, seine langen Finger dabei nicht zu berühren. Denn auch so war sie sich dieses Mannes schon viel zu sehr bewusst.

Obwohl sicher viele Frauen ihn liebend gern berühren würden …

Abgesehen von seinem umwerfenden Aussehen, war seine Zurückhaltung bestimmt eine zusätzliche Herausforderung, die die Frauen in Versuchung führte. Aber sie natürlich nicht. Auch wenn sie manchmal unüberlegt handelte – wie ihre plötzliche Entscheidung bewies, Weihnachten bei Felix in Rom zu verbringen –, dumm war sie nicht. Reiche und gefährlich attraktive Männer wie dieser hier fühlten sich nicht zu einfachen Lehrerinnen aus England hingezogen. Außer vielleicht für eine flüchtige Affäre. Doch sie hatte es immer vorgezogen, sich nicht auf eine reine Bettgeschichte einzulassen.

Was, in aller Welt, ging ihr da eigentlich durch den Kopf?

Abrupt setzte sie sich in den Sessel, der auf der anderen Seite des Kamins stand, sah Dmitri Scarletti aber weiterhin nicht an, weil ihre verrückten Fantasien über ihn sie ein wenig benommen machten.

Sie sollte am besten nur so lange bleiben, bis sie herausgefunden hatte, wo Felix steckte, ehe sie sich zu seinem Apartment aufmachen würde – ob Dmitri Scarletti ihr nun ein Taxi rief oder nicht. Hoffentlich gab es für sie dann keinen Grund mehr, den Grafen jemals wiederzusehen. Denn sie konnte und durfte sich nicht erlauben, diesen für sie unerreichbaren Mann auch nur im Mindesten attraktiv zu finden.

Lily straffte sich. „Ich weiß Ihre Freundlichkeit wirklich zu schätzen, Graf Scarletti …“

„Bitte nennen Sie mich Dmitri, falls Sie mir erlauben, Sie Giselle zu nennen?“

Verdutzt sah Lily ihn an. „Nein! Ich meine …“ Sie machte eine lebhafte Geste, als sie hastig erklärte: „Alle nennen mich Lily.“

„Ach wirklich?“ Er zog die dunklen Brauen hoch. „Warum das?“

„Das ist eine lange und ermüdende Geschichte, mit der ich Ihnen nicht die Zeit stehlen möchte“, meinte Lily wegwerfend.

„Ich habe heute keine anderen Verpflichtungen mehr“, meinte er langsam. „Außerdem sollten doch wohl die Zuhörer entscheiden, ob die Geschichte es wert ist, gehört zu werden.“

Lily beugte sich vor, um sich endlich auch einzugießen. Wenn der Graf keine Eile hatte, dieses Gespräch zu beenden, könnte sie genauso gut einen Schluck Tee trinken. Vielleicht würden ihre Hände dann auch nicht mehr so sehr zittern …

Dieser bezwingend attraktive Mann schüchterte sie ein. Und das sollte etwas heißen bei einer Frau, die es gewohnt war, mit starrköpfigen Direktoren und herablassenden Kollegen umzugehen.

Doch er war offensichtlich nicht nur reich und selbstbewusst. Er hatte auch etwas von einem Jäger an sich, der in aller Ruhe seiner kleinen und schwachen Beute auflauerte.

Sicher, im Vergleich zu ihm mochte sie klein sein – besser gesagt, sogar im Vergleich zu den meisten Männern –, aber sie war ganz gewiss nicht schwach. Vielmehr war sie es gewohnt, eine wilde Horde sechzehn- bis achtzehnjähriger Jungen und Mädchen im Zaum zu halten. Schwäche konnte sie sich da nicht erlauben.

„Bitte, fahren Sie fort“, lud der Graf sie freundlich ein.

„Es ist wirklich nicht besonders interessant“, beteuerte Lily.

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Wie ich schon sagte, habe ich heute keine anderen Verpflichtungen.“

Was ihr doch eigentlich egal sein konnte, oder nicht? Sie wollte eigentlich nur zu Felix, um mit ihm auszugehen und Weihnachten zu feiern. Apropos Weihnachten … Es gab in diesem wunderschönen Raum überhaupt keinen Weihnachtsschmuck, ganz zu schweigen von einem Christbaum, der darauf hindeuten würde, dass in zwei Tagen Weihnachten war. Feierte man es in Italien denn nicht? Doch, natürlich, nur dass der Weihnachtsmann hier Babbo Natale hieß. Vielleicht feierte nur Graf Scarletti es nicht?

Und vielleicht wirbelten ihre Gedanken ja nur so durcheinander, weil sie nicht die Absicht hatte, diesem arroganten, distanzierten Mann persönliche Details aus ihrem Leben zu erzählen?

„Schön“, meinte Lily knapp. „Meine Mutter nannte mich Giselle, nach ihrem Lieblingsballett, aber es wurde bald klar, dass Felix den Namen nicht aussprechen konnte. Aus seinem Mund klang es wie ‚Lelly‘, später wurde dann ‚Lily‘ daraus. Man kennt mich schon immer als Lily. Was sicher auch gut so ist. Denn nach nur zwei Ballettstunden, die ich mit sechs bekam, war klar, dass ich zwei linke Füße hatte. Und die Anmut eines Elefanten“, erklärte sie bedauernd, als der Graf sie fragend ansah.

Dmitri wusste, dass er sich über Lilys Erzählung köstlich amüsiert hätte, wenn er ihr auf einer Dinnerparty oder einem anderen gesellschaftlichen Ereignis begegnet wäre. Doch im Moment gingen ihm zu viele andere Dinge durch den Kopf, sodass ihm das Lachen vergangen war.

„Das kann ich mir kaum vorstellen“, sagte er.

„Aber es stimmt, ganz sicher.“

Langsam beugte Dmitri sich vor, um seine Tasse auf dem Silbertablett abzustellen. „Darf ich fragen, ob Sie heute schon etwas von Felix gehört haben?“

Plötzlich fühlte Lily sich regelrecht durchbohrt von seinem eindringlichen Blick. Dmitri musste die grünen Augen von seiner russischen Großmutter geerbt haben, genauso wie die scharf geschnittenen Züge und seine beeindruckende Größe.

Jedenfalls fühlte sie sich in die Ecke gedrängt. „Ich … Nein. Es war ausgemacht, dass wir uns am Flughafen treffen.“

„Offensichtlich hat er sich nicht daran gehalten“, stellte er kühl fest.

„Nein. Aber ich nahm an, dass Sie ihn anderweitig brauchen.“ Ihr Unbehagen kehrte jetzt mit aller Macht zurück.

Diese schweigsame Fahrt vom Flughafen, die zum Palazzo Scarletti führte statt zum Apartment ihres Bruders … Das plötzliche Verschwinden des Chauffeurs Marco, kaum dass sein Arbeitgeber sich oben auf dem Balkon gezeigt hatte … Dmitris wenig hilfreiche Antworten auf ihre Fragen … Die seltsame und gespenstische Stille im Palazzo, als wären sie und Dmitri die Einzigen hier …

Lily verspannte sich. „Haben Sie meinen Bruder heute überhaupt schon gesehen?“

Sein Mund wurde schmal. „Leider nicht.“

Seine Verärgerung verunsicherte sie noch mehr. „Wo ist er denn dann?“

„Das würde ich auch gern wissen“, erwiderte Dmitri entschieden, und seine grünen Augen wirkten eisig. „Sind Sie sicher, dass Sie heute nichts von Felix gehört oder mit ihm gesprochen haben?“

„Natürlich bin ich das.“ Lily spürte, wie sie allmählich ungehalten wurde. „Ich muss doch wissen, ob ich mit meinem eigenen Bruder gesprochen habe.“

Er atmete tief durch. „Keine SMS? Gar nichts?“

„Nein …“ Sie stockte. „Allerdings hatte ich seit meiner Ankunft in Rom noch nicht die Möglichkeit, zu prüfen, ob er angerufen oder eine SMS geschrieben hat.“

Stirnrunzelnd stand sie auf, um in ihrer großen Schultertasche nach ihrem Handy zu suchen – keine leichte Aufgabe, weil die Tasche ihre Geldbörse, einige Bücher, ihr Make-up, einen Fettstift für die Lippen, einen Stift, Süßstoff und mehrere Döschen Pfefferminzbonbons enthielt. „Sagen Sie mir doch einfach, was hier überhaupt los ist.“ Endlich fand sie ihr Handy und nahm es heraus. „Vielleicht könnte ich …“ Abrupt hielt sie inne, als Dimitri plötzlich aufstand, zu ihr trat und es ihr aus der Hand nahm. „He!“, protestierte Lily empört und ließ ihre Tasche wieder auf den Boden fallen. „Was soll das?“

Ohne sich darum zu scheren, sah er aufs Display. „Da sind anscheinend zwei Nachrichten.“

„Nachrichten, die offensichtlich für mich bestimmt sind!“ Schnell entriss sie ihm das Handy.

An seiner Wange zuckte ein Muskel. „Sie machen die Situation auch nicht besser, wenn Sie sich bewusst querstellen.“

„Dann erklären Sie mir vielleicht mal, was Sie mit dieser ‚Situation‘ meinen, damit ich mich erst gar nicht querstellen muss.“ Herausfordernd funkelte Lily ihn an.

Dmitri atmete tief durch. Ihm war durchaus bewusst, dass er nicht so beherrscht war wie sonst. Als Entschuldigung konnte er nur anführen, dass es ein langer und schwieriger Vormittag gewesen war, und deshalb hatte er keine Lust, sich mit der starrköpfigen, wenig hilfreichen Lily Barton herumzuschlagen. „Hören Sie sich Ihre Nachrichten an, und dann sagen Sie mir, um was es geht“, befahl er ihr schroff.

Bei seinem Ton hob sie überrascht die Brauen. „Sollte ich das Gefühl haben, dass Sie davon wissen müssen, werde ich das vielleicht tun.“

Kühl betrachtete er sie, während er den Impuls bezwang, sie zu schütteln. „Hören Sie Ihr Handy bitte einfach ab“, stieß er schließlich hervor und ballte die Hände zu Fäusten.

Lily schluckte hastig, ehe sie den Blick von ihm abwandte und sich das Telefon ans Ohr hielt, um ihre Nachrichten abzuhören. „Die erste ist privat“, erklärte sie verärgert. Sie war von Danny, der ihr nachträglich eine schöne Zeit in Rom wünschte. Zweifellos mit dem Hintergedanken, dass sie beide nach Weihnachten wieder zusammenkommen würden. Die Hoffnung stirbt zuletzt! „Die zweite ist …“

Ihre Stimme verlor sich, als Lily klar wurde, dass die Nachricht von Felix stammte und dieser sie um neun Uhr morgens hinterlassen hatte, ehe sie überhaupt zum Flughafen aufgebrochen war. Allerdings hatte sie zu dieser Zeit draußen vor ihrem Apartment gestanden und auf ihr verspätetes Taxi gewartet. Auf den Gedanken, dass jemand ihr eine Nachricht hinterlassen haben könnte, war sie zu dem Zeitpunkt nicht gekommen.

Sie spürte, wie sie anfing zu zittern, weil ihr Bruder sehr eindringlich sprach. „Komm nicht nach Rom, Schwesterherz“, warnte er. „Ich erkläre dir alles, wenn wir uns wiedersehen, aber komm nicht nach Rom. Auf keinen Fall!“

„Was, zum …?“ Verwirrt sah Lily den Grafen an, der ihr wieder das Handy wegnahm, um sich die zweite Nachricht anzuhören. „Warum sagt Felix, dass ich auf keinen Fall nach Rom kommen soll?“, fragte sie verunsichert, als sie ein gefährliches Funkeln in seinen grünen Augen bemerkte. „Wo ist er?“

Dmitri klappte das Handy zu. „Eine interessante Frage, wie ich schon sagte …“

„Dann verlange ich diesmal eine Antwort darauf!“, beharrte Lily und blickte ihn vorwurfsvoll an, während sie es ihm entriss.

Ausgerechnet jetzt fiel Dmitri zu seinem Verdruss auf, dass Lilys blaue Augen nun wie Saphire funkelten. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre perfekt geschwungenen Lippen trotzig verzogen.

„Offensichtlich wissen Sie, was los ist. Sonst hätten Sie sich nicht die Mühe gemacht, meinen Flug umzubuchen und mich vom Flughafen abholen zu lassen.“

Sie ist nicht nur schön, sondern auch intelligent, überlegte Dmitri und dachte daran, wie erleichtert er gewesen war, als er die Information erhielt, dass Giselle Barton auf der Passagierliste für den Flug nach Rom stand. Denn noch wenige Stunden zuvor hatte er gefürchtet, Felix könne sich mit ihr in Verbindung setzen und sie warnen.

Was dieser auch getan hatte …

„Nein, das hätte ich nicht“, entgegnete er und ging zum Kamin. „Aber ich habe keine Ahnung, wo Ihr Bruder sich im Moment aufhält.“ Sonst würde er wohl kaum seine Zeit damit verschwenden, sich mit seiner wenig hilfsbereiten Schwester zu unterhalten. Doch wie die Dinge nun einmal standen, konnte er wohl leider nur mit ihrer Hilfe herausfinden, wo Felix steckte. „Eins kann ich Ihnen allerdings versichern. Wenn ich weiß, wo er steckt, werde ich dafür sorgen, dass er Italien sofort verlässt und ihm in Zukunft die Einreise verweigert wird.“

Lily wurde plötzlich sehr still. Ihre Verwirrung war nichts im Vergleich zu der beängstigenden kalten Wut, die von Dmitri Scarletti ausging. Wut auf sie, genauso wie auf ihren Bruder.

Was, um Himmels willen, hatte Felix getan, dass er den kalten und zweifellos tödlichen Zorn dieses Mannes auf sich gezogen hatte?

Was es auch sein mochte – sie würde nicht hilflos zusehen, wie dieser Mann ihren Bruder angriff, und sei es mit Worten oder körperlich. „Sie jagen mir keine Angst ein, Graf Scarletti“, erklärte Lily und presste verärgert die Lippen zusammen, als sie merkte, dass er ihre schlanke, kleine Gestalt mit einem kurzen, amüsierten Blick bedachte. „Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Ich bin sehr gut im Kickboxen und schrecke nicht davor zurück, meine Fähigkeiten anzuwenden.“

Gegen seinen Willen flammte Bewunderung in seinem Blick auf, und Dmitri nickte. „Wenn dies alles vorbei ist, würde ich mich auf eine Kostprobe Ihres Könnens freuen. Aber im Moment“, fuhr er schnell fort, weil Lily den Mund öffnete, „interessieren mich weniger Ihre Drohungen als der Aufenthaltsort Ihres Bruders und meiner Schwester. Ich möchte sie zu ihrer Familie zurückbringen und einen Skandal verhindern.“

Jetzt war Lily völlig verwirrt. Was hatte Claudia Scarletti mit alldem zu tun?

„Ihre Schwester?“

Dmitri warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich wünschte, Sie wären in dieser Angelegenheit so unschuldig, wie Sie vorgeben, Miss Barton“, sagte er schroff.

„Das bin ich. Zumindest was diese Angelegenheit betrifft.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Davon, dass meine Schwester und Ihr Bruder heute Morgen durchgebrannt sind!“, fuhr er sie an, mit seiner Geduld offensichtlich am Ende.

Lily zuckte zusammen.

Durchgebrannt?

Felix?

Mit Claudia Scarletti?

3. KAPITEL

„Nein!“, protestierte Lily. „Das haben Sie sicher missverstanden“, fuhr sie zuversichtlich fort. „Es muss sehr beunruhigend sein, dass Ihre Schwester verschwunden ist. Aber Felix hat nichts damit zu tun, das versichere ich Ihnen. Ich weiß genau, dass er in eine junge Frau namens Dee verliebt ist. Seit zwei Monaten schwärmt er ständig in den höchsten Tönen von ihr.“

Jedes Mal, wenn Felix sie angerufen oder ihr eine SMS geschrieben hatte, gab es für ihn nur ein Thema: die junge Frau, die er in Italien kennengelernt und in die er sich verliebt hatte.

„Vielleicht hatte er auch Probleme damit, den Namen Claudia auszusprechen?“, murmelte Dmitri verdrossen.

Lily wurde blass. „Wie bitte?“

Verächtlich verzog er den Mund. „‚Dee‘ ist offensichtlich der Name, den er meiner Schwester gegeben hat.“

Ungläubig betrachtete sie ihn. Was er da sagte, konnte nicht stimmen. Oder doch? Felix hätte es ihr sicher gesagt, sollte er sich in die Schwester seines Chefs verliebt haben.

Oder nicht?

Auf jeden Fall hätte sie ihm dann gesagt, dass das verrückt sei.

Claudia Scarletti! Die junge und schöne Schwester eines der mächtigsten und reichsten Männer Italiens. Das war wirklich komplett verrückt. Sicher, Felix hatte schon einiges angestellt, das man nur als unvernünftig bezeichnen konnte, aber er war hoffentlich nicht so dumm, mit der kleinen Schwester des Grafen Scarletti durchzubrennen?

Dmitri hingegen schien felsenfest davon überzeugt …

Lily spürte, wie sie blass wurde. „Sind Sie sich absolut sicher?“

„Ganz sicher“, antwortete er knapp, griff in die Brusttasche seines dunklen Jacketts und zog ein gefaltetes Stück Papier heraus. „Meine Schwester hat mir das hier dagelassen.“ Er presste die Lippen zusammen. „Vermutlich in der falschen Annahme, dass ich nicht nach ihr suche, wenn ich weiß, dass sie mit ihrem Liebhaber zusammen ist.“

Ihre Hand zitterte, als sie den Zettel entgegennahm. Sie faltete ihn auseinander und starrte einige Sekunden auf die Zeilen, ehe sie ihn ihm zurückgab. „Tut mir leid, ich kann kein Italienisch lesen.“ Nur den Namen Felix hatte sie einige Male in dem Text erkennen können. Oh nein!

Sie wich zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Inzwischen fürchtete sie, Dmitri Scarletti könnte doch recht haben, was Felix’ Beziehung zu seiner Schwester betraf.

Bestimmt hatte er sie deshalb seit dem Abflug in London bis zu ihrer Ankunft im Palazzo mehr oder weniger unter Beobachtung gestellt. Weil er herausfinden wollte, ob sie etwas über die Pläne ihres Bruders wusste.

Grimmig erinnerte Dmitri sich daran, wie an diesem Morgen jemand verzweifelt an die Tür seiner Suite geklopft und ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Er war erst wenige Stunden zuvor von einem sehr frustrierenden Treffen mit der Frau zurückgekehrt, die bis vor sechs Wochen seine Geliebte gewesen war. Leider hoffte sie immer noch, sein Interesse an ihr wieder entfachen zu können.

Es war ein unerfreulicher und schwieriger Abend gewesen. Dmitri hatte versucht, in seiner Zurückweisung nicht zu grausam zu sein, doch schließlich war ihm keine Wahl geblieben, da Lucia mit allen Mitteln versucht hatte, ihn beim Essen zu verführen. Eine unwürdige Situation, auf die er keinen Wert legte.

Als er dann erfuhr, dass Claudia während der Nacht mit seinem englischen Assistenten durchgebrannt war, war jeder Gedanke an Lucia ausgelöscht gewesen. Stattdessen hatte er eine gründliche, aber diskrete Suche nach seiner kleinen Schwester gestartet. Kalte Angst hatte ihn erfasst, als er ihre Notiz las, in der sie ihm erklärte, warum und mit wem sie verschwunden war. Erst Stunden später, nachdem er Claudias Freunde befragt hatte, ohne etwas Neues zu erfahren, hatte man ihren Wagen gefunden. Er war am Flughafen Leonardo da Vinci Airport abgestellt worden.

Dieser Fundort hatte ihm auch wieder in Erinnerung gerufen, dass Felix darum gebeten hatte, den Nachmittag freinehmen zu dürfen, um seine Schwester dort abholen zu können …

Einige Anrufe später hatte er nicht nur die Flugnummer dieser Frau gewusst, sondern auch in die Wege geleitet, dass sie von ihrer Ankunft an – falls sie am Flughafen in London eintreffen würde – bis zu seinem Palazzo unter ständiger Aufsicht stand, damit sie auch sicher ankommen würde.

Dmitri betrachtete sie nun aus leicht zusammengekniffenen Augen. „Es sieht so aus, als hätten die beiden sich die letzten Monate heimlich getroffen und nun beschlossen, zusammen wegzulaufen“, meinte er scharf.

Lily versuchte immer noch, das zu verarbeiten, was Dmitri ihr eben mitgeteilt hatte. Selbst sie sah ein, dass diese Beziehung völlig unpassend war. Was mochte da erst Dmitri Scarletti davon halten? Obwohl es nicht schwer zu erraten war, seinem wütenden Blick nach zu urteilen.

Felix war auf jeden Fall attraktiv genug, um Claudias Interesse erregen zu können, und er hatte zweifellos auch Humor. Aber alles andere an ihm passte nicht zu einer so reichen, aristokratischen jungen Frau.

Felix hatte kaum Geld – außer dem Gehalt, das er bei Graf Scarletti bekam. In England hatte er zur Miete gewohnt und sogar sein altes Auto verkauft, ehe er vor drei Monaten nach Italien gezogen war.

Um es kurz zu sagen: Felix war sicher nicht der passende Mann für Claudia – was ihr älterer Bruder offenbar genauso sah.

Plötzlich runzelte Lily die Stirn. „Warum heimlich?“

Wieder zuckte ein Muskel an Dmitris Wange. „Wie bitte?“

„Warum sollten Felix und Claudia das Bedürfnis gehabt haben, sich die letzten zwei Monate heimlich zu treffen?“

Dmitri zog die Brauen hoch. „Nun, weil Claudia vielleicht wusste, dass ich strikt gegen eine solche Verbindung bin“, erwiderte er.

„Ist das der einzige Grund?“

„Ist das nicht Grund genug?“, gab er kühl zurück.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht … „Ich weiß es nicht. Ist es so?“ Herausfordernd sah Lily ihn an. „Ich kann nachvollziehen, dass Felix nicht Ihre erste Wahl als Freund Ihrer Schwester ist …“

„Oder meine letzte.“ Missbilligend verzog er den Mund.

„Sie müssen nicht gleich beleidigend werden.“ Ihre Verärgerung trieb ihr die Röte in die Wangen.

„Ach nein?“

„Zumindest ist er kein Krimineller oder Drogenabhängiger.“

„Wollen Sie damit also sagen, dass ich für diesen winzigen Pluspunkt auch noch dankbar sein soll?“ Er begann, rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Wie eine große Raubkatze, die im Käfig eingesperrt war. Und die jederzeit mit ihren tödlichen Krallen ausholen konnte.

Wobei sie im Moment die Einzige war, die sich in seiner Reichweite befand …

Lily versuchte, sich daran zu erinnern, was Felix ihr über die junge Frau erzählt hatte, in die er verliebt war – außer dass sie „wundervoll, fantastisch und unschuldig“ war. Unschuldig? Oh nein! Hatte er das im körperlichen Sinne gemeint? „Wie alt ist Claudia?“

Dmitri blieb kurz stehen. „Zufällig wird meine Schwester morgen einundzwanzig.“

„Einundzwanzig?“, wiederholte Lily ungläubig, während sie aufstand. „Du meine Güte! So, wie Sie sich aufführen, dachte ich, sie wäre erst sechzehn und keine erwachsene Frau.“ Mit einundzwanzig hatte sie bereits gearbeitet, um ihr Studium finanzieren zu können. „Offenbar hat sie ihren eigenen Kopf.“ Was nicht überraschen sollte, falls Claudia Ähnlichkeit mit ihrem arroganten älteren Bruder hatte. „Und sie ist sicher alt genug, um selbst zu entscheiden, ob sie sich verlieben will oder nicht. In Felix oder irgendeinen anderen.“

Verächtlich sah Dmitri sie an. „Sie hat sich bloß in sein … englisches Aussehen verliebt.“ Sein Blick wurde düster. „Felix hat blondes Haar, blaue Augen und …“

„Ist mein Zwillingsbruder.“

„Wie bitte?“, hakte Dmitri verständnislos nach.

Lily lächelte. „Felix und ich sind Zwillinge. Uns trennen bei der Geburt nur fünf Minuten.“

Kurz schloss er die Augen. „Wer von Ihnen ist älter?“

„Ich“, erklärte sie.

Jetzt entdeckte er auch gewisse Ähnlichkeiten beim Teint und bei der Gesichtsform. Und er musste anerkennen, dass die sechsundzwanzigjährige Lily Barton genauso schön war wie ihr Bruder attraktiv …

Dmitri wandte sich von der zarten Schönheit ab und starrte aus dem Fenster, auf der Suche nach der besänftigenden Ruhe, die er immer empfand, wenn er die majestätische Schönheit seiner geliebten Stadt Rom betrachtete. Eine Ruhe, die sich an diesem Tag nicht einstellte. Er wusste, dass er erst Frieden finden würde, wenn seine Schwester sicher zu ihm zurückgekehrt war.

Er war fünfzehn gewesen, als seine Mutter bei Claudias Geburt starb. Trotzdem hatte er seine Schwester von jeher angebetet und deshalb sechs Jahre später, als ihr Vater einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, nur zu gern die Vormundschaft übernommen. Es war nicht immer einfach gewesen. Die meiste Zeit hatte er damit verbracht, ihr eine glückliche Kindheit und Jugend zu bieten, ja, er war sogar so weit gegangen, seine Ehe- und Familienplanung zurückzustellen, bis Claudias Zukunft gesichert war.

Jetzt wurde ihm bewusst, dass er vielleicht anders hätte handeln sollen. Eine Frau hätte ihn vielleicht davon abgehalten, Claudia zu verwöhnen und ihr jeden Wunsch zu erfüllen, wie er es getan hatte.

Nichts von alldem half ihm jetzt weiter.

„Graf Scarletti … Dmitri?“

Dmitri verspannte sich, als er Lilys heisere Stimme hörte, dann drehte er sich zu ihr um und sah sie düster an.

Tief atmete Lily durch, ehe sie sprach. „Falls Felix wirklich, wie Sie behaupten, mit Ihrer Schwester durchgebrannt ist, dann sicherlich nur in ehrenwerter Absicht.“

Zumindest hoffte sie das! Denn ihr Bruder hatte noch nie etwas so Dummes getan …

Sein Motorrad zu Schrott gefahren, als er achtzehn war, das ja. Sein Studium im ersten Jahr hingeworfen, um stattdessen mit dem Rucksack durch die Welt zu ziehen, auch das. Drei Monate später hatte er sie von Australien aus angerufen und um Geld gebeten, das er ihr zurückzahlen wollte, sobald er als Skilehrer in Frankreich genug verdient hätte. Felix konnte man viel nachsagen, aber er war kein Schmarotzer.

Trotzdem hatte sie erleichtert aufgeatmet, als er vor drei Jahren endlich seine Wanderlust aufgab und sesshaft wurde. Er hatte einen Kurs in einer Wirtschaftsschule belegt und sich in einem Unternehmen in England zum Assistenten der Geschäftsleitung hochgearbeitet. Vor drei Monaten war er dann nach Rom gegangen, um als Assistent des Grafen anzufangen.

Sie war schon immer die Vernünftigere gewesen, die Verantwortung übernahm. Die wieder geradebog, wenn Felix wieder einmal in der Klemme steckte.

Dmitris Miene zeigte ihr jedoch, dass diesmal vielleicht nichts mehr geradezubiegen war.

Sein Mund wurde schmal. „Die Absichten Ihres Bruders interessieren mich nicht, da meine Schwester bereits einem anderen versprochen ist.“

„Was sagen Sie da?“ Lily hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.

Dmitri nickte. „Zumindest war es so geplant. Morgen an ihrem Geburtstag sollte Claudias Verlobung mit Francesco Giordano verkündet werden, in ihrem Haus in Venedig.“

Stattdessen war Claudia mit einem anderen Mann davongelaufen! „Könnte das der Grund sein, warum sie und Felix ausgerechnet heute durchgebrannt sind?“

Scharf atmete Dmitri ein. „Möglich.“

„Was bedeuten würde, dass Claudia diesen Francesco Giordano nicht liebt“, schloss Lily.

Nun kniff er die Augen zusammen. „Die Verlobung wurde schon an Claudias sechzehntem Geburtstag festgelegt.“

Gelassen zuckte Lily die Schultern. „Offensichtlich hat sie ihre Meinung geändert, seit sie Felix kennt. Und da die Verlobung noch nicht offiziell bekanntgegeben wurde, ist ja kein wirklicher Schaden entstanden.“

„Die Giordanos und die Scarlettis besitzen benachbarte Weinberge oberhalb von Venedig“, erklärte er schroff.

Lily warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Wie romantisch – eine Ehe, die im Vorstandszimmer beschlossen wurde! Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Claudia lieber mit einem attraktiven Engländer verschwindet, in den sie sich verliebt hat, als mit ihrem nächsten Nachbarn eine arrangierte Ehe einzugehen“, meinte sie sarkastisch.

Dmitri wirkte verärgert. „Von diesen Dingen verstehen Sie auch nichts.“

„Ich verstehe genug!“ Die Entrüstung war ihr deutlich anzusehen, an dem flammenden Blick, den geröteten Wangen und den spöttisch verzogenen Lippen.

„Francescos Interesse an ihr ist offensichtlich nicht nur auf den Weinberg beschränkt.“ Verärgert stellte Dmitri fest, dass er dieses Arrangement nun auch noch verteidigte.

„Für mich ist nichts ‚offensichtlich‘ an der Geschichte“, gab Lily zurück. „Vielmehr finde ich es ziemlich obszön, dass Sie Ihre Schwester an einen Mann verheiraten wollen, der vermutlich alt genug ist, um ihr Vater zu sein.“

„Francesco ist der einzige Sohn von Franco Giordano und fünfundzwanzig. Er und Claudia sind seit ihrer Kindheit befreundet“, entgegnete Dmitri, mit seiner Geduld am Ende, weil er sich die Beleidigungen dieser Frau anhören musste.

„Hat er denn keine ältere oder jüngere Schwester, die Sie heiraten könnten, um die geschäftliche Verbindung zu stärken? Damit Claudia sich nicht opfern muss?“, fragte sie herausfordernd.

In seinem ganzen Leben hatte noch nie jemand so mit ihm gesprochen. „Francesco ist Einzelkind“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Wie schade“, meinte sie trocken.

„Claudia hat nie angedeutet, dass sie über diese Vereinbarung unglücklich ist“, beteuerte er.

„Dass sie einen Tag vor ihrer offiziellen Verlobung mit einem anderen Mann durchbrennt, könnte doch darauf hindeuten, meinen Sie nicht?“ Spöttisch hob sie eine Braue.

Dmitri ballte die Hände im Rücken zu Fäusten, denn er stand kurz davor, diese unverschämte junge Dame zu erwürgen.

„Nur aus Interesse – wie haben Sie Claudias derzeitige … Abwesenheit denn Francesco und seiner Familie erklärt?“, fragte sie nun neugierig.

Vielleicht sollte er sie einfach nur gehörig schütteln, statt sie zu erwürgen. „Nicht, dass es Sie etwas angehen würde, aber ich habe sowohl die Geburtstagsfeier als auch die offizielle Ankündigung der Verlobung für morgen Abend mit der Ausrede abgesagt, dass Claudia an … Mumps erkrankt ist.“

„Sehr schlau.“ Bewundernd sah sie ihn an. „Nicht nur, weil Claudia dann hochgradig ansteckend ist, sie kann mit ihren geschwollenen Wangen auch für ein paar Tage nicht so gut sprechen und ihn deshalb nicht anrufen.“

„Wie schön, dass es Ihre Zustimmung findet.“

Jetzt wirkte Lily nachdenklich. „Aber Ihnen ist doch klar, dass diese Ausrede nur für begrenzte Zeit gültig ist?“

„Danach wird Claudia auch wieder wohlbehalten zu Hause sein, dafür werde ich sorgen.“

Spöttisch zog sie eine Braue hoch. „Man kann ein Pferd zwar zum Wasser führen, aber trinken muss es selbst, Dmitri? Was ich damit sagen will …“

„Ich weiß durchaus, was Sie damit sagen wollen, Miss Barton …“

„Lily, bitte“, unterbrach sie. „Schließlich sind wir beinah verwandt.“

Wobei beinah das wichtigste Wort war, wie ihr bewusst wurde. Denn er schien seinen Zorn nur mühsam zu zügeln. Allerdings war Dmitri zu kühl und beherrscht, um tatsächlich aus der Haut zu fahren und sie anzubrüllen, wie andere es getan hätten.

Was es für sie umso gefährlicher machte, ihn derart aufzuziehen. Aber sie konnte nicht anders. Denn dieser Mann war so anmaßend, dass sie ihm einfach weiter widersprechen musste.

Abschätzig verzog er den Mund. „Wenn Claudia erst wieder da ist und ich mit ihr sprechen konnte, wird sie schon einsehen, dass sie falsch gehandelt hat.“

„Ich sehe es förmlich vor mir – wie der große, dominante Bruder seine viel jüngere, unschuldige Schwester einschüchtert“, überlegte sie frech.

„Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, als furchteinflößend und dominant beschrieben zu werden.“

„Zu spät“, gab Lily zurück, die seine kalte Entschlossenheit ziemlich furchteinflößend fand.

Erneut presste Dmitri die Lippen zusammen. „Und soweit ich mich erinnere, haben Sie Claudia eben noch als erwachsene Frau bezeichnet, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann, stimmt’s?“

„Was nicht ausschließt, dass sie noch unschuldig ist.“

„Offenbar kennen Sie meine Schwester nicht.“ Er warf ihr einen spöttisch-belustigten Blick zu.

Lily krauste die Stirn. „Felix hat mir versichert, dass Dee süß und unschuldig ist.“

„Unschuldig, das sicher“, stimmte Dmitri zu, wobei er hoffte, dass es tatsächlich noch stimmte. „Aber ‚süß‘ scheint mir doch etwas übertrieben.“

„Ist Claudia denn nicht süß?“

Sein Lächeln wirkte hart. „Zuckersüß – solange sie ihren Willen bekommt.“

„Du meine Güte.“ Irgendwie zweifelte sie daran, dass Felix diese Seite an Claudia kannte.

„So ist es.“ Dmitri lachte freudlos auf. „Außerdem sollten Sie wissen, dass es bis zu Claudias fünfundzwanzigstem Lebensjahr in meiner Macht steht, sie zu enterben.“

Forschend betrachtete sie ihn. Seine harten Züge bewiesen, dass er durchaus fähig war, genau das zu tun.

„Ist Ihr Bruder denn in der Lage, ihr ein Leben in Reichtum und Überfluss zu bieten, wie sie es gewohnt ist?“

Ihre Wangen fühlten sich heiß an. „Sie wissen, dass er das nicht kann.“

„Ja“, bestätigte er. „Und wenn Claudia sich dessen erst einmal bewusst ist, wird sie von ihrem Engländer zutiefst enttäuscht sein.“

Falls Claudia Scarletti wirklich das verwöhnte reiche Mädchen war, als das er sie beschrieb.

„Und Felix wird sicher genauso enttäuscht sein, wenn er mitbekommt, dass sie nicht länger erbt“, fuhr Dmitri fort.

„Ich glaube, ich habe mir Ihre Beleidigungen jetzt lange genug angehört.“ Lily nahm ihre Schultertasche vom Boden auf. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen … Ich glaube, ich sollte mir jetzt ein Taxi rufen und mir irgendwo ein Hotel für die Nacht suchen.“

„Nein.“

Sie hielt inne und sah ihn misstrauisch an. Schnell befeuchtete sie sich die Lippen, die plötzlich ganz trocken war. „Was soll das heißen, nein?“

Er zuckte die Schultern. „Sie sind eine junge Frau, die zum ersten Mal allein in Italien ist. Und da Ihr Bruder nicht da ist, fühle ich als sein Arbeitgeber mich dazu verpflichtet, Ihnen den Schutz und die Gastfreundschaft des Palazzo Scarletti anzubieten.“

Lily verspürte ein nervöses Flattern im Bauch. „Und ich kann Ihnen versichern, dass ich mit sechsundzwanzig sehr wohl in der Lage bin, auf mich selbst aufzupassen.“

Verächtlich lachte Dmitri auf. „Davon habe ich allerdings am Flughafen nichts gemerkt, als Sie zu einem Fremden in den Wagen gestiegen sind.“

Im Stillen musste sie ihm recht geben. Trotzdem verteidigte sie sich. „Marco hat sich während der Fahrt hierher wie ein perfekter Gentleman benommen. In Wirklichkeit scheinen Sie seit meiner Ankunft in Italien die einzige Person zu sein, vor der ich beschützt werden muss.“

Dmitri runzelte die Stirn. „Sie sind beleidigend.“

„Ich habe noch nicht einmal angefangen!“, konterte sie scharf. „Sie haben mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher bringen lassen, machen meinem Bruder ständig Vorwürfe – und beleidigen mich damit ebenfalls. Und da erwarten Sie auch noch, dass ich dankbar sein soll, weil Sie mir Schutz und Gastfreundschaft anbieten?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Vielleicht habe ich mich heute ein bisschen naiv benommen, aber Sie sollten mich auf keinen Fall für dumm halten.“

Diesen Fehler würde er sicher nicht machen. Denn er war sich ihrer Intelligenz, die sich in ihrem Blick und dem bestimmenden Ton zeigte, viel zu sehr bewusst. „Es war nicht nur ein Vorschlag, dass Sie hierbleiben sollen, Lily“, murmelte er. „Es war ein Befehl.“

Entgeistert sah sie ihn an. „Wie bitte?“

„Außer dem Zettel hat Claudia auch ihr Handy dagelassen, damit ich sie nicht anrufen und nach Hause zitieren kann“, sagte er grimmig. „Und als wir ihren Wagen am Flughafen entdeckt haben, haben wir leider das hier am Boden unter dem Beifahrersitz gefunden.“ Er zog ein zweites Handy aus seiner Jackentasche.

Lily starrte auf das kleine schwarz-silberne Handy. „Das ist von Felix …“

Scharf blickte Dmitri sie an. „Sind Sie absolut sicher?“

Benommen nickte sie. „Ich habe es ihm vor drei Monaten gekauft. Als Abschiedsgeschenk sozusagen.“ Wobei es ihr vor allem darum gegangen war, mit Felix in Italien in Kontakt bleiben zu können. „Wenn Sie es mir geben würden …“

„Wohl kaum.“ Dmitri steckte das Handy zurück in seine Tasche.

Wieder verspürte sie dieses nervöse Flattern im Bauch, diesmal noch stärker. „Was soll das?“ Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht gewichen war.

„Ganz einfach, Lily“, erwiderte er schroff. „Im Moment können Claudia und Felix nur über Festnetz oder Ihr Handy telefonieren.“

„Nur dass mein Bruder versuchen wird, mich in England anzurufen. Wenn dort ständig der Anrufbeantworter anspringt, wird er zwei und zwei zusammenzählen und merken, dass ich doch in Rom sein muss.“

„Vermutlich“, stimmte Dmitri zu. „Und da Claudia mich sicher erst anrufen wird, wenn sie dazu bereit ist, bleibt uns nur die Möglichkeit, dass Felix sich über sein Handy mit Ihnen in Verbindung setzt.“ Er hob die Schultern. „Und Sie wären vermutlich nicht bereit, dieses Handy dazulassen, wenn Sie gehen, stimmt’s?“

„Ganz sicher nicht!“, erklärte Lily empört.

„Das dachte ich mir“, meinte er rundheraus. „Und da meine Schwester nun offenbar auf Gedeih und Verderb Ihrem Bruder und dessen ‚ehrenwerten Absichten‘ ausgeliefert ist, sollte ich seiner Schwester im Gegenzug wohl auch diesen Gefallen tun.“

Lily starrte ihn an, nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Oder ihn überhaupt verstehen wollte, wenn er das meinte, was sie annahm. „Können Sie mir nicht klar sagen, was Sie wollen?“, fragte sie nervös.

„Natürlich.“ Ein freudloses Lächeln entblößte seine weißen Zähne. „Bis Ihr Bruder meine Schwester zurückgebracht hat, werden Sie im Palazzo Scarletti bleiben, als mein persönlicher Gast.“

Und damit bestätigte er ihre Vermutung!

4. KAPITEL

„Sie sind doch verrückt!“

Vermutlich stimmte das, wie Dmitri widerwillig einräumte. Es war ein Tag voll schockierender Ereignisse und Enttäuschungen gewesen. Claudias Brief, in dem sie ihm von ihrer Flucht mitteilte, war nur der Anfang des Albtraums gewesen.

Dann war eine verzweifelte Suche im Palazzo und danach die noch frustrierendere Befragung der Freunde Claudias gefolgt, die er kannte. Später war ihr Wagen am Flughafen gefunden worden, zusammen mit dem verdammten Handy, das Lily Barton eben als das ihres Bruders identifiziert hatte. Nach mehreren Anrufen hatte er überdies herausgefunden, dass das Paar für diesen Tag weder einen Flug gebucht noch einen Wagen gemietet hatte.

Im Grunde hatten Claudia und Felix sich in Luft aufgelöst.

Lily und dieses Handy waren noch sein einziger Hoffnungsschimmer. Felix würde seine Schwester vielleicht zumindest in den nächsten Tagen anrufen.

Deshalb war Dmitri keine Wahl geblieben, als sie – und dieses Handy – hierzubehalten, wo er sie sehen und hören konnte.

Stolz war er ganz und gar nicht auf seine Entscheidung, sie als unfreiwilligen Gast bei sich zu behalten. Doch er war nun einmal fest entschlossen, seine Schwester zu finden und wieder nach Hause zu holen, ehe sie etwas noch Leichtsinnigeres anstellen konnte.

Sollte er sie schnell genug finden, konnte er vielleicht einen größeren Skandal verhindern, indem er ihr Verschwinden vertuschte. Aber eine völlig indiskutable Ehe unter den Teppich zu kehren war eine ganz andere Sache …

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht verrückt bin, Lily“, sagte er. „Nur verzweifelt.“

Ungläubig sah Lily ihn an, immer noch schockiert, weil sie im Palazzo Scarletti bleiben sollte, bei Dmitri. Noch mehr überraschte sie, dass er zugab, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Dieser Mann war doch die personifizierte Arroganz. Sein Verhalten ließ also nur zwei Schlüsse zu: Entweder war er tatsächlich so besorgt um Claudias Wohlergehen, wie er behauptete, oder er machte sich Sorgen um den geschäftlichen Zusammenschluss mit den Giordanos, wie Lily ihm schon vorgehalten hatte. Nur die Zeit würde erweisen, was der wahre Grund für seinen derzeitigen Frust war.

„Mir ist bewusst, dass Sie in Italien vermutlich als mächtiger Mann gelten, aber ich glaube kaum, dass dieser Umstand Sie davon entbindet, sich an das Gesetz zu halten“, erklärte sie.

Dmitri runzelte die Stirn. „Vermutlich?“

Krampfhaft umklammerte sie den Riemen ihrer Tasche. „Na schön, ich weiß, dass Sie ein mächtiger Mann sind. In Italien und anderswo. Aber auch Sie kommen nicht ungeschoren davon, wenn Sie eine englische Touristin kidnappen.“

Ihre Beschuldigung schien ihn nicht im Mindesten zu berühren. Vielmehr wirkte er amüsiert.

„Sie sind kein Kind, Lily. Eher würde ich sagen, ein renitenter Gast.“

„Das können Sie halten, wie Sie wollen“, gab Lily hitzig zurück. „Tatsache ist, dass ich gezwungen werde, hier zu bleiben. Und genau das werde ich dem nächsten Polizeibeamten lauthals verkünden, sobald ich hier raus bin“, versicherte sie ihm.

Daraufhin verschwand der belustigte Ausdruck in seinen Augen. „Das wäre unklug, Lily.“

„Wollen Sie mir etwa drohen?“

„Aber nein“, antwortete Dmitri trügerisch sanft. „Ich gebe Ihnen nur den Rat, in dieser delikaten Situation keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Denn dann müsste ich Ihrem Bruder in Bezug auf Claudia das Gleiche vorhalten. Und was denken Sie wohl, wem die Behörden in diesem Fall Glauben schenken würden?“

Reglos stand sie da. „Claudia würde Ihren Vorwurf von sich weisen“, flüsterte sie.

„Vielleicht.“ Er konnte nicht ganz verbergen, wie ungehalten er über seine rebellische Schwester war. „Aber sicher können Sie sich da nicht sein, stimmt’s?“

Da sie absolut nichts über Claudia wusste außer dem, was Felix ihr erzählt hatte – wobei die heutigen Ereignisse zeigten, dass er vieles ausgelassen hatte –, konnte Lily sich über gar nichts mehr sicher sein. Am allerwenigsten darüber, ob Claudia sich letztlich ihrem Bruder oder Felix gegenüber loyal verhalten würde, dem Mann, in den sie sich angeblich verliebt hatte.

Dmitri fiel es nicht schwer, den Abscheu und die Unsicherheit von ihrem ausdrucksstarken Gesicht abzulesen. Wobei er zutiefst bereute, die Ursache dieser Gefühle zu sein. Denn bis Claudia zu ihm zurückgekehrt war – hoffentlich unverheiratet –, durfte er sich von derlei Regungen in seiner Entschlossenheit nicht beeinträchtigen lassen. „Kopf hoch, Lily“, sagte er ruhig. „Ich will Ihnen ja nichts Böses. Und Sie werden sehen, dass der Palazzo Scarletti viel komfortabler ist als das Apartment Ihres Bruders.“

Ihre Augen leuchteten in einem tiefen Blau. „Ein goldener Käfig ist und bleibt ein Käfig.“

Frustriert seufzte Dmitri auf, weil sie sich weiterhin starrköpfig zeigte. „Warum kämpfen Sie immer noch gegen mich an?“

Sie zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich weil ich mich über Ihre unglaubliche Arroganz ärgere.“

Ihre Aufrichtigkeit ließ ihn zusammenzucken, zumal er sich gegen diesen erneuten Vorwurf nicht einmal verteidigen konnte. Er war tatsächlich arrogant.

Er war erst einundzwanzig gewesen, als er den Titel des Grafen Scarletti erbte, mit all den dazugehörigen Verpflichtungen – das Geschäftsimperium der Scarlettis, die zahlreichen Besitzungen und die Bediensteten, die all das instand hielten. Und er hatte die Vormundschaft über seine viel jüngere Schwester erhalten.

Natürlich hatte sein Vater ihn auf diese Eventualität vorbereitet, aber niemand hatte damit gerechnet, dass dieser Tag so schnell kommen würde. Ein Einundzwanzigjähriger als Oberhaupt der Familie Scarletti und deren Imperium war natürlich genauso eine Zielscheibe für geschäftliche Konkurrenten wie für die Kritik der älteren Familienmitglieder. Zu der Zeit war sein einziger Schutz gewesen, sich eine Arroganz zuzulegen, mit der sein Vater früher solchen Bedrohungen entgegengetreten war. Eine Lektion, die Dmitri sehr gut von ihm gelernt hatte. Vielleicht zu gut.

Aber diese bewusst überhebliche Haltung war der einzige Weg, den er kannte, um sicherzustellen, dass das Imperium der Scarlettis und deren Besitzungen fest in seinen Händen blieb.

Folglich war er es nicht gewohnt, sich oder seine Handlungen einem anderen gegenüber zu erklären – und er hatte sich noch nie für etwas entschuldigt. Seine Konkurrenten und die Familienmitglieder würden es ihm nur als Schwäche auslegen. Deshalb blieb ihm jetzt keine andere Wahl, als weiter Lilys Ärger auf sich zu ziehen.

Er straffte sich. „Vielleicht möchten Sie sich Ihre Suite ansehen?“

Lily hätte ihm am liebsten gesagt, was er mit seiner Suite machen könnte! Obwohl das nichts ändern würde. Denn Dmitri Scarletti hatte entschieden, dass sie als sein „Gast“ im Palazzo Scarletti bleiben sollte. Und sie kannte ihn bereits gut genug, um zu wissen, dass genau das auch passieren würde.

Trotzdem hob sie herausfordernd das Kinn. „Wenn ich allein bin, könnte ich einfach eines der Fenster in meiner Suite öffnen und brüllen wie am Spieß.“

„Das könnten Sie“, meinte er langsam. „Allerdings sind um diese Jahreszeit alle Fenster im Palazzo verschlossen, um die Wärme zu halten. Und die Fenster sind aus Spezialglas, damit kein Laut nach außen dringen kann.“

Das war zumindest eine Erklärung für diese gespenstische Stille im Palazzo. „Und die Tür in dem großen Holztor draußen kann wahrscheinlich nur mit einem Sicherheitscode geöffnet werden, oder?“, meinte Lily verächtlich.

Dmitri zuckte mit den Schultern. „Der Palazzo wurde im sechzehnten Jahrhundert gebaut. Damals waren solche Befestigungsanlagen dazu da, Eindringlinge abzuhalten, aber sie werden sicher auch umgekehrt funktionieren“, fügte er ungerührt hinzu.

Nicht zu fassen!

Lily schüttelte den Kopf. „Was ist mit den Bediensteten hier? Dürfte es nicht ein bisschen schwierig werden, ihnen zu erklären, warum ich hier bin, wenn sie erst einmal wissen, dass es nicht aus freien Stücken geschieht?“

Er hob eine Braue. „Ich habe doch sicher bereits erwähnt, dass Claudia und ich heute eigentlich zu ihrem Haus in Venedig aufbrechen wollten.“

„Ja. Und?“

Wieder zuckte er die Schultern. „Es ist üblich, dass wir Rom vor Weihnachten verlassen. Die Angestellten im Palazzo Scarletti haben also frei und können die Feiertage bei ihren Familien verbringen. Und da sind sie bereits …“

Ein weiterer Grund, warum es so still im Palazzo war. „Was ist mit Marco?“

„Marco ist ebenfalls zu seiner Familie gefahren, nachdem er Sie hier sicher abgeliefert hatte.“

„Soll das heißen, dass wir ganz allein hier sind?“

Fragend sah er sie an. „Haben Sie ein Problem damit?“

Ja, natürlich hatte sie ein Problem damit! War es nicht schon schlimm genug, gegen ihren Willen als Gast hier zu sein? Jetzt war sie auch noch ganz allein mit diesem gefährlichen Dmitri!

Ihr Magen krampfte sich zusammen. „Ein Arrangement, das wohl kaum akzeptabel ist.“

„In welcher Hinsicht soll es das denn nicht sein?“

Ist Dmitri mir eben auch schon so nahe gewesen? überlegte Lily nervös, als sie sich plötzlich dicht vor ihm wiederfand. Sie roch sein frisches Aftershave und bemerkte die schwarzen Bartstoppeln, die sehr sexy wirkten. Seine überwältigende Männlichkeit ließ Wärme in ihr aufsteigen und machte ihr bewusst, wie wahnsinnig attraktiv er war.

Unfähig, seinem bezwingenden Blick auszuweichen, befeuchtete Lily sich die plötzlich trockenen Lippen. „Manche Leute könnten es vielleicht … missverstehen, dass wir beide hier allein sind“, murmelte sie.

„Wer zum Beispiel?“ Langsam hob Dmitri die Hand und umfasste sanft ihre Wange.

„Hören Sie auf, sich absichtlich dumm zu stellen, Graf Scarletti“, gab sie zurück, unfähig sich zu bewegen, obwohl seine Berührung sie nervös machte.

„Ich habe Sie gebeten, mich Dmitri zu nennen“, sagte er. „Es würde mich freuen, wenn Sie es tun.“

„Auch wenn es Ihnen seltsam erscheinen mag, aber ich bin nicht im Mindesten daran interessiert, Ihnen eine Freude zu machen“, bemerkte sie sarkastisch. „Es gibt sicher einige Frauen in Ihrem Leben, die Anstoß daran nehmen könnten, dass Sie hier mit mir allein sind.“

„Einige Frauen?“

Bei seinem spöttischen Ton presste Lily die Lippen zusammen. „Sie wissen ganz genau, was ich meine.“

„Ja, so ist es.“ Er schenkte ihr ein Lächeln. „Aber in meinem Leben gibt es zurzeit keine Frauen, Lily.“ Dann nahm er eine ihrer Haarsträhnen und ließ sie durch seine Finger gleiten. „Aber vielleicht gibt es ja in England einen Mann, der überhaupt nicht damit einverstanden ist, dass Sie hier mit mir allein sind?“

Lily dachte kurz an Danny, ließ den Gedanken jedoch sofort wieder fallen. Denn für sie war die Beziehung endgültig vorbei. „Ich bin diejenige, die nicht damit einverstanden ist“, sagte sie.

„Ist das Ihre natürliche Farbe?“ Sein Blick folgte seinen Fingern, mit denen er ihr durch das Haar an der Schläfe strich.

Es war nur eine leichte Liebkosung, die ihr jedoch schon den Atem raubte. „Was meinen Sie?“

Leicht schüttelte Dmitri den Kopf. „Diese Haarfarbe habe ich noch nie gesehen. Wie Sonnenlicht, das sich im Mondlicht verfängt.“

„Sehr poetisch“, murmelte Lily, plötzlich nervös. „Selbstverständlich ist es meine natürliche Haarfarbe.“

„Es ist wunderschön“, sagte er sanft.

Bei seiner zarten Berührung pulsierte ihr Blut heiß durch die Adern. Sie war sich seiner Körperwärme und Kraft überdeutlich bewusst und spürte, wie ihre Knospen sich aufrichteten.

„Hören Sie sofort damit auf.“ Schnell wich sie einen Schritt zurück und atmete tief durch. „Ich habe nicht vor, mich zu Ihrem … Spielzeug machen zu lassen, mit dem Sie die Zeit überbrücken können, bis Ihre Schwester und Felix wieder da sind“, beteuerte sie mit zitternder Stimme.

Dass dieser Augenblick der Nähe ihn völlig ungerührt ließ, machte es nur noch schlimmer. Dmitri ließ die Hand fallen, mit der er eben noch ihre Schläfe liebkost hatte. „Schade“, murmelte er.

Lily spürte, wie sie errötete. „Könnten Sie mir jetzt mein Zimmer zeigen?“

Bewundernd betrachtete Dmitri sie. Auch wenn Lily ihm gerade einmal bis zur Schulter reichte und sicher nur halb so viel wog wie er, hatte sie keine Skrupel, ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Stirn zu bieten. Und das zeigte ihm, dass sie sich nicht im Mindesten von ihm bedroht fühlte. Zumindest nicht körperlich …

Er hatte schon mit zu vielen Frauen zu tun gehabt, um nicht zu merken, dass sie körperlich auf ihn reagierte. Sie war errötet, hatte nach Atem gerungen, und ihre harten Knospen unter dem dünnen Pullover stellten eine große Versuchung dar. Oh ja, auf der körperlichen Ebene war Lily sich seiner durchaus bewusst.

So, wie er sich ihrer überdeutlich bewusst war, was ihn selbst am meisten verblüffte.

Er hatte sich immer zu großen, dunkelhaarigen Frauen mit üppigen Rundungen hingezogen gefühlt. Lily hatte nichts von alldem, denn sie war klein und hatte silberblondes Haar. Überdies war sie fast knabenhaft schlank, abgesehen von ihren festen Brüsten.

Doch ihre warme Haut hatte sich wie Samt angefühlt, ihr Haar duftete nach Limonen und Zimt – zweifellos von dem Shampoo, das sie benutzte. In ihren Augen, so tiefblau wie Seen, konnte ein Mann sich verlieren. Und ihr Mund … Dmitri hatte noch nie so sinnlich volle Lippen gesehen, die wie geschaffen waren für einen Kuss, so perfekt geschwungen, dass er sich einen Moment in der Vorstellung verlor, wie sie sie um seinen …

Basta!

Dass er überhaupt so dachte, bewies allerdings, dass er dringend ein „Spielzeug“ brauchte, wie sie es eben genannt hatte.

Unter anderen Umständen hätte er sich vorstellen können, wie er sie genauso intim verwöhnte und ihr mit Zunge und Mund die höchsten Sinnesfreuden schenkte.

Es reichte!

Lily schien nicht zu wissen, was ihr Bruder mit Claudia vorhatte. Ihr einziges Vergehen bestand wohl darin, seine Schwester zu sein. Also wäre es grundfalsch von ihm, die Situation auszunutzen, dass sie hier allein waren.

Frustriert fuhr Dmitri sich durch das kurze Haar. „Wenn Sie dann mitkommen wollen …“

Langsam folgte Lily dem Grafen, während sie den jetzt gehorsamen Koffer – diesen Verräter! – hinter sich herzog. Was er eben auch gedacht haben mochte, es konnte nichts Erfreuliches gewesen sein, gemessen an seinem harten Blick und dem grimmigen Zug um seinen Mund.

Doch das galt genauso für ihre Fantasien, die seine Berührung ausgelöst hatte und die ihr gar nicht gefielen.

Was sollte das eigentlich alles? Zugegeben, dieser sündhaft gut aussehende Mann war die Versuchung schlechthin. Aber sie musste ihre Gefühle verdrängen und sich ins Gedächtnis rufen, warum sie nach Italien gekommen war.

Jeder andere Gedanke verflüchtigte sich, als Dmitri ihr eine Tür aufhielt und ihr den Vortritt ließ. Abrupt blieb Lily mitten in dem Wohnzimmer stehen, das beinah so groß und sicher genauso elegant eingerichtet war wie das, das sie eben verlassen hatte. War das jetzt ihr Bereich?

Offensichtlich, denn Dmitri brachte ihren Koffer in das angrenzende Schlafzimmer und legte ihn auf den Hocker am Fußende des großen Himmelbetts. Sie war zu benommen, um die ausgesprochen weibliche Note des Zimmers zu bemerken, als sie eine weitere Durchgangstür öffnete, das Licht anknipste und das luxuriöseste Badezimmer entdeckte, das sie je gesehen hatte.

Boden und Wände waren in creme- und terrakottafarbenem Marmor gefliest, in einer Ecke stand eine geräumige Duschkabine aus Rauchglas. Doch das Schönste war die riesige Badewanne, umrahmt von Grünpflanzen.

Ein vergoldeter Käfig, wirklich …

Aber trotzdem ein Käfig, rief Lily sich in Erinnerung und ging an Dmitri vorbei zurück ins Schlafzimmer. Sie ließ sich auf das Bett fallen, wobei der gesamte Inhalt ihrer Handtasche herausfiel, als sie diese neben sich auf die Decke warf.

Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, Felix wiederzusehen, mit ihm Weihnachten zu feiern und zusammen mit ihm und Dee die wunderschöne Stadt Rom zu erkunden. Doch kein Felix war da, keine Dee – nur dieser Mann und der Palazzo Scarletti mit seinem ausladenden Luxus.

Lily gab Felix jedoch keine Schuld an diesem Chaos. Nein, in ihren Augen war allein Dmitri für all das verantwortlich, was an diesem Tag passiert war. Sicher verhielt er sich seiner Schwester gegenüber genauso bestimmend wie ihr gegenüber. Und daher hatte Claudia es vermutlich nicht gewagt, ihm zu sagen, dass sie sich am nächsten Tag nicht mit Francesco Giordano verloben wollte, ganz zu schweigen davon, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte. Er hatte ihr und Felix keine andere Wahl gelassen, als heute zusammen durchzubrennen.

Die Vorstellung einer arrangierten Ehe, die dazu diente, zwei mächtige Familien zu vereinen, war in Lilys Augen schlicht grausam. Und nun, da sie Dmitri Scarletti in seiner arroganten Unbeugsamkeit kennengelernt hatte, hatte das flüchtende Paar ihr volles Mitgefühl.

Trotzdem wäre sie am liebsten vor Enttäuschung in Tränen ausgebrochen. Sie wollte doch so gern die Stadt erkunden, auf die sie während der Fahrt hierher nur einen flüchtigen Blick hatte werfen können …

„Lily?“

Mit Tränen in den Augen blickte sie zu Dmitri hinüber, der auf der anderen Seite des Zimmers stand. „Könnten Sie nicht einfach gehen und mich allein lassen?“, fragte sie heiser. „Ich würde gern ein Bad nehmen und dann vielleicht ein bisschen schlafen.“ Vielleicht die ganze Woche, die sie in Rom bleiben wollte. Oder zumindest so lange, bis dieser Albtraum vorbei war.

„Sie …“

„Würden Sie bitte gehen?“ Lily stand auf und funkelte ihn wütend an.

Dmitri ignorierte ihren aggressiven Ton, als er ihren Blick erwiderte. Lily war jetzt sehr blass, und ihre Augen schimmerten hell. Vor Ärger? Oder war es etwas anderes? Vielleicht ungeweinte Tränen?

Zweifellos musste es ein Schock für sie gewesen sein, als sie erfahren hatte, dass ihr Bruder nicht in Rom war, um sich mit ihr zu treffen, ganz zu schweigen davon, sich gegen ihren Willen als Gast beim Arbeitgeber ihres Bruders wiederzufinden. Nun ja, ehemaliger Arbeitgeber. Das Arbeitsverhältnis war für Dmitri in dem Moment beendet gewesen, als er erfuhr, dass Felix sich seit zwei Monaten heimlich mit Claudia traf.

Ja, sinnierte Dmitri, die letzten Stunden müssen schwer für Lily gewesen sein …

„Natürlich.“ Er nickte und machte Anstalten zu gehen. „Passt es Ihnen, wenn wir um acht zu Abend essen?“

Sie straffte sich und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Sie erwarten hoffentlich nicht von mir, dass ich koche, nun, da Ihr gesamtes Personal im Weihnachtsurlaub ist?“

Offenbar hatte sie wieder zu ihrer kämpferischen Form zurückgefunden. „Nein, ich erwarte nicht, dass Sie das Abendessen machen“, versicherte er ihr trocken.

„Auch kein Frühstück oder Mittag.“

Dmitri schenkte ihr ein Lächeln. „Keine Sorge, Lily, ich bin durchaus in der Lage, uns etwas zu essen zu machen, solange Sie hier sind.“

„Wirklich?“, fragte sie skeptisch.

„Ja, wirklich“, gab er zurück. „Als ich in Oxford an der Uni war, habe ich drei Jahre lang für mich selbst gekocht.“

Ihre Augen weiteten sich. „Sie haben in England studiert?“

Spöttisch hob er eine Braue. „Überrascht Sie das?“

Lily war tatsächlich überrascht. Sie hatte geglaubt, seine altmodische Einstellung wäre auch darauf zurückzuführen, dass er sein Leben bis jetzt in Italien verbracht hatte. Doch wenn Dmitri drei Jahre in England gelebt hatte, musste er gemerkt haben, dass die Dinge dort grundsätzlich anders liefen, und konnte sich nicht herausreden. Denn in England gab es zum Beispiel keine arrangierte Ehe, die dem Zweck geschäftlicher Verbindungen diente. Und dass man unverdächtige Frauen kidnappte und in einen Palast sperrte, wurde dort auch nicht gern gesehen.

Aber zumindest erklärten diese drei Jahre in England, warum er die Sprache so gut beherrschte. Auch wenn ihr nichts von dem gefiel, was er ihr zu sagen hatte.

Kühl blickte Lily ihn an. „Ich warte immer noch darauf, dass Sie gehen, Graf Scarletti.“

Autor

Carole Mortimer
<p>Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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Helen Brooks
Bereits seit über 20 Jahren veröffentlicht die britische Autorin unter dem Pseudonym Helen Brooks Liebesromane, unter ihrem richtigen Namen Rita Bradshaw schreibt sie seit 1998 historische Romane. Weit über 40 Bücher sowie einige andere Werke sind bisher unter dem Namen Helen Brooks erschienen, von Rita Bradshaw gibt es 14 Romane....
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