Diese Nacht gehört der Lust

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Endlich hat Adam seine Leidenschaft entdeckt – er fällt regelrecht über Olivia her! Bis jetzt war ihr Fast-Verlobter spröde, doch nach dem Ball gehört die Nacht nur der Lust. Und der Morgen einer bösen Wahrheit: Der Mann hinter der Maske zeigt plötzlich sein wahres Gesicht …


  • Erscheinungstag 12.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718176
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Olivia trug den warmen Pullover, den sie erst letzte Woche von der Wohltätigkeitsgruppe der Kirche bekommen hatte. Der Herbstabend war kühl, und nur die Flutlichter erhellten das Spielfeld, auf dem die Cheerleader ihre Show lieferten. Gespannte Erwartung lag in der Luft.

„Erde an Olivia.“ Ihre Freundin Beth wedelte mit der Hand vor Olivias Augen.

„Ich mag Footballspiele.“

Seufzend blickte Beth zum Ersatz-Quarterback, der auf der Bank saß. „Sieht Chuck Lamont nicht toll aus in seinem Spielerdress?“

Olivia verdrehte nur die Augen. Darauf erwartete Beth sicher keine Antwort.

Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und sie wandte sich um. Eine Gruppe von Jungen stand am Rand der Tribünen und zog die missbilligenden Blicke der Eltern auf sich. Einer von ihnen stand etwas abseits und sah sie jetzt direkt an. Ihr Herz schlug schneller. Das war Luke Rutledge – etwas älter als die anderen, etwas wilder und etwas stärker. Er lächelte ihr zu, und verlegen senkte sie den Blick.

Das ist absolut unmöglich, sagte sie sich. Es konnte einfach nicht sein, dass der aufregendste Junge der Abschlussklasse mit ihr flirtete. Nicht mit ihr, dem unscheinbaren Bücherwurm. Trotzdem versuchte sie, sein Lächeln zu erwidern, doch es sah bestimmt eher wie eine Grimasse aus. Hastig wandte sie den Blick wieder ab.

Beth schwärmte immer noch von Chuck Lamont, aber Olivia sah immer wieder verstohlen zu Luke. Lachend unterhielt er sich mit seinen Freunden und schien sie gar nicht mehr zu bemerken. Lachten sie etwa über sie? Nein, das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein.

Das Kichern von Amy Murdoch, Melissa Bowers und Lucy Jacobs drang zu Olivia, und sie sah zu Beth.

Beth verzog das Gesicht. „Die klingen wie angestochene Schweine.“

Olivia musste lachen. „Stimmt.“ Amy, Lucy und Melissa taten immer so, als seien sie die beliebtesten Mädchen der ganzen Schule.

„Tammy Cooper … beim Arzt … die Pille verschrieben …“

Obwohl Amy verschwörerisch die Stimme senkte, konnte Olivia den Namen ihrer Schwester verstehen, und als sie die drei weiter über ihre Familie lästern hörte, traten ihr Tränen in die Augen.

Sie sprang auf und lief von der Tribüne. Sie musste jetzt allein sein, und im kühlen Schatten der Tribünen war außer ihr niemand. Mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an und bekam sich langsam wieder unter Kontrolle. Da bemerkte sie eine Bewegung neben sich. Hastig hob sie ihre Brille an, um sich die letzten Tränen aus den Augen zu wischen.

„Olivia, ist alles in Ordnung?“

Luke Rutledge fasste sie um die Schultern, und sie erbebte. Anscheinend hatte sie sich sein Lächeln doch nicht eingebildet.

„Mir geht’s gut.“ Ihre Stimme klang etwas piepsig, aber seltsamerweise fühlte sie sich von Luke trotz seiner Größe und seiner breiten Schultern nicht bedroht. Er wirkte aufrichtig besorgt, fast wie ein Beschützer. Obwohl das gar nicht zu seinem Ruf passen würde.

„Ganz bestimmt?“, fragte er nach.

Sanft rieb er ihr über die Schläfen. Seine Berührung sandte ihr einen Schauer über die Haut, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Sie schob ihre Brille zurecht. „Ja wirklich, ganz bestimmt.“ Ihr Atem ging schneller. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Jungen aus der Nähe ganz anders rochen als Mädchen. Das war interessant und erregend.

„Gut.“

Andere Mädchen hätten es vielleicht geahnt, aber Olivia war völlig überrascht, als Luke sie an sich zog und küsste. Sie hatte schon vom Küssen geträumt und darüber gelesen, aber nichts davon hatte sie auf dieses Erlebnis vorbereitet. Lukes Lippen pressten sich fest und heiß auf ihre, und sie drückte sich unwillkürlich an ihn und erwiderte den Kuss. Dieses Begehren, das sie plötzlich erfasst hatte, war einfach so stark, dass sie ihm nachgeben musste.

Doch dann fiel ihr wieder das Gerede über ihre Familie und ihre Schwester ein. Bin ich genau so, wie sie von mir denken? schoss es ihr durch den Kopf. Benehmen sich Mädchen aus schlechten Verhältnissen immer so? Ist Luke mir deshalb gefolgt? Weil er glaubt, dass ich leicht zu haben bin?

Entsetzt riss sie sich von Luke los und rannte so schnell es ihre zitternden Knie zuließen davon.

Nein, so bin ich nicht! sagte Olivia sich entschieden. Und das werde ich allen beweisen!

1. KAPITEL

13 Jahre später

„Du wirst heute Abend die Schönste auf dem Ball sein.“ Beth zog eine Packung Haartönung hervor.

Olivia blickte von dem Bügelbrett auf, wo sie gerade ihr Kleid für das Kostümfest mit Spühstärke einsprühte. „Die Schönste will ich ja gern sein, aber nur, wenn ich dabei mein natürliches Braun behalten darf. Weshalb sollte ich meine Haare flammend rot färben, nur um wie ein Flittchen auszusehen?“

Beth streckte sich auf Olivias breitem Bett lang aus. „Du könntest dich aufmachen, wie du willst, du würdest nie wie ein Flittchen aussehen, glaub mir. Aber wir könnten versuchen, dass du nicht mehr wie die Prüderie in Person aussiehst. Ein bisschen Haartönung, Kontaktlinsen und schicke Kleidung, das würde schon reichen, damit du umwerfend aussiehst.“

Beth begriff in ihrer extrovertierten Art einfach nicht, worauf es Olivia ankam. Sie wollte nicht umwerfend aussehen. Dass die Leute sie für unnahbar hielten, konnte ihr nur recht sein. „Du weißt genau, dass ich keine Kontaktlinsen vertrage.“ In Gedanken ging sie ihre Garderobe durch. „Und ich kleide mich wie eine neunundzwanzigjährige Bibliothekarin mit gutem Geschmack.“

„Vielleicht kannst du dir etwas von Tammy leihen.“

„Eher friert die Hölle zu.“ Ihre ältere Schwester folgte bei ihrer Kleidung dem Grundsatz: so wenig Stoff wie nötig, so viel Haut wie möglich. Und Tammy hatte genau den richtigen Körper, um viel Haut zu zeigen. Olivia schüttelte den Kopf und blickte an sich hinunter. „Kannst du dir vorstellen, wie ich einem von Tammys Oberteilen aussehe? Selbst wenn ich viel Dekolleté zeigen wollte, da ist doch nichts. Aus dem Stoff, der dann übrig ist, könnte ich mir gleich noch einen Rock schneidern.“ Und der Spott der ganzen Stadt wäre ihr auch noch gewiss.

Beth musste lachen. „Zugegeben, aber wenn Tammy in das Alter kommt, wo die Schwerkraft sich auswirkt, wirst du noch unbekümmert Trampolin springen können. Aber jetzt mal ein paar Worte zu dieser Farbe.“

Olivia schob ihre Brille wieder nach oben und sah zu der Packung mit der Haartönung. Sie verwendete viel Zeit und Energie darauf, geschmackvoll und konservativ gekleidet zu sein. Denn ständig hatte sie das Gefühl, die ganze Stadt würde nur darauf lauern, dass sie etwas Unpassendes sagte oder tat.

Einen kurzen Moment wünschte sie, unbekümmerter zu sein, doch dieser Wunsch verflog sofort wieder. „Vergiss es. Ich will auf keinen Fall billig aussehen. Adam will heute Abend etwas Wichtiges mit mir besprechen.“ Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln.

„Wie bitte?“ Beth runzelte misstrauisch die Stirn.

Sofort legte Olivias gute Laune sich wieder. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber es klang wichtig.“

„Seit einem Monat geht ihr miteinander aus. Vielleicht will er heute mit dir schlafen. Sex ist Männern immer wichtig. Kommt gleich nach atmen, essen und fernsehen.“ Seufzend legte Beth die Packung mit der Haartönung wieder weg.

„Du denkst immer das Schlimmste, Beth.“

„Was ist daran schlimm? Ihr wart sechs Mal miteinander aus, und er hat dich doch schon geküsst, oder?“

„Ja, das weißt du doch.“ Genau zwei Mal. Beide Male zum Abschied nach einer Verabredung. Zunächst hatte sie Adam nur als sehr gut aussehenden und einflussreichen Freund betrachtet, aber in letzter Zeit bekam ihre Beziehung einen intimeren Charakter. Allerdings immer noch in Grenzen.

„Er hat ein paar Mal von der Geburtstagsparty seiner Großmutter gesprochen, und ich glaube, er will mich dazu einladen. Das ist wahrscheinlicher, als dass er Sex mit mir will.“ Olivia begutachtete das gebügelte Kleid. Jede Falte saß perfekt. „Sieht gut aus.“ Sie schaltete das Bügeleisen aus und hielt sich das Kleid an. Das dunkle Violett harmonierte wundervoll mit ihrer hellen Haut und den dunklen Haaren. Jedenfalls fand sie das, aber sie war schließlich nur Buchhalterin.

„Tja.“ Beth blickte zu dem Saum des bodenlangen Kleids. „Das passt zu dem förmlichen Adam. Ihm gefällt’s bestimmt.“

Olivia hängte das Kleid an die Schranktür und setzte sich aufs Bett. Sofort sprang Hortense auf ihren Schoß und rollte sich schnurrend zusammen. Olivia kraulte ihre Katze hinter den Ohren, während sie Beth anblickte. Normalerweise sprach ihre Freundin immer offen und direkt aus, was sie dachte. Das mochte sie an ihr, auch wenn es manchmal wehtat. Aber jetzt gab Beth schon seit Wochen in Bezug auf Adam nur schnippische Kommentare von sich.

„Wenn du ihn nicht magst, warum sagst du es dann nicht?“

„Ich mag ihn nicht.“

Als wolle sie dem zustimmen, miaute Hortense.

„Und wieso magst du ihn nicht?“

Beth zählte die Gründe an den Fingern ab. „Er ist hochnäsig, er ist eingebildet, und er gefällt sich auch noch dabei.“

Olivia hatte schon geahnt, dass Beth nicht viel von Adam hielt, aber so ein strenges Urteil hatte er nicht verdient. „Das ist unfair. Er hat mir sehr geholfen, das Geld für den Ausbau der Bücherei zu beschaffen. Und ihm habe ich die Einladung zum Kostümball heute Abend im Country Club zu verdanken. Da bekomme ich bestimmt noch ein paar Hunderter zusammen.“ Außerdem glaube ich, ist er der Richtige für mich, fügte sie in Gedanken hinzu. Allerdings war jetzt wohl nicht der passende Zeitpunkt, um Beth diese Neuigkeit mitzuteilen.

Beth schnippte mit den Fingern. „Ich hab’s! Dein Urteil ist getrübt, weil er dir beim Spendensammeln geholfen hat. Du würdest auch Frankensteins Monster lieben, wenn es dir bei der Bücherei geholfen hätte.“

„Es stimmt, dass ich Adams Hilfe zu schätzen weiß. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie die neue Abteilung mit den Kinderbüchern aussehen wird, wenn …“

„Natürlich weiß ich das, du hast es mir oft genug erzählt. Aber weißt du denn auch, dass er in jeder Schaufensterscheibe sein Spiegelbild bewundert?“ Beth verzog das Gesicht.

„Na und?“ Olivia wusste nicht genau, was sie dazu sagen sollte.

„Er ist von sich begeistert. Bestimmt erregt ihn sein eigener Anblick.“

Tadelnd schüttelte Olivia den Kopf. „Wenn du jetzt ekelig wirst, hör ich nicht mehr zu.“

Beth hob die Hände. „Aber das ist doch abartig.“

„Wie bitte? Du nennst mich abartig?“ Olivia musste lachen. „Dann muss es wirklich schlimm um mich stehen.“

„Es ist doch nicht normal, wenn du mit dem Kerl ausgehst und es eklig findest, wenn er erregt ist.“

„Nein, ich finde es nur eklig, wenn du darüber sprichst. Wahrscheinlich hat er nur geprüft, ob seine Krawatte richtig sitzt.“ Allerdings war es Olivia bei ihren Verabredungen mit Adam selbst schon aufgefallen, dass er sich gern im Spiegel betrachtete. „Sein Äußeres ist ihm eben wichtig.“ Sie hob Hortense von ihrem Schoß und griff nach dem Fläschchen Nagellack auf dem Nachttisch. „Manchmal frage ich mich ohnehin“, fügte sie hinzu, „warum er mit mir ausgeht.“ Sorgfältig fing sie an, ihre Nägel zu lackieren.

„Bist du verrückt? Du bist klug, humorvoll, erfolgreich und attraktiv, auch wenn du das in keiner Weise betonst. Du bist zehn Mal so viel wert wie er.“

Olivia warf Beth, die immer gern übertrieb, einen zweifelnden Blick zu. „Zehn Mal? Wirklich?“

„Wer hat denn die Abschlussrede unserer Jahrgangsstufe gehalten?“

Olivia lackierte weiter ihre Fußnägel. „Und wer hatte keinen Partner für den Abschlussball?“

„Wer hat den Lesezirkel ins Leben gerufen?“ Beth deutete mit dem Finger auf Olivia.

„Und mit wem hat Deke Richards sich verabredet, nur weil er hoffte, über ihren älteren Bruder an Bier zu gelangen?“

„Olivia, du musst endlich aufhören, dich ständig kleinzumachen.“

„Ach, Beth. Ich werde ewig die Tochter des Säufers bleiben.“ In einer Kleinstadt wie dieser konnte man wenig ausrichten, wenn fast alle eine vorgefasste Meinung von einem hatten.

Manchmal sehnte Olivia sich nach einem Ort, an dem man sie nicht kannte, aber ein Umzug würde für sie zu sehr danach aussehen, dass sie aufgegeben hätte. So hatte sie sich schon vor Langem geschworen, zu bleiben und zu beweisen, dass auch ein Cooper ein nützliches Glied der Gesellschaft sein konnte.

Beth lächelte mitfühlend und setzte sich in den Schneidersitz. „Da wir gerade von deiner Familie sprechen: Marty ist vorgestern Nacht wegen Trunkenheit und Ruhestörung eingesperrt worden?“

Olivia seufzte. „Stimmt. Mein Bruder gibt sich alle Mühe, die Tradition der Coopers aufrechtzuerhalten. Sie hatten ihn sogar in Daddys alte Zelle gesteckt. Daddy hat ihm seine Ausnüchterungszelle im Knast vererbt. Soll ich darauf etwa stolz sein?“

„Du hast wieder die Kaution bezahlt, damit er raus durfte?“

„Natürlich. Und dann habe ich ihn zu Darlene gebracht. Sie musste mir versprechen, ihn nicht mehr aus dem Haus zu lassen.“ Ihre Schwägerin hatte ihr dieses Versprechen schweren Herzens gegeben. „Marty ist ein guter Kerl, wenn er nüchtern ist. Aber anscheinend ist er die Hälfte seines Lebens betrunken und die andere Hälfte verkatert.“

„Und was ist mit Tammy? Hat sie Earl wirklich wegen Tim verlassen? Diese Frau wechselt ihre Männer fast so oft wie ich die Unterwäsche.“

Olivia zuckte mit den Schultern. Tammy traf oft unkluge Entscheidungen, und jetzt hatte sie ihren dritten Mann offenbar wegen seines besten Freundes verlassen. „Ich weiß es nicht. Mir erzählt sie so was nicht, weil sie weiß, was ich davon halte.“

„Du, Olivia, bist der lebende Beweis dafür, dass Charaktereigenschaften nicht erblich sind. Wenn du deinen Geschwistern nicht so ähnlich sehen würdest, könnte man annehmen, du seist adoptiert. Jedenfalls habe ich noch nie erlebt, dass ein Mitglied einer Familie sich so sehr von allen anderen unterscheidet.“

Ihre Mutter hatte behauptet, sie habe schon bei der Geburt gewusst, dass ihr jüngstes Kind anders sei. An ihre Mutter hatte Olivia nur noch wenige Erinnerungen. Meistens hatte sie vor dem Fernseher gesessen, bevor sie ihre Familie verließ, um ihr Glück anderswo zu suchen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihr gesehen oder gehört.

Olivia liebte ihre Familie, ihren Vater, Marty und Tammy, aber manchmal war sie zutiefst frustriert. Ihr Leben lang schon versuchte sie, dem Ruf ihrer Familie zu entfliehen, und oft war sie voller Wut auf die Coopers, weil sie sich durch ihren Lebenswandel zum Gespött der Leute machten.

Aber war sie denn so anders? Hin und wieder ließ sie auch Dampf ab und lebte sich aus. Einmal hatte sie einen Fallschirmsprung riskiert. Sie hatte sich fast mit einer Frau geprügelt, die ihre Katze quälte und war auf Willette Tuttles Junggesellinnen-Party gewesen, auf der auch ein männlicher Stripper auftrat. Erst kürzlich hatte sie nachts nackt im Garten getanzt, als es geregnet hatte. Brach vielleicht doch so etwas wie ein Erbe durch, wenn sie sich gehen ließ?

Doch eigentlich ist es egal, ob ich schlecht oder oberflächlich bin, dachte sie. Ein bedeutender Mann der Gemeinde hatte sich mit ihr verabredet, und das war eine Tatsache.

Olivia sah sich in ihrem Schlafzimmer um. Es war klein, aber geschmackvoll eingerichtet, genau wie das übrige Haus. Sie hasste das schäbige Haus, in dem sie aufgewachsen war und in dem ihr Vater immer noch wohnte. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, eines Tages in einem eleganten Haus zu leben, und Adam, der Vizepräsident der Bank seiner Familie, passte genau in diesen Traum.

Dabei ging es ihr nicht um Reichtum. Adam bot ihr lediglich das gesellschaftliche Ansehen, nach dem sie sich so sehr sehnte.

Olivia schraubte das Nagellackfläschchen wieder zu und bewegte die Zehen, damit der Lack schneller trocknete. „Tut mir Leid, wenn du Adam nicht magst. Wir passen nämlich sehr gut zusammen.“

Verächtlich stieß Beth die Luft aus. „An deiner Stelle würde ich mir den anderen Bruder schnappen. Luke wäre mir jederzeit lieber als Adam. Das ist noch so ein Fall, bei dem die Geschwister wie Tag und Nacht sind, obwohl sie sich sehr ähnlich sehen.“

„Das kann man wohl sagen.“ Olivia ließ sich nicht anmerken, wie sehr Luke, das schwarze Schaf der Familie Rutledge, sie beunruhigte. Doch zum Glück lebte er nicht mehr in der Gegend. Und obwohl seine Baufirma die Ausschreibung des neuen Büchereiflügels gewonnen hatte, würde Luke nicht erscheinen. Sein Partner leitete die hiesigen Arbeiten.

„Was hast du nur gegen den armen Luke? Was hat er dir denn getan?“

Oh, sie erinnerte noch sehr gut, wie der „arme“ Luke sie vor dreizehn Jahren geküsst hatte. War das für ihn nur ein Witz gewesen? Sie konnte sich immer noch nicht erklären, wieso er sie damals geküsst hatte. Aber ihre heftige Reaktion auf diesen Kuss war eindeutig gewesen. Deshalb hatte sie dann auch gedacht, dass alles, was die anderen Mädchen über sie und ihre Familie gesagt hatten, zutraf, und so war sie vor Luke weggerannt, als müsse sie ihrer eigenen Zukunft entfliehen. Über dieses Erlebnis hatte sie nie gesprochen, und das würde sie auch jetzt nicht tun. Doch mehr als einmal hatte sie von Luke und diesem Kuss geträumt.

„Luke hat mir nie etwas getan. Er ist nur nicht mein Typ.“ Sie erschauerte, als ob allein sein Name schon ausreiche, sie aus der Fassung zu bringen.

Olivia stand auf und ging zum Nachttisch. Unter einem Stapel Briefen fand sie ihr Schmuckkästchen und durchsuchte es nach passenden Ohrringen für den Abend. „Ich verstehe gar nicht, wieso jemand, der in eine so angesehene Familie hineingeboren wurde, alle in seiner Umgebung nur vor den Kopf stößt.“ Sie hielt zwei filigrane Silberohrringe mit eingearbeiteten Amethysten hoch.

Beth nickte zustimmend und kehrte zum Thema Luke zurück. „Luke ist wirklich ein Rebell. Er hatte schon als Junge etwas Wildes an sich. Aber es heißt ja, dass Männer, die sich gründlich die Hörner abgestoßen haben, die besten Ehemänner abgeben.“ Belustigt lächelnd fuhr sie fort: „Und wenn sich jemand die Hörner abgestoßen hat, dann Luke. Ich habe ja meinen Chuck, und der ist nach fünf Jahren Ehe schon fast gezähmt, aber sonst …“

Olivia lachte, froh, dass es nicht mehr um Luke ging. „Du hast gut reden. Chuck ist ja ein Heiliger.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber zumindest war er ein sehr netter Mann. „Und nicht zu vergessen, ist er auch der Vater deines Kindes.“

Beth, die in der neunten Woche schwanger war, strich sich lächelnd über den Bauch. „Das ist er allerdings.“

Olivia zog aus einer Schublade ihren mit Spitze besetzten Body hervor, den sie aus einer Laune heraus per Katalog geordert hatte.

„Oh!“ Beth riss ihr das Dessous förmlich aus der Hand und drehte es prüfend hin und her. „Das ist ja heiß. Da wird Adam sich die Finger verbrennen.“

„Du denkst doch nicht, dass ich darin …“, Olivia tat, als müsse sie überlegen, „… wie hast du es noch genannt? Wie die Prüderie in Person aussehe?“ Doch im Grunde hatte sie gar keine Vorstellung von sich in diesem sexy Body.

„Nein, bestimmt nicht. Das ist ein guter Anfang.“ Beth hielt das spitzenbesetzte Dessous aus Seide und Satin hoch. „Ein Schritt in die richtige Richtung.“

„Ein Schritt? Das ist ein gewaltiger Sprung!“ Im Vergleich zu ihrer übrigen weißen Baumwollunterwäsche war dies eine Revolution. Olivia war etwas aufgeregt und fühlte sich schon verrucht, nur weil sie so ein Dessous besaß.

„Ein gewaltiger Sprung wäre es, wenn du unter dem Kleid gar nichts tragen würdest, nicht mal einen Slip.“ Vielsagend wackelte Beth mit den Augenbrauen.

„Ich soll ohne Slip gehen?“ Das würde auf Adam sicher eher abstoßend als erregend wirken. „Ich weiß nicht. Das hier ist für mich schon wild genug.“ Schließlich wollte sie verführerisch, aber nicht verdorben wirken.

„Nur schade, dass dieses wunderbare Wäschestück an Adam verschwendet sein wird.“

Olivia wollte gerade klarstellen, dass Adam ihre Unterwäsche nicht zu Gesicht bekommen würde, da meinte Beth lachend: „War nur ein Scherz, ich weiß doch, dass er das nicht sehen wird.“

„Genau“, erwiderte sie, obwohl ihr die Selbstverständlichkeit, mit der Beth das annahm, irgendwie auch nicht gefiel. Dann lächelte sie geheimnisvoll, und, wie sie vorausgesehen hatte, sprang Beth vom Bett hoch.

„Verheimlichst du mir etwas?“

Olivia lachte. „Nein, es ist nur so ein Gefühl.“

„Was meinst du damit?“

„Vielleicht ist es Liebe“, scherzte sie. Doch mehr als Freundschaft empfand sie für Adam mittlerweile schon, und Olivia glaubte, dass auch seine Gefühle für sie sich entwickelt hatten. Was für einen Ehemann würde er wohl abgeben?

„Mach dir nichts vor. Geh jetzt lieber duschen, wenn ich dir noch mit der Frisur und beim Schminken helfen soll. Wann holt Adam dich denn ab?“

„Wir treffen uns um halb neun beim Country Club. Ich muss vorher noch bei meinem Vater nach dem Rechten sehen, und da muss Adam ja nicht unbedingt mit.“

„Der Herr ist sich wohl zu fein, um mit dir auf die Farm zu fahren?“

„Nein, er war schon dort, und er war sehr nett.“ Sein Lachen war ein bisschen zu laut und aufgesetzt gewesen. Und obwohl ihr Vater bereits eine ganze Reihe von Bierflaschen geleert gehabt hatte, hatte Adam ihn zu einer Rundfahrt über die Farm in seinem alten Pick-up gedrängt. Während der Fahrt hatte ihr Vater ihn dann ständig darauf hingewiesen, dass Geld auf der Bank nicht zähle, sondern immer nur das Land, das einem gehöre.

Auch wenn die Haustür mit Klebeband geflickt ist? hatte Olivia sich gefragt. Danach hatte sie Adam nie wieder mit auf die Farm genommen.

„Er hat spät am Nachmittag noch einen Termin und kommt deswegen etwas später auf die Party.“

Beth schob sie Richtung Badezimmer. „Das wirst du auch, wenn wir dich nicht bald fertig bekommen. Und vergiss nicht, dir die Beine zu rasieren!“

Luke Rutledge parkte seinen Wagen in der Garage neben den Ställen und stieg aus. Hier standen die Cadillacs seiner Eltern, der BMW seines Bruders und jetzt der alte Transporter mit dem Aufkleber seiner Baufirma und zahllosen Beulen und Dellen. Welches dieser Autos passte nicht zu den anderen? Er musste bei diesem Gedanken lächeln.

Beim Hinausgehen bemerkte er das Piratenkostüm hinten in Adams Auto. Sein Bruder als Pirat? Das passte nicht. Adam gehörte eher in Seidenjacke und Pumphose.

Während Luke über den gepflegten Rasen zu dem großen Haupthaus ging, kam er sich wie der sprichwörtliche verlorene Sohn vor. Er wusste genau, dass sein Vater ihn nur als schwarzes Schaf der Familie sah.

Früher hatte er den Ärger tatsächlich förmlich gesucht und erst später bemerkt, dass nicht alle diese Anflüge von Wildheit das Leben lebenswerter machten. Schließlich war ihm klar geworden, dass er anders war als seine Familie. Der ging es nur ums Geld und um den gesellschaftlichen Status. Ihm warfen sie vor, es sei ihm egal, was die anderen über ihn dachten.

Schwarzes Motorrad, eine Tätowierung, ein Ohrring und körperliche Arbeit, das alles passte nicht in die Welt der Rutledges. Auch dass er ein abgeschlossenes Studium vorweisen konnte, mit seinem Partner David Klegman eine eigene Baufirma besaß und mehr Geld auf dem Konto hatte, als er jemals brauchen würde, spielte da keine Rolle.

Er war nun einmal nicht der typische Südstaaten-Gentleman, und er beurteilte die Menschen auch nicht nach ihrem Familiennamen oder ihrem Vermögen. Er erfüllte einfach nicht den Standard der Rutledges.

Vor der Hintertür zur Küche blieb er stehen und inspizierte kurz die Sohlen seiner Stiefel. Ruth würde ihm gehörig die Meinung sagen, wenn er ihren Fußboden beschmutzte.

Luke hörte das vertraute Geräusch der Teigrolle, wenn Ruth Teig ausrollte, und musste lächeln. Die appetitlichsten Düfte kamen aus dem offenen Küchenfenster und weckten Bilder von früher in ihm. Hühnchen und Ente, Heidelbeertorte, grüne Bohnen und Backkartoffeln, das gehörte zu den wenigen schönen Erinnerungen an seine Kindheit. Und Ruth, die, solange er denken konnte, den Haushalt von River Oaks führte.

Er betrat die Küche, und Ruth wandte sich ihm zu. Ein Lächeln ging über ihr faltiges Gesicht.

„Mein lieber Junge, wie schön, dich endlich mal wieder zu sehen. Du warst mindestens zwei Monate nicht mehr hier.“

„Während der letzten sechs Wochen hatte ich einen Großauftrag drüben in Mississippi.“

„Schön, dass du jetzt hier bist.“ Sie drohte ihm mit der Teigrolle. „Hast du dir auch die Schuhe abgetreten?“

„Die sehen wie geleckt aus. Und du bist immer noch bildschön.“ Luke schlang einen Arm um ihre umfangreiche Taille und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ruth hatte mittlerweile schneeweißes Haar, aber der Blick ihrer blauen Augen war immer noch scharf und ungetrübt.

„Bereitest du schon die morgige Party von Grandma vor?“, fragte er mit Blick auf die Essensberge.

„Ich koche jetzt schon seit drei Tagen.“ Prüfend sah Ruth ihm in die Augen. „Du kommst doch auch, oder etwa nicht?“

„Soll ich mir die Chance entgehen lassen, in den Schoß der Familie zurückzukehren? Grandma wird wieder mit ihrem Stock fuchteln und verkünden, dass wir alle enterbt sind. Das will ich auf keinen Fall verpassen.“ Ihm knurrte der Magen. „Gibt’s vielleicht noch Reste von dem Geflügel?“

„Du hättest rechtzeitig zum Lunch kommen sollen, dann hättest du auch etwas zu essen bekommen.“ Trotzdem füllte Ruth ihm einen Teller auf.

„Ich pünktlich zum Essen? Damit ruiniere ich ja meinen Ruf.“ Lächelnd nahm er ihr den Teller ab. „Eigentlich bin ich wegen des neuen Flügels für die Bücherei hier. Am Montag fangen die Bauarbeiten an, und ich wollte überprüfen, ob das Baumaterial auch vollständig angekommen ist.“

„Olivia ist schon ganz aufgeregt. Aber sie hat auch hart gearbeitet, um das Geld zusammenzubekommen.“ Ruth war entfernt mit Olivias Vater verwandt. Energisch rollte sie weiter den Teig aus.

„Sie hat sich bestimmt sehr abgerackert, aber dafür bekommt sie jetzt auch einen neuen Ort, an dem sie sich vor der Welt verstecken kann. Wie geht’s Lady Olivia? Es ist Jahre her, seit ich sie gesehen habe.“

Olivia. Allein bei ihrem Namen zog sich Luke der Magen zusammen. Vor dreizehn Jahren hatte er begriffen, dass er nicht gut genug für sie war. Sie war vor ihm weggelaufen, und er hatte sich geschworen, sie in Ruhe zu lassen. So eine Abfuhr wollte er sich kein zweites Mal einhandeln. Es gab genug andere Mädchen, die willig waren. Nur wegen der Bauarbeiten war er heute als Erstes in die Bücherei gegangen, hatte aber nur mit der Hilfskraft sprechen können, da die unnahbare Olivia mit ihren ernsten grauen Augen seltsamerweise nicht da gewesen war.

Autor

Jennifer La Brecque
Mehr erfahren