Dieses sündige Versprechen

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Endlich ist er wieder da - Chance, der erste Mann, dem Holly ihr Herz geschenkt hat. Und der es brach, als er ohne ein Wort von ihr ging. Zwölf Jahre sind seitdem vergangen, und eines wird Holly auf den ersten Blick klar, als der Mann ihrer Träume nach Calico Spring zurückkehrt: Er ist immer noch so verdammt attraktiv wie damals! Was in der Vergangenheit passiert ist, interessiert sie plötzlich nicht mehr. Schon wieder verfällt sie Chance mit Haut und Haar - und fragt sich bei jedem seiner heißen Küsse, ob er es diesmal wirklich ernst mit ihr meint …


  • Erscheinungstag 18.04.2017
  • Bandnummer 1973
  • ISBN / Artikelnummer 9783733723699
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Einem neugeborenen Fohlen dabei zuzuschauen, wie es zum ersten Mal auf die Beine kam, war ein Anblick, von dem Holly Anderson nie genug bekommen konnte. Mit ein paar Stolperschritten und der Unterstützung seiner Mutter entdeckte das Fohlen, wie es zu seiner ersten Mahlzeit gelangte. Der kleine buschige Schweif wippte und drehte sich, als es an den Zitzen saugte.

„Ich hatte schon Angst, wir würden es verlieren“, sagte Don Jeffries, der Besitzer der Stute, die gerade mit Hollys Hilfe das Junge zur Welt gebracht hatte. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Doc.“

„Schön, dass ich helfen konnte.“ Holly warf noch einen Blick auf das Fohlen und ging dann hinaus in die Diele, während Don die Stalltür hinter ihr zumachte. Sie sammelte ihre Instrumente zusammen, ging zu ihrem Pick-up und warf sie in einen weißen Eimer mit Desinfektionslösung. „In zwei oder drei Tagen komme ich wieder und sehe nach den beiden. Dann sollte jemand hier sein, der die Mutter zurückhält. Es wird ihr nicht gefallen, wenn ihr Kleines für ein paar Minuten entführt wird.“

„Keine Sorge. Ich mache morgen mit Ihrem Büro einen Termin aus und sorge dafür, dass jemand hier ist, falls ich es selbst nicht schaffe.“

Nach einem letzten Händedruck verstaute Holly den Rest ihrer Sachen im Auto, stieg ein und fuhr zurück zur Klinik. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und das Zwielicht würde bald der Dämmerung weichen.

Holly hatte gerade ihre Instrumente geordnet, als die kleine Glocke über der Vordertür erklang. Jemand hatte das Gebäude betreten. Sie hatte offenbar vergessen, das „Geschlossen“-Schild aufzustellen.

Sie trocknete die Hände an einem Stück Küchenkrepp ab und ging zur Tür. Die Deckenbeleuchtung war bereits ausgeschaltet, aber aus dem Labor drang gedämpftes Licht herüber. Zwei Männer standen in dem kleinen Wartezimmer. Sie erkannte sofort Cole Masters, einen der drei Besitzer der großen Ranch auf der anderen Seite der Straße. Holly war mit den Masters-Jungs aufgewachsen. Das kleine Haus ihrer Tante, in dem sie jetzt wohnte, lag genau gegenüber vom Herrenhaus. Obwohl sie einige Jahre älter waren, hatte die drei das nicht davon abgehalten, ihr in Freundschaft verbunden zu bleiben. Es war wie eine Vergrößerung der Familie.

Wer jedoch der Mann neben Cole war, wusste sie nicht. Wahrscheinlich ein Geschäftsfreund, der das Wochenende über zu Besuch war. Cole und sein Bruder Wade brachten immer wieder Leute mit auf die Ranch Circle M, um mit ihnen ein entspanntes Wochenende auf dem Land mit Reiten, Lagerfeuer und Grillen zu verbringen. Letzteres übrigens veranstaltet von einem Sternekoch. Warum jemand einen Profikoch brauchte, um einen Hotdog zu grillen, hatte Holly noch nie verstanden. Aber jedem das Seine.

Es schien nichts Dringliches zu sein. Cole stand einfach nur da und grinste. Es war schon ziemlich spät, und sie war müde. Schließlich hatte sie einen Zwölfstundentag hinter sich, und ihr Körper sehnte sich nach einem heißen Bad.

Außerdem musste sie nach Hause und sich um das Baby kümmern, damit Amanda, ihre Freundin und zeitweilige Babysitterin, endlich nach Hause gehen konnte. Was auch immer Cole vorhaben mochte, sie hatte im Moment keine Lust auf irgendwelche Scherze.

„Hey, Cole“, sagte sie, und er nickte. „Hast du dich wieder auf dem Heimweg verirrt?“

„Ha, ha.“

„Womit kann ich dir helfen?“

„Ich wollte mir das Antibiotikum für die Stute abholen, die sich etwas in den Huf getreten hat. Eigentlich wollte Caleb das machen, aber ihm ist etwas dazwischengekommen. Ich habe ihm gesagt, ich würde bei dir vorbeifahren, wenn du noch geöffnet hättest.“

„Verstehe. Das habe ich ganz vergessen. Ist im Kühlschrank. Ich bin gleich wieder zurück!“

Sie ging in den Hauptraum der Klinik, holte das Medikament aus dem Kühlschrank, steckte es zusammen mit ein paar Spritzen in einen Druckverschlussbeutel und kehrte in den vorderen Bereich zurück. „So, hier, bitte! Caleb weiß, wie man damit umgeht. Aber wenn er Fragen hat, soll er mich anrufen.“

„Wird gemacht.“

Doch Cole rührte sich nicht.

„Gibt es sonst noch was?“

Er warf einen Blick auf den Mann neben ihm und sah dann wieder Holly an.

Sie beugte sich leicht nach vorn und hob die Handflächen, als wollte sie fragen: Was, zum Teufel, willst du? „Es ist ein bisschen spät für diesen Zirkus. Tut mir leid, aber ich hatte einen langen Tag. Wie wär’s, wenn du mit dem Theater aufhörst und mir einfach sagst, worum es geht?“ Sie sah Coles Begleiter an und sagte: „Ich muss mich für ihn entschuldigen. Manchmal ist er einfach so.“

Der zuckte die Schultern und kräuselte leicht die Lippen, so als würde er die Situation komisch finden. Coles Grinsen wurde immer breiter. „Oh, Mann, das ist einfach zu gut“, sagte er leise. „Wir hätten Wade auch mitbringen sollen.“

Holly wusste nicht, was sie von dieser Aussage halten sollte. Was war denn zu gut?

„Okay.“ Sie klopfte auf den Tresen. „Dann wünsche ich euch beiden noch einen guten Abend. Schließt bitte die Tür hinter euch ab.“ Sie machte Anstalten, sich umzudrehen, und war schon fast aus dem Raum, als der andere Mann etwas sagte.

„Warum hast du es denn so eilig, Muppet?“

Holly erstarrte. Das Herz tanzte in ihrer Brust. Diese Stimme, so tief und rau. Dieser Spitzname. Nur ein Mensch nannte sie Muppet. Aber das konnte doch nicht sein. Sie drehte sich um, und der hochgewachsene Mann mit den breiten Schultern ging auf sie zu. Er nahm den Cowboyhut ab, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, und mit einem Mal waren die letzten zwölf Jahre wie weggeblasen, und sie sah in die Augen ihres besten Freundes.

Sie hätte ihn gleich erkennen müssen. An der Art, wie er sich bewegte, ruhig, mit der Anmut eines Panters. Der Art, wie er dastand, breitbeinig, die Schultern leicht zurück und mit Händen, die bereit waren, es sofort mit jedem Angreifer aufzunehmen.

Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem ausgeprägten Kinn. Sein Haar war genauso dunkelbraun wie das seiner Brüder, aber anstelle des modischen Haarschnitts von Wade war seins ein bisschen zerzaust, was ihn noch attraktiver machte.

Er hatte eine wunderbare Art zu lächeln. Aber was seine Anziehungskraft vor allem ausmachte, waren seine kristallblauen Augen. Sie sahen aus, als würden sie von innen leuchten. Holly hatte sich häufig gefragt, ob er überhaupt merkte, wie die Leute auf der Straße ihn anschauten. Oder ob er daran gewöhnt war, dass jeder ihn ansah.

Er trug Khakihosen und ein hellbraunes T-Shirt, das seine ausgeprägten Arm- und Bauchmuskeln zur Geltung brachte. An seinem Handgelenk stach ein Chronograph ins Auge, der mit seinen vielen Anzeigen eher an die Apparatur eines Raumschiffs erinnerte.

Vor ihr stand ein Kämpfer. Ein Mitglied der US Navy SEALs, einer Spezialeinheit der Navy.

Chance Masters war nach Hause gekommen.

„Chance“, flüsterte Holly. Sie streckte die Hand nach ihm aus, wie um sich davon zu überzeugen, dass er wirklich vor ihr stand. Er nahm ihre Hand in seine, zog sie fest an seine Brust und ließ sie dort liegen. Sie spürte seinen gleichmäßigen Herzschlag unter dem dünnen Shirt.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Chance war ihr bester Freund gewesen, so etwas wie ihre erste Liebe, und auch der Erste, der ihr das Herz gebrochen hatte, als er zur Navy ging. Sein Weggang hatte niemanden in der Gemeinde kalt gelassen, Vor allem die Mädchen und jungen Frauen waren deswegen traurig gewesen. Sein älterer Bruder hatte Holly einmal erzählt, er wünschte, er hätte ein Fünfcentstück für jede Frau bekommen, die Chance hatte abblitzen lassen. Aber es gab auch viele, die erleichtert waren, als er wegging.

Sie ließ sich in seine Arme fallen, und Chance hielt sie fest und ließ sie weinen. Pure Energie ging von ihm aus und berührte all ihre Sinne. Nach wenigen Augenblicken löste sie sich von ihm, wischte sich die Tränen von den Wangen, schniefte und warf den Kopf zurück. Sie wollte ihre Gefühle unbedingt wieder unter Kontrolle bekommen. Herausfordernd sah sie ihn an. „Commander? Es wurde auch verdammt Zeit, dass du endlich nach Hause kommst.“

Das bescherte ihr ein Lächeln. Er sah sie an und schüttelte den Kopf.

„Ich wollte gerade sagen, wie du dich verändert hast, Muppet. Aber vielleicht stimmt das nicht“, zog er sie auf. Seine Stimme klang tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte. „Jedenfalls trägst du keine Zahnspange mehr. Und auch keine Zöpfe. Außerdem kommst du mir ein bisschen größer vor.“

Holly lächelte ihn an. „Findest du?“

Sie war gerade zwölf gewesen, als er sich direkt nach der High School zum Militär meldete. Aber nicht nur sie hatte sich verändert. Seine starke Ausstrahlung entging ihr nicht. Chance war ein richtiges Alphatier. Verschwunden war der arrogante Teenager mit dem selbstsicheren Lächeln und dem Ruf, immer Ärger zu machen, der großspurige Typ, der cleverer war, als es ihm guttat. Jetzt stand hier ein Mann, der die Welt mit neuen Augen sah, der seine überdurchschnittliche Intelligenz für Dinge eingesetzt hatte, die wichtig waren, und der gelernt hatte, seine Emotionen zu beherrschen. Das alles stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wirkte unglaublich selbstbewusst.

Noch immer konnte sie den alten Chance hinter dem harten Äußeren erkennen, aber der Junge von gestern war nicht mehr da. Er schien mit seinen Dämonen Frieden geschlossen zu haben. Seine Ungeduld und Rastlosigkeit waren verschwunden. Er war ein kraftvoller, reifer Mann geworden.

„Das mit deinem Vater tut mir so leid.“ Sie sah zu Cole hinüber, bezog ihn in die Unterhaltung mit ein.

Dann sah sie erneut Chance an. „Er war so stolz auf dich. Wie wir alle.“

Chance nickte, antwortete jedoch nicht. Plötzlich fiel Holly ein, dass sie von Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Vater gehört hatte. Sie selbst hatte Mr. Masters kaum gekannt. Er war nicht sehr oft auf der Ranch. Doch es war allgemein bekannt, dass das Einzige, was ihn wirklich interessiert hatte, Geld war.

Sie stand neben Cole, als Chance die Klinik inspizierte. Er sah sich die Röntgenapparate und Mikroskope genau an. Es gab noch zwei weitere Räume, in denen operiert wurde, und einen Bereich, in den die Tiere nach der OP gebracht wurden. Der stationäre Pflegebereich schloss sich am hinteren Ende des Flurs an.

„Sehr schön, Holly“, sagte Chance, nachdem er sich umgesehen hatte. „Calico Spring brauchte schon lange einen Tierarzt. Du hattest ja schon immer davon gesprochen, dass du eine Lizenz erlangen und eine Klinik aufbauen wolltest. Darauf kannst du wirklich stolz sein.“

„Oh, ich hatte sehr viel Hilfe. Kevin Grady ist mein Partner. Ohne ihn hätte ich das nie hinbekommen. Er ist ein approbierter Tierarzt und wollte schon lange eine eigene Klinik haben. Glücklicherweise hatte ich die Räume dafür, und unter seiner Anleitung konnte ich die letzten zwei Jahre meiner Ausbildung absolvieren. Deine Brüder haben mir Geld für die Ausstattung geliehen. Und, ja, ich bin wirklich froh, dass alles so gut funktioniert hat. Die Tage sind lang, und die Arbeit ist nicht immer leicht, aber sie erfüllt mich sehr.“

Seine Augen fanden ihre. „Das hätte ich selbst nicht besser ausdrücken können.“ Stilles Einverständnis lag zwischen ihnen. Chance empfand offensichtlich dasselbe für das Leben, das er für sich gewählt hatte.

Im nächsten Moment wurde er wieder ernst. „Tut mir echt leid, das mit Jason“, sagte er mitfühlend. Hollys älterer Bruder war im Irak gestorben. „Er war ein Supertyp.“

Sie nickte und sah zur Tür hinüber. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. „Manchmal vergesse ich glatt, dass er nicht mehr da ist. Ich greife zum Telefon, um mit ihm zu sprechen, und dann weiß ich plötzlich, er ist nicht mehr da.“

Chance und Jason waren seit der vierten Klasse beste Freunde gewesen. Jason hatte Chance nähergestanden als Cole und Wade. Die Nachricht von seinem Tod hatte ihn sehr getroffen.

„Hör zu, du bist müde. Ich werde eine ganze Weile hier sein. Wir müssen jetzt los, aber ich melde mich morgen bei dir.“

„Versprochen?“

Er nickte. „Absolut.“

„Und du …“ Holly zeigte auf Cole. „Wie gemein von dir, dass du mir nichts davon erzählt hast.“ Sie umarmte ihn schwesterlich. „Aber ich liebe dich trotzdem.“

Cole schmunzelte nur. Chance warf ihr noch einen letzten Blick zu und ging dann mit seinem Bruder hinaus.

Anstatt das Auto zu nehmen, wählte Holly den Pfad durch den Wald nach Hause, der über eine alte Holzbrücke führte, unter der sich der Otter Creek schlängelte. Chance ist wieder zu Hause. Wie viele Einsätze hatte er hinter sich? Das konnte sie nur raten. Was hatte er erlebt? Vielleicht war es ja besser, wenn sie die Einzelheiten nicht so genau kannte. Jedenfalls sah er gut aus, sehr gut sogar!

Sie ging schneller, denn ihre Freundin Amanda wollte sicher bald nach Hause. Es sei denn, sie hatte etwas Spannendes im Fernsehen gefunden. Holly wusste, dass Emma mit ihren vierzehn Monaten manchmal ganz schön schwierig sein konnte, und wollte ihre Freundin erlösen.

Als sie durch die Hintertür eintrat, hörte sie, dass Amanda sich anscheinend gerade ihre Lieblingsserie anschaute. Im nächsten Moment erklang ein Schuss, dann schrie eine Frau laut auf.

„Wer ist gestorben?“, fragte Holly, nachdem sie ihre Tasche auf einen Sessel geworfen hatte.

„Die alte Hexe, Ms. Latham. Sie wurde ermordet.“

„Was? Bist du sicher, dass das keine Wiederholung ist?“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Ich frage mich, wer es diesmal war.“ Holly versuchte ihren Sarkasmus zu unterdrücken. Serien waren nun mal nicht ihr Ding, doch damit stand sie allein da.

„Bestimmt John, denn er will ihre Tochter heiraten, und sie war strikt dagegen.“

Sie erwiderte nichts darauf und ging in die Küche. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Amanda glaubte, es würde sich um echte Menschen handeln und nicht um fiktionale Charaktere. Aber das würde sie ihr nie sagen, denn sie wollte ihr den Spaß nicht verderben.

„Bleibst du heute Abend hier?“

„Ja. Dein Sofa ist weicher als mein Bett. Und du weißt ja, ich habe immer noch kein Kabelfernsehen. Alles, was ich empfangen kann, sind die Lokalnachrichten und das Wetter. Also nichts besonders Aufregendes.“ Dann wechselte sie das Thema. „Ach, das wollte ich dir noch sagen. Ich habe Emma versprochen, dass wir uns morgen das Drachenfliegen anschauen.“

„Unten am See?“

„Ja.“

„Ich hatte ganz vergessen, dass es dieses Wochenende schon stattfindet. Es wird ihr bestimmt großen Spaß machen.“ Doch dann fügte sie hinzu: „Aber du musst das nicht machen. Du tust sowieso schon viel zu viel für uns.“

„Bitte! Ich will es, sonst würde ich es auch nicht tun.“

„Na gut. Ich arbeite nur den halben Tag. Dann mache ich die Klinik zu und komme nach.“

In diesem Moment endete die Werbung, und Amanda wandte sich wieder der Serie zu. Holly machte sich noch ein Sandwich, bevor sie ins Kinderzimmer ging. Emma lag auf dem Rücken und schlief tief und fest. Die silberblonden Locken umrahmten ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Holly beugte sich über die Kleine und küsste sie zärtlich auf die Stirn.

Es machte sie so traurig, dass Emma nie ihre Mutter oder ihren Vater kennenlernen würde. Jason wäre ein wundervoller Vater geworden, dessen war sie sich sicher.

Es fiel ihr nicht leicht, die Kleine in der Obhut von jemand anderem zu lassen. Manchmal nahm sie Emma sogar mit in die Klinik. Aber wenn sie, so wie heute, auf eine Ranch gerufen wurde, ging das natürlich nicht.

Ihr Bruder Jason war vor zwei Jahren im Irak bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. Als er vom Tod seines Sohns erfuhr, hatte ihr Vater einen Herzanfall erlitten. Vier Monate später war Emmas Mutter bei der Geburt gestorben. Damit war die Kleine eine Waise, noch bevor sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte. Und jetzt hatten Holly und sie nur noch sich. Sie war entschlossen, alles zu tun, damit Emma behütet aufwachsen konnte, bis sie so alt war, um selbst über ihr Leben zu entscheiden.

Sie verließ das Schlafzimmer und ging hinüber ins Bad. Dort ließ sie heißes Wasser in die Wanne laufen und streckte sich schließlich genüsslich darin aus. Sofort wanderten ihre Gedanken zu Chance. Er hatte sich verändert, aber war das nicht ganz normal nach zwölf Jahren? Cole hatte ihr vor ein paar Monaten erzählt, dass er bei einem Einsatz verwundet worden war. Die Nachricht hatte ihr einen Schock versetzt. Leider hatte sie nicht mehr erfahren können, doch als Chance nicht beim Begräbnis seines Vaters auftauchte, war ihr klar, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Diese Angst hatte sie tagelang mit sich herumgetragen, doch sie hatte Cole oder Wade nicht ausfragen wollen, solange sie noch trauerten. Als Chance dann heute Abend in der Klinik auftauchte, war sie unendlich erleichtert gewesen.

Nach dem Bad zog sie ein altes T-Shirt über, sah noch einmal nach Emma und fiel dann ins Bett. Im Dunkeln lächelte sie. Chance war endlich nach Hause gekommen. Dieser Gedanke ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, sie konnte es kaum glauben. Tatsächlich hatte sie sich schon fast damit abgefunden, dass er nie zurückkehren würde. Und nun war er da. Aber er hatte sich verändert. In seinem Blick lag eine verborgene Wildheit, und er wirkte weit älter, als er wirklich war. Cole hatte Holly erzählt, dass Chance in der Navy kometenhaft aufgestiegen war, was sie nicht überraschte. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, erreichte er es auch.

Der böse Junge, der er als Teenager gewesen war, war zu einem Soldaten geworden. Zu einem der besten Kämpfer, die dieses Land hatte. Gleichzeitig spürte sie instinktiv, dass nicht einmal die Navy ihm seine Wildheit ganz austreiben konnte. Denn die machte ihn erst zu dem, der er war. In dieser Hinsicht unterschied er sich von seinen Brüdern. Chance war immer anders gewesen, war immer seinen eigenen Weg gegangen. Jetzt hatte er seinen Platz in der Welt gefunden. Nur schade, dass er dafür jeden Tag sein Leben riskieren musste. Aber darüber wollte Holly in diesem Moment nicht länger nachdenken.

Zum ersten Mal war ihr klar, warum die älteren Mädchen damals seinetwegen so ausgeflippt waren. Chance machte das nicht absichtlich. Es gehörte einfach zu ihm. Zu seiner Haltung, seiner Stimme, zu der Art, wie er sich der Welt präsentierte. Es ging darum, wie er Frauen anschaute. Sie wurden sich plötzlich ihrer Weiblichkeit bewusst und ahnten, was er damit machen konnte.

Die wenigen Momente in seiner Nähe hatten gereicht, die Sehnsucht in ihr wieder zu entfachen. Damals war sie noch ein Kind gewesen, und sexuelle Anziehung hatte keine Rolle gespielt. Damals war sie für ihn wie eine kleine Schwester gewesen. Doch jetzt, als Erwachsene, hatte ihr das Begehren in seinem Blick gezeigt, dass sie eine Frau geworden war.

Stöhnend rollte sie sich auf die andere Seite des Bettes. Ja, sie hatte immer wieder davon geträumt, dass er eines Tages zurückkehren und die Hauptrolle in ihrem Leben spielen würde. Aber tatsächlich konnte sie nicht daran glauben, dass ihr Wunsch sich erfüllen könnte. Dafür war Holly viel zu realistisch. Chance war nach Hause gekommen, weil er verwundet worden war und sich erholen musste. Danach würde er wieder verschwinden. Es waren jetzt zwölf Jahre vergangen, und sie war an einem anderen Punkt in ihrem Leben. Sie musste mit diesen Klein-Mädchen-Fantasien aufhören. Die Welt hatte sich verändert, und sie beide hatten es auch. Das war zwar traurig, aber die schönen Erinnerungen aus der Kindheit würden ihr immer lieb und wert bleiben.

Trotzdem dachte sie darüber nach, ob es Chance immer noch gefallen würde, mit jungen Fohlen zu arbeiten oder auszureiten, um die Zäune zu überprüfen oder die Kälber für das alljährliche Brandmarken zusammenzutreiben. Schließlich waren Pferde früher einmal seine Leidenschaft gewesen. Und bestimmt hatte er in den letzten Jahren keine Gelegenheit dazu gehabt.

Er hatte auch den Fluss geliebt, der sich meilenweit durch das Land schlängelte. Bevor sie Emma aufgenommen hatte, war sie oft zu den Plätzen geritten, die er liebte. Sie hatte sich auf den Felsbrocken gesetzt, der aus dem wirbelnden Wasser hervorragte, und sich vorzustellen versucht, wo er war und was er gerade machte. Aber mit den Jahren hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Doch jetzt war er da. Und sie würde ihn sehen. Morgen. Weiter in die Zukunft wollte Holly jetzt gar nicht denken. Und sie wollte schon gar nicht daran denken, wie es sein würde, wenn er wieder abreisen würde. Er ist hier. Sie konnte ihn berühren, von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen und vielleicht neue Erinnerungen aufbauen.

Was machte er in dem großen Haus? Bestimmt war es nicht einfach für ihn, plötzlich von all dem Luxus umgeben zu sein. Während die meisten Menschen sich nach einem Reichtum gesehnt hätten, wie die Familie Masters ihn besaß, war Chance das Ganze immer eher unangenehm gewesen. Jedenfalls sprach er ungern über die finanziellen Verhältnisse seiner Familie. Bestimmt waren seine Lebensumstände in den letzten Jahren eher spartanisch gewesen. Ob er jetzt schon schlief?

Plötzlich hatte sie eine Idee. Wenn sie selbst schon keine Ruhe finden konnte, ging es ihm vielleicht ähnlich. Und in diesem Fall würde er in die Scheune gehen. Ja, falls Chance Masters keinen Schlaf finden würde, war dies der Platz, wo sie ihn finden konnte.

2. KAPITEL

„Ich habe ja nicht gesagt, dass du die SEALs verlassen und in das Unternehmen einsteigen sollst“, verteidigte Wade sich. „Ich habe nur gesagt, dass Dad sich das bestimmt gewünscht hätte.“

Chance erinnerte sich noch genau an den Tag, als sein Vater sich von ihm losgesagte. Er hatte Chance dringend geraten, zum Militär zu gehen, bevor er noch im Gefängnis landen würde. Das war auch der Grund gewesen, warum Chance sich zur Spezialeinheit der Navy gemeldet hatte. Ganz bestimmt hatte sein Vater nicht von ihm erwartet, einen Posten in dem millionenschweren Familienkonzern zu übernehmen. Offensichtlich wusste Wade nichts von dem, was sich damals im Büro zwischen ihm und seinem Vater abgespielt hatte. Und Chance hatte nicht vor, es seinem Bruder zu erzählen.

Wade hatte keine Probleme damit gehabt, Vorstandsvorsitzender zu werden, und Cole war der beste Finanzchef, den man sich vorstellen konnte. Für Chance hingegen hatte dieses Leben nie einen Reiz gehabt.

„Wir waren immer und sind auch jetzt noch ein Familienbetrieb“, fuhr Wade fort. „Als sein Bruder gestorben ist, hat Dad allein weitergemacht. Und er war sehr erfolgreich. Es war immer sein Wunsch, dass seine Söhne die Firma irgendwann übernehmen.“

Eine Hausangestellte betrat das Esszimmer, um den Tisch abzuräumen, und fragte, ob jemand Nachtisch oder Kaffee wünsche. Chance nickte und schob ihr die Tasse mit dem Goldrand hin. Er kannte die Familiensaga und brauchte sie nicht noch einmal zu hören.

„Warum fliegst du nicht mal mit uns nach Dallas, solange du hier bist?“, schlug Wade vor, obwohl es sich eigentlich mehr wie ein Befehl anhörte. „Dann können wir dir zeigen, wo die Masters Corporation Ltd. inzwischen steht, was wir schon erreicht haben und noch erreichen wollen.“

Offensichtlich war seinem Bruder nicht klar, dass Chance bereits eine Firma hatte. Das war die US Navy. Doch er wusste, dass es auf einen Streit hinauslaufen würde, wenn er das jetzt sagen würde. Deshalb unterließ er es.

„Kein Problem“, erwiderte er stattdessen leichthin und stand auf. Jetzt wollte er sich dem widmen, was ihn wirklich interessierte: die Ranch. „Nenn mir einfach einen Termin, und dann machen wir das.“

Es war nicht so, dass ihn das Geschäft gar nicht interessierte. Schließlich lebten sie seit drei Generationen davon, und zwar ziemlich gut. Er zweifelte lediglich daran, ob er bereit war, seine Waffe gegen Kuli und Taschenrechner einzutauschen. Andererseits wollte er seinen Bruder aber auch nicht vor den Kopf stoßen. Wade war immer für ihn da gewesen, deshalb war ein Trip nach Dallas auch das Mindeste, was er für ihn tun konnte.

Wade streckte die Hand aus, und Chance ergriff sie. „Schön, dass du wieder bei uns bist, kleiner Bruder. Bitte, nimm es mir nicht übel, wenn ich mir wünschte, dass du ein bisschen länger bliebst.“

Chance nickte und verließ den Raum. Er hatte gewusst, dass dieser Besuch nicht leicht sein würde. Noch immer plagte ihn die Erinnerung an das schlechte Verhältnis zu seinem Vater. Und jetzt wollte sein Bruder auch noch, dass er das Militär verlassen und in die Firma eintreten sollte. Das Schlimmste lag aber noch vor ihm – morgen würde er Holly wiedersehen. Sein Körper hatte sofort auf sie reagiert, als sie sich vorher in der Klinik getroffen hatten. Er konnte es kaum erwarten, diese wunderschöne junge Frau besser kennenzulernen. Knapp vierundzwanzig Stunden auf der Ranch konnte er schon an nichts anderes mehr denken. Andererseits war ihm klar, dass er besser die Finger von der Schwester seines besten Freundes lassen sollte.

Als er hinaus ins Freie trat, war es bereits dunkel. Die frische Nachtluft tat ihm gut. Er genoss den Duft der Pinien und der frisch geschnittenen blauen Luzernen. Er war fest entschlossen, die Steifheit in seinem Knie zu ignorieren, aus dem die Chirurgen ihm eine Kugel herausoperiert und dann ihr Bestes gegeben hatten, die Knochensplitter zu entfernen und die Bänderrisse zu reparieren. Bis jetzt hatte er es noch nie geschafft, zweiunddreißig Tage Urlaub von der Navy zu nehmen, ohne dass man ihn zu einem Einsatz gerufen hätte. Aber er wusste, dass es diesmal nicht passieren würde. Er rieb sich den linken Arm und hoffte, dass der Schmerz von der Verwundung in seiner Schulter endlich weggehen würde. Seine letzte Mission hatte ihn zwei seiner Männer gekostet, und er selbst hatte schwere Verletzungen davongetragen. Die erste Kugel hatte sein Herz nur um Zentimeter verfehlt, und der nächste Angriff war so schwer gewesen, dass man ihn ins Krankenhaus bringen musste. Besonders die Verletzung am Knie hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Es war die Art von Verwundung, die sein Leben für immer verändern konnte.

Sein behandelnder Arzt war skeptisch gewesen, ob Chance wieder zu hundert Prozent einsatzfähig werden würde. Doch das musste er sein, sonst konnte er seinen Job nicht mehr machen. In dieser Hinsicht war der Doktor brutal ehrlich zu ihm gewesen. Jetzt lag sein Fall bei der medizinischen Prüfstelle der Navy, mit ungewissem Ausgang. Es konnte gut sein, dass er die SEALs verlassen musste, wenn die Kommission zu demselben Ergebnis gelangte wie sein behandelnder Arzt.

Autor

Lauren Canan
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