Dr. Rossis Geheimnis

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Zwar ahnt Schwester Lindsey, dass Dr. Dan Rossi etwas vor ihr verbirgt, doch als er sie auf einer Hochzeitsfeier mit einem leidenschaftlichen Kuss überrascht, kann sie nicht widerstehen. Ein Fehler? Schon bald fürchtet sie, dass er sein Herz für immer verschlossen hat …


  • Erscheinungstag 10.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505970
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Notaufnahme war der letzte Ort, an dem Oberarzt Dr. Dan Rossi am Freitagmorgen sein wollte. Erst recht nicht mit diesem Patienten – einem siebzehnjährigen Drogenabhängigen. Der Junge hatte einen Herzstillstand erlitten, und nun begann der Kampf um sein Leben. Ein Leben, das dem mageren Jungen nicht viel wert zu sein schien.

Dans Stimmung verdüsterte sich. „Wiederbelebung starten!“

Das eingespielte Team führte die knappe Anweisung sofort aus.

Gespannt warteten alle auf die Reaktion des Patienten. Hoffnung keimte auf, fiel wieder in sich zusammen.

Dan warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatten alles getan, was möglich war, aber er wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Noch nicht. Nicht ausgerechnet heute. Und nicht bei diesem Patienten. Welche Verschwendung eines jungen Lebens. „Erhöhen!“

Er fühlte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann, sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Er sollte nicht hier sein. Er schaffte es nicht mehr, seine Gefühle auszuschalten …

„Okay. Wir haben ihn wieder.“

Die Anspannung verließ Dan, als wäre ein Ventil geöffnet worden. Es war, als erwachte er aus einem Albtraum.

„Puls sechzig“, verkündete Stationsschwester Lindsey Stewart mit ruhiger Stimme. „Er wacht auf.“

Dan riss sich die OP-Handschuhe ab, warf sie Richtung Abfallbehälter, verfehlte ihn. „Macht weiter wie gewohnt“, stieß er hervor und hastete hinaus.

Lindsey zog die Augenbrauen hoch und sah ihm verwundert hinterher.

„Merkwürdig war das eben schon“, meinte Vanessa Cole, Lindseys Kollegin, als man ihren Patienten hinausrollte. „Ist Rossi eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Wer weiß, worüber er sich aufgeregt hat. Normalerweise ist er bei Stress die Ruhe selbst.“

„Er ist noch nicht lange hier.“ Vanessa zuckte mit den Schultern. „Und bislang wissen wir nicht viel über ihn. Vielleicht hat er Ärger mit seiner Freundin?“

„Hat er denn überhaupt eine?“

„Also bitte!“ Vanessa verdrehte die Augen. „Bei dem Aussehen?“

„Das reicht mir nicht als Begründung“, meinte Lindsey. „Dan Rossi ist Oberarzt und sollte seine Sorgen zu Hause lassen können. Ich werde mal ein Wort mit ihm reden. Sollte es mit der Arbeit zu tun haben, muss das geklärt werden.“

„Oh, Lins.“ Vanessa lächelte beruhigend. „Mach dir nichts aus seiner schlechten Laune. Ich denke, nach einer langen Mittagspause wird er sich wieder beruhigt haben.“

Aber Lindsey hatte ihre Zweifel. Sie erkannte psychischen Stress, wenn sie die Anzeichen dafür sah, und Dan Rossi war schon seit Beginn des Dienstes neben der Spur gewesen. Was mochte der Grund dafür sein?

Dan wusste, er war heute aus persönlichen Gründen mit dem Team nicht gerade fair umgegangen. Aber er hatte rausgemusst.

Unbedingt.

Er ließ sich im abgelegenen Teil des Geländes in einen Gartensessel sinken und atmete tief durch. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine persönlichen Probleme nicht mit hierherbringen durfte. Er hätte gar nicht erst zum Dienst kommen, sondern einen freien Tag nehmen sollen.

Die Behandlung des letzten Patienten war der Auslöser gewesen, seine gewohnte Professionalität zu verlieren.

Drogenmissbrauch. Und ein dummer Junge, der gar nicht begriffen hatte, was er sich damit antat. Das Leben war so kostbar. Ein Geschenk, das Dans eigene Kinder niemals kennengelernt hatten. Keine Chance für die beiden winzigen Babys, auch nur einen einzigen lebensrettenden Atemzug zu tun.

Es war heute genau zwei Jahre her, dass er sie verloren hatte.

Bei der Erinnerung daran stieg wieder der Schmerz über den Verlust in ihm hoch.

Dan fröstelte, und ihm wurde bewusst, dass er keine Jacke angezogen hatte. Ich muss mich in den Griff bekommen! Wenn er den heutigen Tag überstanden hatte, würde er sich etwas überlegen müssen.

Er holte sein Handy aus der Tasche und checkte es auf neue Nachrichten. Die SMS kam von seinem Kollegen und besten Freund Nathan Lyons.

Was essen?

Dan schrieb zurück:

In zehn Minuten im Leo’s.

Da in der Notaufnahme gerade Ruhe herrschte, beschloss Lindsey, etwas früher Mittagspause zu machen. Sie musste den Kopf freibekommen. Im Personalraum schob sie die mitgebrachte Minestrone in die Mikrowelle, wärmte sie auf, setzte sich dann mit der Suppe an einen Tisch am Fenster und vertiefte sich in eine Zeitschrift, während sie aß.

Halb fertig, hob sie den Kopf und sah aus dem Fenster. Sie musste mit Dan Rossi reden. Sie konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Aber wie vorgehen?

Sie hatten keine persönliche Beziehung außerhalb der Klinik. Was wusste sie denn schon von ihm? Nur, dass er in New York gearbeitet hatte, dann an einem der großen Lehrkrankenhäuser in Sydney tätig gewesen und schließlich in die ländliche Kleinstadt Hopeton gekommen war. Aber ansonsten? Sie wusste nur, dass er lieber für sich blieb – allein das war schon eine Leistung in einer Umgebung, wo alle ständig miteinander zu tun hatten. Über persönliche Dinge wusste sie nichts von ihm. An seinen ersten Tag erinnerte sie sich jedoch sehr gut.

Bei Dienstbeginn hatte sie unauffällig einen Blick auf ihn geworfen. Dunkles, fast schwarzes Haar, kurz geschnitten, blaue schwermütige Augen mit dunklen Schatten darunter. Die Schultern unter dem grauen T-Shirt waren männlich breit.

Dann hatte er ihren Blick aufgefangen, ein unerwarteter, fast intimer Austausch. Kurz presste er die Lippen zusammen, dann entspannte sich sein Gesicht wieder. Es sah beinahe so aus, als würde er lächeln. Aber nur beinahe.

Wie auch immer, dieses besondere Kribbeln war noch zwischen ihnen spürbar, wenn sie sich begegneten. Ihr schien jedoch, dass er schleunigst verschwand, sobald ein Gespräch private Bereiche auch nur ansatzweise berührte.

Sie warf die Zeitschrift auf den Tisch und erhob sich. Wieso beschäftigte sie sich damit, was für ein Mensch Dan Rossi war? Seit ihr letzter Freund sie so mies betrogen hatte, zweifelte sie daran, Männer richtig einschätzen zu können.

Das Leo’s lag nur gute fünf Minuten entfernt, ein einfaches Café, das bei den Mitarbeitern des Krankenhauses sehr beliebt war. Der Besitzer Leo Carroll öffnete um sechs Uhr morgens, um den Frühdienst mitzunehmen, also diejenigen, die nur einen Kaffee und ein Brötchen wollten. Von zwölf bis drei Uhr gab es Mittagessen. Danach schloss Leo die Tür, machte sauber und verließ seinen Laden, um in einer Bar in der Innenstadt auf seiner Gitarre Blues zu spielen.

Dan machte es sich auf einer der Sitzbänke bequem und streckte die Beine aus. Langsam wich die Anspannung. Nathans beständige Unterstützung war ihm eine große Hilfe.

Dan erinnerte sich an den Tag, an dem er aus den USA in Sydney angekommen war. Noch während er in der Ankunftshalle stand und sich zu orientieren versuchte, hörte er seinen Namen. Erstaunt hatte er sich umgedreht und vor sich das vertraute markante Gesicht gesehen – sein Freund, der ihn angrinste.

„Nate!“ Im nächsten Augenblick wurde ihm kräftig auf die Schulter geklopft, und dann war ihm, als würde ihn ein Grizzlybär umarmen.

„Freut mich, dass du es heil hergeschafft hast, Kumpel“, brummte Nathan.

„Woher weißt du, dass ich mit diesem Flieger komme?“

„Man hat so seine Kontakte. Komm, mein Wagen steht in der Kurzparkzone und kostet mich ein Vermögen.“

Dan hatte sich ein Zimmer in einem kleinen, aber feinen Hotel in der Nähe des Hafens reserviert, wo er bleiben wollte, bis er eine Wohnung gefunden hatte.

Auf der Fahrt dorthin fragte Nathan: „Bist du beruflich hier?“

„In einer Woche fange ich am St. Vincent an.“

„Als Unfallarzt?“

„Das kann ich am besten.“

Nathan warf ihm einen Blick zu. „Deine Familie wirst du nicht besuchen, oder?“

„Im Moment noch nicht.“ Seine Familie lebte in Melbourne. Obwohl Dan sie liebte und respektierte, wollte er nicht schon wieder ihr Mitgefühl ertragen müssen.

Kurz schwiegen beide Männer.

„Ich habe jemanden kennengelernt.“ Nathan lachte etwas verlegen.

Dan musterte seinen Freund amüsiert. „Was Ernstes?“

„Könnte sein. Ja, ich glaube schon. Sie ist Stewardess. Samantha Kelly – Sami.“

Dan boxte Nathan gegen den Arm. „Erzähl mir von ihr.“

„Sie ist blond.“

„Und?“

„Lustig, süß, klug … Du weißt schon …“

„Ja. Und sie wickelt dich um den kleinen Finger. Hört sich gut an, Nate. Ich hoffe, ihr bleibt zusammen.“

„Wenn es dir in Sydney nicht gefällt, komm doch zu uns ins Hopeton District Hospital. Gute Mediziner können wir immer gebrauchen.“

„Hm … vielleicht.“ Dan lächelte nur, und Nathan fuhr fort, von der Kleinstadt zu schwärmen, die rund zwei Autostunden von Sydney entfernt auf der anderen Seite der Blue Mountains lag.

„Und kannst du glauben, dass man in der Umgebung von Hopeton immer noch nach Gold schürft?“, beschloss Nathan seinen Lobgesang.

Ein halbes Jahr später war Dan tatsächlich dorthin gezogen. In einer Woche wollten Nathan und Sami heiraten, und er würde Nathans Trauzeuge sein.

Dan sah gerade auf seine Armbanduhr, als Nathan im Eilschritt hereinkam.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, entschuldigte er sich und schob sich auf die gegenüberliegende Bank. „Ich musste drei betagten Joggern einen Zugang legen. Sie waren völlig dehydriert und die Venen kaum zu finden. Warum trinken alte Leute eigentlich nie genug Wasser?“

„Es ist eine Generationssache“, erwiderte Dan geduldig. „Sie trinken Tee. Wahrscheinlich, seit sie allein einen Becher heben können.“ Er blickte kurz aufs Menü. „Was nimmst du?“

„Irgendwas mit Spaghetti, falls es so etwas gibt.“

„Gibt es. Und ich nehme Steak Pie.“

Leo kam an ihren Tisch, und sie bestellten. „Kommt sofort, Docs“, versprach er und eilte durch die Schwingtüren zurück in die Küche.

Nathan musterte seinen Freund. Er wusste um die Bedeutung dieses Tages für Dan. „Wie geht es dir?“, fragte er ruhig.

Dan presste die Lippen zusammen. „So lala.“

Nathan kannte seinen Freund gut genug, um nachzuhaken. „Für Caroline ist es auch schwer. Hast du versucht, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen?“

„Wozu? Sie konnte mich und unsere Ehe ja gar nicht schnell genug loswerden.“

„Ja, schon … Okay, es mag sich brutal anhören, aber nach dem Tod der Babys war eigentlich nichts mehr zu retten, oder?“

„Wahrscheinlich nicht. Sie war allerdings nicht einmal bereit, es zu versuchen.“

Die Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal.

„Ich kenne dich schon eine Ewigkeit lang. Ich weiß, dass du anständig bist, ein ehrenhafter Mann, um ein altmodisches Wort zu gebrauchen. Aber ich weiß auch, dass Caroline und du euch nicht geliebt habt, und Liebe ist der einzige Grund für eine Ehe, glaub mir. Frag dich nicht ständig, was gewesen wäre, wenn … Das tut dir nicht gut.“

Dan wusste, dass sein Freund recht hatte. Er hatte sich ja auch wirklich bemüht, über alles hinwegzukommen. „Als ich sie das letzte Mal sprach, meinte sie, sie würde nach vorne schauen.“

„Dann wird es für dich auch Zeit“, erklärte Nathan offen. „Hey!“ Er schlug einen enthusiastischen Ton an und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Heute ist Freitag, und Sami möchte ausgehen. Es gibt einen neuen Klub in der Stadt. Willst du nicht mitkommen?“

Dan wand sich innerlich. Es gab für ihn keine schrecklichere Vorstellung, als mit einem verliebten Paar durch die Gegend zu ziehen. „Danke, Kumpel, aber du und deine Braut habt bestimmt Besseres vor – oder solltet es haben.“

„Wo wir von Bräuten sprechen …“ Nathan griff nach der Pfeffermühle und spielte damit. „Sami möchte, dass wir einen Kummerbund tragen.“

Dan schnaubte. „Lieber stecke ich meinen Kopf in einen Eimer mit Krebsen.“ Er trank einen Schluck Wasser und stellte das Glas zurück. „Für dich würde ich wahrscheinlich durch die Hölle gehen, Nathan, aber zu deiner Hochzeit trage ich keinen Kummerbund.“

Nathan lachte. „Sami meint, so etwas sei jetzt wieder modern.“

Dan blickte unbeeindruckt. „Erzähl ihr, die Herrenausstatter in Hopeton haben noch nie von einem Kummerbund gehört, geschweige denn welche vorrätig.“

„Sie wollte sie im Internet bestellen – aber nur keine Panik.“ Nathan hob beruhigend eine Hand. „Ich habe es ihr ausgeredet.“

„Und wie?“ Dans Interesse war erwacht. Soweit er sie kannte, war Sami eine sehr entschlossene junge Dame. Allerdings auf charmante Art.

„Ich stellte mir vor, wie lächerlich wir mit einer Bauchbinde aus Satin aussehen würden, und lachte mich halb kaputt dabei. Sami fand es nicht witzig. Sie warf mich aufs Sofa und bearbeitete mich mit ihrem Slipper. Doch dann gewann ihr Sinn für Humor die Oberhand, und sie musste ebenfalls lachen.“

Und danach sind sie wahrscheinlich miteinander ins Bett gegangen, dachte Dan. Er freute sich, dass Nathan so glücklich war. Sein Freund hatte es verdient. Unwillkürlich fragte Dan sich, wann er wieder jemanden kennenlernen würde. Eine Frau, in die er sich verlieben konnte und die das Gleiche für ihn empfand. Bedingungslos. Genau das hatte ihm bei Caroline gefehlt.

„Dann ist das also geklärt?“

„Ja. Wann kommst du?“

„Einen Tag vorher, am Freitag, wenn es okay ist.“

Die Trauung würde in Samis Heimatort Milldale stattfinden, ungefähr dreißig Meilen von Hopeton entfernt, und der Hochzeitsempfang auf Rosemount, einem historischen Anwesen.

„Freitag ist gut. Sami hat Zimmer für uns im örtlichen Gasthaus reserviert. Meine Familie wird auch dort wohnen.“

„Ihr Essen, meine Herren.“ Leo stellte Teller in der Größe von Wagenrädern auf den Tisch. „Guten Appetit.“

„Sieht großartig aus.“ Nathan rieb sich erwartungsvoll die Hände. „Lass es dir schmecken.“

Sie begannen zu essen, und irgendwann fragte Dan: „Wann hört Sami zu arbeiten auf?“

„Das hat sie bereits. Sie ist dabei, hier ihre eigene Firma zu gründen, ein Reisebüro. Ihre Website wird schon stark nachgefragt.“

„Das ist ja fantastisch. Dann werdet ihr also dauerhaft in Hopeton wohnen?“

„Ja.“ Nathan wickelte sich ein paar Spaghetti um die Gabel. „Es ist für den Moment genau das Richtige für uns. Und mein Job ist sicher – soweit man heutzutage noch sicher sein kann.“

Dans Kehle schnürte sich kurz zusammen. Nathans Zukunft schien tatsächlich gesichert … und voller Aussichten auf Freude und Glück. Er wünschte, bei ihm wäre es ebenso. Er schüttelte innerlich den Kopf über sich. Er musste zusehen, dass seine Stimmung besser wurde, sonst würde er auf der Hochzeit nur Trübsal verbreiten.

Als hätte sein Freund seine Gedanken gelesen, fragte Nathan: „Hast du schon deine Trauzeugenrede geschrieben?“

„Noch nicht.“

„Sag bloß nichts Peinliches über mich!“

Dan grinste. „Du meinst, wie an der Uni nach unseren Rugbyspielen die Post abging?“

„Du warst auch dabei, vergiss das nicht.“

Erinnerungen meldeten sich. Es war eine gute Zeit gewesen. Unkompliziert. Bis sie es mit dem wahren Leben zu tun bekamen. Dan fluchte stumm. Wieso nur ließ er diese Erinnerungen immer wieder zu? Aber es lag am Tag, am Datum. „Ich könnte über deine seltsamen Essgewohnheiten sprechen.“

„Welche denn, zum Beispiel?“ Nathan schaute gespielt beleidigt.

„In meinem ganzen Leben habe ich noch niemanden gesehen, der sein Essen so schnell in sich hineinstopft wie du.“

„Das liegt an meinen Genen.“ Nathan zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts dagegen tun.“

Dan lachte auf. „Blöde Ausrede.“

Nathan wurde auf einmal ernst. „Sag mal, wie war es denn heute Morgen auf der Station?“

„Ich wünschte, du würdest mich das nicht fragen.“

„Du hast doch hoffentlich niemanden umgebracht?“

Dan schüttelte den Kopf. „Ich habe allen die Laune verdorben und bin dann einfach verschwunden.“

„Wieso das denn? Ich wette, Lindsey Stewart war eher nicht begeistert von dir.“

Dan verzog das Gesicht.

„Hast du dich entschuldigt?“

„Noch nicht.“

„Lins wird von allen Mitarbeitern hochgeschätzt und respektiert. Du solltest dich richtig entschuldigen. Lade sie nach Dienstschluss zu einem Drink ein.“

Dan fühlte sich schlechter und schlechter. Natürlich würde er sich entschuldigen. Aber sie zu einem Drink einladen? Wahrscheinlich würde sie sofort ablehnen. Und das konnte er ihr nicht verdenken. In der kurzen Zeit, die er in der Klinik arbeitete, hatte er sich wenig Mühe gegeben, sie oder andere Kollegen kennenzulernen. „Ich hätte heute nicht zur Arbeit kommen sollen.“

„Wäre wohl besser gewesen“, gab Nathan ihm recht. „Bring es einfach wieder in Ordnung, Kumpel. Hopeton ist nicht so groß, als dass schlechtes Benehmen nicht wahrgenommen wird.“

2. KAPITEL

Zurück auf der Station, warf Lindsey einen Blick auf die Wanduhr und seufzte. Sie konnte das Ende des Dienstes kaum erwarten. Sie war nur froh, dass ihr noch etwas Urlaub zustand. Und wo war Dan? Sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Wahrscheinlich machte er eine längere Mittagspause, wie Vanessa vermutet hatte.

„Lindsey …“

Sie fuhr herum und blickte auf. „Hallo, Dan …“ Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er die Station betreten hatte.

Dan massierte sich den Nacken, und ein paar Sekunden lang herrschte verlegenes Schweigen.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, sagte er dann.

Lindsey stand auf und sah ihn kühl an. „Bist du mit unserer Arbeit unzufrieden?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ihre Frage ärgerte ihn. Wie kam sie auf diese Idee? „Mir ging es nicht gut. Wie gesagt, es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen.“

Lindsey hatte nicht erwartet, dass er sich so offen entschuldigte.

Was dachte er? Sie wusste es nicht. Ein unsicherer Ausdruck lag in seinen Augen, dem Unbehagen ähnlich, das sie empfand. Sie mochte Unstimmigkeiten mit Kollegen überhaupt nicht. „So etwas kann in der Notaufnahme schon mal vorkommen. Geh nicht zu hart mir dir ins Gericht.“

„Danke.“ Dan fühlte ein tonnenschweres Gewicht von seinen Schultern fallen. Er lächelte schwach. „Ich hatte wohl einen schlechten Tag. Den hat doch jeder einmal, oder?“

„Ist wohl so“, erwiderte Lindsey vorsichtig. Und noch immer schien dieser schlechte Tag anzuhalten. Dan wirkte irgendwie … verzweifelt. Ihr fiel kein besseres Wort ein. Und er hatte auch wieder diese dunklen Schatten unter den Augen. Wenn jemand eine Umarmung brauchte, dann Dan Rossi. Aber das ging natürlich nicht. Es wäre unprofessionell gewesen und ihm sicher unendlich peinlich.

Rasch wandte sie den Blick ab. Was passierte hier gerade? Ihre Erschöpfung war wie weggeblasen, sie war hellwach mit allen Sinnen.

Dan betrachtete sie. Lindsey hatte ihr dichtes dunkles Haar hochgebunden, einige Strähnen aber hatten sich gelöst. Er stellte sich vor, wie sie das Haarband abnahm, die seidigen Haare schüttelte und wie ihm der zarte Blütenduft ihres Shampoos in die Nase stieg. Dan straffte die Schultern und unterdrückte den Wunsch, ihr die Strähnen hinters Ohr zu streichen. „Also, was haben wir auf der Agenda?“

Augenblicklich war Lindsey wieder die Krankenschwester. „Ein Kleinkind mit einer Schnittwunde, die genäht werden muss. Michelle und Andrew behandeln gerade einen Jungen mit Verbrennungen. Er ist versehentlich barfuß auf glühende Grillkohle getreten. Wenn du das lieber übernehmen möchtest und jemand anders sich das Kind ansehen soll …“

„Nein, nein.“ Er runzelte kurz die Stirn. „Unsere Assistenzärzte müssen Erfahrungen sammeln. Ich übernehme das Kind. Wo ist es jetzt?“

„Ich komme mit“, sagte sie und übergab die Station an Vanessa.

„Gib mir ein paar Informationen“, bat er auf dem Weg zur Untersuchungskabine.

„Michael Woods, Vorschulkind. Er jagte einem Ball nach, stolperte und fiel mit dem Kinn auf einen Stein der Beeteinfassung. Hat ziemlich geblutet. Die Schule hat seine Mutter informiert. Sie ist bei ihm.“

„Das ist gut. Es wird ihn beruhigen.“

Lindsey lachte leise. „Hoffentlich.“

„Willst du damit sagen, dass wir vor den Müttern Angst haben sollten, Lindsey?“

Lindsey wandte den Kopf und fing seinen Blick auf. Und wenn sie sich nicht irrte, zuckten seine Mundwinkel in einem schwach angedeuteten Lächeln. Spontan lächelte sie ihn an und empfand dabei ein sonderbares Gefühl der Verbundenheit, das sie sich nicht erklären konnte.

Der fünfjährige Michael saß auf dem Rand der Untersuchungsliege und wippte rhythmisch mit den Beinchen auf und ab. Er wirkte nicht sonderlich aufgeregt, wie Lindsey dankbar bemerkte, obwohl das getrocknete Blut auf seinem T-Shirt zeigte, wie heftig der Aufprall gewesen sein musste.

Dan lächelte die Mutter an. „Mrs. Woods? Ich bin Dan Rossi, ich werde mich um Michael kümmern.“

„Ich bin Stephanie.“ Michaels Mutter hatte den Arm schützend um die Schultern ihres Sohnes gelegt. Sie lächelte schwach. „Er ist ein ganz schöner Wirbelwind.“

„Dann spielst du also gern Fußball, Michael?“

„Ich kann den Ball so hoch schießen wie das Haus“, verkündete Michael stolz und zeigte zur Decke.

„Fantastisch.“ Dan tat beeindruckt.

Lindsey gefiel es, wie ungezwungen und locker er das Vertrauen ihres kleinen Patienten gewann. Sie streifte sich Handschuhe über und fragte ruhig: „Soll ich jetzt das Heftpflaster von Michaels Kinn entfernen?“

„Ja, bitte.“ Dan setzte sich auf einen Rollhocker, schnappte sich ebenfalls Handschuhe und inspizierte die klaffende Wunde. Die Mutter keuchte hörbar auf. „Das ist keine große Sache“, beruhigte Dan sie. Die Wundränder waren glatt, sie würden gut verheilen. Die Narbe dürfte später kaum auffallen.

„Alles okay?“, erkundigte sich Stephanie besorgt.

„Das Gebiss scheint nichts abbekommen zu haben“, antwortete Dan. „Auch sind noch alle Milchzähne vorhanden. Ein oder zwei Stiche werden reichen, dann sollte alles wieder wie neu sein.“

Vorsichtig positionierte Lindsey den Jungen fürs Nähen auf der Untersuchungsliege.

Dan rollte den Instrumentenwagen näher heran. „So, Michael, nun musst du so tapfer sein wie der allerbeste Fußballer der Welt.“ Er nahm die Spritze für die Lokalanästhesie zur Hand.

Michaels blaue Augen leuchteten auf. „So wie David Beckham.“

Dan unterdrückte ein Lachen. „Genau! Und wenn du jetzt schön stillhältst, damit ich dein Kinn wieder heil machen kann, bekommst du einen tollen Sticker für dein T-Shirt, den du deinen Freunden im Kindergarten zeigen kannst.“

„Aber mein T-Shirt ist ganz schmutzig“, erwiderte der Junge mit Kinderlogik.

„Wir finden bestimmt ein sauberes“, meinte seine Mutter und nahm seine Hand.

„Lindsey?“

Sie nickte. Die Spritze mit dem Lidocain würde ein wenig wehtun. „Drück jetzt ganz fest die Hand deiner Mum, Michael“, sagte sie und beugte sich über ihn, falls er sich instinktiv wehren sollte. „Tut es weh?“

Die Augen fest zusammengepresst, antwortete er leise: „Nein …“

„Du bist ein tapferer Junge. Halt nur weiter die Hand deiner Mum, dann sind wir ganz schnell fertig.“

Kurz danach war die Wunde genäht. „Siehst du, das war schon alles, mein Kleiner.“ Sie tätschelte ihm die Schulter.

„Kann ich jetzt meinen Sticker haben?“

Dan wirkte ein wenig ratlos. Er hatte seinem Patienten den Sticker versprochen, in der Hoffnung, so etwas würde es hier geben.

„Wir haben welche auf der Station“, half Lindsey ihm aus der Verlegenheit. „Kommt sofort.“

Nachdem Michael und seine Mutter gegangen waren, begann Lindsey, den Behandlungsraum aufzuräumen. „So ein toller Junge“, sagte sie.

Dan schrieb gerade ein paar Notizen nieder. Er hob den Kopf und sah sie fragend an. „Wie bitte?“

„Ich meine Michael. Der wird eines Tages ein echter Herzensbrecher.“

„Ja, kann gut sein …“ Der Anflug eines Lächelns verblasste sofort wieder. Ohne ein weiteres Wort verließ Dan den Raum.

Lindsey zog das beschmutzte Laken ab und warf es in den Wäschebehälter. Was hatte der Mann? War eine unbefangene Unterhaltung zu viel verlangt?

Erstaunt stellte Dan fest, wie schnell der Dienst zu Ende gegangen war. Langsam bekam er das Gefühl, dass für ihn hier in Hopeton die Chance auf ein normales Leben bestand. Eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen durfte.

Gedankenverloren machte er sich auf den Weg in sein Büro. Es mussten noch ein paar Briefe an Hausärzte geschrieben werden. Und einige der Patienten würden eine Einweisung benötigen …

„Immer noch da?“ Lindsey blieb stehen und hob die Augenbrauen.

Dan lächelte schief. „Habe noch ein paar Sachen zu erledigen. Und du hast jetzt frei?“ Er umklammerte den Kugelschreiber. Idiot. Es war schließlich Dienstschluss. Natürlich hatte sie jetzt frei. Statt der Schwesternkleidung trug sie eine eng anliegende Jeans, ein langärmeliges silbergraues Top und dazu einen bunten Seidenschal.

Und kniehohe Stiefel.

Sein Herzschlag beschleunigte sich rasant. Er stand da und brachte kein einziges Wort heraus, weil diese wunderschöne Frau ihn ansah.

„Es ist Freitag, du solltest langsam auch aufhören.“ Lindsey musterte Dan forschend. Die Schatten unter seinen Augen waren immer noch da. Er sollte sich wirklich einmal entspannen. Aber ob er zulassen würde, dass sie ihm half, stand auf einem anderen Blatt.

Und doch drängte es sie, es zumindest zu versuchen, auch wenn sie nicht genau wusste, warum.

„Einige von uns gehen noch in den Pub. Auf einen Drink, eine Pizza oder so. Möchtest du nicht auch kommen?“

Dans Herz setzte einen Schlag aus. „Hört sich gut an. Wo denn?“

„Er heißt The Peach Tree. Ein altes Gebäude aus rotem Backstein, oben an der Hauptstraße. Dann sehen wir uns dort?“

Autor

Leah Martyn
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