Drei Gentlemen zum Verlieben (3-teilige Serie)

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IN DEN ARMEN DES ADLIGEN VERFÜHRERS

"Bitte nicht, Mutter!" Aber Charlottes Flehen ist vergebens: Sie muss in dieser Saison unbedingt eine glänzende Partie machen. Nur so kann sie ihre Eltern vor dem Ruin bewahren, auch wenn das Charlottes romantische Träume von einer Liebesheirat für immer zerstört. Doch überraschend hält Captain Viscount Delsey um ihre Hand an. Direkt aus ihren Träumen könnte Jack stammen: hochgewachsen, schneidig, mit funkelnden Augen und einem Mund wie zum Küssen gemacht! Die verblüffte Charlotte ahnt nicht, was der wahre Beweggrund dieses adligen, reichen Verführers ist …

ZWISCHEN EHRE UND BEGEHREN

"Warum sollte der große, gut aussehende Phipps sich jemals mit einem hässlichen Entlein vermählen, wie sie es war?" Vom Mauerblümchen zur Ballkönigin? Von wegen! Miss Amanda Hamilton weiß genau, dass die Gentlemen sie nur umschwärmen, weil sie unverhofft ein Vermögen geerbt hat. Wenn sie schon dazu verdammt scheint, einen Mann zu heiraten, der sie nicht liebt, dann sollte es zumindest einer sein, den sie selbst begehrt - wie Lieutenant Peter Phipps! Tatsächlich macht der attraktive Adelige ihr aus heiterem Himmel einen Antrag. Natürlich weiß Amanda um seine prekäre finanzielle Situation … aber ist der schneidige Lieutenant wirklich nur an ihrem Reichtum interessiert?

EIN GENTLEMAN ZWISCHEN LIEBE UND EHRE

Frauen sind edle, schwache Wesen, die beschützt werden müssen: Davon ist Major Harry Brockley fest überzeugt. Weshalb er einer jungen Dame einen Antrag macht, um ihren Ruf zu wahren - und nicht etwa, weil er sie liebt! Denn nur einer Frau gehört Brocks Herz: Samantha Scatterby, die jedoch früher nicht frei für ihn war. Doch ausgerechnet jetzt spielt ihm das Schicksal einen grausamen Streich: Die geliebte Samantha, inzwischen verwitwet, kehrt in sein Leben zurück! Diesmal ist er vergeben, und erneut scheint ihre Liebe hoffnungslos …


  • Erscheinungstag 01.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504171
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Anne Herries

Drei Gentlemen zum Verlieben (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

HISTORICAL MYLADY erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2014 by Anne Herries
Originaltitel: „Recued by the Viscount“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADY
Band 582 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Bärbel Hurst

Abbildungen: Novel Expression, Iakov Filimonov / GettyImages, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 1/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733733667

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

 

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PROLOG

Nein, Mama!“, rief Charlotte Stevens. „Bitte, das kannst du nicht von mir verlangen – ohne Liebe zu heiraten, nur um eines Vermögens willen …“ Sie sah ihre Mutter an, während ihr Tränen in die Augen traten, aber sie war zu stolz, um zu weinen. Charlotte war ein hübsches Mädchen, zierlich, nicht größer als fünf Fuß und drei Zoll, aber ihre großen ausdrucksvollen Augen und ihr lebhaftes Wesen glichen den Mangel an Körperhöhe leicht wieder aus. „Wie kannst du das von mir erwarten?“

„Weil mir kaum eine andere Wahl bleibt“, erwiderte Lady Stevens. „Dein Vater ist beinahe ruiniert, und wenn du dich nicht unseren Wünschen fügst und eine sehr vorteilhafte Ehe eingehst, dann werden wir alles verlieren.“

„Ja, ich verstehe …“ Charlotte unterdrückte den Wunsch, zu schreien und zu weinen, denn sie liebte ihren Papa sehr und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er in solchen Schwierigkeiten steckte. „Wen hast du mir als Ehemann ausgesucht?“ Sie hob den Kopf, entschlossen, tapfer zu sein und ihrem Schicksal entgegenzutreten, wie schrecklich es auch sein mochte.

„So verzweifelt ist die Lage im Moment noch nicht“, sagte ihre Mutter und lächelte ermutigend. „Zum Glück habe ich etwas Geld beiseitegelegt, sodass du eine Saison in der Stadt haben kannst. Du bist ein reizendes Mädchen, Charlotte. Ich bin davon überzeugt, dass mehr als nur ein Gentleman um deine Hand anhalten wird – und du kannst selbst eine Wahl treffen, vorausgesetzt, dass deine Entscheidung dazu dient, deiner Familie zu helfen.“

„Ja, ich verstehe“, sagte Charlotte wieder, und ihre Stimmung besserte sich ein wenig. Wenigstens wurde ihr noch ein bisschen Freiheit gewährt, ehe sie den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde! „Nun, Mama, ich erkenne, dass mir wohl nichts anderes übrig bleibt, und ich verspreche, dass ich mein Bestes geben werde, um das Richtige für die Familie zu tun.“

„Hätte doch deine Tante nur nicht ihre besten Schmuckstücke verkauft und durch Nachbildungen ersetzt“, sinnierte ihre Mutter bekümmert. „Dein Onkel war so freundlich, sie dir zu hinterlassen, aber ich bin sicher, er hatte keine Ahnung davon, dass die besten Diamanten und Rubine, ganz zu schweigen von den Smaragden und Saphiren, sämtlich Fälschungen sind und dass nur ein paar armselige Kleinigkeiten geblieben sind, kaum mehr als ein paar Pfund wert …“

„Ich würde sie mit Vergnügen verkaufen, wenn das Papa hilft.“

„Unglücklicherweise betragen seine Schulden mindestens zwanzigtausend Pfund“, sagte ihre Mutter, und es lag ein verzweifelter Unterton in ihrer Stimme. „Selbst wenn du alles verkaufst, würdest du nicht mehr als ungefähr tausend aufbringen. Ich sehe keinen anderen Ausweg, meine Liebe – du musst ein Vermögen heiraten.“

Charlotte wandte sich ab und blickte aus dem Salonfenster hinaus auf die Gärten, die sich hinter dem Haus ihres Vaters erstreckten. Ihre Mama liebte ihr Zuhause, und es würde ihr das Herz brechen, es verlassen zu müssen – und Matt würde kaum eine Chance haben, eine vorteilhafte Ehe einzugehen, wenn sie ruiniert waren. Ihre Liebe zu ihrem Vater, ihrem Bruder und ihrer Mutter war zu stark, als dass Charlotte an Auflehnung denken konnte. Sie wusste, sie musste ihre Pflicht erfüllen. Sie konnte nur darauf hoffen, einen reichen Mann zu finden, der weder zu fett noch zu alt war, den sie respektieren konnte, selbst wenn sie ihn nicht liebte.

Seufzend drehte sie sich wieder ihrer Mutter zu und lächelte. „Ich werde mein Bestes tun, um dir und Papa zu gehorchen, aber ich kann nicht garantieren, dass sich jemand heftig genug in mich verlieben wird, um um meine Hand anzuhalten.“

„Es gibt Gentlemen, die in einer Ehe nicht nach Liebe suchen“, entgegnete ihre Mutter. „Sie wollen eine angenehme Verbindung mit einem Mädchen aus guter Familie, das ihnen Kinder schenkt – und, sobald das Erbe gesichert ist, ihr Vergnügen anderswo suchen. Wenn du deinem Ehemann mindestens einen Sohn geschenkt hast, besser noch zwei – es ist immer vorteilhaft, noch einen Ersatz zu haben, weißt du –, dann wird er es dir zweifellos überlassen, das zu tun, was du willst.“

„Verhalten sich alle Männer so, Mama?“, fragte Charlotte unschuldig. „Sind sie niemals treu? Ich dachte, vielleicht, wenn eine Frau ihren Ehemann liebt …“

„Vielleicht gibt es einige, die treu bleiben“, räumte ihre Mutter ein. „Ich hoffe wirklich, dass du so einen Mann findest – aber du solltest nicht darauf zählen, Charlotte. Am ehesten kannst du ein bequemes Haus erwarten und ein Leben, das du damit verbringst, dich an deinen Kindern zu erfreuen und deine Freundinnen zu empfangen.“

Charlotte nickte beklommen, wandte sich wieder ab und blickte aus dem Fenster. Ihr kam es so vor, als wären all ihre Träume von Liebe und Romanzen nichts weiter als dumme Kindereien gewesen.

„Nun, ich gehe davon aus, dass du vernünftig bist“, sagte ihre Mutter. „Ich bin ehrlich zu dir gewesen, Charlotte. Papa hat ein Haus am Berkeley Square gemietet. Es ist teuer, selbst für nur ein paar Wochen, mein Liebes, also musst du aus deinen Möglichkeiten das Beste machen – denn wenn es dir nicht gelingt …“ Lady Stevens erschauerte ein wenig. „Nun, wir werden über diese Möglichkeit lieber nicht nachdenken. Ich habe dich immer für ein bemerkenswertes Mädchen gehalten, und ich bin überzeugt, dass du uns nicht im Stich lassen wirst.“

Charlotte kreuzte hinter ihrem Rücken die Finger. Sie konnte nur beten, dass das Vertrauen ihrer Mutter in sie gerechtfertigt war. Irgendwie musste sie ihre Träume von einem großen dunklen Fremden, der sie auf den ersten Blick faszinierte und sich bis über beide Ohren in sie verliebte, vergessen und sich dazu entschließen, sich für jemanden zu entscheiden, mit dem sie ein angenehmes Leben führen konnte.

1. KAPITEL

Nun, Sir, was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen?“ Der Marquess of Ellington runzelte die Stirn, sodass sich seine dichten grauen Augenbrauen in der Mitte berührten, ein Blick, so finster, dass er den meisten Männern Angst und Schrecken eingejagt hätte, doch sein Enkel lächelte nur. „Verdammt, Jack, kannst du niemals ernst sein? Das hier ist wichtig. Du weißt, dass du eines Tages in meine Fußstapfen treten musst, Junge. Du solltest allmählich daran denken, eine Familie zu gründen.“

„Natürlich, Sir.“ Captain Viscount Delsey lächelte den Älteren strahlend an. Er war ein gut aussehender Mann, hochgewachsen, mit breiten Schultern und langen Beinen, dunklem Haar und dunkelgrauen Augen, und er war mehr oder weniger seinen eigenen Weg gegangen, seit sein Vater gestorben war. Damals war er erst siebzehn Jahre alt gewesen und in der Obhut seiner Mutter, Lady Daisy, und seines Großvaters geblieben. „Ich bin bereit, Ihre Wünsche zu berücksichtigen, aber Sie wissen, wie ich über eine Ehe denke.“

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass eine Ehe eine Pflicht ist, die deine Vergnügungen nicht beeinträchtigen wird? Ein wohlerzogenes Mädchen aus guter Familie wird dir die Erben schenken, die du benötigst, ohne viel Aufhebens und ohne dass du dir über Liebe oder Treue Gedanken machen musst. Sie wird verstehen, dass ein Mann sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, und sich ganz ihren Kindern und ihrem Heim widmen.“

„Wie schrecklich für die fragliche junge Dame“, murmelte Jack leise, aber das Gehör seines Großvaters war noch immer sehr gut.

„Eine Dame versteht solche Dinge“, meinte der Marquess. „Wenn du so genau weißt, wie es sein sollte, dann musst du eine junge Dame finden, die alle deine Bedürfnisse erfüllt.“

„Ja, aber wo soll ich so eine Frau finden?“, meinte Jack scherzhaft. „Wo ist die Schöne, die das Herz eines Mannes zähmen und für sich gewinnen kann? Ich werde dir etwas versprechen, Großvater. Wenn ich jemals solch einer jungen Dame über den Weg laufen sollte, dann werde ich sie heiraten, egal, woher sie kommt, und dann werde ich mich niederlassen und der Familienmensch werden, der ich deiner Meinung nach sein sollte.“

Der Marquess seufzte und schüttelte den Kopf. Ein Runzeln zierte seine edle Stirn. „Du wirst noch mein Tod sein. Ich verbiete es dir, eine Frau von schlechtem Ruf in diese Familie zu bringen.“

„Wie kommst du darauf, dass ich so etwas tun würde?“ Jack setzte eine übertrieben missbilligende Miene auf. „Glaubst du, ich verbringe meine gesamte Zeit mit solchen Lastern?“

„Nach dem, was die Klatschmäuler so erzählen, hast du im vergangenen Jahr eine ganze Reihe von Tänzerinnen der Oper und vergleichbare Damen gehabt. Es ist an der Zeit für dich, an deine Familie zu denken – und an mich. Ich habe alles für dich getan, nach bestem Wissen und Gewissen – könntest du dann nicht wenigstens darüber nachdenken, dir eine Frau zu suchen?“

„Sie sollten nicht auf Mama hören, Sir“, sagte Jack. „Sie ist zu oft mit Tante Seraphina zusammen, und die hat den Klatsch von meinem Cousin Reginald gehört. Und jetzt ehrlich – möchten Sie, dass ich so werde wir Ihr Neffe Reginald?“

„Nein, das möchte ich nicht. Der Mann ist ein Dummkopf.“ Jetzt platzte dem Marquess vor Wut der Kragen. „Jack, warum machst du dich über mich lustig? Du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte, mein Junge. Ich bin stolz auf dich – auf das, was du in der Armee erreicht hast, obwohl ich nicht wollte, dass du in den Krieg ziehst –, aber ich werde nicht ewig leben, und es würde mir viel bedeuten, deinen ersten Sohn zu sehen: meinen Erben. Möge der Himmel verhindern, dass Reginald einen Sohn bekommt, der das Anwesen erbt.“

„Ja, das wäre ganz furchtbar“, sagte Jack nachdenklich. „Die Vorstellung, Reginald könnte in deine Fußstapfen treten, gefällt mir nicht – obwohl ich sagen muss, dass ich nicht vorhabe, in den nächsten Jahren zu sterben.“

„Der Unfall deines Vaters kam plötzlich und unerwartet.“ In den Augen des alten Mannes erschien ein Ausdruck von tiefer, schmerzhafter Trauer.

Jack wurde sofort ernst. „Ja, Sir, verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie nicht aufregen.“

„Dann würdest du mir diese Freude bereiten?“

„Sie möchten, dass ich Mamas Cousin Lord Sopworth besuche und mir seine Tochter Celia ansehe?“ Jack furchte die Stirn, und in diesem Augenblick war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern unübersehbar. „Also gut, Sir. Ich werde Onkel Geralds Einladung annehmen, aber ich verspreche nichts. Ich wage zu behaupten, dass die junge Dame genauso ist, wie Sie es gesagt haben, aber eine Heirat ohne Liebe oder zumindest eine tiefe Zuneigung und Respekt führt nur ins Unglück. Sie müssen nur daran denken, wie es für meinen Vater und meine Mutter gewesen ist.“

„Das war Pech“, räumte sein Großvater ein. „Dein Vater war ein selbstsüchtiger Mann – diese Eigenschaft hat er von seiner Mutter geerbt – und ich fürchte, er hat deiner armen Mama Schmerz zugefügt. Ich schätze Lady Daisy sehr. Ich danke Gott dafür, dass du ihr liebenswürdiges Wesen geerbt hast, auch wenn du den Eigensinn von mir hast.“

„Ich werde meinem Onkel einen Besuch abstatten“, erklärte Jack. „Aber das heißt nicht, dass ich Celia einen Antrag machen werde, außer, ich entschließe mich dazu. Und jetzt, wenn es nichts sonst mehr gibt, werde ich nach Hause gehen und mich umziehen. Ich bin heute Abend mit ein paar Freunden verabredet.“

„Ich hatte gehofft, du würdest mit uns zu Abend essen.“

„Nicht heute, Sir. Vielleicht morgen, ehe Sie wieder aufs Land zurückkehren.“

„Also gut. Und wann wirst du nach Cambridgeshire aufbrechen?“

„Am Ende der Woche. Bis dahin habe ich noch Termine – und ich muss meinem Onkel etwas Zeit geben, sich vorzubereiten.“

„Dann sehen wir uns morgen, Jack.“

„Ich freue mich darauf.“

Nachdem er das Arbeitszimmer seines Großvaters verlassen hatte, ging Jack gemächlichen Schrittes durch das Haus, blieb in der weitläufigen Eingangshalle stehen, um zuerst ein paar Worte mit dem Kammerdiener des Marquess’ zu wechseln und dann mit Pearson, dem Butler, der in Ellington House gedient hatte, so lange Jack denken konnte. Die Dienstboten seines Großvaters hatten nicht gezögert, ihm zu erzählen, dass der Marquess kürzlich zweimal den Arzt hatte rufen lassen. Tatsächlich war das der Grund gewesen, warum der Großvater für ein paar Wochen hierher nach London gekommen war, obwohl er sein Haus tief im ländlichen Sussex dem lebhaften Treiben in der Stadt vorzog.

„Ich weiß, der Herr würde Ihnen niemals Kummer bereiten wollen“, sagte Pearson zu ihm. „Aber es geht ihm nicht so gut, wie es sollte, Captain Delsey, und das ist die Wahrheit.“

„Wissen Sie, welcher Art seine Probleme waren?“, fragte er den Kammerdiener.

„Es ist das Herz, Sir. Bisher noch nichts Ernstes, soweit ich es verstanden habe, aber ihm wurde gesagt, er sollte seinen Portwein und die Zigarren einschränken – und die Dinge etwas leichter nehmen.“

Jack dankte den beiden dafür, ihm das gesagt zu haben. Sein Großvater hatte nichts von einem Arztbesuch erwähnt, aber das erklärte, warum er, Jack, hierhergebeten worden war und sich einmal mehr einen Vortrag über die Ehe hatte anhören müssen. In jedem Fall hatten der Kammerdiener und der Butler ihn mit ihren Geschichten beunruhigt, denn Jack hatte seinen Großvater wirklich gern und wollte ihm ungern Sorgen bereiten.

Der Marquess hatte sich nie mehr als notwendig in Jacks Leben eingemischt. Als er das College verlassen hatte, hatte Ellington ihn in die Gesellschaft eingeführt, hatte ihn in seine Klubs mitgenommen und ihm den Namen seines Schneiders genannt. Danach hatte er ihn mehr oder weniger sich selbst überlassen und ihn nur dazu angehalten, gründlich darüber nachzudenken, als er es in Erwägung gezogen hatte, in die Armee einzutreten. Zu jener Zeit hatte ein Krieg gedroht, und Jack hatte ein paar Jahre im Ausland verbracht, wo er unter Wellingtons Befehl gekämpft hatte. Die Freunde, die er dort gefunden hatte, bildeten jetzt seinen engsten Kreis, dazu gehörten sechs Gentlemen, die ihm so nahestanden wie Brüder, obwohl er zahllose Bekannte hatte, denn er war sehr beliebt – sowohl bei den Herren als auch bei den Damen, wodurch das Gerede über seine Affären entstanden war.

Der Viscount war eine gute Partie, und mehr als eine hübsche junge Dame hatte versucht, ihn für sich zu gewinnen, doch obwohl er sich mit Vergnügen auf einen Tanz oder einen kleinen Flirt mit ihnen einzulassen bereit war, konnte niemand behaupten, dass er auch nur einer einzigen Anlass zur Hoffnung gegeben hatte. Er verbrachte mehr Zeit damit, mit den Matronen zu flirten als mit deren Töchtern, und mehr als eine von ihnen dachte an Jack Delsey, wenn sie neben ihrem schnarchenden Ehemann wachte, und wünschte, dass der junge Viscount neben ihr im Bett liegen würde anstelle ihres Ehemannes.

Seit mehr als einem Jahr war Jack nun aus dem Krieg zurück und vertrieb sich die Zeit genauso wie jeder andere reiche junge Mann, der auf sich hielt. Er besuchte seine Klubs, wettete bei Tattersalls oder Newmarket und war stolz auf seine Pferde. Seine Pistolen stammten von Manton’s, seine Röcke waren von Scott oder Weston geschneidert, und seine Stiefel glänzen wie Seide. Jacks Halstücher waren stets frisch gestärkt, aber er trug sie nur schlicht gebunden und nicht so kompliziert gefältelt und mit Rüschen besetzt wie ein Dandy. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er seine Pferde trainierte oder mit Freunden focht oder unter den Augen von Gentleman George ein paar Schläge austeilte, einem Boxer, dessen Trainingsraum er dann und wann aufsuchte, um in Form zu bleiben. Er war ein Vorbild für die meisten jungen Leute. Es wäre nicht fair gewesen, ihn einen Schürzenjäger zu nennen, obwohl er diesen Ruf bis zu einem gewissen Grad verdiente, wenn man bedachte, welches Herzklopfen ein einziger Blick aus diesen betörenden Augen bei so vielen weiblichen Wesen verursachte. Ohne dass er das beabsichtigte, hatte sein leichtlebiges Auftreten mehr als eine Dame einer Ohnmacht nahe gebracht, und er hatte mehr als ein verwundetes Herz hinterlassen, wenn seine beiläufigen Flirts zu weiter nichts führten.

Sein Großvater allerdings hatte die Anzahl der Geliebten übertrieben, die Jack während der vergangenen Jahre gehabt hatte. Während seiner Jahre bei der Armee hatte er Gefallen an einigen schönen Spanierinnen gefunden. Genau wie seine Freunde hatte er sich amüsiert, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, wohl wissend, dass jeder Tag der letzte sein konnte, aber die Damen waren Mädchen von schlechtem Ruf gewesen, und keine von ihnen hatte je sein Herz berührt.

Seither hatte er mit drei Frauen intime Beziehungen unterhalten. Eine von ihnen war verheiratet mit einem Mann, der dreißig Jahre älter war als sie und sich mehr für seinen Portwein als für seine Frau interessierte, die anderen beiden waren Tänzerinnen an der Oper gewesen. Jacks gegenwärtige Gespielin war sehr schön, aber auch sehr gierig und, wie er vermutete, ihm nicht treu. Er ging davon aus, dass sie andere Liebhaber hatte, trotz ihrer Vereinbarung, und er spielte mit dem Gedanken, Lucy zu sagen, dass es vorbei war, ehe er aufs Land fuhr.

Jack vermutete, dass er wohl ernsthaft über eine Heirat nachdenken musste. Er war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt und nun seit zehn Jahren sein eigener Herr, und auch wenn sein Vermögen vier Jahre lang von einem Treuhänder verwaltet worden war, waren seine Zuwendungen so großzügig bemessen gewesen, dass nie die Gefahr bestanden hatte, er könnte sich verschulden. Seitdem er Zugriff auf sein Vermögen hatte, hatte er verschiedene Verbesserungen auf seinem Anwesen durchgeführt und klug investiert. Sein Vermögen war groß genug, um damit eine Familie zu ernähren, ohne dass er seinen Lebensstil aufgeben müsste, außer im ganz persönlichen Ablauf des Alltags. Es gab sogar Neider, die darüber klagten, dass er über weitaus mehr Geld verfügte, als gut für ihn war.

Das Problem bestand darin, dass er sein Leben genoss und keinen Grund sah, etwas daran zu ändern. Als unverheirateter Mann musste er nicht viele Gedanken an die Gefühle anderer verschwenden. Der obligatorische Besuch bei seiner Mama und seinem Großvater auf dem Land alle paar Wochen bedeutete für ihn keinen großen Aufwand, und es stand ihm frei, einen Freund zu besuchen, nach Newmarket oder Bath zu reisen oder ganz spontan etwas völlig anderes zu tun. Manch einer würde sagen, dass eine Ehe nicht notwendigerweise sein ganzes Leben auf den Kopf stellen musste, aber Jack konnte sich noch daran erinnern, wie seine Mama in Tränen aufgelöst war, wenn sie mit ihrem kleinen Sohn allein auf dem Land zurückgelassen worden war, während ihr Ehemann sich in der Stadt amüsierte. Er vermutete, dass seine Abneigung gegen eine Heirat mit den Jahren in ihm gewachsen war, angestoßen von einem Vorfall, der sich ereignet hatte, als er siebzehn gewesen war, und bisher hatte er noch keine Frau getroffen, die schön oder großzügig genug gewesen wäre, um ihn diese Ablehnung überwinden zu lassen.

Sein Vater war tatsächlich sehr selbstsüchtig gewesen. Jack fragte sich, ob er diese Eigenschaft wohl geerbt hatte, denn er war geneigt, abzureisen, ohne seine Familie darüber zu informieren, dass er für ein paar Tage nicht in der Stadt und damit unerreichbar sein würde. Er wusste, dass seine Mama sich zuweilen um ihn sorgte, obwohl der Marquess ihr sagte, sie sei eine Glucke, und vielleicht war sie das auch. Es wäre leichter gewesen, wenn Jack nicht ihr einziges Kind gewesen wäre, aber aus irgendeinem Grund hatte es in dieser unglücklichen Ehe keine weiteren Kinder gegeben.

Jack seufzte und schob seine sorgenvollen Gedanken zur Seite. Er war für den Abend mit ein paar Freunden verabredet, und es hatte keinen Sinn, über ein Problem nachzudenken, von dem er nicht sicher war, ob er es lösen konnte.

Eine Ehe mit einer Frau, die er nicht mochte oder bewunderte, wäre für ihn schlimmer, als lebendig begraben zu sein. Vielleicht war es nicht unbedingt nötig, sich zu verlieben, aber er hatte bisher noch nie eine junge Dame getroffen, die in ihm den Wunsch geweckt hatte, sie jeden Tag zu treffen, geschweige denn, sie zu beschützen und sie für den Rest seines Lebens zu verwöhnen.

„Hast du die neue Erbin gesehen?“, fragte Lieutenant Peter Phipps Jack, als sie sich im Klub trafen, wo sie mit dreien ihrer Freunde zum Abendessen verabredet waren. „Cynthia Langton hat alles – Schönheit, Geist und Geld.“

„Wirklich? Eine wahrhaftige Göttin“, meinte Jack und zog spöttisch eine Braue hoch. „Willst du bei ihr dein Glück versuchen, Phipps, alter Junge? Bist du schon wieder am Ende?“

Phipps schüttelte den Kopf, und ein etwas schiefes Grinsen spielte um seine Mundwinkel. „Noch nicht, Jack. Ich hatte letzten Monat eine Glückssträhne, und es gelingt mir gerade noch, den Kopf über Wasser zu halten. Nicht dass sie mich auch nur eines Blickes würdigen würde, selbst wenn ich in dieser Richtung Ambitionen hätte. Sie mag schön und reich sein, aber sie ist wie ein Eisberg – so stolz und kühl. Ich denke, sie hat es mindestens auf einen Marquess oder Earl abgesehen …“

„Dann ist sie ein bisschen außerhalb deiner Reichweite – und meiner auch“, meinte Jack. „Keine Sorge, es gibt immer noch das hässliche Entlein. Wenn du wirklich in Schwierigkeiten gerätst, würde sie dich im Nu herausfischen.“

„Das ist grausam und passt nicht zu dir“, sagte Phipps. „Ich mag Miss Amanda ganz gern, sie hat ein gutes Herz, selbst wenn sie ein wenig unansehnlich ist.“

„Nun, dann ist dein Problem ja gelöst“, stellte Jack boshaft fest. „Du musst nur mit dem Finger schnipsen, dann sinkt sie dir in die Arme – wenn du stark genug bist, um sie aufzufangen.“

„Wirklich, Jack, das ist ein wenig hart“, meinte sein Freund und runzelte die Stirn. „Sie kann nichts dafür, dass sie klein ist, und sie mag Süßigkeiten – was ich auch tue, aber ich scheine dadurch nicht an Gewicht zuzulegen.“

„Du bist von Natur aus ein schlaksiger Typ. Du solltest sie heiraten, denn du bist nur Haut und Knochen, während sie ein köstlicher Armvoll weicher Rundungen ist – ach, ich mache nur Scherze“, fügte Jack hinzu, als er sah, dass Phipps sich zu ärgern begann. „Ich denke, Amanda Hamilton ist eine nette junge Frau und wird zweifellos eine liebende Ehefrau sein. Genau die Art von junger Dame, von der mein Großvater meint, sie würde zu mir passen, wenn ich seine Andeutungen heute Nachmittag richtig verstanden habe.“

„Deswegen bist du also heute Abend so schlechter Laune.“ Phipps lächelte und schlug ihm auf die Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst, alter Junge. Pater hat mir einen Vortrag gehalten, als ich kürzlich auf seinem Anwesen war – er hat mir gesagt, dass er mich das letzte Mal aus Schwierigkeiten herausgeholt hat und dass ich mich darum kümmern soll, eine Frau zu finden.“

„Die Pflicht ruft nach uns beiden, wie es scheint, aber davon lassen wir uns nicht den Abend verderben. Hier kommen die anderen.“

Jack drehte sich um und begrüßte die drei anderen jungen Männer mit einem Lächeln und einem Händedruck. Alle fünf hatten zusammen unter Wellington gedient, und obwohl zwei von ihnen sich kürzlich verlobt hatten, waren sie alle noch unverheiratet und konnten eine Nacht im Klub mit Trinken und Kartenspiel genießen.

„Wie geht es dir, Jack?“, fragte Malcolm Seers und schüttelte Jack mit festem Griff die Hand. „Dies ist mein letzter Abend in der Stadt, ehe ich aufs Land fahre. Bitte gratuliere mir, ich habe mich gerade mit Miss Willow verlobt.“

„Jane Willow?“, fragte Jack und grinste, diesmal nur mit einer Spur von Spott, denn Miss Willow war eine der wenigen Damen in der Gesellschaft, die er wirklich mochte. „Sie hat deinen Antrag also endlich angenommen? Ich dachte, es würde noch lange …“

„Sie konnte sich nicht entscheiden, aber am Ende habe ich sie überzeugt.“ Malcolm schien sehr mit sich zufrieden zu sein. „Ich bin der glücklichste Mann der Welt.“

„Dann gratuliere ich dir. Ich werde dich vermissen, wenn du hinter den Schleiern des Ehestandes verschwindest, aber ich freue mich für dich.“

„Oh, Jane möchte so viel Zeit wie möglich in der Stadt verbringen, und sie mag dich, Jack. Wir erwarten, dass du uns so oft wie möglich besuchst, wenn du auf dem Land bist.“

Jack murmelte etwas Höfliches, aber er wusste, es würde nicht dasselbe sein, wenn sein Freund erst verheiratet war. Malcolm war ein ernsthafter Mann, und er war ein getreuer Soldat gewesen – und er würde seiner Frau und seiner Familie gegenüber ebenso hingebungsvoll sein. Sie würden noch immer Freunde bleiben, aber alles wäre anders …

Jack fühlte sich gehetzt, als würde er in eine Richtung gedrängt, die er nicht einschlagen wollte. Sein Großvater nötigte ihn zu einer Ehe, und seine Freunde erlagen einer nach dem anderen dieser Verlockung – wie lange würde Jack sich da widersetzen können?

Es war kaum drei Uhr in der Frühe, als sich die Freunde im Klub voneinander trennten, drei von ihnen gingen nach Hause, sodass nur noch Jack und Phipps übrig blieben, die überlegten, was sie als Nächstes unternehmen sollten.

„Die Nacht ist noch jung“, meinte Jack. „Wir sollten einen Spielsaal finden und uns für eine Stunde oder so dort beschäftigen.“

„Nicht für mich, alter Junge.“ Phipps schüttelte den Kopf. „Ich habe dem Spiel für mindestens einen Monat abgeschworen, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit meinem Vater. Ich komme mit dir auf einen Drink nach Hause, wenn du das willst, ansonsten würde ich eine Droschke rufen und heimfahren.“

„Ich denke, ich werde Lucy einen Besuch abstatten“, beschloss Jack und lachte. „Werde ich dich morgen bei Markham’s treffen?“

„Ja, gewiss.“ Der Freund nickte. „Dort wirst du mit Sicherheit auch Miss Langton treffen.“

„Oh, die überlasse ich dir, mein Freund“, sagte Jack und versetzte ihm einen freundschaftlichen Boxhieb gegen den Arm.

Sie verabschiedeten sich in heiterer Eintracht voneinander, und Jack schlenderte die Straße hinunter, als gäbe es für ihn überhaupt keine Sorgen, während Phipps einen Wagen rief, der ihn nach Hause fahren sollte. Ein Lächeln umspielte Jacks Lippen, denn wenn er sich nicht irrte, hatte Phipps ein wenig zu viel getrunken, während er selbst gerade so viel getrunken hatte, um sich im Frieden mit der Welt zu fühlen. Ein Besuch bei seiner Geliebten würde den Abend nett abrunden und ihn daran hindern, in die melancholische Stimmung zu verfallen, die ein ernsthaftes Nachdenken über eine Heirat vermutlich mit sich gebracht hätte.

Er war vielleicht fünf Minuten lang gegangen, als er Schreie hörte. Jemand – ein Mädchen, wie er meinte – rief um Hilfe. Der Beschützer in Jack war sofort alarmiert, und er versuchte herauszufinden, woher die Schreie kamen. Der Ort schien der Park auf der anderen Straßenseite zu sein. Während er noch zögerte, sah er eine kleine Gestalt eilig aus der Richtung kommen, gefolgt von zwei augenscheinlich betrunkenen Männern, die mit etwas unsicheren Schritten der jungen Frau hinterherhasteten.

„Die Meute zu mir!“, rief einer von ihnen und stieß einen Laut aus, der ein Jagdschrei sein sollte. „Wir müssen die kleine Füchsin noch fangen!“

Der zweite Kerl rannte seinem Kameraden ein wenig unbeholfen nach, als die zierliche Gestalt über die Straße lief. Jack bewegte sich so schnell wie der Blitz, packte die zarte Person, wobei er bemerkte, dass er es offenbar mit einem jungen Mann mit feinen, beinahe femininen Zügen zu tun hatte, ehe er ihn hinter sich gegen die Wand stieß und sich den Gentlemen zuwandte, die ihn verfolgten.

„Das ist der richtige Geist, alter Junge!“, rief der eine aufgeräumt. „Gib uns das Mädchen, und wir bringen zu Ende, was wir mit ihr zu schaffen haben.“

„Und das wäre was?“, fragte Jack freundlich, aber kühl. „Ich glaube, Ihnen geht es nicht so gut, Sir. Ich würde Ihnen empfehlen, doch bitte das Bett aufzusuchen.“

„Verdammt, Sir! Was geht es Sie an, was ich tue? Gehen Sie bitte zur Seite und lassen Sie uns …“

„Ich habe Sie freundlich gebeten, sich von hier zu entfernen.“ Jacks Stimme enthielt nun einen eiskalten Unterton. „Jetzt verlange ich es. Gehen Sie dorthin, wo Sie herkommen, ehe ich Ihnen Manieren beibringe.“

„Sie wollen das Mädchen wohl für sich haben, was?“, meinte der andere. „Ihnen werde ich es zeigen!“ Er holte gegen Jack aus und stellte fest, dass er schon einen Schlag erhalten hatte. Er fiel zu Boden und stöhnte. „Sie ist eine Dirne und eine Diebin“, murmelte er.

„Komm schon, Patterson.“ Sein Freund, in kaum besserer Verfassung, bückte sich, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. „Du weißt nicht, ob sie eine Diebin ist, obwohl wir gesehen haben, wie sie aus dem Fenster stieg.“

Patterson murmelte etwas Unfreundliches, aber er nahm die Hilfe seines Freundes an. Jack bedachte ihn mit einem finsteren Blick, dann umklammerte Patterson den Arm seines Freundes und schwankte davon.

„Weg mit ihr!“, lallte er dann, lachte und zeigte mit dem Finger auf die kleine Gestalt. „Da läuft sie! Sie ist uns allen entkommen!“

Jack warf einen Blick über seine Schulter und sah die zierliche Person um eine Ecke verschwinden. Er bedauerte das sehr, denn er hätte gern gewusst, ob es sich bei dem jungen Menschen um einen Jungen handelte oder tatsächlich um ein verkleidetes Mädchen, wie es die betrunkenen Männer gesehen zu haben glaubten. Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt nachzusehen, ob sie – oder er – vielleicht verletzt war, aber wenigstens hatte er schlimmeren Schaden verhindert.

Er blieb stehen und sah zu, wie die beiden Männer davongingen, in die Richtung, die jener entgegengesetzt war, die der Flüchtige eingeschlagen hatte. Erst als Jack sicher war, dass der junge Mensch außer Sichtweite sein musste, setzte er seinen Weg fort. Vage stellte er fest, dass die Knöchel seiner rechten Hand schmerzten, aber er schob dieses Gefühl beiseite als eine Folge, die er in Kauf nehmen musste für sein Einmischen in eine Angelegenheit, die für den jungen Menschen möglicherweise ein böses Ende gezeitigt hätte.

Jacks Stimmung hatte sich verändert. Er war belustigt von dem, was er von dem Flüchtling gesehen hatte, als er im Schein der Straßenlaterne einen Blick auf das Elfengesicht erhascht hatte. Wenn er den beiden Betrunkenen glauben durfte, war der junge Mensch ein Mädchen, eine Diebin und eine Dirne – aber die Kleider, die der Flüchtling getragen hatte, waren von guter Qualität gewesen, der Besitz eines jungen Gentleman von vielleicht dreizehn Jahren. Dabei stellte Jack sich nicht gerade einen Dieb oder eine Dirne vor, sondern mehr einen unschuldigen Menschen wie einen sehr jungen Gentleman, der von zu Hause fortgelaufen war. Außer, es war tatsächlich ein Mädchen in geborgter Kleidung – ein Gedanke, der ihn faszinierte.

Jack stand nun vor dem kleinen, aber eleganten Haus, das er für seine Mätresse gekauft hatte. Die Fenster waren dunkel, wie er es hätte vermuten können, wenn er über die Uhrzeit nachgedacht hätte. Er erwog, vielleicht über das Tor zu steigen und um das Haus herum zum Hintereingang zu gehen. Von dort aus könnte er Steinchen gegen das Fenster werfen, sodass Lucy nach unten kommen und ihn einlassen konnte, ohne die Dienstboten zu wecken.

Ganz plötzlich bemerkte er, dass er gar nicht mehr den Wunsch verspürte, seine Geliebte zu sehen. Er lachte etwas freudlos und wandte sich ab, als in genau jenem Moment Licht im oberen Treppenhaus anging. Jack zögerte und überlegte noch immer, ob er Lucy nur für einen Drink oder ein wenig Geplauder aufsuchen sollte, als die Tür aufging und ein Gentleman herauskam.

Er erkannte in dem Mann Lord Harding – einen Menschen, den er besonders verabscheute, da er ein Spieler war und, wenn Jack sich nicht täuschte, überdies ein Falschspieler. Er gehörte zu der Sorte Mann, der sich an die Fersen von jungen Männern heftete, die neu in der Stadt waren, und sie in üble Spelunken brachte und zu allen anderen Arten sündhafter Aktivitäten verführte.

Es konnte nur einen Grund geben, aus dem Harding Lucys Haus um diese Nachtstunde verließ, und bei dieser Erkenntnis wurde Jack übel. Jedes Verlangen, seine Mätresse zu treffen, löste sich in Luft auf. Er würde diese Affäre am nächsten Tag beenden, indem er ihr ein Abschiedsgeschenk schickte und einen Brief, der ihr deutlich zeigte, wie verachtenswert er ihr Verhalten fand. Er verspürte keinerlei Wunsch, nach Harding in ihr Bett zu steigen!

Bei fast jedem anderen Gentleman hätte Jack diese Entdeckung mit einem Lachen abgetan, denn er hatte geahnt, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die treu war – aber Harding war jemand, den er wirklich nicht mochte.

Jack ging die ganze Straße entlang, ehe er eine Droschke herbeiwinkte, die ihn nach Hause bringen sollte. Er verspürte einen bitteren Nachgeschmack im Mund und war wütend, dass er sich so lange an der Nase hatte herumführen lassen. Nun, wenn er sich das nächste Mal eine Mätresse nahm, dann würde er darauf achten, dass sie wenigstens ehrlich genug war, um nur einen Liebhaber zurzeit zu haben. Warum schienen so viele Frauen zu glauben, sie müssten lügen, um ihren Willen zu bekommen? Wenn es eine Sorte Menschen gab, die Jack nicht leiden konnte, dann waren es Lügner oder Betrüger.

Als er den schönen Platz erreicht hatte, an dem er wohnte, und gerade den Droschkenkutscher bezahlte, blickte er über die Gärten zu seiner Linken hinweg und bemerkte eine zierliche Gestalt, die über ein schmiedeeisernes Geländer kletterte und dann über die Stufen, die in die Dienstbotenquartiere führten, nach unten verschwand.

Jack zögerte, denn obwohl er mit Lord Bathurst, dem das Haus gehörte, befreundet war, wusste er, dass dieser das Haus kürzlich an eine Familie vermietet hatte, mit der er, Jack, noch nicht bekannt war. Um diese Morgenstunde wollte er dort nicht an die Tür klopfen und ihnen sagen, dass sie womöglich einen Eindringling im Haus hatten – vor allem nicht, weil er nicht sicher sein konnte, dass es sich bei dem Jungen, den er vorher gesehen hatte, und der Gestalt, die jetzt über das Gitter geklettert war, um ein und dieselbe Person handelte.

Tatsächlich war er sich über gar nichts sicher. Doch er konnte nicht zulassen, dass ein Nachbar möglicherweise bestohlen wurde – falls das Mädchen eine Diebin war und falls es überhaupt ein Mädchen war …

Jack fluchte und eilte nun quer über den Platz, rüttelte am Gitter, das verschlossen war, was er hätte wissen können. Mühelos stieg er darüber, wobei er ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl sein Eindringen ganz unschuldig war. Er blickte die schmale Steintreppe hinunter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Schein einer Kerze durch den Türspalt fiel, als der Flüchtige das Gebäude betrat.

Die Tür wurde geschlossen, ehe er danach greifen konnte, aber er sah noch einen größeren jungen Mann, der herangekommen war und in alle Richtungen blickte, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie beobachtet hatte.

Jack blieb unsicher stehen. Der größere junge Mann war ebenfalls wie ein Gentleman gekleidet. Wer immer er sein mochte, Jack hatte nicht den Eindruck, dass er mit dem Flüchtling im Bunde war, um eine ahnungslose Familie zu berauben. Nein, sein erster Eindruck schien zu stimmen und der schmächtige Junge beging nur einen Streich, mit der Hilfe und unter dem Schutz, wie es aussah, eines älteren Bruders.

Jack lachte leise vor sich hin, als er wieder über das Gitter stieg und nun auf dem Bürgersteig stand, wo er sich umsah, ehe er den Platz überquerte und an seiner eigenen Vordertür klopfte. Sein Kammerdiener war beinahe sofort zur Stelle, und Jack nickte ihm zu, als er eingelassen wurde.

„Hatten Sie einen angenehmen Abend, Sir?“

„Ja, ich glaube schon“, erwiderte Jack. „Gehen Sie jetzt zu Bett, Cummings. Ich werde heute allein zurechtkommen.“

„Ich schließe nur noch ab, Mylord“, erwiderte sein Kammerdiener würdevoll. „Mr. Jenkins hat sich gerade erst zurückgezogen. Ich habe es heute übernommen, wach zu bleiben, und ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich Ihnen nicht zur Hand gehe, Sir.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Erde aufhören wird, sich zu drehen, wenn ich mir meine Stiefel ausnahmsweise allein ausziehe, Cummings.“

Jack schlenderte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, tief in Gedanken versunken, die ihm durchaus gefielen. Wer war nur der junge Mensch, der sich an diesem Abend so in Schwierigkeiten gebracht hatte?

Nun, er hatte die Gelegenheit versäumt, die Bekanntschaft seiner neuen Nachbarn zu machen, daher würde er sich das Vergnügen bereiten, dies später am Tag nachzuholen.

2. KAPITEL

Charlie!“, rief Mr. Matthew Stevens, packte seine Schwester an der Schulter und schüttelte sie ganz leicht. „Gott sei es gedankt, du bist zurück. Du warst so lange fort, dass ich schon Angst hatte, du wärest erwischt worden.“

„Ach, hör auf, so ein Theater zu machen, Matt.“ Charlotte lächelte ihren Bruder übermütig an, und ihre Grübchen wurden sichtbar. „Ich habe dir gesagt, dass ich das kann. Es war einfach, an der Pergola bis zu seinem Schlafzimmer hinaufzuklettern. Er hat das Fenster offen gelassen, und wir wussten, dass er das immer so macht, und das dumme Ding lag auf seinem Frisiertisch. Ich habe es mir geschnappt und bin wieder nach unten geklettert, das hat nur ein paar Minuten gedauert. Er wird nie darauf kommen, dass ich das war – niemand kann das wissen. Ich muss nur darauf achten, das Halsband niemals in der Stadt zu tragen, denn wenn er es sieht, erkennt er es vielleicht.“

„Ich war die ganze Zeit über krank vor Sorge. Du warst so lange weg. Wenn es so einfach war, warum hat es dann so lange gedauert?“

„Das Halsband zu bekommen, war einfach“, sagte Charlotte und biss sich auf die Unterlippe. „Erst als ich aus dem Fenster stieg und dann über das Gitter auf die Straße, bekam ich ein paar Schwierigkeiten …“

„Was ist passiert? Verdammt, Charlie. Mutter wird mich umbringen, wenn ich deine Chancen verdorben habe. Ich hätte mich nie von dir dazu überreden lassen dürfen, so etwas Gefährliches zuzulassen.“

„Das hast du nicht, du hast nur dagestanden und mir einen Vortrag über meine Moral gehalten – was mehr als dreist war in Anbetracht der Tatsache, dass du derjenige warst, der das verdammte Ding gestohlen hat.“

„Ich wollte es dir nicht stehlen, Charlie“, sagte Matt, hin und her gerissen zwischen Reue und Zurechtweisung. „Er ist nur so ein brutaler Kerl – ehrlich gesagt, ich habe Angst vor ihm. Er hat gesagt, wenn ich die Spielschulden nicht zurückzahle, dann würde er es Vater sagen, und das musste ich verhindern.“

„Nein, das wäre schrecklich“, sagte seine liebevolle Schwester und lächelte als Zeichen dafür, dass sie ihm verzieh. „Das verdammte Halsband ist mir egal, aber wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir von meiner Mitgift gegeben, was davon übrig ist, und ich hätte dir sagen können, dass die Diamanten darin nicht echt sind.“

„Woher hätte ich das wissen sollen? Sie sehen ziemlich gut aus, Charlie. Ich dachte, sie wären echt.“

„Onkel Ben hat mir all den Schmuck seiner Frau im besten Glauben hinterlassen. Ich bin sicher, er wusste nicht, dass Tante Isobel das meiste durch Fälschungen ersetzt hat.“

„Warum glaubst du, dass sie das getan hat?“, fragte Matt verwirrt. „Ihre Apanage war doch sicher so groß, dass sie nicht darauf angewiesen war, die Familienerbstücke zu verscherbeln.“

„Ich denke, dass sie heimlich gespielt hat“, sagte Charlotte und runzelte die glatte Stirn. Sie seufzte und schüttelte ihr langes dunkles Haar aus, das sie unter eine der alten Schulmützen ihres Bruders gesteckt hatte, der sie zuvor die Nadel abgenommen hatte. Sie saßen in ihrem privaten Wohnzimmer, das zu ihrem Schlafzimmer führte, und sie war müde. Der Schreck darüber, dass sie um ein Haar grob misshandelt worden wäre, holte sie jetzt ein, da sie sicher zu Hause angekommen war. „Mama hat so etwas gesagt, als wir den Schmuck schätzen ließen und erfuhren, dass einiges davon gefälscht war.“

„Ich fühle mich jetzt schlecht, weil ich Onkel Bens Geld bekommen habe. Er hätte sicher einiges davon dir hinterlassen, hätte er das mit dem Schmuck gewusst.“

„Dieses Geld ist dafür bestimmt, dir einen Platz in der Armee zu erkaufen und es dir zu ermöglichen, das Leben eines Gentleman zu führen. Außerdem wirst du erst nächstes Jahr Zugriff darauf haben, und so viel ist es schließlich auch nicht.“

„Nein.“ Er machte eine bedauernde Miene. „Harding glaubte, ich sei der Erbe eines großen Vermögens, deswegen hatte er es auf mich abgesehen – aber zehntausend und ein kleiner Landsitz sind kaum ein großes Vermögen, Charlie, und ich kann noch für eine ganze Weile keinen Penny davon anrühren. Hätte ich eigenes Geld, hätte ich nicht dein Halsband genommen. Ich wollte es dir zurückzahlen, sobald ich es mir hätte leisten können, und ich wusste, dass es dir ohnehin nicht gefällt.“

„Es ist altmodisch“, gab Charlotte zurück. „Wäre es echt gewesen, hätte ich es wohl für mich umarbeiten lassen, aber Mama sagte, das ist es nicht wert. Sie sagte, ich kann ihre Diamanten tragen, wenn es einen Anlass dafür gibt.“

„Warum hast du dann all den Ärger auf dich genommen, um es zurückzubekommen?“

„Wenn Lord Harding bemerkt hätte, dass du ihm ein falsches Halsband gegeben hast, um deine Schulden bei ihm zu begleichen, dann hätte er dich einen Dieb und Betrüger genannt – kannst du dir vorstellen, was das für ein Gerede gegeben hätte? Ich hätte keine Chance mehr gehabt, eine vorteilhafte Ehe einzugehen, und du könntest zu keinem ordentlichen Regiment mehr gehen.“

„Ja …“ Matt sah bedrückt aus. „Ich bin so ein verdammter Narr gewesen, Charlie. Wärest du nicht gewesen …“

„Es ist vorbei und niemand muss je etwas davon erfahren“, erklärte Charlotte. Sie dachte an den Mann, der nach ihr gegriffen hatte, als sie durch den Park gelaufen war. Seine Hände hatten ihr Geheimnis sofort ertastet, und die Vorstellung, dass er ihre Brüste berührt hatte, verursachte ihr Übelkeit, aber es war dunkel gewesen im Park, und sie war recht sicher, dass er sie nicht erkennen würde, wenn sie einander in Gesellschaft begegneten. Er und sein Freund waren betrunken gewesen – aber mit dem Mann, der sie gerettet hatte, war es anders gewesen. Charlotte kannte ihn vom Sehen, denn sie hatte früher am Abend beobachtet, wie er das Haus auf der anderen Seite des Platzes verlassen hatte, und ein paarmal war er an ihr vorbeigefahren, wenn sie nach Hause gekommen war, aber sie waren einander nie förmlich vorgestellt worden. Sie wusste, dass er die Gelegenheit gehabt hatte, im Schein der Straßenlaterne ihr Gesicht zu sehen – aber hatte er genug gesehen, um sie erkennen zu können, wenn sie wie eine elegante junge Dame gekleidet war? Sie konnte nur hoffen, dass er nicht gut genug darauf geachtet hatte.

„Ich werde dafür beten, dass niemand je herausfinden wird, was geschehen ist, um unserer beider Willen“, sagte Matt. „Wenn Harding ahnt, dass es meine Schwester war, die das Halsband genommen hat – dann würde er mich vermutlich umbringen. Ja, du hattest recht, Charlie. Er kann es nicht wissen. Niemand kann es wissen, wenn wir schweigen.“

„Ich werde es niemandem erzählen.“ Sie sah ihn herausfordernd an, die Augen groß und unschuldig, aber voller Übermut. „Es ist jetzt vorbei, Matt. Geh zu Bett und lass auch mich etwas schlafen. Morgen findet dieser große Ball statt, und ich möchte so gut aussehen wie möglich. Wenn ich keinen Ehemann finde, wird der arme Papa alles verlieren.“

„Warum musste er sein Geld auch so ungeschickt investieren?“, klagte Matt. „Wir waren glücklich genug mit dem, was wir hatten – aber er glaubte, dieses Unternehmen im Osten würde ihm ein Vermögen mit Seide und Gewürzen bringen, nur dass das Schiff gesunken ist, und mit ihm all seine Fracht.“

„Und er hatte nicht daran gedacht, eine Versicherung abzuschließen“, fügte Charlotte hinzu. „Dankenswerterweise hatte Mama etwas Geld beiseitegelegt für mein Debüt. Und wenn ich einen reichen Ehemann finde, dann wird er Papas Schulden bezahlen, und alles wird gut.“

„Was ist mit dir?“, fragte ihr Bruder und sah sie aus dunklen braunen Augen an, die ihren sehr ähnlich waren, nur dass ihre goldene Pünktchen hatten und seine nur dunkel waren. „Wird es dich glücklich machen, einen Mann nur wegen seines Geldes zu heiraten? Er könnte viele Jahre älter sein als du und ganz und gar nicht gut aussehen.“

„Bettler haben nicht immer eine Wahl“, meinte Charlotte und seufzte unwillkürlich, denn sie hatte einmal von einem großen dunkelhaarigen Prinzen geträumt, in den sie sich Hals über Kopf verlieben und der sie in sein Schloss bringen und mit Liebe und Geschenken überhäufen würde. „Ich werde das Beste hoffen. Und nicht alle reichen Männer sind alt und fett.“

„Nein, vermutlich gibt es auch ein paar junge Männer, die infrage kommen, wenn du einen finden kannst. Ein Mann wäre ein Narr, dich nicht zu heiraten, wenn er reich und alleinstehend ist.“

„Du bist mein Bruder und daher voreingenommen, was mich betrifft.“ Sie lachte und beugte sich dann vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, ehe sie ihn zur Tür schob. „Geh, ehe wir noch jemanden aufwecken, der dann nachsehen kommt, was hier los ist. Ich möchte diese Sachen ausziehen, ehe irgendjemand außer dir mich darin sehen kann.“

Sie verschloss die Tür hinter ihm, dann ging Charlotte in ihr Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel. Ein breites Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie feststellte, dass sie einen hübschen Jungen abgab. Niemand konnte sehen, dass sie ein Mädchen war, wenn er sie nicht zufällig an der falschen Stelle berührte, was einer dieser schrecklichen Männer getan hatte. Es schien ihnen egal gewesen zu sein, ob sie ein Junge oder ein Mädchen war, sie hatten auf jeden Fall im Sinn gehabt, sie sich im Park vorzunehmen. Und das wäre auch passiert, hätte sie nicht dem einen das Knie zwischen die Beine gerammt, sodass der vor Zorn und Schmerz aufgeschrien hatte und sie bis zum Tor gelangen konnte. Doch sie hätten sie vermutlich wieder erwischt, hätte es den Viscount nicht gegeben – Captain Jack Delsey.

Charlotte hatte den Namen des Gentleman, der sie gerettet hatte, beinahe vom ersten Augenblick an gekannt, als sie in dieses Haus gezogen waren. Ihre Mama hatte ihr eine Liste mit den Anwohnern des Platzes gegeben, sodass sie ihre Karte hinterlassen konnte, aber das war erst dann möglich, wenn die anderen sie besucht hatten, denn sie war der Neuankömmling. Papa konnte einen alleinstehenden Gentleman besuchen, wenn er das wünschte, und von diesen gab es hier in der Nähe im Augenblick zwei. Einer war ein Witwer mit drei Kindern bei einem seiner seltenen Besuche in der Stadt, wobei er die Kinder bei ihrer Großmutter mütterlicherseits auf dem Land zurückgelassen hatte, und der andere war der Viscount. Papa hatte bisher bei keinem von beiden vorgesprochen, der Witwer allerdings hatte seine Karte hinterlassen, und deswegen beabsichtigte Mama, ihn zu einem kleinen Kartenspiel einzuladen, das sie mit ihren Bekannten in der Stadt arrangiert hatte. Der Viscount war der Enkel des Marquess of Ellington und eine der besten Partien auf dem Heiratsmarkt. Ihre Mama hatte sie aber davor gewarnt, ihre Hoffnungen allzu hoch zu halten.

„Captain Viscount Delsey steht ein wenig zu weit über uns, Liebes“, hatte sie zu Charlotte gesagt, als sie ihn in einer modischen Kutsche hatten vorbeifahren sehen. „Soweit ich hörte, ist er sehr charmant, aber zurückhaltend. Einige der schönsten Mädchen haben ihre Netze nach ihm ausgeworfen, aber er beachtet keine von ihnen. Er ist ein Schürzenjäger, mein Liebes, und flirtet mit allen hübschen Mädchen, aber er bindet sich nicht – oder nur vorübergehend. Er würde dir nur das Herz brechen. Etwas anderes ist es mit Mr. Harold Cavendish. Er ist Anfang vierzig, sieht noch immer gut aus und ist reich – und Mrs. Featherstone sagte mir, er sucht nach einer Frau, die sich um seine armen mutterlosen Kinder kümmert.“

„Ein Witwer mit drei Kindern, Mama?“ Charlotte zog eine Grimasse. „Ich glaube, ich würde jemanden bevorzugen, der nicht schon einmal verheiratet war – so verzweifelt sind wir doch noch nicht, oder?“

„Nein, Liebes, natürlich nicht. Ich möchte dich nicht zu etwas drängen, das dich unglücklich macht. Wirklich, ich wünschte, dies hier wäre überhaupt nicht nötig – aber dein armer Vater ist mit seinem Latein am Ende, und wenn du nicht heiratest, um uns zu helfen …“

„Aber das werde ich, Mama“, versicherte Charlotte ihr schnell. „Bitte mach dir keine Sorgen. Es wird jemanden geben, der reich ist und mir gefällt. Ich verspreche dir, dass es am Ende gut ausgehen wird.“

„Mein armes liebes Kind“, sagte ihre Mutter. „Hätte deine Tante nicht ihren Schmuck verkauft, hätten wir dies hier vielleicht vermeiden können. Du hättest ihn verkaufen können, um einen Teil der Schulden deines Vaters zu bezahlen.“

„Das hätte ich mit Vergnügen getan“, hatte Charlotte erklärt. „Aber die Juwelen sind nicht viel wert. Ich muss eine vorteilhafte Ehe eingehen. Ich habe mich entschieden, das zu tun, und ich werde dich nicht im Stich lassen.“

Während sich Charlotte auszog und die Jungenkleidung ganz unten in eine ihrer Schubladen legte, erinnerte sie sich an die Ereignisse des Abends. Wäre sie gefangen und missbraucht worden – sie wagte nicht, daran zu denken! Hätte man herausgefunden, wer sie war, und so ihren Plan aufgedeckt, wäre sie ruiniert gewesen, und ihre Familie mit ihr. Es war kein Wunder, dass Matt solche Angst gehabt hatte. Er hatte sie angefleht, diese wahnsinnige Idee nicht in die Tat umzusetzen, aber sie hatte ihn überredet, wie sie es in der Vergangenheit immer getan hatte. Ihr Bruder mochte drei Jahre älter sein, aber sie hatte den stärkeren Willen. Sie hätte ein Junge werden sollen, denn es gab kaum etwas, das ihr Angst machte. Selbst dieser knappe Ausgang bereitete ihr wenig Kummer – nur die Angst, was alles hätte geschehen können.

Aber es war nicht geschehen, und sie wollte sich nicht über etwas sorgen, das hätte sein können. Sie hatte das falsche Halsband zurückgeholt. Lord Harding konnte sich nur selbst die Schuld geben, weil er das Halsband auf seinem Frisiertisch hatte liegen lassen, ehe er am Abend ausgegangen war. Außerdem verdiente er kein Mitleid. Matt war sicher, dass er betrogen worden war, und er war fest entschlossen, nie wieder mit diesem Mann Karten zu spielen.

Charlotte würde das alles einfach vergessen.

Charlottes Mutter hatte beschlossen, bei all ihren Bekannten in der Stadt Karten abzugeben, und sie wollte, dass Charlotte sie begleitete.

„Wir werden uns nirgends aufhalten, nur die Karten abgeben“, hatte ihre Mutter gesagt. „Auf dem Heimweg werden wir den Schneider besuchen und einige reizende Schals abholen, die ich bei Madame Rousseau bestellt habe.“

Der Plan ihrer Mutter allerdings ging nicht ganz so auf, wie sie es vorgehabt hatte, denn in dem ersten Haus, das sie aufsuchten, trafen sie Lady Rushmore, die Dame des Hauses, die gerade gehen wollte und sie bat, hereinzukommen und eine Erfrischung mit ihr einzunehmen.

„Es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind, und ich wollte dich heute Nachmittag besuchen“, sagte Lady Rushmore und bestand darauf, Kaffee und kleine Mandelkekse in den Salon bringen zu lassen.

Gleich darauf kamen Sohn und Tochter des Hauses dazu, beide hatten nachsehen wollen, warum ihre Mutter nicht, wie sie es vorgehabt hatte, Besorgungen machte. Miss Amelia war ein hübsches blondes Mädchen, das etwas lispelte und einen Schmollmund hatte. Das Haar hing ihr in Locken um das herzförmiges Gesicht. Ihr Bruder Robert war groß, gut gebaut und nach der neuesten Mode gekleidet. Sein Hemdkragen war so spitz, dass er kaum den Kopf drehen konnte. Er schien die meiste Zeit vor einer der goldgerahmten Spiegel zu verbringen, und wenn er sprach, dann von Pferden und seinem neuesten Phaeton.

Miss Amelia lachte viel und sprach endlos über ihre neuen Kleider, die sie für ihre Aussteuer kaufte. Sie hatte sich kürzlich verlobt und interessierte sich für kaum mehr als ihre Hochzeit und Kleider. Charlotte, die es gewohnt war, mit ihrem Bruder über Dichtung und Musik zu sprechen und zuzuhören, wenn ihr Vater auf unterhaltsame Weise von den Gentlemen erzählte, mit denen er in den Klubs diniert hatte, ertappte sich dabei, dass sie sich nach einer halben Stunde danach sehnte, nach Hause zu gehen.

Doch gerade, als sie meinte, sie könnten jetzt aufbrechen, wurde ein weiterer Besucher angekündigt – Sir Percival Redding. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war Lady Rushmores Bruder und hatte eine rötliche Gesichtsfarbe. Sein dunkles Haar war gelockt in einer Weise, die zufällig wirken sollte, und seine Kleidung war ebenso elegant wie die seines Neffen, wenn auch etwas bequemer zu tragen wirkend, denn sein Hemdkragen war nicht übermäßig hoch, und seine Röcke waren so geschnitten, dass er sich ungehindert bewegen konnte. Jedoch hatte er ein angenehmes Wesen und unterhielt die Damen mit Geschichten aus der Gesellschaft.

Irgendwie gelang es ihm, Amelia von ihrem Platz neben Charlotte wegzulocken und sich neben sie zu setzen, um ihr davon zu erzählen, wie er kürzlich mit dem Prinzregenten im Pavillon in Brighton diniert hatte.

„Mein Ehrenwort, Miss Stevens, es muss fast dreißig Grad heiß gewesen sein. Ich hatte das Gefühl, ich müsste zerschmelzen, und die arme Lady Melrose fiel zweimal in Ohnmacht.“

Charlotte hatte gehört, dass der Regent es in seinen Räumlichkeiten gern übertrieben warm hatte, aber vor allem interessierte sie sich für die Einzelheiten des Pavillons mit seiner chinesischen Dekoration und den Türmen, die dem Ganzen das Aussehen eines östlichen Palastes verliehen.

Als ihre Mutter mehr als zwanzig Minuten später aufstand, um sich die Handschuhe anzuziehen, offenbar in der Absicht zu gehen, erhob sich Sir Percival und verneigte sich vor Charlotte, als auch sie sich von dem kleinen Sofa erhoben hatte. Sein Hals war ein wenig gerötet, als er sich über ihre Hand beugte und sie fragte, ob sie am Abend den Ball bei den Markhams besuchen werde.

„Ja, wir wurden eingeladen. Es ist mein erster Ball in der Stadt, obwohl ich mehrmals Feste in Bath besucht habe.“

„Ich werde ebenfalls dort sein“, sagte er und lächelte sie an. „Darf ich hoffen, dass Sie mir zwei Tänze reservieren, Miss Stevens? Ich bevorzuge die Ländler, denn ich mag den Walzer nicht besonders – auch wenn ich gern zusehe, wenn andere ihn tanzen.“

„Vielen Dank, Sir“, gab Charlotte leichthin zurück. Sie mochte diesen Gentleman, denn er war freundlich und unterhaltsamer als seine Verwandten, und sie war froh zu wissen, dass sie zumindest zwei der Tänze am Abend nicht sitzend verbringen musste. „Ich werde Ihnen mit Vergnügen den ersten Tanz des Abends und den letzten Ländler vor dem Abendessen reservieren.“

„Ich werde mich jetzt auf den Abend freuen“, versprach er und sah ein wenig aus wie die Katze, die von der Milch geschleckt hatte. „Und wenn ich darf, dann würde ich Sie gern zum Abendessen geleiten.“

Charlotte neigte den Kopf und folgte ihrer Mutter hinaus. Erst als sie in der Kutsche saßen, wandte sich ihre Mama ihr zu und sah sie wohlwollend an.

„Ich bin stolz auf dich, Charlotte. Sir Percival war ganz bezaubert von dir. Das habe ich gleich gesehen. Ich will nicht sagen, dass das sofort zu einem Heiratsantrag führen wird, aber er wäre eine gute Wahl. Er war viele Jahre in der Armee, Liebes, und hat nie geheiratet, aber Lady Rushmore hat mir erzählt, sie glaubt, dass er endlich daran denkt, sich niederzulassen. Wäre es nicht schön, wenn du den Bruder einer meiner ältesten Freundinnen heiraten würdest? Er ist nett, weißt du. Vielleicht nicht so reich wie …“

Charlottes Gedanken schweiften ab, während sie aus dem Fenster sah und die eleganten Ladys und Gentlemen beobachtete, die durch die geschäftigen Straßen promenierten. Der Morgen war wie im Flug vergangen, und ihnen blieb nur gerade so viel Zeit, um ihre Schals abzuholen, ehe sie zu Mittag nach Hause zurückkehrten.

Ihre Mutter redete noch immer davon, welches Glück es war, dass sie ihre Freundin treffen würden, während sie in der Kutsche saßen, und Charlotte gelang es, ein Seufzen zu unterdrücken. Sie nahm an, dass ihre Mutter jeden Gentleman, dem sie begegneten, als möglichen Ehemann für ihre Tochter betrachten würde, aber sie wünschte, sie würde sich nicht so vehement auf die Idee einer Heirat stürzen. Es war nicht so, dass sie Sir Percival nicht mochte, sie würde ihn gegenüber dem Vater von drei mutterlosen Kindern vorziehen. Aber Charlotte hoffte noch immer auf mehr. Sicher gab es doch für sie die Möglichkeit zu einer kleinen Romanze, ehe sie sich auf eine Ehe einließ?

Als sie vor ihrem Haus an dem eleganten Platz abgesetzt wurden, strich Charlotte die Falten ihres Kleides glatt und ging ein Stück vor ihrer Mutter ins Haus. Abrupt blieb sie stehen, als sie ihren Vater sah. Er verabschiedete sich gerade von einem Gentleman, der offenbar zu Besuch gekommen war, während sie fort gewesen waren.

Charlottes Herz schlug schneller aus einer Mischung aus Entsetzen und Freude, denn es war der Viscount, und vermischt mit der Erleichterung, dass er sie endlich aufgesucht hatte, war die Furcht, dass er sie aus der vergangenen Nacht wiedererkennen könnte.

„Ah, Charlotte, meine Liebe.“ Sie hörte die warme Stimme ihres Vaters. „Du bist gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um Captain Viscount Delsey kennenzulernen – er wohnt in dem Haus gegenüber, gleich auf der anderen Seite des Platzes, und war so freundlich, mich heute Morgen aufzusuchen, um uns alle für einen Abend in der nächsten Woche zum Dinner und einer Partie Karten einzuladen. Sir, das ist meine Tochter Charlotte.“

Charlotte nahm ihre Haube ab und schüttelte die langen dunklen Locken aus, dann streckte sie dem Besucher die Hand hin und knickste höflich. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir, und ich bedaure, dass wir den ganzen Morgen unterwegs waren.“

„Keine Ursache“, murmelte er und hob ihre Hand, um ein winziges Stück über ihrem weichen Lederhandschuh einen Kuss in die Luft zu hauchen. „Ich hatte das Vergnügen, ihren Vater kennenzulernen – und Ihren reizenden Bruder. Matthew wird an einem anderen Abend mich bei einer Kartenpartie begleiten, aber ich glaube, heute Abend werden wir alle bei Lord Markham erwartet.“

„Ja, wir freuen uns schon sehr darauf“, sagte sie, und ihr Herz schlug viel zu schnell, als er sie aufmerksam musterte, ehe er ihre Hand losließ. Sie blickte zu Boden und verbarg ihre verwirrten Gefühle hinter ihren langen Wimpern. Konnte er sie möglicherweise nach dem kurzen Blick aus der vergangenen Nacht wiedererkannt haben? Oder war es nur ihr Schuldgefühl, das ihr einredete, er habe prüfend die Augen zusammengekniffen?

„Genau wie ich“, erwiderte er galant. „Würden Sie mir das Privileg eines Tanzes gewähren? Vorzugsweise eines Walzers? Ich nehme doch an, Sie beherrschen den Walzer, Miss Stevens?“

„Ja, Captain Delsey, das tue ich, und ich gewähre es Ihnen“, entgegnete sie bescheiden. „Ich habe in Bath ein paarmal den Walzer getanzt, und in der Stadt, mit der Zustimmung Lady Jerseys, die eine enge Freundin von Mama ist und mir Gutscheine für Almack’s gegeben hat. Wissen Sie, ich bin älter, als ich aussehe.“

Sie entdeckte einen heiteren Glanz in seinen Augen, als er die Brauen hob, um sie zu necken. „Ich würde Sie auf achtzehn schätzen.“

„Ich bin über neunzehn“, sagte sie leise. „Es liegt an meiner Größe, wissen Sie. Die Leute halten mich für jünger, weil ich so klein bin.“

„Ah, so alt schon“, meinte er. „Man würde sie für kaum älter als vierzehn halten, wenn man Sie nur kurz aus der Ferne sieht …“ Er sah ihr mit einem spöttischen Ausdruck in die Augen, sodass ihr Herz noch schneller als ohnehin schon schlug.

Wollte er damit andeuten, dass er den Jungen aus der vergangenen Nacht erkannt hatte? Sie wandte sich verlegen ab, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Zum Glück betrat in diesem Moment ihre Mutter das Haus. Nachdem sie ihre Tücher, die Haube und die Handschuhe abgelegt hatte, sah sie den Viscount erwartungsvoll an. Man wurde einander vorgestellt, und Charlotte konnte sich zur Treppe zurückziehen. Sie wollte gerade hinaufgehen, als sie hörte, wie ihr Name genannt wurde, und sie drehte sich um und stellte fest, dass der Viscount sie direkt angesprochen hatte.

„Ich habe mich gefragt, ob Sie und Lady Stevens vielleicht am Freitag mit mir nach Richmond fahren möchten, Miss Stevens? Meine Cousine, Lady Sally Harrison, hat ein Picknick vorbereitet, um dem Aufstieg eines Ballons beizuwohnen, und sie hat mich gebeten, einige Freunde mitzubringen. Ich habe zwei Gentlemen eingeladen, die zu Pferde kommen werden – aber in meinem Wagen ist für Sie beide Platz.“

„Wir würden uns sehr freuen“, antwortete ihre Mutter an Charlottes Stelle. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir – und von Ihrer Cousine. Wir sind mit Lady Harrison nicht bekannt.“

„Dann werde ich heute Abend dafür sorgen, dass sich das ändert“, versprach er, verneigte sich tief und schenkte Charlotte ein wissendes Lächeln, ehe er davonging.

„Was für ein charmanter junger Mann“, sagte Lady Stevens, als sie ihrer Tochter zum oberen Treppenabsatz folgte. „Ich wagte kaum zu hoffen, dass er uns besucht. Ich rechnete damit, dass wir einander in Gesellschaft begegnen würden, aber dass er deinen Vater aufsucht, zeugt von echtem Stil, meine Liebe.“

„Jetzt magst du ihn also doch, Mama“, meinte Charlotte und versuchte, nicht zu lachen. „Nun, erst gestern hast du ihn einen Schürzenjäger genannt – ich bin ganz sicher, dass du das getan hast.“

„Da glaubte ich nicht, dass er dir auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit schenken würde“, erwiderte ihre Mutter in scharfem Tonfall. „Du bist ein hübsches Mädchen, Charlotte. Das kann niemand leugnen, aber du hast kaum Vermögen, das dich empfiehlt, und ich erwarte nicht, dass jeder Gentleman, dem wir begegnen, dir zu Füßen sinkt. Deswegen musst du das Beste aus deinen Möglichkeiten machen – nicht, dass ich damit andeuten will, der Viscount sei eine Chance für dich. So charmant er auch sein mag, ich denke nicht, dass er einen Antrag machen wird.“

Charlotte wandte sich ohne eine Antwort ab. Sie vermutete, dass Captain Viscount Delsey an diesem Morgen vorgesprochen hatte, um herauszufinden, ob seine Verdächtigungen gegen sie zutrafen. Hatte er sie vor der Eskapade in der vergangenen Nacht schon gesehen? Oder hatte er sie etwa gesehen, als sie in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückgekehrt war?

Sie hatte es nicht gewagt, eine Kutsche zu nehmen, sondern war schnell durch die Straßen geeilt und hatte sich so weit wie möglich im Schatten gehalten. Doch wenn er sie gesehen hatte, dann war er vielleicht zur selben Zeit wie sie angekommen, sodass er hatte beobachten können, wie Matt sie eingelassen hatte. Charlotte war beinahe sicher, dass er wusste: Sie war es gewesen, die er gerettet hatte, als Junge verkleidet, aber wenn er sie fragte, würde sie alles leugnen. Es wäre zu riskant zuzugeben, wo sie gewesen war und was sie an jenem Abend getan hatte.

Er hatte amüsiert gewirkt. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr Geheimnis nicht verraten würde, denn das könnte ihre Familie ruinieren.

Allein in ihrem Zimmer, sah Charlotte in den Spiegel. In ihren Augen lag ein Funkeln, das vorher bestimmt noch nicht da gewesen war. Sie spürte eine Herausforderung kommen und eine Spur von Gefahr, denn der Viscount war ein Flirt und ein Schürzenjäger, und sie hatte etwas getan, das ihn zu der Vermutung veranlasste, dass sie sich nicht um ihren Ruf scherte.

Wenn er nun dieses Wissen für sich ausnutzte? Ihr wurde schwindelig bei diesem Gedanken, denn sie wusste, dass nur eine Andeutung über das, was sie in der vergangenen Nacht getan hatte, ihren Untergang bedeuten würde.

Sicher war Captain Delsey ein zu ehrenwerter Mann, um irgendjemandem gegenüber zu erwähnen, was er wusste.

Vielleicht hatte sie am Abend eine Gelegenheit, an sein Ehrgefühl zu appellieren. Aber welche Entschuldigung sollte sie ihm nennen? Ihm zu sagen, dass sie ein Halsband zurückgeholt hatte, das ihr Bruder als Bezahlung für eine Spielschuld weggegeben hatte, war beschämend und würde jede mögliche gute Meinung, die er von ihr und ihrem geliebten Matt hatte, zerstören. Aber was sollte sie ihm sonst sagen?

Sosehr sie sich auch bemühte, Charlotte fiel keine Ausrede ein, die sie weder leichtfertig noch unehrlich wirken ließ. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr Geheimnis bewahren würde, ohne darum gebeten zu werden.

Es war ein langer Nachmittag für Charlotte. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie sich die meiste Zeit über ausruhte, und obwohl sie ein Buch mit aufs Zimmer genommen hatte, konnte sie sich aus irgendeinem Grund nicht auf die Geschichte um Liebe und Abenteuer in Fanny Burneys Roman konzentrieren. Stattdessen ertappte sie sich dabei, wie sie den Augenblick immer wieder durchging, als Captain Delsey sie vor den betrunkenen Männern gerettet hatte. Seine schnelle Reaktion war sehr entschieden gewesen, und sie hätte ihm gern sofort gedankt, aber ihr war es am besten erschienen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Glücklicherweise war ihr restlicher Heimweg ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hoffte, dass das alles vergessen werden konnte, aber jetzt lastete der schreckliche Gedanke, dass eine einzige gedankenlose Bemerkung von Delsey all ihre Hoffnungen auf eine gute Partie zunichte machten konnte, schwer auf ihrem Gewissen.

Ihre Mutter verließ sich darauf, dass Charlotte der Familie die Schuldenlast nahm. Deswegen musste sie einen reichen Mann mit Einfluss heiraten, aber die meisten Angehörigen der Aristokratie waren recht steif, was Ruf und Benehmen anging. Nur die Andeutung eines Skandals, der dem Namen einer jungen Lady anhaftete, würde ausreichen, um sie aller Chancen auf eine vorteilhafte Heirat zu berauben. Was Charlotte getan hatte, war so empörend, dass sie – sollte es herauskommen – aus der guten Gesellschaft verstoßen würde.

Matt hatte sie vor dieser verrückten Eskapade gewarnt, aber sie hätte sich das um keinen Preis ausreden lassen. Es war nicht die Schuld ihres Bruders. Wenn er ihr allerdings nicht gestanden hätte, was er getan hatte, hätte sie vermutlich wochenlang nicht gemerkt, dass das Halsband verschwunden war. Er hatte nicht mit dem schlechten Gewissen leben können, dass er die eigene Schwester bestohlen hatte, und als er erfahren hatte, dass das Halsband nicht echt war, hatte er ihr alles gesagt. Charlotte war entschlossen gewesen, die Familie vor dem Skandal zu schützen, der durch diesen Betrug entstanden wäre, und ihr grenzenloser Mut hatte dazu geführt, dass sie gehandelt hatte, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Als kleines Kind war sie ihrem Bruder überallhin gefolgt, war auf Bäume geklettert, in dem flachen Wasser des Flusses geschwommen, der in der Nähe ihres Hauses floss, und hatte dabei nur ihre Unterröcke getragen, und sie hatte mehr als einmal wegen ihrer Streiche Schläge bekommen. Seit sie drei Jahre alt gewesen war, konnte sie reiten, hatte mit dreizehn das erste Mal an der Jagd teilgenommen, hatte mühelos jedes Pferd geritten, mit dem ihr Bruder fertig wurde, und war über Zäune gesprungen, die dreimal so hoch waren wie sie. Matt erzählte jedem, dass sie vollkommen furchtlos war, und während sie langsam den Kinderschuhen entwuchsen, waren viele ihrer wilden Unternehmungen auf Charlottes Initiative hin entstanden. Ihre Mutter hatte sie unter ihre Fittiche genommen, als sie sechzehn geworden war, und verlangt, dass sie sich wie eine Lady benahm, wenn sie eine Saison in der Stadt haben wollte, und so hatte sie ihr jungenhaftes Gebaren aufgegeben – bis zur vergangenen Nacht, als sie in das Schlafzimmer eines Mannes gestiegen war und eine gefälschte Halskette zurückgeholt hatte.

Erst jetzt begriff Charlotte, dass dies keiner der kindlichen Streiche gewesen war, wie sie sie früher mit ihrem Bruder gemacht hatte. Sie war eine Diebin. Auch wenn das Halsband ihr gehörte – Matt hatte es zur Begleichung einer Schuld weggegeben. Eine Spielschuld, noch dazu eine, die möglicherweise daraus resultierte, dass ihr Bruder betrogen worden war, war nicht zu vergleichen mit der Schuld einem anständigen Kaufmann gegenüber, sagte Charlotte sich selbst, um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen. Lord Harding war als harter Spieler bekannt, man munkelte sogar, dass er junge Gentlemen systematisch ausnahm, die nicht merkten, dass sie beim Kartenspiel von Trickbetrügern hinters Licht geführt wurden.

Wenn Matt recht hatte und er wirklich betrogen worden war in jener Nacht, in der er sich so hoch verschuldet hatte, dass er dazu getrieben worden war, ihr Halsband zu nehmen, dann verdiente Lord Harding es, seines unrechtmäßig erworbenen Gewinns beraubt worden zu sein. Und doch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, etwas Schändliches getan zu haben.

Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, sie konnte das Halsband nicht zurückgeben, aber sie musste vorsichtig sein und es nicht zu Veranstaltungen tragen, bei denen auch Harding zugegen sein könnte.

Charlotte schob diese beklemmenden Gedanken beiseite. Sie war gesehen worden, als sie aus dem Fenster geklettert war, nachdem sie sich das Halsband zurückgeholt hatte, aber nur von zwei sehr betrunkenen Männern – und einem, der vermutlich nüchtern gewesen war und für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gesicht gesehen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass Delsey nicht zwei und zwei zusammenzählen und zu dem richtigen Ergebnis gelangen würde.

3. KAPITEL

Was also hatte Miss Charlotte Stevens in der vergangenen Nacht im Schilde geführt? Hatte sie ihn täuschen wollen, als sie ihm sagte, sie sei neunzehn Jahre alt? Ihr Verhalten mochte zurückhaltend gewesen sein, aber etwas in der Art, wie sie das Kinn gereckt hatte, zeigte ihm, dass sie einen lebhaften Geist hatte und vermutlich spät in der Nacht zu irgendeinem verrückten Unternehmen unterwegs gewesen war, in der Kleidung, aus der ihr Bruder herausgewachsen war. Wenn sie es wirklich gewesen sein sollte, so war er geneigt, das amüsant zu finden und sie deswegen zu mögen. Jack war der weiblichen Geschöpfe überdrüssig, die zu jedem denkbaren Zeitpunkt in Ohnmacht fielen und versuchten, einen Mann in die Ehe zu locken, und er hatte allen Grund dazu. Seit er das erste Mal in der Stadt aufgetaucht war, war er gnadenlos verfolgt worden.

Jack dachte über dieses Rätsel nach, während er für den Abend einen Rock aus blauem Tuch wählte, der von Weston gefertigt worden war und an seinen Schultern wie eine zweite Haut saß. Beim Reiten bevorzugte Jack etwas mehr Platz in seinen Röcken, aber am Abend musste der Schnitt hervorragend sein, und sein Kammerdiener musste ihm beim Ankleiden helfen. Seine cremefarbene Hose passte ihm vorzüglich, das Halstuch war von ihm selbst makellos gebunden, obwohl er nicht mit jenen konkurrieren würde, die Mr. Brummels Expertise in dieser Kunst gemeistert hatten, aber seine Krawattennadel war ein erstklassiger Diamant. Am kleinen Finger seiner rechten Hand trug er einen herrlichen in Gold gefassten Diamanten.

Zufrieden mit seinem Aussehen, dankte Jack seinem Kammerdiener und gab ihm die Anweisung, nicht aufzubleiben, wohl wissend, dass Cummings diesen Befehl missachten würde. Er schritt die Treppe hinunter, und gerade in diesem Augenblick ging die Tür auf, und seine Tante Seraphina trat mit ihrer Tochter Julia ein.

„Ah, wir kommen rechtzeitig“, sagte Tante Seraphina. „Jack, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Würdest du deine Cousine heute Abend auf den Ball begleiten? Ich muss gleich nach Hause zurückkehren, denn dein Onkel liegt mit einer Erkältung darnieder, und außer mir kann niemand mit ihm umgehen, wenn er krank ist.“

„Tante …“, widersprach Jack, der durch diese unerwartete Änderung seiner Pläne aus der Fassung gebracht worden war. „Mein Onkel kann bestimmt ein paar Stunden auf dich verzichten – und Julia sollte wirklich nicht ohne ihre Mama gehen.“

„Trau mir doch bitte zu, dass ich eine kluge Entscheidung treffen kann.“ Die Tante sah ihn an. „Wenn du versprichst, auf deine Cousine aufzupassen und darauf zu achten, dass sie mit keinem Gentleman zu oft tanzt – und auch nicht mit unerwünschten Bekannten – dann kann ich mich um den armen Onkel David kümmern. Falls diese Erkältung auf die Brust übergreift …“

„Wenn mein Onkel wirklich krank ist, dann musst du bei ihm bleiben. Aber sicher wäre Julia zu Hause und bei dir und ihrem Vater am besten aufgehoben.“

„Sei nicht so gemein“, beschwerte sich Julia und verzog ihr hübsches Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. „Was kann daran so schlimm sein, mich heute Abend zu begleiten? Lady Meadows, Mamas beste Freundin, wird dort sein, und ich kann mich bei ihr aufhalten, wenn wir erst dort sind, aber ich kann nicht ohne eine Begleitung dorthin gehen.“

Innerlich seufzte Jack, wohl wissend, dass er seine eigenen Pläne für den Abend aufgeben musste. Julia wäre bei Lady Meadows und ihren drei pummeligen Töchtern in bester Gesellschaft, aber jemand musste sie nach Hause bringen, was bedeutete, sein Vorhaben, früh mit ein paar Freunden den Ball zu verlassen und einen Spielklub zu besuchen, wäre undurchführbar.

„Also gut“, sagte er. „Ich befürchte, ich muss dich mitnehmen, du Göre, aber erwarte nicht von mir, den ganzen Abend mit dir zu tanzen.“

„Du musst einmal mit mir tanzen“, meinte Julia, aber jetzt lächelte sie, denn sie hatte ihren Kopf durchgesetzt. „Dankeschön, liebster Jack.“ Sie ergriff seinen Arm und umarmte ihn, was ihre Mama zu einem Stirnrunzeln veranlasste.

„Erinnere dich daran, dich zu benehmen, Julia“, sagte sie warnend. „Jack, ich verlasse mich darauf, dass du an meiner Stelle auf dieses Kind aufpasst.“

„Ja, Tante“, entgegnete Jack. „Ich vermute, Cousin Reginald konnte die Aufgabe nicht übernehmen?“

„Dein Cousin hat seine Pflichten im Haus, die er mit dem gebührenden Ernst erfüllt – und er mag zu spät kommen, denn sie sitzen heute Abend noch über wichtigen Rechnungen.“

„Natürlich.“ Jack unterdrückte den Wunsch zu äußern, dass sein Cousin sowohl sich selbst als auch seine Pflichten zu wichtig nahm. Reginald war der persönliche Sekretär des Premierministers, und seinem Auftreten und der Art nach zu urteilen, wie er seine Meinung zu Staatsangelegenheiten vom Stapel ließ, konnte man denken, dass er selbst für ein hohes Amt bestimmt war. „Geh nach Hause und kümmere dich um meinen Onkel, Seraphina. Julia wird in meiner Begleitung nichts geschehen.“

„Vielen Dank, lieber Jack“, sagte Julia und drückte seinen Arm noch einmal, während ihre Mutter in einer Wolke aus Satinröcken verschwand. „Du bist ein Schatz.“

Seraphina war die zweite Frau Onkel Davids, mindestens zwanzig Jahre jünger als David und noch immer eine attraktive Frau. Julia, ihre Tochter, war ihr einziges Kind, denn zwei andere Babys hatte Seraphina verloren, und da es mit Reginald schon einen Erben für Lord Handleys Anwesen gab, hatten sie beschlossen, es nicht länger zu versuchen. Jack wusste, dass der Gesundheitszustand seines Onkels nicht sehr robust war, und konnte daher verstehen, dass seine Frau wegen einer einfachen Erkältung so viel Aufhebens machte.

„Benimm dich heute Abend“, sagte Jack zu Julia, aber das Lächeln in seinen Augen widersprach dem brüsken Tonfall, in dem er hinzufügte: „Und hör auf, den Ärmel meines Rocks zu ruinieren. Du musst wissen, es hat zehn Minuten gedauert, bis ich ihn anhatte, und ich werde mich nicht umziehen, nur weil du dich so kindisch aufführen musst.“

Julias Augen funkelten vor Zorn, als sie ihre Hand von seinem Arm nahm. „Du sollst wissen, dass ich nächste Woche achtzehn werde – und ich hatte in diesem Monat drei Heiratsanträge.“

„Drei nur?“ Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an. „Weiß meine Tante davon?“

„Natürlich nicht. Du darfst es ihr nicht sagen, Jack!“

„Wofür hältst du mich?“, meinte er. „Wenn ich dein Bruder wäre, würde ich dich übers Knie legen und dir den Hintern …“

„Aber du bist nur mein Cousin, und es wäre nicht anständig, also kannst du das nicht tun“, unterbrach sie ihn und lachte, als sie merkte, dass er sie nur neckte. Ihre Augen strahlten. „Es macht solchen Spaß, Jack. Wenigstens zwei davon waren Mitgiftjäger. Nicht, dass meine Mitgift so groß wäre, aber ich denke doch, zwanzigtausend Pfund und das Anwesen, das Tante Tilly mir hinterlassen hat, sind verlockend, wenn du bis zum Hals in Schulden steckst – alles, um dem Schuldturm zu entgehen, vermute ich.“

„Woher hast du solche Ideen?“, fragte Jack. „Deine Zunge wird dich noch ins Verderben stürzen, wenn du nicht achtgibst.“

Julia lachte. „Nur mit dir, liebster Jack. Zu dir kann ich sagen, was ich will. Natürlich würde ich so etwas niemals in Gesellschaft sagen – aber es ist so lustig, sie an der Nase herumzuführen in dem Wissen, dass sie nur mein Geld wollen.“

„Du bist ein boshaftes kleines Ding“, gab er zurück. „Pass nur auf, dass du nicht zu weit gehst. Manche Gentlemen sind nicht besonders nett, wenn du einmal unter die Oberfläche schaust. Sei vorsichtig, Julia. Führe einige von ihnen an der Nase herum, und man wird dir wehtun. Außerdem wirst du den Ruf bekommen, leichtsinnig zu sein, und dann werden dich die richtigen Gentlemen – die Sorte, die du wirklich willst – nicht mehr als eine mögliche Heiratskandidatin ansehen.“

Julia machte einen Schmollmund, als der Diener den Schlag der Kutsche öffnete und Jack ihr beim Einsteigen half, ehe er ihr folgte. Sie wartete, bis er Platz genommen hatte, ehe sie ihn ansprach.

„Ich gehe nicht zu weit, Jack. Niemals würde ich etwas Dummes tun. Aber wenn sie versuchen, ein junges Mädchen auszunutzen, nun, dann haben sie es nicht besser verdient, als wie die Dummköpfe dazustehen, finde ich. Ich würde niemals jemandem wehtun, den ich mag.“

„Du bist noch unschuldig.“ Jack sah sie ernst an. „Ich kann nur wiederholen: Sei vorsichtig! Ich möchte nicht erleben, dass dich jemand verletzt.“

„Ja, ich weiß, was du meinst. Ich bin vorsichtig – aber wenn ein Gentleman versucht, mich dazu zu überreden, mich später am Abend mit ihm im Garten zu treffen und ein Nein nicht als Antwort akzeptiert, dann erscheint es mir nur gerecht, ihn warten zu lassen.“

Jack lachte kurz auf. „In diesem Fall würde ich dir zustimmen, aber schau genau hin, mit wem du das machst, Cousine. Es gibt einige, die vielleicht darauf sinnen, sich auf üble Weise an dir zu rächen.“

„Ich passe auf“, sagte sie. „Du darfst dir um mich keine Sorgen machen, Jack. Sollte ich je das Gefühl haben, dass mich wirklich jemand bedroht, dann werde ich kommen und meinem großen starken Cousin alles darüber erzählen.“

Charlotte sah auf ihre Tanzkarte und fühlte einen Anflug von Aufregung. Zwanzig Minuten zuvor waren sie angekommen, und schon jetzt war die Hälfte ihrer Tänze reserviert, und das Orchester war bereit. Sie begab sich in Richtung Ballsaal und wurde an der Schwelle von Sir Percival begrüßt, der sie gesucht hatte.

„Ich habe Sie vorhin gesehen“, begrüßte er sie mit einem Lächeln. „Aber Sie waren von eifrigen jungen Männern umringt. Sie haben doch hoffentlich nicht unsere Tänze vergessen, Miss Stevens?“

„Natürlich nicht“, sagte Charlotte und lachte ihn an. „Ich vergesse nie ein Versprechen, Sir. Ihnen gehört auch der letzte Ländler vor dem Essen.“

„Ich glaube, es war klug von mir, diese Tänze heute Morgen zu reservieren“, meinte er, ergriff ihre Hand und führte sie zu einer Gruppe von jungen Leuten, die sich gerade für den ersten Tanz aufstellten. „Mir scheint, Sie sind heute Abend sehr gefragt, Miss Stevens.“

Charlotte nahm ihren Platz in der Reihe gerade rechtzeitig ein, ehe die Musik einsetzte, und sie alle fassten einander an den Händen für die ersten Schritte, ehe sie zwei Reihen bildeten – der Gentleman auf einer Seite, seine Partnerin auf der anderen und eine andere Frau neben ihm – und dies war der erste einer lebhaften Abfolge von drei Tänzen, ehe die Musik endete und die Herren ihre jeweilige Tanzpartnerin von der Tanzfläche begleitete.

Charlotte kehrte zu ihrer Mutter zurück, die bei einer Gruppe junger Damen und Matronen stand. Einige Gäste erfrischten sich mit einem Getränk oder einem kühlenden Eis, ehe sie sich wieder auf die Tanzfläche begaben. Der nächste Tanz war ein Walzer, und Charlottes Partner war sofort zur Stelle.

„Unser Tanz, glaube ich, Miss Stevens.“

„Ja, danke.“ Sie sah auf und blickte in das anziehende Gesicht eines jungen Offiziers in Ausgehuniform. Er hatte ihr gesagt, sein Name sei Christopher Young, und er war ein Captain der Royal Dragoons. „Wo sind Sie jetzt gerade stationiert, Captain?“

„Für ein paar Wochen in London“, entgegnete er, verneigte sich und legte seine Hand unmittelbar über ihre Taille, wie es sich gehörte, ehe er sich mit ihr in den magischen Tanz drehte. „Mein Regiment ist nach einiger Zeit in Übersee wieder zu Hause.“

Als sie jetzt über den Tanzboden gewirbelt wurde, bemerkte sie zufällig, dass Captain Viscount Delsey den Ballsaal mit einer schönen jungen Frau am Arm betreten hatte. Sie trug ein Kleid aus weißer Spitze und Tüll, dessen Stickerei schimmerte wie Diamanten. Das lange blonde Haar trug sie aufgesteckt, sodass die Locken ihr in kunstvollen Strähnen über die rechte Schulter fielen. Und sie lachte ihren Begleiter in einer Weise an, die auf eine große Vertrautheit schließen ließ.

Der Anblick versetzte Charlotte einen Stich, den sie ehrlicherweise als Eifersucht erkannte, und sie hob den Kopf und lächelte ihren Partner an. Captain Young war ein wunderbarer Tänzer, und sie hatte keinen Grund, auf die reizende Frau eifersüchtig zu sein, die jetzt mit Captain Delsey tanzte. Sie schob die unerwünschten Gefühle beiseite und ergab sich dem Vergnügen, einen Walzer mit einem wirklich begabten Partner zu tanzen.

„Vielen Dank, Sir, Sie tanzen göttlich“, murmelte sie, als der Walzer zu Ende war, viel zu früh für Charlottes Geschmack. „Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Tanz mehr genossen habe.“

Er schlug die Absätze zusammen, und seine Augen funkelten übermütig, als er sagte: „Ich hatte das Glück, für ein paar Monate in Wellingtons Diensten zu stehen, ehe der Krieg endete. Es war eine Voraussetzung, dass wir göttlich tanzen.“

„Und das tun Sie zweifellos, Sir. Ich wünschte, ein paar mehr Gentlemen hätten in derselben Schule gelernt wie Sie.“

„Was sind Sie doch für eine ehrliche junge Lady, Miss Stevens“, meinte er. „Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen einige meiner Freunde, damit sie Sie um einen Walzer bitten, denn auch Sie tanzen göttlich – und das gilt nicht für alle Damen.“

„Es wäre mir ein Vergnügen, mit einem Ihrer Freunde den Walzer zu tanzen.“

Er verneigte sich und überließ sie der Gesellschaft ihrer Begleiterinnen.

Gleich darauf wurde Charlotte zu einem weiteren Tanz aufgefordert, und erst als sie bis auf zwei alle Walzer vergeben hatte, stellte sie fest, dass sie in das ernste Gesicht von Catptain Delsey blickte.

„Ich sah, dass Sie eine ganze Reihe eifriger Partner hatten, die meisten davon alte Kameraden von mir“, sagte Jack mit hochgezogenen Brauen. „Darf ich hoffen, dass Sie einen Walzer für mich reserviert haben?“

„Ja, Sir. Ich habe den vor dem Abendessen und den danach freigehalten, Sie können sich aussuchen, welcher Ihnen lieber ist.“

„Ich bin heute Abend Miss Julia Handley verpflichtet“, entgegnete Jack, „aber ich bin gierig und würde um alle beide bitten, wenn ich darf.“

„Ja, wenn Sie das wirklich wünschen.“ Charlotte sah ihn ein wenig unsicher an.

„Miss Handley ist meine Cousine“, erklärte Jack, und in seinen Augen blitzte es übermütig. „Darf ich sie zu Ihnen führen, Miss Stevens? Ihrer Mutter war es nicht möglich, uns heute Abend zu begleiten, und ich bin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie sich in guter Gesellschaft bewegt – und auf sie aufzupassen.“

„Ah, ich verstehe“, sagte Charlotte und hob eine Hand, als ihr nächster Partner kam. „Entschuldigen Sie mich, Sir, ich bin für den nächsten Tanz versprochen …“ Sie wandte sich ab, um ihre Hand dem gut aussehenden, aber ein wenig wichtigtuerischen jungen Mann zu reichen, der sich als Lord Johnston vorgestellt hatte und eine Reihe von Ländlern mit ihr reserviert hatte.

„Johnston.“ Jack neigte den Kopf. „Es freut mich zu sehen, dass Sie sich erholt haben.“

„Ah, Delsey.“ Charlottes Partner wurde ein wenig rot. „Freut mich, Sie zu treffen. Ja, ich habe mich jetzt einigermaßen erholt von dem – äh – Unfall.“

Charlotte warf Delsey einen verwirrten Blick zu, als sie sich von ihrem neuen Partner in die Gruppe von Gästen ziehen ließ, die sich für den Tanz aufstellten. Etwas erschien ihr ein wenig seltsam in der Art und Weise, wie die beiden Gentlemen einander begrüßt hatten, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war, und ihr Partner hatte offenbar nicht vor, es ihr zu erklären. Er plauderte weiterhin über seinen Landsitz in Norfolk, wo er eine ganz besondere Herde von Jersey-Kühen besaß, und von seinen Hoffnungen, mit ihnen in Zukunft zu züchten.

„Es geht um die Qualität der Milch, wissen Sie“, erzählte er ihr freundlich, während sich Charlotte bemühte, seinem Redefluss zu folgen. „Sie ist so viel sahniger – und darin steckt das Geld. Ich habe vor, die größte und beste Herde im Land zu besitzen.“

Charlotte murmelte etwas, das ihn zufriedenzustellen schien, auch wenn seine Konversation, die sich inzwischen von den Kühen abgewandt hatte, sehr landwirtschaftlich orientiert war, sodass sie erleichtert war, als ihre Tänze beendet waren und sie wieder bei ihrer Mutter stand.

„Ah, das bist du ja, Liebes“, rief Lady Stevens. „Dir muss sehr warm sein. Möchtest du dir nicht einen Moment Zeit nehmen und etwas von dem Eis essen, das dein Bruder gerade für uns geholt hat?“

„Ah, das wäre schön, Mama“, erwiderte Charlotte, aber gerade als sie die Hand nach dem Zitroneneis ausstreckte, trat Viscount Delsey mit seiner Begleiterin zu ihnen und verbeugte sich vor den Damen.

„Lady Stevens, Miss Stevens – darf ich Ihnen meine Cousine Julia Handley vorstellen? Ich habe schon erklärt, dass ihre Mutter Julia für den heutigen Abend in meine Obhut gegeben hat. Sie hat hier zwar Freunde, aber ich dachte, sie könnte Ihnen für ein Weilchen Gesellschaft leisten? Ich wollte gerade etwas Champagner holen – darf ich Sie damit in Versuchung führen, Lady Stevens?“

„Vielen Dank, aber im Moment haben wir das Eis hier, und das ist mehr als genug für alle. Möchten Sie etwas abhaben, Miss Handley? Es ist ziemlich warm, und das Eis hat bereits angefangen zu schmelzen.“

„Ich könnte um etwas frisches Eis bitten, wenn Miss Handley es gern möchte“, sagte Matt, und seine Schwester dachte, er sähe aus, als hätte der Blitz ihn getroffen.

„Oh nein, etwas von diesem hier wäre köstlich“, sagte Julia und nahm ein Schälchen Erdbeereis aus Matts Hand entgegen.

Jack trat näher zu Charlotte und fragte sie leise direkt an ihrem Ohr: „Sie schienen etwas verwundert zu sein über meine Anspielung auf Lord Johnstons Gesundheit?“

„Ich fand, er sah aus, als würde es ihm sehr gut gehen.“

„Es ging um eine kleine Meinungsverschiedenheit, die mit einem Duell endete“, sagte Jack. „Ich habe ihm sekundiert, da er sonst niemanden finden konnte, der diese Aufgabe übernahm – und es hat ihn erwischt. Die Kugel des anderen Burschen streifte seinen Arm, aber er selbst verfehlte sein Ziel um einiges. Er hätte nicht so dumm sein dürfen, Lord Harding wegen einer heruntergefallenen Spielkarte zu fordern.“

„Lord Harding?“ Charlotte fror plötzlich, und ein warnender Schauer lief ihr den Rücken hinunter. „Was veranlasst Sie zu der Bemerkung, dass Lord Johnston ihn nie hätte fordern dürfen?“

„Lord Harding hatte die Karte aus seiner Hand zu Boden fallen lassen. Johnston schwor, dass sie aus seinem Ärmel gefallen war, und Harding leugnete das – da es nicht zu beweisen war, hätte Johnson sich entschuldigen sollen, aber er ist ziemlich starrsinnig und war nicht dazu bereit. Daher war es unmöglich, das Duell zu vermeiden. Ich habe beide gefragt, ob sie zurückziehen wollten, aber …“ Er schüttelte den Kopf, seine Miene war unergründlich. „Ich habe Ihnen ein Geheimnis erzählt, das kein Gentleman einer Lady anvertrauen würde. Habe ich damit in ihren Augen an Ansehen verloren?“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Charlotte ernsthaft. „Ich ärgere mich immer maßlos, wenn ich etwas wissen möchte und zur Antwort bekomme, die Angelegenheit sei nicht passend für die Ohren einer Dame. Als wären wir Kinder oder zu zart, um die Wahrheit zu erfahren.“

„Genau“, meinte Jack und lächelte sie an. „Ich glaube, ich sehe einen sehr entschlossen wirkenden jungen Mann nahen. Ihr nächster Partner, wie ich vermute. Ich werde später wiederkommen und Sie holen.“

Tatsächlich wurde Charlotte zum Tanz geführt, und wieder sah sie sich von einem geschickten Könner durch den Saal gewirbelt, ein weiteres Mitglied von Wellingtons früherem Stab, wie ihr erklärt wurde, obwohl sie ihn für nicht ganz so begnadet hielt wie Captain Young.

Als sie sich umsah, entdeckte sie Matt, der mit Julia Handley tanzte. Sie schienen einander zu mögen und genossen den Tanz, und Julia sah sehr reizend aus, wie sie mit leuchtenden Augen zu ihrem Partner aufsah.

Charlotte hielt Delseys Cousine für etwas leichtsinnig und hoffte, dass ihr Bruder sich nicht zu schnell zu heftig in sie verliebte. Doch beim nächsten Tanz sah sie, dass Julia wieder mit ihrem Cousin tanzte und das ebenso zu genießen schien. Auch Matt hatte eine andere Partnerin, ein recht hübsches junges Mädchen, das Charlotte nur flüchtig kannte. Sie sah Sir Percival mit Amelia Rushmore tanzen, und Mr. Rushmore stand mit einer Gruppe anderer junger Männer zusammen, die den Tanzenden mit nachdenklicher Miene zusahen, die ebenso ein Ausdruck von Langeweile sein konnte.

Kaum war Charlotte zu ihrer Mutter zurückgekehrt, wurde sie erneut von Sir Percival aufgefordert, zum letzten Ländler vor dem Essen. Sie fand, dass er ein angenehmer Gesellschafter war, und sie trennten sich mit einem Lächeln und dem Versprechen, einander bald wieder zu treffen.

„Ich werde Sie am Nachmittag besuchen, und vielleicht würden Sie eines Morgens mit mir eine Ausfahrt in den Park machen, Miss Stevens?“

Charlotte war einverstanden und wandte sich dann in dem Moment um, als Captain Delsey auf sie zukam. Sie ergriff seine Hand, und gemeinsam betraten sie die Tanzfläche, genau in dem Augenblick, in dem die Musik einsetzte. Er legte seine Hand mit festem Druck gerade über ihre Taille, nahm ihre Hand und drehte sich mit ihr in den Tanz. Ein angenehmer Schauer überlief Charlotte, und sie fühlte sich, als tanzte sie in der Luft, fühlte sich so leicht wie eine Feder, während er mit ihr durch den Raum wirbelte, wobei er sich mühelos zwischen den anderen Tänzern hindurch bewegte, als hätte er ein göttliches Recht dazu. Sie hatte geglaubt, Captain Young sei ein guter Tänzer, aber dieses Gefühl war exquisit, mit nichts vergleichbar, das sie zuvor erlebt hatte. Unwillkürlich wünschte sich Charlotte, sie könnte für immer in den Armen des Viscounts bleiben.

Es gab keine Worte für die herrlichen Gefühle, die sie durchfluteten, keine Möglichkeit für sie zu verstehen, warum sie sich unfähig fühlte zu atmen und doch für immer und ewig so hätte weitertanzen können. Etwas in ihr schien sich mit Captain Delsey zu vereinen, schien ein Teil von ihm zu werden und sie über den Raum und alle, die sich darin befanden, zu erheben. Sie fühlte sich, als schwebte sie auf einer Wolke an einem ansonsten ganz blauen Himmel – flöge davon in eine Welt, in der immer die Sonne schien und es immer warm war.

Als die Musik verstummte und er ihre Hand losließ, wurde sie so abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Ihr fiel es schwer, sich auf die Gegenwart zu besinnen, und sie vermochte weder zu sprechen noch sich zu bewegen.

„Ist Ihnen schwindelig?“, fragte er und musterte sie besorgt. „Vielleicht etwas frische Luft?“

„Nein, vielen Dank, es wird mir gleich wieder besser gehen. Ich muss meine Mutter finden und zum Essen gehen.“

„Ich habe einen Tisch reserviert. Gestatten Sie mir, Sie dorthin zu bringen, und Ihre Mutter und meine Cousine werden dazukommen. Ich habe es vorhin erwähnt.“

„Haben Sie das?“ Charlotte wagte nicht, noch mehr zu sagen. Sie spürte die Berührung seiner Hand an ihrem Arm überdeutlich, als er sie durch die Menschenmenge zu einem Tisch an einem offenen Fenster geleitete. Die kühle Luft beruhigte ihre erhitzte Haut, und mit der Brise kehrte ein Gefühl von Normalität zurück. „Oh, das ist angenehm. Mir war ein wenig unwohl zumute.“

„Es ist sehr stickig hier drin“, murmelte Jack ganz nah an ihrem Ohr, sodass sein warmer Atem ihre Haut streifte.

Charlotte erschauerte von etwas, das sie für sinnliches Entzücken hielt, obwohl sie etwas Ähnliches noch nie zuvor empfunden hatte. In seinem Tonfall und in seinen Blicken lag etwas, das ihr das Gefühl gab, etwas Besonders zu sein, als stünde sie im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, seiner ganzen Welt. Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz schwindelig vor Glück, und sie wünschte, sie könnte irgendwo mit ihm allein sein, irgendwo, wo sie einander lieben könnten …

Was dachte sie da? Entsetzt kam Charlotte wieder zu sich. Sie erlaubte sich, sich von dem Lächeln eines Mannes verführen zu lassen, von der Liebkosung in seiner Stimme und den Blicken aus diesen betörenden Augen. Sie benahm sich wie ein dummes Mädchen von zwölf, nicht wie eine junge Frau von mehr als neunzehn Jahren. Viscount Captain Delsey war ein erfahrener Schürzenjäger, und er dachte sich nichts dabei, Herzen zu brechen, und sie hatte nicht die Absicht, ihres als ein Opfer darzubringen.

Er sah sie fragend an, als ahnte er, was ihr durch den Kopf ging. „Bitte, machen Sie es sich bequem, Miss Stevens. Ich sehe, dass Ihre Mutter mit den anderen auf dem Weg hierher ist, und ich muss mit dem Kellner sprechen. Bis gleich.“

Charlotte neigte den Kopf, zu sprechen traute sie sich nicht. Der Viscount war zweifellos ein charmanter Mann, aber auch ein herzloser Frauenheld, wenn man dem Gerede der Leute glauben durfte. Sie wusste, dass er als einer der besten Fänge auf dem Heiratsmarkt galt, aber es war unwahrscheinlich, dass er sich für sie entschied. Tatsächlich hatten die meisten der ehestiftenden Mütter die Hoffnung auf ihn aufgegeben. Wenn er also entschlossen zu sein schien, ihr Interesse zu wecken, dann bedeutete das vermutlich, er glaubte, sie zu einem beiläufigen Flirt verlocken zu können – und es war wahrscheinlich, dass er davon ausging, sie sei leicht dafür zu haben, nachdem er sie in den abgelegten Kleidern ihres Bruders gesehen hatte.

Es schien ihr beinahe sicher zu sein, dass er sie als den Jungen erkannt hatte, den er vor den betrunkenen Männern auf der Straße gerettet hatte – und ein Mädchen, das nachts durch die Straßen streifte, als Junge verkleidet, war vermutlich zu allem fähig. Tatsächlich würde sie sich vielleicht sogar so weit vergessen, dass sie sich auf mehr als nur einen Flirt einließ, sich vielleicht sogar verführen ließ. Bei diesem Gedanken wurde ihr wieder heiß, und sie bemühte sich um Fassung. Sie musste an etwas anderes denken – an einen kühlen Fluss, der durch ein sonnendurchflutetes Tal floss …

Als ihre Mutter zu ihr kam, fühlte sie sich noch immer ein wenig unbehaglich, und Charlotte entschied, dass sie in Zukunft vorsichtiger sein musste. Es war nicht ratsam, mit dem gut aussehenden Viscount zu vertraulich zu werden. Er konnte ihr nicht nur das Herz brechen, er konnte auch ihren Ruf ruinieren.

Doch als er mit drei Kellnern zurückkehrte, die eine Auswahl der köstlichsten Leckereien und auch noch zwei Flaschen Champagner mitbrachten, widmete sich Captain Delsey ihrer Mutter, lud ihren Bruder zu einer Partie Karten ein, ehe er seine Cousine für den nächsten Tag zu einer Ausfahrt in den Park einlud. Da er Charlotte nicht mehr als das gebotene Maß an Aufmerksamkeit schenkte, konnte sie ihren verstörenden Gedanken Einhalt gebieten, und als er sie zum nächsten Tanz aufforderte, hatte sie ihre Haltung wiedergewonnen.

Sosehr sie sich auch bemühte – Charlotte konnte sich nicht zügeln: Während er sich mit ihr über die Tanzfläche drehte, hatte sie das Gefühl, dass ihr ganzes Wesen sich in der Freude an der Musik verlor und in dem Gefühl zu schweben, als sie sich vollkommen dem Tanz hingab. In jedem Fall gelang es ihr, sich nicht wieder in den skandalösen Fantasien zu ergehen, die ihr während des ersten Tanzes durch den Kopf gegangen waren, und ruhig genug zu atmen, um ihrem Partner zu danken, nachdem der Tanz geendet hatte.

„Sie tanzen wie ein Engel“, raunte Delsey ihr ins Ohr. „Ich werde ungeduldig auf das nächste Mal warten, Miss Charlotte.“

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, klang wie eine Liebkosung. Eine solche Taktik entsprang gewiss purer Berechnung, damit törichte Mädchen ihm zu Füßen sanken, aber Charlotte war aus anderem Stoff gemacht. Sie würde und musste dem Zauber widerstehen, den er wob – sie musste es, um ihrer Familie willen.

„Vielen Dank, Sir. Es ist mir immer ein Vergnügen, mit einem so großartigen Partner zu tanzen.“

Sie knickste tief vor ihm und ging dann davon, zu ihrer Mutter, den Rücken kerzengerade aufgerichtet, den Kopf hoch erhoben, obwohl es sich anfühlte, als würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen bei der Vorstellung, ihn zu verlieren. Das war lächerlich! Sie kannte diesen Mann kaum, und es wäre mehr als naiv, sich in sein Netz hineinziehen zu lassen, nur weil sie bereit wäre, die ganze Welt um seinetwillen zu vergessen, wenn sie in seinen Armen lag. Nein, nein, in Zukunft würde sie eine Mauer aus Wachsamkeit zwischen sich und dem Viscount errichten. Sie durfte nicht vergessen, wer sie war und was ihre Mutter von ihr erwartete, anstatt sich zu erlauben, von leidenschaftlicher Liebe in den Armen eines Mannes zu träumen, der all ihre mädchenhaften Hoffnungen erfüllte.

Drei Tänze später begann der Raum sich allmählich zu lichten, und Lady Stevens sagte ihrer Tochter, sie sollten an Aufbruch denken.

„Ich habe versprochen, dass wir Miss Handley nach Hause bringen, denn ihr Heim liegt auf unserem Weg, Charlotte. Julia ist eine reizende junge Dame, und ich habe sie und ihre Mutter eingeladen, mit uns zu dinieren, sobald es möglich ist. Sie sagt, das würde sie gern tun, wenn du morgen Nachmittag mit ihr im Park spazieren gehst, und ich dachte, du würdest das wollen, deswegen wird sie um zwei Uhr bei uns vorbeikommen.“

„Oh – ja, natürlich, Mama“, stimmte Charlotte zu, auch wenn sie sich zu erinnern glaubte, dass Delsey eine Verabredung mit seiner Cousine für den kommenden Tag getroffen hatte. Doch sie hatte nicht genau zugehört, und vielleicht täuschte sie sich ja.

Die zwei jungen Damen hatten den ganzen Abend über getanzt und daher kaum Gelegenheit gehabt, sich miteinander bekannt zu machen. Aber als sie auf dem Heimweg in der bequemen Kutsche von Charlottes Mutter saßen, sagte Julia zu Charlotte, dass sie sich darauf freue, sie besser kennenzulernen.

„Mama hat in der Stadt viele Freunde“, berichtete Julia, „aber einige ihrer Töchter sind so – nun ja, um es freundlich auszudrücken, sie sind dumm und haben keinen einzigen vernünftigen Gedanken im Kopf. Ich denke, Sie sind anders, Charlotte, und es würde mir gefallen, wenn wir Freundinnen würden – und ich weiß, dass Jack Sie mag.“

Charlotte spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und sie war froh, dass es in der Kutsche zu dunkel war, als dass ihre Mutter es hätte bemerken können. „Warum sagen Sie so etwas?“

„Er tanzt selten mit ganz jungen Ladys, aber mit Ihnen hat er zweimal getanzt – und er hat bei jeder Gelegenheit, wenn Sie nicht getanzt haben, bei Ihnen gestanden und mit Ihnen geredet.“

„Ich denke, das hat er getan, damit Sie sich mit uns wohlfühlen“, entgegnete Charlotte leise. „Ich bin der Meinung, ihr Cousin ist sehr geübt darin zu flirten, Miss Handley.“

„Bitte nennen Sie mich Julia. Und ich hoffe, ich darf Charlotte zu Ihnen sagen?“ Julia senkte die Stimme. „Jack hat einen schrecklichen Ruf, aber er ist kein übler Kerl. Ich bin sicher, dass er niemals ein unschuldiges junges Mädchen verführen würde, wie es manche anderen skrupellosen Gentlemen tun, aber er kann nichts dafür, wenn es den albernen Dingern seinetwegen das Herz bricht. Wenn er sich hin und wieder eine Mätresse nimmt – nun, alle Männer tun das, weißt du, jedenfalls bis sie heiraten.“

„Wer hat dir das gesagt?“, fragte Charlotte flüsternd und warf einen kurzen Blick auf ihre Mutter, um sicherzugehen, dass diese nicht zuhörte.

„Mama.“ Julias Augen blitzten. „Sie sagte, das ist genau richtig für junge Männer und besser, als Damen der Nacht mitzunehmen, direkt von der Straße. Aber natürlich soll das aufhören, wenn ein Mann heiratet, obwohl sie einräumen musste, dass das nicht immer der Fall ist. Mein Vater ist ihr immer treu gewesen, aber sie sagte, sie hatte Glück – und gab mir den Rat, darauf zu achten, einen Mann zu wählen, der nur mich liebt.“

„Worüber flüstert ihr beiden Mädchen miteinander?“, fragte Charlottes Mutter. „Ich glaube, wir sind da, Miss Handley. Bitte sagen Sie Ihrer Mutter, dass ich sehr glücklich wäre, wenn sie uns besucht, und dass wir uns dann alle zusammen einen schönen Tag machen.“

„Mama wird dankbar sein, dass Sie sich heute Abend um mich gekümmert haben“, sagte Julia. „Sie war in Sorge um meinen Papa, sonst hätte sie mich nie allein mit Jack gehen lassen – und er war auch nicht begeistert davon, aber er ist so ein Lieber und kann ihr nichts abschlagen.“

„In der Zukunft kann Ihre Mutter Sie mit uns gehen lassen, wenn sie an einer Veranstaltung nicht teilnehmen kann, zu der auch wir eingeladen sind.“

„Sie sind so freundlich.“ Julia dankte ihr noch einmal, als die Kutsche hielt und ein Lakai herbeieilte, um den Schlag für sie zu öffnen, nachdem er zuvor an ihrer Haustür geklopft hatte, damit sie eingelassen würde. Ein Diener wartete bereits auf sie. „Gute Nacht, Charlotte. Ich sehe dich morgen.“

„Ja, ich freue mich darauf.“

Charlotte lehnte sich in die Polster zurück, nachdem Julia gegangen war, und schloss die Augen, während sie an den Abend dachte, den sie sehr genossen hatte – und an die Tanzpartner, die ihr das meiste Vergnügen geschenkt hatten. Captain Young und Captain Viscount Delsey – sie waren beide ausgezeichnete Tänzer, doch in anderen Bereichen sehr verschieden. Von diesen beiden war es nur Jack Delsey gelungen, dass sie für eine kleine Weile die Kontrolle verloren hatte, obwohl Christopher Young zwischen den Tänzen zu ihr gekommen war und sie gefragt hatte, ob er sie eines Tages zu einer Ausfahrt einladen dürfe.

„Ich weiß, wir sind uns heute Abend zum ersten Mal begegnet“, hatte er gesagt, „aber ich habe das Gefühl, Sie schon mein Leben lang zu kennen – und ich würde Sie gern noch besser kennenlernen, wenn Sie einverstanden sind?“

„Vielen Dank. Ja, ich würde gern eines Tages mit Ihnen ausfahren“, hatte Charlotte geantwortet, ihm in die blauen Augen gesehen und ihn angelächelt. „Sie müssen Papa fragen, Sir. Ich bin sicher, er wird Sie einladen, um mit uns eines Abends zu dinieren.“

„Du warst sehr gut heute Abend.“ Die Stimme ihrer Mama unterbrach ihren Gedankengang, und Charlotte öffnete die Augen. „Sir Percival schien sehr von dir eingenommen zu sein, und ich glaube, du hast keinen Tanz ausgelassen, Liebes.“

„Ja, Mama, das stimmt“, sagte sie. „Es war ein sehr unterhaltsamer Abend.“

„Wusstest du, dass Captain Young der Erbe von Lord Sampson ist?“

„Nein, Mama, das wusste ich nicht“, sagte Charlotte. Lord Sampson war einer von Papas Nachbarn auf dem Land, aber die Anwesen lagen etwas mehr als fünfzig Meilen voneinander entfernt, und Charlotte sah nur wenig von dem älteren Gentlemen, der mehr das Leben eines Einsiedlers führte.

„Ich auch nicht, ehe Papa es mir gesagt hat“, erklärte ihre Mutter und setzte eine zufriedene Miene auf. „Lord Sampson ist recht vermögend, Charlotte – sogar reich. Sein Erbe wird in Zukunft über ein großes Vermögen verfügen – aber ich glaube nicht, dass er derzeit selbst über die Mittel verfügt, Papas Schulden zu begleichen. Sir Percival ist nicht so reich, wie man es vielleicht gern hätte, aber wenigstens kann er über sein Vermögen verfügen. So glücklich ist nicht jeder Gentleman, mein Liebes.“

„Nein, vermutlich nicht.“ Charlotte verstand endlich, was ihre Mutter mitteilen wollte. Der charmante Offizier hatte Aussichten, aber wenn ihre Ehe die Schuldenlast ihres Vaters erleichtern sollte, brauchte sie jemanden, der schon im Besitz eines Vermögens war – so wie Sir Percival.

Charlotte wandte sich ab und schluckte, um den kleinen Kloß zu vertreiben, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Sie hatte Captain Young sehr gern gemocht – fast so gern wie Captain Delsey, aber während der eine ihr vielleicht einen Heiratsantrag machen würde, war sie ziemlich sicher, dass der andere an so etwas nicht dachte. Sir Percival war ein angenehmer Gentleman, aber bei ihm hatte sie kein Herzklopfen, wenn er sie beim Tanzen im Arm hielt.

Einen Moment lang brannten ihre Augen vor Tränen, als sie wünschte, dass ihr Vater nicht sein Vermögen verschwendet hätte und sie dazu gezwungen war, über solche Dinge nachzudenken. Sie sehnte sich nach der Freiheit, ihrem Herzen zu folgen, aber sie wusste, dass sie sich am Ende mit weniger begnügen musste, als sie eigentlich haben wollte.

4. KAPITEL

Jack gähnte über seinem Brandy, als er sich in seinem bunt gemusterten Hausmantel entspannte, die Beine vor sich ausgestreckt, den Kopf zurückgelehnt gegen das weiche Leder des bequemen Ohrensessels in seinem privaten Wohnzimmer. Er hatte mit einem langweiligen Abend in der Gesellschaft seiner Cousine gerechnet, die er zwar gern hatte, in die er aber absolut nicht verliebt war, doch der Abend war vielversprechender verlaufen, als er es erwartet hatte.

Er hatte keine Ahnung, was ihn dazu veranlasst hatte, so ungehemmt mit einer gewissen jungen Dame zu flirten. Jacks Abneigung dagegen, sich gefühlsmäßig auf ein schönes Mädchen einzulassen, ging tief und dauerte nun schon einige Jahre an. Gewöhnlich flirtete er nur mit älteren – verheirateten oder verwitweten – Frauen, die verstanden, dass er damit nichts Ernstes meinte oder anbot. Selbst wenn er über eine Vernunftehe nachdachte, so hatte er doch nicht die Absicht, jemals einer Frau zu erlauben, einen Platz in seinem Herzen zu erobern oder in seine Gedanken einzudringen, ihm die Art von Schmerz zuzufügen, von dem er wusste, dass er einen erwischen konnte, wenn man zu sehr liebte. Er wusste aus Erfahrung, wie zerstörerisch die Liebe sein konnte, denn er hatte es erlebt, als er noch sehr jung gewesen war. Er hatte mit ansehen müssen, wie zwei Menschen, die er liebte, beinahe zugrunde gegangen wären an einer Liebe, die zu stark gewesen war.

Miss Charlotte Stevens jedoch war ein Erlebnis. Er hatte vom ersten Augenblick an gewusst, dass sie kühn war, wegen der Eskapade, bei der sie nur knapp den beiden Schurken entkommen war, die sie hatten misshandeln wollen. Doch gerechterweise musste er einräumen – was sollte ein Mann von einer jungen Frau denken, die wie ein Junge gekleidet herumlief und die dem einen der Männer zufolge gesehen worden war, als sie aus einem Fenster kletterte?

Wessen Fenster konnte das gewesen sein? Während Jack über dieses Rätsel nachdachte, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Hatte sie einen Liebhaber besucht – oder steckte mehr hinter ihrem tollkühnen Verhalten?

Nachdem er einige Zeit in der Gesellschaft ihres Bruders verbracht hatte, war Jack geneigt zu denken, dass ihr Unternehmen in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatte, einfach weil er nicht die Art junger Mann war, der es unterstützte, wenn sich seine Schwester leichtfertig benahm. Tatsächlich hatte Jack gesehen, wie er die Stirn gerunzelt hatte, als Charlotte mit einem Mann tanzte, von dem bekannt war, dass er von lockerer Moral war. Ihr Bruder hatte in jener Nacht gewartet, um sie in das Dienstbotenquartier zu lassen, daher musste er gewusst haben, wo sie gewesen war – aber gewiss hatte er seine Schwester nicht darin bekräftigt, in den Kleidern eines Jungen auszugehen? Es war viel zu gefährlich!

Jack hatte bei ihrer ersten Begegnung genug von dem Mädchen gesehen, um von ihr fasziniert zu sein, denn sie hatte ein übermütiges Funkeln in den Augen und eine Art zu lachen, die sein Interesse weckte. Nichts in ihrem Verhalten an jenem Abend oder an diesem hatte angedeutet, dass sie leichtsinnig oder leichtfertig sein könnte. Doch in seinen Armen schien sie ein anderer Mensch zu werden. Leicht und anmutig hatte sie sich mit ihm bewegt, und er konnte sich nicht erinnern, je bei einem Walzer so leidenschaftlich empfunden zu haben. Nach dem Tanz hatte sie ein wenig benommen gewirkt, und er hatte das überwältigende Verlangen gespürt, sie in die Arme zu schließen und mit ihr an einen abgeschiedenen Ort zu fliehen, wo sie nicht gestört werden konnten. Seine Erregung war äußerst schmerzhaft gewesen, und er wollte sie mit heißen Küssen bedecken und ihre zarte Haut spüren, während sie beieinanderlagen … aber er hatte gewusst, dass er sie so nicht behandeln durfte. Sie war die Tochter eines Gentleman. Aber war sie eine Lady?

Jack furchte die Stirn, denn die Notwendigkeit, diese Frage zu stellen, machte ihn wütend. Er wollte nicht schlecht von ihr denken – aber welche Lady würde sich so benehmen, wie sie es getan hatte? Was konnte sie zu so tollkühnem Verhalten veranlasst haben?

Ihm fiel nichts ein. Matthew Stevens war doch wohl die Sicherheit seiner Schwester nicht so gleichgültig, dass er sie allein in der Nacht herumlaufen ließ – und warum war sie aus einem Fenster geklettert? War sie durch das Fenster in ein Haus auf der anderen Seite des Parks gestiegen?

Jack versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wer in dem Haus auf der anderen Seite des St. James’ Park wohnte. Aber natürlich konnte er nicht genau wissen, wie weit diese Schufte sie gejagt hatten, ehe sie durch die Tore des Parks davongerannt war.

Er schüttelte den Kopf, trank seinen Brandy aus, überlegte, ob er sich noch ein Glas einschenken sollte, und entschied sich dann dagegen.

Er war der Lösung des Rätsels, das Miss Charlotte Stevens umgab, nicht näher gekommen, aber er hatte nicht die Absicht, dieses Thema fallen zu lassen. Jack würde es sich zur Aufgabe machen, mehr über die Familie und ihre Lebensumstände herauszufinden. In der Gesellschaft Londons waren sie Neuankömmlinge. Obwohl sie vermutlich gekommen waren, um ihrer Tochter eine Saison zu ermöglichen, mochte ihr Hintergrund ihm mehr preisgeben. Der beste Weg, um in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte, war, die Bekanntschaft mit Matt Stevens zu vertiefen – ein paar Abende beim Kartenspiel und eine Trinkrunde im Klub sollte ihm zu ein paar Erkenntnissen verhelfen, denn er war sicher, der junge Mann würde sich leicht ausfragen lassen.

Jack dachte nicht darüber nach, wie er zu dem Mädchen stehen würde, wenn er herausgefunden hatte, was er wissen wollte, es war nur ein Rätsel, das es zu lösen galt, das ihn amüsierte, und ein kleiner Flirt mit einem hübschen Mädchen war nie Zeitverschwendung – wohin das aber führen würde, das war eine andere Geschichte.

Am nächsten Tag sah Jack die zwei Mädchen Arm in Arm durch den Park schlendern, und er lächelte innerlich, als er bemerkte, dass Julias Zofe ein Stück hinter den beiden ging, was zweifellos von ihrer Herrin angeordnet worden war. Er hatte sich gefragt, warum sie darauf bestanden hatte, nicht mit ihm zu fahren, ihn aber treffen wollte, wenn er sich entschließen würde, am Nachmittag durch den Hydepark zu spazieren. Was hatte sie nun wieder ausgeheckt?

Er zog den Hut vor den Ladys und ließ eine Braue in die Höhe schnellen, als er Julias schalkhaftes Lächeln bemerkte. „Welch Freude, dich zu treffen, Cousine – Miss Stevens.“

„Ja, welch eine Überraschung“, sagte Julia, und ihre Augen funkelten herausfordernd. „Wir lernen einander gerade kennen, liebster Jack. Du musst wissen, dass Charlotte meine beste Freundin werden soll. Ich liebe sie jetzt schon, und du musst nett sein zu ihr, sonst werde ich nie wieder mit dir reden.“

„Ich bin beinahe versucht, ihr irgendeinen Streich zu spielen“, entgegnete Jack so leise, dass nur die beiden Damen ihn hören konnten. „Aber ich habe das Gefühl, dass sie das nicht verdient hätte, und schlimmer noch, dass du nicht dein Wort halten würdest.“

„Du unverschämter Kerl!“, rief Julia und versetzte ihm einen leichten Boxhieb gegen den Arm. „Hast du ihn gehört, Charlie? Ich erkläre hiermit, dass er unserer Aufmerksamkeit nicht wert ist. Wir sollten allein weitergehen.“

„Ich glaube, dein Cousin möchte dich nur necken“, sagte Charlotte und lachte.

„Er ist offenbar in einer seltsamen Stimmung“, beklagte sich Julia. „Wir sollten ihn nicht beachten. Oh, sieh mal, hier kommt dein Bruder. Wie es aussieht, geht heute jeder im Park spazieren.“

„Ich wage zu behaupten, dass das wieder von meiner Cousine eingefädelt wurde“, murmelte Jack, als er seine Schritte denen Charlottes anpasste und seine Cousine ein paar Schritte vor geeilt war, um Matts Arm zu nehmen. „Aus irgendeinem Grund halte ich diese Begegnungen nicht für Zufall – Sie etwa?“

„Es erscheint unwahrscheinlich“, räumte Charlotte ein. Sie hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. „Ist Ihre Cousine eine Charmeurin, Mylord?“

„Oh ja, absolut. Sie sollten Ihren Bruder warnen, damit er nicht sein Herz an sie verliert. Ich werde ihn ganz sicher warnen.“

„Ich denke, Matt kann auf sich selbst aufpassen“, erwiderte Charlotte. „Julia ist eine reizende Begleiterin, aber ich vermute, ihre Eltern möchten, dass sie eine vorteilhafte Ehe eingeht?“

„Sie ist die Erbin eines größeren, wenn auch nicht riesigen Vermögens, das ihre Patin ihr hinterlassen hat.“

„Wie ich es mir dachte“, meinte Charlotte und sah ihm offen ins Gesicht. „Matt hat ein kleines Anwesen und ein wenig Geld, aber auf keinen Fall ein Vermögen.“

„Er ist sicher der Erbe Ihres Vaters?“

„Ja, natürlich, aber Papa – Papa hat unglücklicherweise ein paar Schulden“, erklärte Charlotte aufrichtig. „Ob es noch ein Anwesen geben wird, das mein Bruder erben könnte, ist nicht sicher. Ich besitze ein wenig eigenes Geld, aber keiner von uns hat wirklich gute Aussichten – außer, wenn Geld keine Rolle spielt. In Herzensangelegenheiten ist es nicht immer wichtig, was jemand besitzt, oder?“

„Sie sind sehr direkt, Miss Stevens. Halten Sie das für klug?“

„Ich sehe keinen Grund darin zu lügen, Sir. Meine Mutter hofft, dass ich eine gute Verbindung eingehe und vielleicht in der Lage sein werde, Papa ein wenig zu helfen, aber ich würde niemanden über unsere Verhältnisse im Unklaren lassen.“

„Manche Leute würden sagen, Sie täten besser daran, diese Informationen für sich zu behalten, wenigstens bis ein Antrag gemacht wurde.“

„Ja, das stimmt. Ich rufe es auch nicht gerade von allen Dächern, aber ich habe es Julia anvertraut, und ich denke, sie wird es Ihnen gegenüber erwähnen.“

„Julia hat kaum Geheimnisse vor mir. Wir waren immer fast wie Bruder und Schwester.“

„Ja, das hat sie mir erzählt, und deswegen hielt ich es für unproblematisch, es Ihnen zu erzählen. Natürlich wollen wir nicht, dass es allgemein bekannt wird, denn das könnte meine Chancen zerstören, aber ich verdächtige Sie nicht, eine Klatschbase zu sein, Sir.“

Jack musterte sie aufmerksam und versuchte herauszufinden, warum sie so freimütig zu ihm und seiner Cousine sprach. Wollte sie ihm damit sagen, dass sie ihn nicht für einen infrage kommenden Verehrer hielt und es ihr deswegen egal war, was er von ihr dachte? Oder wollte sie ihn auf den Prüfstand stellen?

Jedes Mal, wenn er ihr begegnete, bezauberte sie ihn mehr, und er spürte, wie sein Jagdtrieb erwachte, als witterte er eine Beute. Es war möglich, dass Miss Charlotte daran interessiert war, die Mätresse eines Mannes zu werden, der bereit wäre, ihren Vater von seinen Schulden zu befreien und die Aussichten ihres Bruders zu verbessern – oder schätzte er sie falsch ein? Schließlich konnte er nicht wissen, was zu der verrückten Eskapade geführt hatte, die ihr um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre.

Plötzlich hörte er einen Laut von Charlotte, und als er sich umdrehte, bemerkte er, dass sie bleich geworden war. Sie starrte einige Männer an, die auf sie zu schritten, und er spürte, dass ihre Hand auf seinem Arm zitterte.

Einer der Gentlemen war Lord Harding, und als dieser Matt erblickte, blieb er stehen und zog seinen Hut. Der andere Mann war einer der beiden Schufte, die die junge Frau an seiner Seite in der vergangenen Nacht verfolgt hatten, allerdings kannte Jack nicht seinen Namen.

„Stevens, gut, dass wir Sie treffen“, sagte Lord Harding. „Patterson und ich sind gerade dabei, einen kleinen Ausflug zu einer neuen Spielhölle zu planen, in der ich Mitglied bin – für heute Abend. Ich denke, es wird Ihnen gefallen, wir dinieren um sieben Uhr in meinem Haus.“

„Nein, ich kann nicht“, erwiderte Matt hastig. Der Ausdruck in seinen Augen erinnerte an den Blick eines gehetzten Hasen, und sein Hals lief rot an. „Ich bin verabredet mit …“

„Matt ist heute Abend bei mir zu Kartenspiel und Dinner eingeladen“, warf Jack leichthin ein. „Verzeihen Sie, Harding, aber wir haben einen Termin. Mr. Patterson …“

Er tippte sich leicht an den Hut, nahm ihn aber nicht ab. „Entschuldigen Sie uns bitte, ich möchte die Damen nicht warten lassen. Die Luft hier, wissen Sie, sie bekommt ihnen nicht.“

Sein Tonfall war schroff, und er sah, wie Harding wütend wurde und sein Gesicht rot anlief. Der Mann hatte ein cholerisches Temperament, und wenn er nicht aufpasste, würde ihn irgendwann der Schlag treffen. Jack hatte ihn absichtlich beleidigt, das aber geschickt verschleiert, sodass Harding zwar genau wusste, was seine Absicht war, aber nichts dagegen tun konnte, wohl aber würde er einen Weg finden, sich zu einem anderen Zeitpunkt zu rächen.

Als die Männer sich entfernt hatten, sah Jack seine Begleiterin an. Sie war noch immer ein wenig blass, hatte aber ihre Haltung zurückgewonnen.

„Sie mögen diesen Gentleman nicht?“

„Er – er hat Matt auf Abwege geführt, und mein Bruder hat Geld verloren, das er sich nicht leisten kann zurückzuzahlen. Sein Kapital wird von einem Treuhänder verwaltet, wissen Sie, und er erhält von Papa nur eine Apanage.“

„Ja, ich verstehe das. Keine Angst, ich werde nicht zulassen, dass Ihr Bruder in meinem Haus um hohe Einsätze spielt. Wir spielen nur zur Unterhaltung.“ Jack ging diese Lüge leicht über die Lippen. Gewöhnlich gab es keine Obergrenze, aber er würde dafür sorgen, dass der junge Mann im Rahmen seiner Möglichkeiten blieb, es gab einige Glücksspiele, die um ein paar Guineas gespielt werden konnten. Einige von Jacks Freunden mochten ihn deswegen für verrückt halten, aber da sie damit zufrieden waren, seinen guten Wein zu trinken, das ausgezeichnete Essen zu genießen, das sein Koch zubereitete, und einfach miteinander zu reden, würden sie glücklich sein damit, sich zu unterhalten, während er um ein paar Münzen mit seinem Protegé spielte.

„Oh, ich wage zu behaupten, er kann es sich leisten, ein paar Guineas zu verlieren, aber nicht Tausende“, meinte Charlotte. „So kam es, dass er …“ Ganz plötzlich verstummte sie und errötete. „Ich freue mich auf die Ausfahrt nach Richmond und die Ballonfahrt, Sir. Es war so nett von Ihrer Cousine, auch mich dazu einzuladen.“

„Oh ja, so ist sie immer“, murmelte er, etwas überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel, wobei er sich fragte, ob ihre unbedachten Bemerkungen vielleicht mehr verrieten, als ihm bisher klar war.

Hardings Einladung schien Matt regelrecht verängstigt zu haben, und seine Schwester versuchte ganz offensichtlich, ihn zu beschützen. Sie hatte ausgesehen, als wollte sie in Ohnmacht fallen, als Harding und sein Freund auf sie zu gekommen waren – natürlich hatte sie Angst gehabt, dass Patterson sie wiedererkennen könnte. Jack hielt das nicht für wahrscheinlich – der vorwitzige Junge, der durch die Nacht geflohen war, sah so ganz anders aus als die elegante junge Dame an seinem Arm, aber es war nur natürlich, dass sie sich fürchtete.

Doch er spürte, dass noch mehr dahintersteckte, als er im Moment ahnte. Auch wenn er kein Freund von Lord Harding war – tatsächlich verachtete er ihn und alle anderen von seinem Schlag –, wusste er doch, wie sie waren: gierige Raubtiere, die ein Vermögen machten mit den jungen Hähnen, die sie rupften, ehe diese wussten, wie ihnen geschah. Es konnte eine gute Idee sein, diesen Mann zu stellen bei einer seiner Jagden. Er würde darauf achten, Harding nicht allzu offensiv zu befragen, denn er wollte nicht, dass der etwas bemerkte von seinem Interesse an Charlotte Stevens und ihrem Bruder, aber er würde zusehen und zuhören und mit subtileren Mitteln in Erfahrung bringen, was er konnte.

„Hat Ihnen der Ball gestern gefallen?“, fragte Charlotte, und Jack ließ sich bereitwillig in ein Gespräch über den letzten Abend verwickeln. Er war fest davon überzeugt, dass der Schlüssel zu dem Rätsel um ihre Eskapade bei ihrem Bruder lag. Wenn er erst einmal Matts Vertrauen gewonnen hatte, dann würde er ihr Geheimnis bald herausfinden.

Sie spazierten eine gute halbe Stunde durch den warmen Sommersonnenschein, dann erreichten sie die Tore des Parks. Die Mädchen würden in Charlottes Haus zurückkehren, um dort zusammen Tee zu trinken.

„Ich sehe Sie am Freitag“, sagte Jack zum Abschied und drückte ihre Hand, ehe er spontan hinzufügte: „Wenn es etwas gibt, das Sie bedrückt – ich bin Ihr Freund, Miss Charlotte. Ich würde Ihnen in jeder Weise helfen, in jeder, die mir möglich ist.“

Sie sah ihn überrascht an, ein wenig zweifelnd, dann voller Übermut. „Wie freundlich Sie sind, Sir, aber seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie versprechen – das ist ein weites Feld.“

„Ich meine es so, ganz genau so“, wiederholte er ernsthaft. „Wenn jemand Sie ... bedroht, dann sagen Sie es mir.“

Charlotte musterte ihn einen Moment lang, jetzt war ihr Blick ganz ernst und offen. „Ich glaube Ihnen, dass Sie es so meinen, wie Sie es sagen, Sir“, erklärte sie, „und ich danke Ihnen dafür, auch wenn ich im Moment nicht in Schwierigkeiten stecke.“

„Ich hoffe, das stimmt“, entgegnete er und wandte sich ab, um Matt am Arm zu berühren. „Gehen Sie in Ihren Klub? Oder würden Sie mir die Ehre erweisen, heute Abend bei mir zu dinieren?“

Matt sah erfreut aus und stimmte sofort zu. „Ich dachte daran, zu Hause zu essen, aber ich würde Sie gern später treffen, wenn ich mich für den Abend umgezogen habe.“

„Das ist nicht nötig, wir machen keine Umstände, wenn wir zwanglos dinieren. Kommen Sie jetzt mit mir zurück, dann stelle ich Sie einigen meiner Freunde vor. Es ist eine kleine, vertraute Gruppe, und wir treffen uns mehrmals im Monat, um über Sport und Pferde zu reden.“

„Nun, das ging ja sehr gut“, sagte Julia, als die beiden jungen Frauen gemächlich auf ihr Ziel zu schlenderten. „Ich war nicht sicher, ob Jack kommen würde, und es wäre peinlich gewesen, wenn er es nicht getan hätte.“

„Hast du das Treffen mit beiden arrangiert?“, fragte Charlotte, ein Lächeln auf den Lippen.

„Ja, natürlich. Es ist so einfach, ein wenig Zeit allein mit einem jungen Mann zu verbringen, wenn man es richtig plant“, meinte Julia und lachte leise, als Charlotte eine Braue hochzog. „Mama würde es mir nie erlauben, allein mit deinem Bruder spazieren zu gehen, jedenfalls nicht, bis sie ihn gut genug kennt, um sich seiner Absichten sicher zu sein, aber wenn Jack dabei ist, kann sie nichts dagegen haben. Ist es nicht in deinem Fall genauso?“

„Ja, vielleicht“, erwiderte Charlotte. „Willst du es so aussehen lassen, als wären die beiden zusammen unterwegs gewesen, als wir sie trafen?“

„Nur, wenn es nötig ist.“ Julias Augen blitzten vor Übermut. „Ich lüge nicht direkt, aber wie sollte ich jemals die Gelegenheit bekommen, mit jemandem zu sprechen, den ich mag, wenn ich nicht selbst dafür sorge? Auf Bällen und bei Musikabenden kann man nicht richtig miteinander reden.“

„Nein, das stimmt wahrhaftig“, pflichtete Charlotte ihrer neuen Freundin bei. „Ich war froh, dass sie bei uns waren. Wären wir allein gewesen, als Lord Harding und Mr. Patterson uns begegneten …“ Sie erschauerte ein wenig. „Ich mag diese Herren nicht.“

„Ich auch nicht.“ Julia schüttelte ein wenig angewidert den Kopf. „Sie sind beide nicht nett. Mama würde keinen von ihnen auf ihre Partys einladen, und ich bin gewarnt worden, mich von Lord Harding fernzuhalten. Er hat mich einmal zum Tanzen aufgefordert, aber ich habe abgelehnt, und er hat mich nicht noch einmal aufgefordert.“

„Er hat meinen Bruder in eine Spielhalle mitgenommen, und der arme Matt hat eine beträchtliche Summe an ihn verloren, aber wenigstens hat er dabei seine Lektion gelernt. Er wird nicht wieder mit ihm spielen.“

„Ich verstehe nicht, was es den Gentlemen bringt, um große Summen zu spielen, denn es gibt so viel Elend und Schmerz, wenn sie verlieren.“ Julia runzelte die Stirn. „Einer von Mamas Onkeln geriet auf diese Weise in Schulden und war um ein Haar ruiniert. Er konnte sich nur retten, indem er eine Erbin heiratete. Ich spiele niemals um mehr als eine Guinea auf einmal. Mama spielt auf ihren Partys nur Karten um Punkte. Ich kann nicht verstehen, warum das nicht immer so gemacht wird. Es macht genauso viel Spaß zu gewinnen, indem man seine Geschicklichkeit zeigt, aber Männer sehen das natürlich nicht so. Jack spielt um Tausende, aber er gewinnt auch immer.“

„Ich dachte, er sei kein Spieler?“ Charlotte runzelte die Stirn, denn er hatte ihr gesagt, dass Matt in seiner Gesellschaft nicht in Schwierigkeiten geraten würde.

Julia lachte und zuckte mit den Schultern. „Er ist nicht leichtsinnig, aber er spielt oft um hohe Einsätze, und er gewinnt. Oh, ich nehme an, dass er auch manchmal verliert, aber wenn das der Fall sein sollte, so kann er sich das leisten, und meistens scheint er zu gewinnen, was immer er auch tun mag.“

„Was meinst du damit?“

„Ich bin nicht sicher, was ich genau sagen will, außer dass Jack, wenn er etwas oder jemanden haben will, es auch immer bekommt. Wenn er beim Pferderennen wettet, dann gewinnt er, und letztes Jahr hat er bei einem Duell gewonnen – und dann war da dieses Mädchen, das so schön und kühl wirkte, und alle Männer wollten sie haben, aber sie hat sich Jack ausgesucht, und er hätte sie haben können, aber er wollte sie nicht.“

„Was ist aus ihr geworden?“

„Oh, am Ende hat sie einen Earl geheiratet, aber er war alt genug, um ihr Großvater zu sein, und er hatte einen schlechten Atem …“ Julia zögerte und blickte ein wenig verhalten drein. „Es hieß, Mariette müsste schnell heiraten, weil sie ein Baby erwartete, aber sie hat nur Jack angesehen.“ Charlotte stockte der Atem, und Julia schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin sicher, das war nur ein hässliches Gerücht, weil sich so viele Mädchen darüber aufregten, wegen des Erfolges, den sie hatte. Jack würde niemals ein unschuldiges Mädchen verführen. Ich weiß, dass er das nicht tun würde.“

„Ich bin sicher, das würde er nie tun“, stimmte Charlotte zu, aber sie erinnerte sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie ihren ersten Walzer tanzten, und sie wusste, dass sie selbst sich vielleicht dem gut aussehenden Viscount ergeben hätte, hätte er es sich in den Kopf gesetzt, sie verführen zu wollen. Wenn die Berührung eines Mannes solche Gefühle in dir zu wecken vermag, wie sollst du dich da noch an die Warnungen deiner Mama erinnern?

„Ich weiß nicht, warum ich es dir erzählt habe – bitte verwende das nicht gegen ihn, Charlie. Ich denke, Jack mag dich sehr, und wir alle wünschen uns, dass er sich niederlässt. Er ist schon seit einer Ewigkeit in der Stadt, und alle Mütter, die ihre Töchter unter die Haube bringen wollen, haben versucht, ihn sich zu angeln, aber er geht niemandem in die Falle. Er hat eine Geliebte, das weiß ich, aber das ist nicht so, als wäre man verheiratet, oder? Er braucht ein Zuhause mit einer Frau und Kindern – er kann wunderbar mit Kindern umgehen. Ich habe ihn mit Verwandten gesehen und mit den Kindern seiner Freunde.“

„Ich denke, er wird sich entscheiden, wenn er bereit dafür ist.“

„Ja, das ist zu erwarten. Mama hat angedeutet, dass wir gut zueinanderpassen würden, aber Jack und ich, wir sind uns darin einig, dass wir das nicht riskieren sollten – und sie denkt nur an das Vermögen, das er zu seinem eigenen dazu bekommen wird, wenn er alte Marquess stirbt.“

„Captain Delsey ist der Erbe?“

„Oh ja, er wird eines Tages der Marquess of Ellington sein. Wusstest du das nicht?“

„Ich wusste, dass er ein Viscount ist, aber ich hatte keine Ahnung, dass er noch der Erbe eines anderen Titels und Vermögens ist.“ Charlottes Stimmung sank, denn der charmante Captain war damit vermutlich noch weniger an einem Mädchen wie ihr interessiert, als sie ohnehin schon befürchtete. „Ist sein Vater tot?“

„Oh ja, schon seit Jahren. Es gab einen schrecklichen Unfall, als Jack siebzehn war. Sein Vater war im Norden unterwegs zu den Ländereien der Familie in Yorkshire, und die Kutsche fuhr über eine Bergstraße, als sich ein Rad löste, und der Wagen stürzte den Abhang hinunter. Er war sofort tot, genau wie der Kutscher und der Diener. Die Dienstboten, die im Gepäckwagen einige Meilen dahinter fuhren, bargen die Leichen später und brachten sie nach Hause.“

„Wie tragisch“, sagte Charlotte. „Warum hat sich das Rad gelöst?“

„Niemand weiß es ganz genau, aber die allgemeine Meinung ist, dass es ein Hindernis auf der Straße gab, sodass der Kutscher scharf gebremst hat, wodurch die Kutsche ins Schleudern geriet, und dann stürzte das ganze Gefährt durch das gebrochene Rad über den Abhang.“

„Das ist so tragisch“, wiederholte Charlotte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt vor Mitgefühl. „Dein Cousin muss verzweifelt gewesen sein – den Vater auf diese Weise zu verlieren, wenn man noch so jung ist.“

„Ja, ich denke, das war schlimm für ihn, obwohl er seinen Großvater besonders liebt – und es heißt …“ Julia verstummte und seufzte. „Nun, ich nehme an, du wirst das nicht weitersagen, aber ich habe gehört, dass sein Vater ein sehr selbstsüchtiger Mann war, auf den man sich nicht verlassen konnte.“

„Oh, ich verstehe“, meinte Charlotte und nickte. „Aber Lady Delsey – sie ist doch noch am Leben?“

„Ja. Sie lebt zumeist bei dem Marquess – obwohl sie ihr eigenes Haus in Bath besitzt –, aber sie ist ein wenig ... nun ja, dumm ist ein so unfreundliches Wort, aber sie ist sehr zart und fällt in Ohnmacht, wenn etwas sie beunruhigt – solche Dinge eben.“

„Ah, ich weiß.“ Charlotte lächelte. „Die Art von Lady, um die man sich kümmern muss, wenn sich ein Gentleman in der Nähe befindet, die aber recht robust ist in der Gesellschaft anderer Damen.“

„Ja, genau.“ Julia strahlte sie an. „Ich wusste, dass wir uns verstehen würden, du und ich, Charlie. Ich denke, sie spielt mit Jack, versucht, sein Mitleid zu erregen – und Mama sagt, in Wirklichkeit ist sie genauso stark wie du und ich.“

Charlotte lachte. „Mit solchen Frauen hat Mama keine Geduld, aber ich nehme an, sie brauchen viel Aufmerksamkeit, sonst würden ihre Familien sie nicht so behandeln.“

„Nun, ich bezeichne das als unfair“, sagte Julia. „Mich wundert es nicht, dass Jack sich nicht zu einer Heirat entschließen kann, denn er muss glauben, dass alle Ladys zu Ohnmachten neigen, wenn sie etwas älter sind.“

„Ein Irrtum, oder?“ Charlotte lachte, als Julia einen Schmollmund machte. Sie hatte bereits festgestellt, dass ihre neue Freundin sehr offen war und sich gern eine eigene Meinung bildete, und auch wenn sie nicht mit allem einverstanden war, so konnte sie Julias Ansichten doch nachvollziehen. „Wir wissen nicht, was sie in der Vergangenheit erlebt hat – wenn ihr Ehemann sehr selbstsüchtig war …“

„Das habe ich tatsächlich nicht bedacht, aber ich nehme an, das könnte ein Grund sein, warum sie sich so sehr an Jack klammert.“

„Ich wage zu behaupten, dass er seine Mutter liebt, und wenn er so freundlich zu ihr ist, wie er es sein sollte, dann findet sie zweifellos Trost in seinen Aufmerksamkeiten.“

„Du bist nachsichtiger als ich.“ Julia lachte wieder und ließ das Thema fallen. „Ich wünschte, ich könnte auch am Freitag zu diesem Picknick gehen.“

„Ich wüsste keinen Grund, warum du nicht mitkommen solltest“, sagte Charlotte. „Matt wäre entzückt, dich zu begleiten, und du könntest selbst ein paar Kleinigkeiten zum Essen mitbringen und bei uns sitzen, sodass wir uns weiter unterhalten können.“

„Ja, warum nicht? Würdest du deinen Bruder für mich fragen – und könntest du Jack Bescheid sagen? Ich bin nicht sicher, ob ich ihn vorher noch sehe – und ich glaube, ihr seid recht bald zum Dinner verabredet?“

„Er wird morgen Abend mit uns essen“, entgegnete Charlotte. „Ich werde ihm sagen, dass du mitkommen willst, und ich bin sicher, er wird mit seiner Cousine sprechen, sodass du an jenem Tag bei uns sein kannst.“

„Ja, natürlich – das wäre perfekt.“

In vollem Einverständnis waren die Mädchen weitergegangen, bis sie das Haus erreicht hatten. Als sie eintraten, stellten sie fest, dass mehrere Leute vorgesprochen hatten und nun im Salon Tee tranken, zusammen mit Lady Sybil und Sir Mordred Stevens. Als Charlotte sah, dass Sir Percival einer der Gäste war, ging sie zu ihm, reichte ihm die Hand und entschuldigte sich, dass sie nicht da gewesen war, um ihn zu begrüßen.

„Das macht doch nichts, ich bin gerade erst gekommen“, sagte er und küsste ihr die Hand. „Der Spaziergang im Park hat Ihnen Freude bereitet? Sie haben von der frischen Luft noch rosige Wangen, Miss Stevens.“

„Vielen Dank“, sagte Charlotte und lächelte, sodass ihre Grübchen sichtbar wurden. „Es war sehr schön draußen. Es waren viele Menschen unterwegs, die den Nachmittag genossen. Wir haben meinen Bruder und Captain Delsey getroffen.“

„Ach, ich wünschte, ich hätte davon gewusst, ich wäre gern mit Ihnen durch den Park geschlendert, aber vielleicht würden Sie es mir gestatten, Sie morgen zu einer Ausfahrt einzuladen?“

„Das wäre reizend“, entgegnete Charlotte höflich. „Gut, dass Sie an so etwas denken, Sir. Julia und ich haben über den Aufstieg des Ballons in Richmond am Freitag gesprochen, zu dem ich eingeladen bin, und sie ist entschlossen, ebenfalls zu kommen.“

„Ah, ja, ich bin mit meiner Schwester und ihren Freunden dort verabredet“, rief Sir Percival und strahlte. „Wir sehen Sie vielleicht dort – es wäre eine gute Gelegenheit für Sie, Lady Peters kennenzulernen. Ich bin heute gekommen, um eine Einladung zu ihrer Soiree nächste Woche abzugeben, von der Ihre Mutter sagt, dass sie in ihre Pläne passt.“

„Es ist sehr freundlich von Ihrer Schwester, uns einzuladen, Sir.“

„Henrietta hat mich sehr gern, und sie tut mir immer gern einen Gefallen“, meinte Sir Percival so leise, dass nur sie es hören konnte.

Charlotte konnte seine Worte nicht missverstehen. Sie holte tief Luft und setzte weiterhin eine höfliche und interessierte Miene auf, doch dahinter schlug ihr Herz wie wild. Sir Percival war ein angenehmer Gesellschafter und zweifellos ein ansehnlicher Gentleman, der weder alt war noch übergewichtig oder überheblich, und er war auch nicht Vater von mehreren Kindern. Wenn er sich ihr offenbarte und bereit war, den größten Teil von Papas Schulden zu übernehmen, dann würde sie ihn nehmen müssen, um ihre Familie zu retten.

Der Gedanke lag ihr wie ein Kloß in der Kehle, der sie zu quälen begann, als der Nachmittagstee weiterging und Sir Percivals Aufmerksamkeiten unübersehbar wurden. Sie hätte kaum auf mehr hoffen können, als sie in die Stadt gekommen waren, aber jetzt – aber jetzt hatte ihr Herz eigene Vorstellungen, und sie konnte an nichts anderes denken als an ein paar herausfordernd dreinblickende Augen und einen Mund, von dem sie sich wünschte, sie würde ihn auf ihren Lippen spüren.

Ach, sie war so eine Närrin. Der Viscount mochte ihr seine Hilfe anbieten, er mochte sie zu einer Ausfahrt mitnehmen oder zu einem Picknick mit seiner Cousine, aber er würde ihr nie einen Heiratsantrag machen. Wenn sie ihm ihr Herz schenkte, wäre ihr eine Enttäuschung vorbestimmt.

Autor

Anne Herries
Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...
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