Du bist die süßeste Versuchung

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Liebe bedeutet Schmerz und Tränen. Das weiß Willa ganz genau. Schon deshalb will sie sich auf keinen Fall in den sexy Derek Neel verlieben. Aber als er sie in ihrer Bäckerei heiß küsst, verfällt sie rettungslos der verführerischen Süßigkeit, die man Liebe nennt!


  • Erscheinungstag 27.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506922
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Unter den Leuten in dem idyllischen Städtchen Thunder Ridge, Oregon, gab es tatsächlich einige, die schon morgens um halb sieben fleißig Pläne schmiedeten.

Dazu gehörte das Valentinstagsdekoteam, das zu dieser frühen Stunde zusammengefunden hatte, um über die Schmückung der Stadt zu beratschlagen.

Sie hatten sich im Pickle-Jar-Feinkostladen in der Warm Springs Road eingefunden – einem beliebten Ort zum Frühstücken, Reden und um den neuesten Klatsch auszutauschen.

Gleich daneben befand sich ein nicht weniger beliebter und um diese Uhrzeit genauso frequentierter Laden: Something Sweet, eine Bäckerei mit erlesenem süßem Gebäck und unschlagbar frischen Köstlichkeiten.

Die geschmackvollen Lampionketten über der Straße waren noch nicht ausgeschaltet und warfen noch immer ihr heimeliges Licht in die diesige Morgendämmerung, als Willa Holmes aus der Bäckerei trat.

Sie ergriff das Schild und drehte es von der Seite Fertig für heute! auf die Seite Hereinspaziert!

Keine zwei Minuten später stand sie wieder hinter der Theke, um die ersten Kunden zu bedienen. So ging das, seit sie den Job in der Bäckerei vor zwei Monaten angenommen hatte.

„Darf ich Ihnen die frischen Plunderstücke empfehlen, Mrs. Wittenberg?“ Willa Holmes lächelte der älteren Dame zu, deren weiße Löckchen gerade auf der Höhe der Glastheke wippten. „Die sind noch ofenwarm.“

Willa war seit drei Uhr früh auf den Beinen – und froh darüber. Als sie frisch verheiratet gewesen war, hätte sie um diese Uhrzeit geschlafen – oder mit ihrem Mann geschlafen.

Inzwischen lag sie viel zu oft grübelnd und schlaflos in ihrem Bett und war froh, dass ihr neuer Job ihr kaum mehr Zeit zum Nachdenken ließ.

Brote backen, Kekse ausstechen und Kosten kalkulieren war jedenfalls besser, als sich in Erinnerungen zu verlieren.

Ihr einziger Mitarbeiter am frühen Morgen war Norman Bluehorse. Dieser schwieg allerdings so beharrlich, dass sie ebenso gut alleine im Laden hätte sein können. Er war einer jener Männer, die sich vom Aussehen her in einem zeitlosen Übergangsbereich befanden: Er hätte ebenso Mitte vierzig wie Mitte sechzig sein können. Er erledigte seine Aufgaben zuverlässig und verlor kein einziges überflüssiges Wort.

Mrs. Wittenberg dagegen war umso gesprächiger. Wie jeden Morgen zwitscherte sie fröhlich dahin, lobte Willas glänzendes rotbraunes Haar, erkundigte sich nach neuen Spezialitäten und bestellte am Ende doch wieder dasselbe wie immer.

„Eigentlich müsste ich heute etwas anderes nehmen“, überlegte die ältere Dame dann. „Heute ist nämlich ein ganz besonderer Tag.“

„So?“ Mehr konnte Willa nicht fragen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Beim Anblick ihres zweiten frühmorgendlichen Kunden geriet Willas Puls in Aufruhr. Das Gefühl machte sie schwindelig und sandte einen ersten Anflug von Panik in ihr Herz.

Mrs. Wittenbergs Aufmerksamkeit galt vollkommen der Auslage, sodass Willas Blick unbemerkt zum Sheriff von Thunder Ridge gleiten konnte.

Derek Neel hatte die beeindruckende Körpergröße von einem Meter neunzig und war schon allein aus diesem Grund kaum zu übersehen, wenn er durch das kleine Städtchen auf Streife ging.

In den vergangenen zehn Wochen hatte Willa kein nennenswertes Gespräch mit ihm geführt. In der Bäckerei hatte sie ihn behandelt wie jeden anderen Kunden, und auf der Straße hatte sie nur höflich gegrüßt, wenn er in seinem Dienstwagen vorbeigefahren war.

Doch jede Begegnung hatte ihre Atmung beschleunigt.

Es war so: Vor beinahe drei Monaten waren sie und der Sheriff sich sehr nahegekommen. Nahegekommen im körperlichen Sinn – an einem verrückten, unerwartet geselligen Abend, der plötzlich etwas außer Kontrolle geraten war.

Es war einer jener Abende gewesen, an denen sie sich auf keinen Fall ihren finsteren Gedanken überlassen wollte. Daher war sie freiwillig für eine erkrankte Kellnerin eingesprungen, die nebenan im Pickle Jar hätte bedienen sollen.

Das Team hatte beschlossen, nach der Arbeit zur White Lightning Tavern zu fahren und sich Burger und Bier zu gönnen, und Willa hatte sich spontan selbst eingeladen.

Dort hatte sie Derek entdeckt, der gemeinsam mit Izzy Lambert-Thayer zu Abend gegessen hatte. Izzy war sowohl die Besitzerin des Pickle-Jar-Feinkostladens als auch der Something-Sweet-Bäckerei. Als Willa nach Thunder Ridge gezogen war, hatte sie zunächst als Kellnerin im Pickle Jar gearbeitet und war später in die Bäckerei gewechselt. Bald war sie dort zur Managerin befördert worden, wofür sie Izzy sehr dankbar war. Ihre Chefin schätzte Willas Fähigkeiten und hatte großes Vertrauen in sie.

An jenem Abend hatte sich auch Izzys Ehemann Nate Thayer dazugesellt, und bald darauf waren er und Izzy zur Tanzfläche gegangen, als eine Liveband Countrymusik aufgespielt hatte.

Daraufhin hatte Derek sich erhoben und war an Willas Tisch gekommen. Er hatte sie gefragt, ob sie es wagen wolle, mit einem Mann zu tanzen, der ihr aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Zehen treten würde, und Willa hatte das Angebot angenommen.

Seine leuchtenden Augen, das gutmütige, selbstironische Lächeln auf seinen Lippen und die ausgestreckte Hand hatten es ihr einfach gemacht, Ja zu sagen – einfach, mit ihm zu lachen, mit ihm zu tanzen; er war ihr kein einziges Mal auf die Zehen getreten. Am Ende war es ihr sogar einfach gemacht worden, geradezu erschreckend einfach, ihm nach draußen zu folgen.

Es war ihr so leicht gefallen, alles zu vergessen bis hin zu seinen starken Armen um ihre Taille, als er sie geküsst hatte.

Und jetzt füllte er die kleine Bäckerei aus mit seiner überwältigenden Präsenz, die sich beinahe mit Händen greifen ließ. Er trug seine korrekte beigefarbene Uniform, makellos und glatt gebügelt, und sein schwarzes, feucht glänzendes Haar verriet, dass er gerade geduscht haben musste.

Seine dunklen Augen fingen ihren Blick auf.

Willa hätte gerne ihre kühle Fassade aufrechterhalten, doch sie wurde von ihrem eigenen Körper verraten, der eine rotglühende Hitze in ihre Wangen schießen ließ.

Sicher hatte sie inzwischen die Farbe eines Feuermelders angenommen.

„So, hm, was ist denn der besondere Anlass, Mrs. Wittenberg?“, wandte sie sich an ihre Kundin.

Die ältere Dame strahlte und entblößte dabei eine Schnur perlweißer Zähne. Ihre blassblauen Augen begannen zu leuchten. „Mr. Wittenberg und ich feiern heute unseren fünfzigsten Jahrestag.“

„Oh. Oh …“ Wow. Ein unerwarteter Anfall von Neid erfasste Willa mit voller Wucht. „Das ist …“

Wundervoll. Ein Geschenk. Der Beweis, dass das Leben nicht jeden Menschen gleich behandelt.

„… großartig. Das ist wirklich großartig! Geben Sie eine Party?“

„Nein, Liebes. Unsere Kinder wollten eine, aber wir haben uns dagegen entschieden. Wir möchten lieber Zeit für uns. Zuerst wollen wir zum Fluss spazieren, wo er mir damals einen Antrag gemacht hat. Es war wirklich romantisch!“

„Das hört sich schön an.“ Willa lächelte. Die Freude in Mrs. Wittenbergs Augen war ansteckend.

„Ja, und dann machen wir ein schönes zweites Frühstück.“ Mrs. Wittenberg kicherte wie ein junges Mädchen. „Und dann locke ich meinen Mann ins Schlafzimmer und werde ihn verführen.“

Willas Lächeln gefror auf ihren Lippen. Ihr Blick glitt unwillkürlich zu Sheriff Neel. Dieser hob die Braue und grinste ein teuflisches kleines Grinsen.

„Können Sie mir nicht irgendetwas Anregendes anbieten?“, wollte Mrs. Wittenberg jetzt wissen. „Ich habe gehört, dass das richtige Frühstück als ein wahres Aphrodisiakum wirken kann. Ein sexy Frühstück sozusagen.“

Das Grinsen in Sheriff Neels Gesicht zog nun auf wie die steigende Morgensonne.

Na schön. Willa musterte die Auslage und nahm die Herausforderung an. Auch wenn es eine sehr verwegene war – im Vergleich zu den anderen Kunden in Thunder Ridge, die höchstens wissen wollten, ob ein Brötchen glutenfrei war.

„Ein sexy Frühstück, hmm? Vielleicht gefällt Mr. Wittenberg unser Schokoladen-Babka. Das ist ein Hefekuchen, gefüllt mit flüssiger Schokolade und einem süßen Guss. Es ist auch viel Zimt darin.“

Mrs. Wittenberg begutachtete den Kuchen und wiegte den Kopf. „Ist das sexy genug?“ Dann drehte sie sich um und wandte sich an den Mann, der sie um mindestens dreißig Zentimeter überragte. „Sheriff Neel, finden Sie einen Schokoladen-Babka sexy?“

Er gab sich den Anschein, ernsthaft darüber nachzudenken, dann schenkte er der älteren Dame ein strahlendes Lächeln. „Ich habe zwar keine Ahnung vom Backen, Mrs. Wittenberg, und ich glaube auch nicht, dass Sie das nötig haben. Doch betrachten Sie den Kuchen doch als Appetitanreger, und das Hauptgericht sind Sie.“

Mrs. Wittenbergs Lächeln schien ihre Mundwinkel sprengen zu wollen. „Ich nehme den Babka!“

„Aber gerne.“ Sie war froh, sich für einen Augenblick Sheriff Neels brennendem Blick entziehen zu können. Sie packte den Kuchen in eine Box und setzte eine Schleife darauf.

Warum in aller Welt benahm sie sich wie ein Teenager? Das war überhaupt nicht ihre Art.

Davon abgesehen schien es dem Sheriff überhaupt nichts auszumachen, ihr immer wieder zu begegnen und dabei ganz natürlich und entspannt zu bleiben, obwohl sie ziemlich heftig miteinander herumgemacht hatten.

Immerhin befanden sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert. Und obendrein gab es eine ganze Reihe von Frauen, die kein Geheimnis daraus machten, den Sheriff mit nach Hause nehmen zu wollen – ob für eine Nacht oder für immer.

Was gegen Ende des Sommers zwischen ihm und Willa vorgefallen war, passierte ihm womöglich öfter.

Nun, bis auf den Augenblick, in dem Willa ihn von sich gestoßen, Ich kann das nicht! gerufen hatte und davongerannt war, als ob der Teufel ihr auf den Fersen gewesen wäre. Das war vermutlich eine ganz neue Erfahrung für ihn gewesen.

„Bitteschön.“ Sie überreichte Mrs. Wittenberg eine weiße Box mit einer pinkfarbenen Schleife darum. „Genießen Sie Ihren Hochzeitstag!“

„Danke, Liebes. Das werden wir.“ Und schon war sie zur Tür hinaus.

Somit war Willa mit Sheriff Neel allein.

Die Stille kam ihr mit einem Mal bedrückend vor.

Derek wirkte nicht im Mindesten bedrückt. Im Gegenteil, er wirkte selbstsicher und entspannt und sah sie aufmerksam an, als warte er auf eine Reaktion.

Nach jener Nacht hatte er Willa aufgesucht und sie gefragt, ob es ihr gut ginge. Anstatt verärgert oder beleidigt zu sein, hatte er vielmehr besorgt gewirkt, wie er dort auf der Veranda ihres gemieteten Ferienhäuschens gestanden hatte.

Und er hatte ihr die Ausrede nicht abgenommen – sie war mit der Behauptung gekommen, einen schlechten Tag gehabt zu haben und deswegen beschlossen zu haben, mit den anderen auszugehen. Es sei ihr nicht gut gegangen und sie hätte nicht vorgehabt, überhaupt so lange zu bleiben.

Das war vage und fadenscheinig, und sie wusste es.

Es tat ihr leid, dass sie ihn so behandelte, denn Derek schien ein guter Mensch zu sein. Sie war ihm öfter begegnet, als sie noch im Pickle Jar serviert hatte, denn dort war er beinahe täglich zu Gast gewesen.

Ihre Chefin Izzy Lambert-Thayer war seine beste Freundin. Er kam zum Reden, zum Essen und um die ein oder andere Reparatur für Izzy zu übernehmen. Außerdem hatte er ein sehr wachsames Auge auf Nate gehabt, bevor dieser Izzy einen Antrag gemacht hatte.

Derek wirkte wie der ultimative Beschützer. Und das war gut. Sehr gut. Doch Willa hatte schmerzlich erfahren müssen, dass es Dinge gab, angesichts derer auch der beste Beschützer machtlos war.

Daher hatte sie sich an ihre fadenscheinige Ausrede geklammert – und sich vollkommen lächerlich gemacht. „Das war ein Fehler. Ich hätte dich nicht … äh, ich habe mich ziemlich dumm verhalten.“

Was Dates anging, war sie wirklich eine Niete.

Zum Glück hatte Derek die Situation gerettet. „Nichts passiert.“ Er hatte die Schultern gehoben und gelächelt. „Ich wollte nur sichergehen, dass bei dir alles in Ordnung ist.“

„Bei mir? Aber sicher.“ Sie hatte so heftig genickt, dass ihr Nacken geschmerzt hatte – nicht dass sie dadurch überzeugender gewirkt hätte.

Seit zwei Jahren war bei ihr überhaupt nichts mehr in Ordnung, doch das hatte nichts mit ihm zu tun.

„Hast du etwas Anregendes für mich?“, fragte er jetzt. Sein Blick glitt unschuldig über die Auslage, doch sein Ton war alles andere als unschuldig.

„Die Käseplunder sind sehr beliebt.“ Willa wäre am liebsten im Erdboden versunken. Tapfer deutete sie auf die goldgelben Gebäckstücke.

Er kniff die Augen zusammen. „Wo soll denn da der Käse sein?“

„Innen. Es ist mit Ricotta, Frischkäse und Honig gefüllt. Und einem Hauch Zimt.“

„Ein Plunder mit verborgenem Charme.“ Er nickte. „Okay, ich probiere einen. Und einen großen schwarzen Kaffee.“ Nachdem er einige Dollarnoten aus dem Geldbeutel genommen hatte, fügte er hinzu: „Das Koffein werde ich brauchen – jetzt, da ich Mrs. Wittenbergs Pläne kenne.“

Seine Augen wurden eine Spur dunkler. „Mr. Wittenberg ist zehn Jahre älter als seine Frau. Wenn dieser Babka wirklich ein Aphrodisiakum ist, dann wird Mr. Wittenberg diesen Tag womöglich nicht überleben. Nicht dass ich dich am Ende wegen Beihilfe zu Mord festnehmen muss.“

Das brachte Willa zum Lächeln. Und sie erinnerte sich daran, dass Derek sie an jenem Abend sehr oft zum Lächeln gebracht hatte. „Das Rezept stammt nicht von mir“, gab sie zurück. „Mich kann man nicht dafür verantwortlich machen.“ Sie hob die Schultern. „Aber danke für die Vorwarnung. Ich werde schon mal die Koffer packen, falls ich vor dem Gesetz fliehen muss.“

Mit diesen Worten stellte sie den Kaffeebecher auf den Tresen und legte das Plunderstück in eine Papiertüte.

Derek musterte Willa mit der faszinierenden Mischung aus Humor und Ernst. „Ich hoffe, so weit wird es nicht kommen. Ich bin schließlich da, um zu helfen.“ Er nickte ihr zu. „Schönen Tag.“

Sie sah ihm nach. An der Tür wechselte er einige Worte mit einem älteren Mann, bevor dieser den Laden betrat.

„Guten Morgen, Mr. Stroud“, begrüßte Willa ihn und war bald darauf in die morgendlichen Abläufe verfallen. In der Bäckerei gab es sechs kleine runde Tische, und mindestens einer davon war vormittags immer besetzt.

Willa blieb kaum Zeit zum Nachdenken.

Nur ein Satz geisterte immer wieder durch ihre Gedanken.

Ich bin da, um zu helfen.

Etwas Ähnliches hatte sie in der Vergangenheit schon gehört.

Du kannst das nicht alleine bewältigen.

Du hast so viel durchgemacht. Lass uns helfen.

Wussten die Leute denn nicht, dass ihre Hilfsbereitschaft manchmal das Gegenteil bewirkte? Sie wollten, dass man losließ. Dass man nach vorne blickte.

Dass man vergaß.

Aber das durfte nicht passieren.

„Ich will keine Hilfe. Ich brauche keine Hilfe“, murmelte sie leise zu sich selbst, während sie ein frisches Blech mit Schokoladenhaferkeksen in den Ofen schob.

Inzwischen war Kim Appel eingetroffen und hatte Willa als Verkäuferin abgelöst, sodass diese sich in der Backstube nützlich machen konnte.

Das ließ ihr viel Zeit zum Grübeln – und Grübeln war nicht gut.

Willa wurde erneut von einem leichten Schwindel erfasst. Was war nur los mit ihr?

Sie war nur allzu bereit, es auf den Schlafmangel zu schieben. Das Vernünftigste wäre gewesen, Kim den Laden zu überlassen, sich für zwei Stunden hinzulegen und dann wiederzukommen.

Doch sie wusste genau, dass sie nicht schlafen können würde.

Ich bin hier, um zu helfen.

Seit beinahe einem Jahr hatte sie das sichere Gefühl, dass Derek ihr heimlich Blicke zuwarf. War er interessiert? Der Gedanke sandte einen prickelnden Schauer über ihren Rücken.

Er war immerzu höflich, umgänglich, nett – niemals aufdringlich –, gerade so, als ob er ahnte, dass er bei ihr mit Samthandschuhen vorgehen musste, wenn er etwas erreichen wollte.

Und manchmal überkam sie das Verlangen, wieder in seine Arme zu sinken. So wie an jenem Abend – das Verlangen, sich ihm ganz hinzugeben und … wirklich alles andere zu vergessen.

Wirklich nach vorne zu blicken.

Energisch schrubbte sie die Marmorplatte sauber. Sie war nicht nach Thunder Ridge gezogen – achthundert Meilen entfernt von Familie, Freunden und einer glanzvollen Karriere als Chefköchin –, um zu vergessen.

Nein. Sie war hierhergekommen, um sich ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollte: zurückgezogen und sich in aller Ruhe selbst bemitleidend. Auf diese Weise konnte sie sich an das Einzige klammern, das ihr zerbrochenes Herz noch zusammenhielt: ihre Erinnerung.

Und bisher sah sie überhaupt keinen Grund, daran etwas zu ändern.

2. KAPITEL

„Hey!“

Derek hielt schützend die Hand vors Gesicht, um dem Gummiband auszuweichen. Unglücklicherweise trug er in dieser Hand den Kaffeebecher. Das Minigeschoss traf den Becher, und heißer Kaffee ergoss sich über seine Finger.

„Oh. Entschuldige.“ Deputy Russel Annen sprang von seinem Stuhl auf, riss einige Papiertücher aus dem Spender an der Wand und eilte zu Derek, um den Kaffee vom Boden zu wischen. „Ich wollte eigentlich das Poster treffen.“

Neben der Tür, durch die Derek das Büro betreten hatte, hing ein altes Filmplakat, auf dem vierschrötige Wildwestsheriffs abgebildet waren.

„Ich hoffe, mit deiner Waffe kannst du besser umgehen.“ Derek ließ sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken.

So gut er sich auch mit seinem Deputy verstand, so sehr sehnte er sich danach, allein im Büro zu sein. Er brauchte nämlich etwas Zeit für sich. Jedes Mal wenn er Willa begegnete, brauchte er wieder einige Minuten, um sich zu sammeln.

Russels Nachtschicht war nun offiziell beendet, doch offensichtlich lag ihm etwas auf dem Herzen, denn er tigerte vor Dereks Schreibtisch auf und ab.

Dereks Blick fiel auf die leere Sechserpackung Schokoladendonuts im Abfalleimer. „Hast du einen Zuckerschock, oder warum bist du so ruhelos? Du solltest wirklich auf dein Cholesterin achten.“

Russel winkte ab. „Hör mal, ich brauche meine Zuckerdröhnung. Vor allem, nachdem LeeAnn diese Sendung über Ernährung gesehen hat und mir nur noch Gemüse auftischt.“

„Du hast eine kluge Frau.“

„Vor allem eine hartnäckige. Wenn es nach ihr ginge, würden wir beide Veganer. Außerdem liegt sie mir seit zwei Tagen damit in den Ohren, dass ihre Cousine Penelope zu Besuch kommt. LeeAnn hat schon vor Monaten einen Tisch für uns beide in diesem schicken Restaurant reserviert, aber jetzt will sie Penelope nicht allein lassen. Da hat sie mich gefragt, ob du uns nicht vielleicht begleiten willst. Sozusagen als Doppeldate.“

Derek lehnte sich zurück. „Auf gar keinen Fall.“

Sein großer, schwergewichtiger Deputy legte seinen gekonntesten Hundeblick auf. „Warum nicht? Laut LeeAnn ist Penelope wirklich witzig. Und sie ist keine Veganerin. Ich habe nachgefragt.“

„Nein.“

Russel drehte in einer beinahe hilflosen Geste die Handflächen nach oben. „Du gehst mit niemandem aus. Du siehst Frauen nicht einmal mehr an. Zumindest nicht seit diesem Abend in der White Lightning Tavern. Aber wie du da diese Bäckerin angesehen hast! LeeAnn hat mir eine Woche lang die Hölle heiß gemacht, weil sie behauptet, ich hätte sie noch nie so angesehen.“

Derek fühlte, wie ihm die Brust eng wurde. Er war sich selbst nicht einmal im Klaren über seine Gefühle – und er würde den Teufel tun, sie jemand anderem auf die Nase zu binden. „Worauf willst du hinaus?“

Russell wagte ein Lächeln. „Naja, an diesem Abend dachte ich, ihr zwei düst direkt nach Vegas und lasst euch von Elvis verheiraten. Aber seither benimmst du dich wie ein Mönch. Wenn es mit ihr nicht geklappt hat, kannst du doch ebenso gut einer anderen eine Chance geben und …“

Er verstummte mitten im Satz, als er Dereks Gesichtsausdruck bemerkte.

Zum Glück läutete in diesem Augenblick das Telefon. Derek nahm den Hörer ab. Er lauschte eine Minute, sagte „Ich bin in fünf Minuten bei euch“, und legte auf.

„Jerry Ellisons Hängebauchschwein hat schon wieder Ron Raybolds Zaun niedergetrampelt. Ich fahre hin und seh’ mir das Ganze mal an.“

Russel wiegte den Kopf. „Jerry ist Single, richtig? Frag ihn, ob er Lust auf ein Doppeldate hat.“

Derek verließ die Polizeistation und stieg in den Wagen.

Sheriff von Thunder Ridge zu sein, bedeutete hauptsächlich, bei kleineren Streitigkeiten zu schlichten. Für ihn war das in Ordnung.

Er war nicht in Thunder Ridge geboren, aber seit er hierher gezogen war, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, eine Heimat gefunden zu haben – eine Heimat, in der Menschen noch aufeinander achtgaben.

Seither gefiel ihm sein Leben – und er hatte nichts vermisst, bis Willa Holmes in die Stadt gezogen war.

Während der Fahrt zu Rons Grundstück dachte er darüber nach, was er sich einst geschworen hatte: Wenn sich eine Frau nicht einfangen lassen wollte, dann hatte es keinen Sinn, ihr nachzujagen.

Im Fall von Willa Holmes hatte er diese selbst auferlegte Regel bereits gebrochen.

Als ob er seine Lektion nicht bereits vor langer Zeit gelernt hätte!

Seit er neunzehn Jahre alt gewesen war, war er auf sich allein gestellt. Vielleicht war das der Grund, warum er oft Frauen nachgehangen hatte, die im Grunde unerreichbar waren – wie um zu beweisen, dass er jemanden dazu bringen konnte, bei ihm zu bleiben. Aber diesen Unsinn hatte er hinter sich gelassen.

Bis Willa auf der Bildfläche erschienen war.

Wenn er sie ansah, hämmerte sein Herz wie der Motor eines hochgepeitschten Rennwagens. Doch sie hatte sich von ihm abgewandt. Und das nach dem vermutlich schönsten Kuss seines gesamten Lebens.

Nach dem definitiv schönsten Kuss seines Lebens.

Und er wusste, dass es ihr genauso ergangen war. Denn wenn er sich nun daran zurückerinnerte, konnte er noch immer ihre Hände fühlen, die sich an seine Schultern geklammert hatten, ihre Finger, die schließlich in sein Haar gegriffen und ihn festgehalten hatten.

Und gerade als er geglaubt hatte, dies sei der beste Moment seines Lebens, hatte sie sich losgemacht und war davongelaufen. Ohne eine sinnvolle Erklärung.

Seither hatte er das Gefühl, sich auf einer Jagd zu befinden – eine Jagd ohne ein greifbares Ende in Sicht.

Autor

Wendy Warren
Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...
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