Du bist hinreißend, Jennifer

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Die süße Café-Besitzerin Jennifer Hart weiß, dass es abwegig klingt, aber sie hat nun mal diese Visionen, und neuerdings sogar von Raubüberfällen! Verzweifelt wendet sie sich an Polizei-Detective Sam Kelly. Er glaubt ihr zunächst kein Wort, aber das hält ihn nicht davon ab, sich in Jennifer zu verlieben …


  • Erscheinungstag 19.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757144
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ohne ein Wort der Begrüßung setzte sich die fremde Frau vor Sams Schreibtisch. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen wirkte sie überhaupt nicht nervös. Weder spielte sie mit ihren Haarsträhnen, noch machte sie mit irgendwelchen Gesten auf sich aufmerksam. Sie wartete einfach geduldig darauf, dass er von seiner Arbeit aufblickte.

Sam Kelly hätte sich davon eigentlich nicht ablenken lassen sollen. Er war immer konzentriert bei der Sache, selbst wenn in der gesamten Polizeizentrale das totale Chaos ausbrach. Aber er spürte, dass die Frau ihn aufmerksam beobachtete, und das gefiel ihm nicht.

Unwirsch lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und hob den Kopf. Die Besucherin war einige Jahre jünger als er, vielleicht Mitte zwanzig, und sehr hübsch, auch wenn sie im Moment etwas unglücklich aussah. Ihre ganze Erscheinung war feingliedrig und wirkte zerbrechlich, und mit den langen, blonden Locken, die wie eine Wolke um ihre Schultern lagen, hätten die meisten Männer sie sicher unwiderstehlich gefunden.

Aber nicht Sam Kelly. Mit jungen, hübschen Blondinen wollte er nun wirklich nichts zu tun haben. Er räusperte sich und blickte die Fremde ernst an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte ein Verbrechen melden“, antwortete sie. „Einen Raubüberfall mit Körperverletzung.“

Sofort griff Sam nach einem Stift und einem Zettel. „Ihr Name und Ihre Adresse?“

„Jennifer Hart. Ich wohne in 205 West Commerce, aber …“

„Sind Sie eine Zeugin oder das Opfer?“

„Ich bin Zeugin, aber …“

„Wo und wann hat das Verbrechen stattgefunden? War der Täter bewaffnet? Haben Sie sein Gesicht erkennen können?“

„Ja. Ich meine, nein! Ja, er ist bewaffnet – zumindest hatte ich das Gefühl, dass er bewaffnet ist. Und nein, ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.“ Sie war verunsichert durch die vielen Fragen, mit denen sie bombardiert wurde. Dabei tauchten immer wieder die Bilder in ihrem Kopf auf, die sie gesehen hatte. Aufgebracht sagte sie schließlich: „Bitte, Sie müssen dringend etwas unternehmen! Es geht um eine alte Dame, die ernsthaft verletzt werden könnte …“

„Haben Sie denn keinen Krankenwagen gerufen?“ Fluchend nahm Sam den Hörer ab und wählte den Notruf. „Wo ist die Frau? In welchem Zustand befand sie sich, als Sie sie verlassen haben?“

„Ich habe sie nicht verlassen!“, gab Jennifer prompt zurück. Wie kam er darauf? „Ihr ist ja noch gar nichts geschehen. Sie wird nur verletzt werden, wenn Sie nichts unternehmen!“

Seine Miene wurde finster. Misstrauisch musterte er sie und legte er den Hörer wieder auf die Gabel. „Was soll das heißen? Wann genau war dieser Überfall?“

Das war eine ganz logische Frage, aber Jennifer fürchtete sich vor ihr, seit sie die Polizeistation betreten hatte. Zögernd erklärte sie: „Der Überfall hat noch nicht stattgefunden. Ich hatte die Vision heute Morgen, das bedeutet normalerweise, dass es erst in ein paar Tagen passiert.“

„Die Vision“, wiederholte er tonlos. Dann warf er den Kugelschreiber auf seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück. „Sie haben also Visionen, in denen Sie die Zukunft voraussehen.“

Sein Tonfall war unglaublich herablassend. Ganz offensichtlich hielt er Jennifer für geistesgestört. Damit hatte sie gerechnet. Früher hätte seine Arroganz sie gekränkt, aber inzwischen hatte sie gelernt, sich von den Vorurteilen anderer nicht irritieren zu lassen.

Sie hob das Kinn und blickte Sam Kelly ernst in die Augen. „Ja, Detective, so ist es. Offensichtlich glauben Sie nicht an solche Dinge. Das ist Ihr gutes Recht, und ich möchte Sie auch nicht bekehren. Ich verlange lediglich, dass Sie ein Verbrechen verhindern.“

Ohne seine Ablehnung zu verbergen, antwortete er: „Falls dieses Verbrechen tatsächlich geplant ist, werde ich es sicher herausfinden. Wo wohnt die Dame, von der Sie sprachen?“

„Im Nordwesten der Stadt.“ Mehr wusste sie leider auch nicht.

„Im Nordwesten? Na großartig! Damit können wir die Suche auf etwa eine halbe Million Wohnungen eingrenzen! Haben Sie auch schon eine Idee, in welcher Straße wir beginnen sollen?“

Er war so höhnisch, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. Warum nur hatte sie sich von allen Beamten ausgerechnet dieses Ekel ausgewählt? Sie verzog den Mund zu einem nachsichtigen Lächeln, doch ihre Augen funkelten vor Wut. „Wenn ich wüsste, an welche Tür Sie zuerst klopfen müssten, würde ich selbst hingehen. Schon allein, um mir dieses Gespräch zu ersparen. Leider bin ich nicht allwissend. Ich habe nur Visionen, die mir ein paar Anhaltspunkte liefern.“

„Na, das ist ja praktisch!“, gab er schneidend zurück. „Sie wissen weder, wie die Dame heißt, noch, wo sie wohnt, oder wann dieses Verbrechen überhaupt stattfinden soll. Das soll ich jetzt alles herausfinden und die Tat verhindern. Und wie stellen Sie sich das vor? Soll ich dazu vielleicht meine Kristallkugel befragen?“

Schade, dass er keine Kristallkugel hatte. Zu gern hätte sie sie ihm ins Gesicht geschleudert! Doch trotz ihrer Wut war sich Jennifer bewusst, dass sie sich jetzt nicht aus der Fassung bringen lassen durfte. Wenn sie es zuließ, dass die Gefühle eines anderen Menschen sie beeinflussten, gelangte sie automatisch in seine Stimmung hinein und konnte Dinge aus seinem Leben wahrnehmen. Und der letzte Mensch, über dessen Leben sie etwas erfahren wollte, war Detective Kelly.

Leider war es schon zu spät. Die unterbewussten Informationen über ihn strömten auf sie ein, ob sie wollte oder nicht.

Es war eine negative Ausstrahlung, die sie da empfing. Kelly hatte einen schlechten Tag gehabt. Er war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und hatte dennoch in einer Sache versagt. Das ärgerte ihn über Gebühr, denn er gab sich selbst die Schuld daran. Und er hasste Fehler, weil er ein Held sein wollte, der die Straßen der Stadt sicherer machte.

„Miss Hart? Ich warte. Habe Sie gerade wieder eine Vision, oder denken Sie sich die nächste atemberaubende Geschichte aus?“

Jennifer versuchte, die Verbindung zu seinen Stimmungen zu unterbrechen. „Detective Kelly, ich erzähle Ihnen hier keine Geschichten. Ich sage Ihnen, was ich weiß: Die Dame ist wohlhabend und lebt in ihrem eigenen Haus in einer feinen Gegend. Es ist ein alter Backsteinbau, der an ein sehr großes Grundstück grenzt, auf dem viele hohe Bäume stehen. Alte Bäume. Sie lebt dort allein. Sie ist einsam. Und der Überfall ist kein Zufall. Der Täter hat sich die Frau gezielt ausgesucht. Er hat sie und viele andere Senioren in der Gegend schon eine Weile beobachtet. Und er plant bereits sein nächstes Verbrechen.“

Völlig unbeeindruckt hörte Sam ihren Ausführungen zu. Er machte sich nicht einmal Notizen. „Und das alles haben Sie gesehen“, sagte er, als sie geendet hatte. „Aber Sie können leider nicht erkennen, wer diese Dame so schwer verletzen wird. Was sind Sie doch für eine seltsame Hellseherin!“

„Ich bin in erster Linie eine ziemlich frustrierte Hellseherin, weil es mir nicht gelingt, ein Verbrechen zu verhindern“, gab sie böse zurück. „Aber Sie müssten das Gefühl eigentlich kennen, Detective. Zumindest nach der Nacht, die Sie hinter sich haben.“ Sie warf ihm ein triumphierendes Lächeln zu. Dann stand sie auf und griff in ihre Jackentasche. „Ich kann nur hoffen, dass Sie die Dame noch rechtzeitig finden, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Hier ist meine Visitenkarte. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich an.“

Damit wandte sie sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort seinen Arbeitsplatz. Sam sah ihr nach, wie sie sich mit energischen Schritten und sanftem Hüftschwung ihren Weg zwischen den vielen Schreibtischen hindurch bahnte. Sie ist schon eine imposante Erscheinung, dachte er, zumindest verdammt hübsch.

Aber leider auch ziemlich krank im Kopf. Nun ja, es war Vollmond, da kamen für gewöhnlich die ganzen Verrückten aus ihren Löchern. Wenn sie ihm beweisen wollte, dass sie die Zukunft voraussehen konnte, sollte sie ihm doch die Lottozahlen vom nächsten Samstag verraten!

Lächelnd wandte er sich wieder dem Bericht zu, den er noch fertigstellen musste, und verbannte die attraktive, ungewöhnliche Jennifer Hart aus seinen Gedanken. Eines jedoch ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: Wie hatte sie wissen können, dass er eine so elende Nacht hinter sich hatte?

Jennifer kochte noch immer vor Wut, als sie im Heavenly Scents ankam, der kleinen Bäckerei und dem angrenzenden Café, die sie besaß. Als sie eintrat, hob sich ihre Laune jedoch wieder. Sie war stolz auf das, was sie aus den heruntergekommenen Ladenräumen gemacht hatte. Das Café gehörte ihr allein, war schuldenfrei und lief erfolgreich. Sie hatte sich eine Existenz aufgebaut und führte nun ein ganz normales Leben wie jeder andere auch. Und das bedeutete für Jennifer viel mehr, als andere Menschen sich das vorstellen konnten. Nichts war für sie wichtiger, als normal zu sein.

Noch immer bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie an die plötzliche, heftige und brutale Vision zurückdachte, die sie unvermittelt überfallen hatte. Die alte Dame, hilflos, verängstigt, und die Finger, die sich plötzlich um ihre Kehle schlossen, um ihr die Luft abzudrücken. Dann die Ausstrahlung des Angreifers: Skrupellosigkeit und Aggressivität. Wie so oft hatte Jennifer nicht nur die Bilder gesehen, sondern auch die Gefühle der fremden Menschen am eigenen Leib gespürt. Und die Gefühle dieses Unbekannten hatten sie am meisten erschreckt. Sein grenzenloser Hass …

Sie versuchte sich zusammenzureißen. Jetzt musste sie für ihre Kunden da sein. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt und die Polizei verständigt. Schlaflose Nächte würde sie ohnehin haben, weil sie ständig daran denken musste, dass bald eine einsame alte Dame überfallen würde.

Also öffnete sie die Tür zum Café. Alle Tische waren bereits besetzt, und am Tresen standen die Kunden Schlange, um frische Brötchen zu kaufen. Vor dem großen Grill stand Molly, Jennifers Köchin, die Rühreier mit Speck für die Frühstücksgäste machte und über den Tresen hinweg Witze riss. Zum ersten Mal an diesem Morgen konnte Jennifer wieder lächeln.

Die gute Molly war bereits über sechzig, versprühte aber eine Energie und Lebensfreude, der sich niemand im Café entziehen konnte. Jennifer hatte noch keine Stresssituation erlebt, mit der Molly nicht zurechtkam.

Dank Molly war Heavenly Scents zu einem richtigen Renner geworden. Jennifer backte Brot, Brötchen und Kuchen und bediente an den Tischen, Molly kochte und hielt alle bei bester Laune. Sie waren ein unschlagbares Team.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt zurück bin“, rief Jennifer Molly zu und band sich eine frische Schürze um. „Sieht aus, als hättest du alle Hände voll zu tun. Wer bekommt die Pfannkuchen?“

„Tisch drei“, rief Molly zurück.

Etwa eine Stunde lang hatten die beiden Frauen kaum Zeit zum Luftholen, dann war der morgendliche Ansturm erst einmal vorüber. Als sie eine kurze Pause machten, fragte Molly: „Erzählst du mir nun von deinem Besuch bei der Polizei oder nicht? Ich platze fast vor Neugier.“

„Ich hatte wieder eine Vision. Aber diesmal habe ich gesehen, dass eine alte Dame überfallen und ausgeraubt werden soll. Und ich wollte, dass die Polizei das Verbrechen verhindert.“

„Das ist ja fantastisch!“, rief Molly aufgeregt aus. „Und was wird die Polizei jetzt machen?“

„Gar nichts“, gab Jennifer missmutig zurück. „Der Detective hält mich für eine durchgedrehte Spinnerin.“

„Hat er dir das gesagt?“

„Nicht wortwörtlich, aber es war ziemlich eindeutig. Er hat mich kein bisschen ernst genommen.“

„Dieser Idiot. Gib mir seinen Namen! Dem Kerl muss anscheinend mal der Kopf gewaschen werden.“

„Molly, das wirst du nicht tun!“, rief Jennifer entsetzt aus. „Glaub mir, das hat keinen Sinn. Ich habe Erfahrung mit solchen Leuten. Du kannst sie nicht überzeugen. Sie glauben nur das, was sie sehen.“

„Aber die alte Frau, von der du erzählt hast!“, protestierte Molly. „Willst du etwa sagen, dass wir nichts weiter für sie tun können?“

Tränen stiegen Jennifer in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. „Wir können nur abwarten.“

Als Detective Sam Kelly und sein Partner Tanner Bennigan am Tatort eintrafen, waren die Kollegen von der Spurensicherung schon am Werk, und der Krankenwagen fuhr soeben mit der verletzten Agatha Elliot ab, dem dreiundachtzigjährigen Opfer des Überfalls. Der Beamte, der den Notruf der alten Dame angenommen hatte, kam den beiden Detectives mit ernster Miene entgegen.

„Der Kerl ist durchs Küchenfenster eingebrochen, während die alte Dame oben im Schlafzimmer schlief“, berichtete er. „Anscheinend hat sie nichts gehört, bis er ins Schlafzimmer eindrang.“

„Hat sie sein Gesicht sehen können?“, fragte Sam.

Der junge Beamte schüttelte den Kopf. „Im Zimmer brannte nur ein schwaches Nachtlicht, und Mrs. Elliot trug ihre Brille nicht. Der Täter hatte sich etwas über den Kopf gezogen, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Als er sie würgte, ist sie ohnmächtig geworden. Sie weiß nur noch, dass er ziemlich groß war und wahrscheinlich einen Pferdeschwanz trug. Aber das ist sehr vage. Abgesehen davon ist Mrs. Elliot sehr klein. Jeder Mann über einssiebzig muss ihr groß vorkommen.“

„Mehr haben wir nicht?“, fragte Tanner stirnrunzelnd. „Hat denn keiner der Nachbarn etwas gesehen oder gehört? Es ist doch noch nicht einmal elf Uhr abends!“

Der junge Beamte schüttelte nur den Kopf.

Sam hörte dem Mann gar nicht mehr zu. Er blickte irritiert zu Mrs. Elliots Haus hinüber. Ein alter Backsteinbau, stellte er fest. Dann fiel sein Blick auf die Umgebung. Es war eine wohlhabende Gegend.

Schließlich spürte er, wie sich langsam ein unangenehmes Gefühl in seinem Magen ausbreitete. „Ein sehr großes Grundstück grenzt an das Haus, auf dem viele Bäume stehen. Alte Bäume“, das waren die Worte seiner rätselhaften Besucherin gewesen. Entsetzt hielt Sam die Luft an. Denn der Garten von Mrs. Elliot lag direkt neben dem Stadtpark.

Molly stand kerzengerade und mit finsterer Miene vor Jennifers Wohnungstür, an die sie bereits geklopft hatte. „Jennifer?“, rief sie. „Es tut mir sehr leid, dich zu stören, aber Detective Kelly und sein Partner möchten mit dir sprechen. Können wir reinkommen?“

Es dauerte über zwei Minuten, bis sie hörten, wie drinnen die Sicherheitskette gelöst wurde. Dann stand Jennifer Hart vor ihnen.

Sie hatte ihm vorausgesagt, dass er sie noch sprechen wollen würde. Sam hasste Besserwisser. Er war darauf gefasst, dass sie ihm als Erstes einen triumphierenden Blick zuwerfen würde.

Doch ihr Anblick war eher erschütternd. Tiefe Schatten lagen unter ihren schönen Augen. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand. Und ihre Miene drückte nichts anderes aus als Erschöpfung.

Gehetzt. Das war es. Sie wirkte gehetzt. Und elend.

„Es ist passiert“, flüsterte sie nur. „Ich habe es gespürt. Ich habe genau gefühlt, wie er ihr an die Kehle ging.“

Sam verzog keine Miene und nickte nur. „Es ist etwa anderthalb Stunden her.“

Plötzlich schien sie sich an ihre guten Manieren zu erinnern und hielt die Tür auf. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht draußen stehen lassen“, sagte sie mit schwacher Stimme. „Ich … es war nur so ein schrecklicher Abend. Bitte kommen Sie doch herein.“

Dann stellte sie sich Tanner vor und bot beiden Polizisten etwas zu trinken an. In dem Moment mischte sich Molly ein. „Jennifer! Das ist hier keine Party. Und du bist offensichtlich nicht in der Verfassung, die lustige Gastgeberin zu spielen. Setz dich hin! Du siehst aus wie ein Geist!“ Kopfschüttelnd nahm sie eine Decke vom Sofa und legte sie Jennifer um die Schultern. „Du gehörst ins Bett. Anscheinend wirst du krank.“

Jennifer zog die Decke um ihre weiße Schürze, die sie immer noch von der Arbeit trug. „Lass nur. Ich bin nicht krank. Schließlich bin ich nicht das Opfer.“ Ihr Blick war flehend, als sie sich an Sam und Tanner wandte. „Was ist mit ihr? Geht es ihr gut?“ Als beide mit der Antwort zögerten, wurde sie noch bleicher. „Oh nein! Er hat sie doch nicht umgebracht, oder?“

„Nein, nein“, erwiderte Tanner rasch.

„Aber er hat sie übel zugerichtet“, fügte Sam hinzu. „Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden. Bisher wissen wir noch nichts Genaues über ihren Zustand.“

„Oh Gott! Nein! Das ertrage ich nicht!“ Jennifer sprang auf und warf die Decke weg. „Ich muss sie sehen. Ich muss sofort zu ihr! Wo ist meine Tasche?“ Verwirrt sah sie sich um und kramte nach ihren Autoschlüsseln. Tränen schossen ihr in die Augen.

Während Sam sie beobachtete, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Sie war vollkommen durcheinander und aufgelöst. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und getröstet. Im selben Moment hätte er sich selbst ohrfeigen können. Was war bloß mit ihm los? Ließ er sich jetzt schon von ein paar Tränen erweichen?

Dann erinnerte er sich daran, warum er und Tanner hier waren. Er riss sich zusammen und stellte sich Jennifer in den Weg. „Damit müssen Sie leider noch warten, Miss Hart“, sagte er kühl. „Im Moment sollten Sie uns erst einmal ein paar Fragen beantworten.“

Verwirrt blickte sie zu ihm auf.

„Wo waren Sie heute Abend zwischen 19.30 Uhr und 23.00 Uhr?“

„Ich war hier“, gab sie überrascht zurück. „Warum?“

„Weil diese zwei Idi… Detectives hier glauben, dass du etwas mit dem Verbrechen zu tun hast!“, rief Molly aufgebracht aus und sah die beiden Männer verächtlich an. „Sie sollten sich schämen, meine Herren! Jennifer hat noch versucht, den Überfall zu verhindern! Es ist Ihre Schuld, dass dieses Verbrechen überhaupt begangen wurde! Und zu allem Überfluss wollen Sie jetzt noch ihr die Schuld in die Schuhe schieben. Wie können Sie es überhaupt wagen!“

Sie schoss Sam einen schneidenden Blick zu. „Ich hätte Sie beide sofort vor die Tür setzen sollen, als Sie vorhin hier im Café aufgekreuzt sind. Außerdem ist Jennifer noch nicht einmal verpflichtet, Sie überhaupt in ihre Wohnung zu lassen. Geschweige denn Ihre Fragen zu beantworten, ohne dass ihr Anwalt dabei ist!“

Tanner musste lächeln. Die resolute Frau hatte dennoch recht. „Das stimmt natürlich, Madam. Selbstverständlich kann Miss Hart einen Anwalt rufen, wenn ihr das lieber ist. Sie kann es auch ablehnen, überhaupt mit uns zu sprechen. Aber der einzige triftige Grund dafür wäre, dass sie etwas zu verbergen hat.“

„Wenn ich etwas zu verbergen hätte, dann wäre ich wohl gar nicht erst zur Polizei gegangen“, warf Jennifer aufgebracht ein. Dann wandte sie sich an Molly. „Warum kochst du uns nicht erst einmal einen Kaffee? Ich könnte mir vorstellen, dass wir hier noch eine Weile beschäftigt sein werden.“

Molly ging nur widerwillig in die Küche und fluchte vor sich hin.

„Nun, Mr. Bennigan, Mr. Kelly“, Jennifer nickte beiden förmlich zu. „Nehmen Sie bitte Platz.“

Die beiden Männer setzten sich, wirkten aber noch genauso angespannt wie zuvor. Sam beobachtete Jennifer argwöhnisch. „Sie sagten, dass Sie den Abend hier in Ihrem Apartment verbracht haben. War das Café denn geschlossen?“

„Nein. Wir schließen um 20.00 Uhr. Ich bin lediglich etwas früher gegangen, weil mir nicht gut war.“

„Aha. War Ihnen etwa deshalb nicht gut, weil Sie um die Zeit wieder eine Vision des Überfalls hatten?“

Jennifer spürte, wie sich ihr Magen erneut zusammenkrampfte, und nickte. „Auf einmal fühlte ich, dass es so weit war. Dass er sie angriff. Aber ich konnte nichts tun. Ich wusste ja nicht, wo sie ist, doch ich spürte ihre Angst. Ich versuchte mich hinzulegen und zu entspannen, aber ich konnte es einfach nicht.“

„Hat Sie in der fraglichen Zeit irgendjemand angerufen?“, fragte Tanner, der sich auf einem kleinen Block Notizen machte. „Oder hat Sie jemand gesehen, der bestätigen kann, dass Sie die Wohnung nicht verlassen haben?“

„Nein. Niemand ruft mich um diese Zeit an. Alle meine Freunde wissen, dass ich dann noch arbeite. Und Molly war unten und räumte auf.“

„Sie behaupten, dass Sie solche Visionen auch schon früher gehabt haben“, sagte Sam steif. „Geht es Ihnen dann üblicherweise schlecht?“

„Nicht immer. Es kommt darauf an. Wenn die Szene so brutal ist, ja.“

„Und wann war es das letzte Mal der Fall?“

„Ich weiß nicht. So etwa vor einem Jahr vielleicht.“

„Sie wollen also behaupten, dass Ihnen ausgerechnet heute Abend schlecht wurde, und dass Sie zur Tatzeit allein in der Wohnung waren, wofür es keine Zeugen gibt? Kommt Ihnen das nicht selbst merkwürdig vor?“

„Das ist keine Behauptung“, entgegnete sie hitzig. „Das ist die Wahrheit.“

„Aha. Der Treppenaufgang zu dieser Wohnung liegt auf der Rückseite des Gebäudes. Sie hätten völlig unbemerkt aus dem Haus gehen, Ihren Komplizen treffen, das Verbrechen verüben und dann genauso unbemerkt die Wohnung wieder betreten können, um uns hier zu öffnen.“

„Das ist ja wohl lächerlich!“

„Mich interessieren nur die Antworten auf folgende Fragen: Wer ist der Mann? Ist er Ihr Liebhaber? Haben Sie sich gestritten und sind deshalb zur Polizei gekommen, um es ihm heimzuzahlen? Dann aber haben Sie doch noch Ihre Meinung geändert, nicht wahr? Sie waren nämlich heute Nacht wieder mit ihm zusammen, haben ihm geholfen …“

„Was reden Sie denn da? Es gibt diesen Mann nicht! Ich war den ganzen Abend über hier …“

„Wenn die alte Dame stirbt, dann schwöre ich, dass ich Ihnen die Hölle heiß machen werde“, unterbrach Sam kalt und stand auf. „An Ihrer Stelle würde ich beten, Miss Hart. Komm schon, Tanner, wir gehen.“

Jennifer zitterte und sah zu, wie die beiden Männer ohne ein weiteres Wort ihre Wohnung verließen. Sie musste jetzt stark bleiben. Sie hatte das alles doch schon einmal erlebt. Es war ein Albtraum, aber sie würde ihn überstehen. Wenn Sam Kelly nicht in der Lage war, den wahren Täter zu finden und deshalb ihr die Schuld gab, war das sein Problem.

Jennifers Knie zitterten. Sam Kelly war der letzte Mensch, den sie erwartet hatte. Ausgerechnet er! Sie holte gerade eines der heißen Bleche aus dem Ofen, als er plötzlich in Jeans und einem verblichenen Sweatshirt in der Backstube stand und seine Polizeimarke hochhielt.

Wenn er nicht so gut ausgesehen hätte, dann hätte sie ihn sofort vor die Tür gesetzt. Er hatte mit Sicherheit keinen Durchsuchungsbefehl. Sie brauchte ihn also nicht einmal hereinzulassen. „Was machen Sie hier, Detective?“, fragte sie scharf.

Das war eine gute Frage. Sam wusste keine Antwort darauf. Heute war sein freier Tag, und er hatte sich geschworen, nicht einen einzigen Gedanken an Jennifer Hart zu verschwenden. „Es duftete so lecker nach Brötchen“, sagte er ausweichend.

Autor

Linda Turner
Linda Turner wurde in San Antonio, Texas geboren. Sie hatte eine Zwillingsschwester Brenda. Keiner außer ihren Eltern und ihr älterer Bruder konnten sie auseinanderhalten. Sie zogen sich gleich an, hatten die gleichen Frisuren und trugen sogar die gleichen Brillen. Und so war es nicht verwunderlich, dass sie überall, wo sie...
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