Du bist meine Rettung!

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Rotes Haar, volle Lippen und unglaublich hellblaue Augen: Die attraktive Cass betört Rettungssanitäter Jack auf den ersten Blick. Doch egal, wie sehr er sich insgeheim nach ihren Küssen verzehrt - auf Dauer ist neben seiner Tochter kein Platz in seinem Herzen! Was nun?


  • Erscheinungstag 06.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505550
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jack senkte den Kopf, um sein Gesicht vor dem peitschenden Regen zu schützen. Hinter ihm stand sein Krankenwagen auf der Straße, weil es unmöglich war, damit über die schmale Brücke zu fahren, die zu dem kleinen Dörfchen Holme führte. Dort wartete eine Hochschwangere, die zum Krankenhaus gebracht werden sollte, bevor die spätsommerlichen Überschwemmungen in diesem Teil von Somerset noch schlimmer wurden.

Mimi und Jack waren auch schon in schwierigeren Situationen gewesen. Seit sieben Jahren arbeiteten sie als Krankenwagen-Besatzung zusammen, Mimi als Fahrerin und Jack als Rettungssanitäter.

Doch obwohl sie ein gutes Team waren, konnten sie gegen den strömenden Regen nichts ausrichten. Die Hauptstraße zu dem Dorf auf dem Hügel stand einen Meter unter Wasser, und diese Nebenstraße führte eben über eine kleine, schlammbedeckte Brücke. Anstatt das Risiko einzugehen, dass der Wagen womöglich irgendwo in der Mitte steckenblieb, hatten sie beschlossen, den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Bei der Patientin hatten die Wehen noch nicht eingesetzt, und vielleicht konnte man sie mit einem starken Geländewagen den Hügel hinunter zu dem Krankenwagen bringen. Oder vielleicht würde ja sogar das Unwetter nachlassen, sodass sie mit einem Hubschrauber ausgeflogen werden könnte. Vielleicht würde auch bald der Arzt eintreffen, den Jack angefordert hatte. Aber selbst wenn nichts anderes funktionierte, wäre es nicht das erste Mal, dass Mimi und er zusammen ein Baby entbinden würden.

Als er an einer morastigen Stelle ausrutschte, packte er die schwere Notfalltasche, die er über die Schulter gehängt hatte, und ruderte heftig mit den Armen, bis er sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte.

„Vorsicht“, ermahnte er sich. Falls er jetzt stürzte und sich ein Bein brach, wäre das nicht sehr hilfreich.

Mit wenigen vorsichtigen Schritten überquerte Jack die Brücke, wobei er sich bemühte, das düstere Donnergrollen hinter den Hügeln zu ignorieren. Auf dem gegenüberliegenden Flussufer wollte er auf Mimi warten. Sie war die Straße wieder ein Stück zurückgelaufen, um einen besseren Handyempfang zu bekommen, damit sie in der Einsatzzentrale Bescheid sagen konnte. Trotzdem sollten sie sich gegenseitig möglichst nicht aus den Augen verlieren.

Plötzlich glaubte er, jemanden seinen Namen schreien zu hören. Wahrscheinlich war es nur der Wind. Doch als das Dröhnen sich verstärkte, wurde ihm klar, dass es sich um kein Donnergrollen handelte.

Jack drehte sich um. Eine Wasserwand stürzte aus den Hügeln durch das Flussbett herab direkt auf ihn zu.

Sein erster Impuls war, sich auf seine eigene Kraft und Schnelligkeit zu verlassen und wegzulaufen. Aber dann wurde ihm schlagartig klar, dass er es niemals rechtzeitig den steilen, schlammigen Pfad hinauf schaffen würde. Ein starker Baum war nur wenige Meter entfernt. Seine vier verzweigten Stämme boten zumindest die Hoffnung auf etwas Schutz. Jack ließ seine Tasche fallen und rannte darauf zu.

Ihm blieb kaum die Zeit, sich an einem der Stämme festzuhalten und einmal Luft zu holen, bevor die Welle seinen Rücken traf und den gesamten Sauerstoff aus seiner Lunge presste, indem sie ihn flach gegen den Baum quetschte. Das krachende Tosen war ohrenbetäubend, und Jack hielt die Augen fest zusammengekniffen, um sie vor dem Wasser und dem Schmutz abzuschirmen, die ihm ins Gesicht spritzten. Festhalten. Das war das Einzige, was er jetzt tun konnte.

Auf einmal hörte es auf. Ohne den Baumstamm loszulassen, öffnete er die Augen und versuchte, das Brennen des Schmutzwassers fortzublinzeln. Von stromaufwärts kam ein weiteres dröhnendes Grollen.

Die nächste Sturzflut war stärker und zerrte an seinem Körper. Obwohl Jack sich krampfhaft festhielt, glitten seine Finger auseinander, und er wurde gegen die drei anderen Stämme geschleudert. Gegen den einen prallte er so heftig mit dem Kopf, dass ihm schwindelig wurde. Es hatte keinen Zweck, den Atem anzuhalten. Er stieß einen lauten Schrei aus und suchte mit den Armen verzweifelt nach irgendeinem Halt, den er nicht wieder losließ.

Unvermittelt war es wieder vorbei. Wie benommen lag er verdreht zwischen den Ästen, zitternd vor Schock und Anstrengung. Ihm war entsetzlich kalt.

Mimi. Jack versuchte, nach ihr zu rufen. Hoffentlich war sie nicht auf der Brücke gewesen, als die Flut kam. Doch er konnte nur husten und würgen, weil ihm das schmutzige Wasser aus Mund und Nase lief.

Mühsam rang er nach Luft. „Mimi …“

„Bleiben Sie liegen. Nur für einen Moment.“ Die Stimme einer Frau, rau und freundlich. Jemand wischte sein Gesicht ab und säuberte ihm die Augen und den Mund.

„Mimi, meine Partnerin“, stieß er hervor.

„Es geht ihr gut. Ich kann sie auf der anderen Seite des Flusses sehen.“ Wieder diese angenehme Stimme.

Jack tastete danach und spürte, wie eine warme Hand seine Finger umschloss.

Als er gegen das Licht blinzelnd die Augen öffnete, erblickte er ihr Gesicht. Heller Teint, einige Strähnen von kurzem rotem Haar, die unter ihrer Kapuze hervorschauten. Ausgeprägte Wangenknochen, volle Lippen und unglaublich hellblaue Augen. Das Gesicht einer Kriegsgöttin.

Jack schüttelte den Kopf. Das musste der Schock sein. Schließlich wusste er besser als die meisten, welchen Unsinn man in einer solchen Situation manchmal von sich gab. Falls sie nicht irgendwo ein goldenes Schwert unter der dunkelblauen, wasserdichten Jacke versteckt hatte, war die Frau eine ganz normale Sterbliche.

„Sind Sie sicher? Mimi ist okay?“, fragte er.

Flüchtig blickte die Frau auf. „Sie trägt eine Sanitäteruniform. Blonde Haare, glaube ich.“

„Ja, das ist sie.“ Als Jack versuchte, sich zu bewegen, stellte er fest, dass er jetzt tatsächlich wieder etwas Kraft besaß.

„Sind Sie verletzt?“

„Nein.“ All seine Körperteile schmerzten gleich stark, was er als gutes Zeichen bewertete. „Danke, ähm …?“

„Ich bin Cass … Cassandra Clarke.“

„Jack Halliday.“

Sie nickte kurz. „Wir sollten uns hier besser nicht allzu lange aufhalten. Können Sie stehen?“

„Ja.“

„Gut, aber machen Sie langsam.“ Behutsam löste sie seinen Fuß von einem Ast, bevor sie sich zwischen Jack und einen der Baumstämme drückte. Durch ihre fachmännische Unterstützung konnte er sich fast mühelos aufsetzen. Danach half sie ihm vorsichtig, auf die Beine zu kommen.

Er schaute zur Brücke hinüber, um Mimi zu finden. Nur dass die Brücke nicht mehr existierte. Ein paar Mauerbruchstücke, mehr war nicht davon übriggeblieben. Diese Reste trieben in dem aufgewühlten Wasser flussabwärts. Am gegenüberliegenden Ufer stand Mimi, die unverwandt zu ihm herüberstarrte. Neben ihr ein Mann, der Jack bekannt vorkam. Hinter ihnen, mit hellen Scheinwerfern und offener Fahrertür, sah er einen schwarzen Geländewagen.

„Alles in Ordnung?“

Jetzt, da er stand, bemerkte er, dass Cass nur wenige Zentimeter kleiner war als er. „Ja, danke.“ Jack tastete nach seinem Handy. Doch in seinen Taschen fand er nichts außer ein paar Steinen und einer Handvoll Matsch. „Ich brauche ein Telefon.“

„Okay. Das Dorf ist bloß zehn Minuten entfernt. Wir bringen Sie erst mal dorthin“, erklärte sie ruhig, aber bestimmt.

Jack winkte Mimi zu, wobei ein stechender Schmerz seine Schulter durchzuckte, als er den Arm hob. Mit beiden Armen winkte sie zurück. Er machte das Zeichen für Telefon, um ihr zu signalisieren, dass er sie anrufen würde. Da sah er, dass der Mann neben Mimi etwas vom Boden aufhob. Hastig griff sie danach und warf einen schnellen Blick darauf, ehe sie Jack das Daumen-hoch-Zeichen gab.

„War das Absicht, den Krankenwagen so zu parken?“, meinte Cass mit trockenem Humor.

Als Jack über die Wasserfläche blickte, sah er, dass der Krankenwagen von der Straße geschwemmt worden war und nun in einem seltsamen Winkel an einem Baum verkeilt war. Er stieß einen gedämpften Fluch aus.

„Das nehme ich mal als ein Nein.“

Trotz seiner geprellten Rippen musste er lachen. „Was sind Sie?“

Cass wurde rot, als wüsste sie nicht, wie sie auf diese Frage antworten sollte. Das zarte Rot auf den Wangen einer so patenten Frau löste bei ihm ein unerwartetes Gefühl von Wärme aus.

„Was meinen Sie damit?“

„All das hier scheint Ihnen nicht allzu viel auszumachen. Und Sie wissen, wie man Personen hebt.“ Jack kannte die Technik, die seiner eigenen sehr ähnlich war. Und auch wenn Cass keine Befehle gab, schienen die Männer um sie herum sie als Chefin zu betrachten.

„Ich bin Feuerwehrfrau. Normalerweise arbeite ich auf der Feuerwache in der Stadt, habe aber momentan keinen Dienst. Das heißt, nur als besorgtes Familienmitglied. Meine Schwester Lynette ist die Patientin, zu der Sie gerufen wurden.“

„Dann sollten wir lieber gehen.“ Suchend schaute er sich nach seiner medizinischen Notfalltasche um. Einer der Männer hielt sie in der Hand, doch es tropfte Wasser heraus. Jetzt war Jack wirklich auf sich allein gestellt. Ohne Mimi und ohne Ausrüstung.

Er wandte sich ab, ließ sich von einem der Männer stützen und begann, mit der Gruppe langsam den steilen Weg hinaufzusteigen.

So hatte Cass das eigentlich nicht geplant. Sie hatte gehofft, Lynette mittlerweile längst in Sicherheit zu wissen. Aber stur wie immer, hatte ihre Schwester darauf beharrt, dass es ja noch zwei Wochen bis zum Geburtstermin seien, und sich standhaft geweigert, ins Krankenhaus zu fahren.

Diese Möglichkeit stand jetzt nicht mehr zur Verfügung, aber ein Sanitäter war die zweitbeste Alternative. Durch die Flut war Jack ihr sozusagen vor die Füße geschwemmt worden.

Trotz der dicken wetterfesten Kleidung hatte sie seinen kraftvollen Körper gespürt, als sie ihm aufgeholfen hatte. Harte Muskeln, noch immer angespannt von der Anstrengung, sich unter allen Umständen festzuhalten. Jack war hochgewachsen und überragte sie mit ihrer Größe von eins dreiundachtzig um mehrere Zentimeter. Doch trotz oder vielleicht gerade wegen seines muskulösen Körperbaus besaß er unglaublich sanfte, tiefbraune Augen, in die sich eine Frau einfach hineinfallen lassen könnte.

Schluss damit. Das alles hatte nichts mit Cass’ wichtigstem Anliegen zu tun. Da Jack vor ihr ging, beschleunigte sie ihre Schritte.

„Lynette hat bereits leichte Wehen“, berichtete sie. „Zwar ist ihr Termin erst in zwei Wochen, aber anscheinend wird das Baby doch früher kommen.“

„Ist es ihr erstes Kind?“

„Ja.“ Und das wollte Cass um jeden Preis beschützen.

„Hoffen wir mal, dass es sich nicht gleich die Füße nass machen will“, meinte er. „Für den Rettungshubschrauber ist das Wetter heute Abend zu schlecht, aber vielleicht kann sie morgen früh ausgeflogen werden.“

„Das wäre schön, danke. Werden Sie dort Bescheid geben?“

„Ja. Kann ich Ihr Telefon borgen? Ich muss auch mit Mimi telefonieren“, sagte Jack.

„Natürlich, aber erst wollen wir Sie mal ins Trockene bringen“, erwiderte Cass. „Wer ist der Typ bei ihr?“

„Wenn ich es richtig gesehen habe, ist es ihr Ex.“ Ein flüchtiges Grinsen erhellte seine Miene. „Das wird ihr gar nicht gefallen.“

„Kompliziert?“

„Das ist es doch immer, oder?“

Er hatte recht. Meistens gab es mehr Komplikationen als Dinge, die gut liefen. Und das bedeutete sicher auch, dass ein so toller Mann wie Jack vermutlich sehr kompliziert war. „Aber Ihre Partnerin kommt klar?“

„Absolut. Mit Rafe gibt es keine Probleme. Er wird sie garantiert nicht hier sitzen lassen. Es könnte sein, dass er sie an einen Baum binden muss, damit sie ihn nicht umbringt, aber er kümmert sich um sie.“ Obwohl Jack sichtlich fröstelte, lag ein warmherziger Ausdruck in seinen Augen.

Vielleicht hätte Cass es mit ihrem Ex genauso machen sollen. Ihn an einen Baum binden und umbringen, solange sie noch die Chance dazu gehabt hatte. Aber Paul war jetzt Vater, wahrscheinlich sogar ein halbwegs guter. Er hatte eine neue Frau und ein Kind, für die er sorgen musste.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit, medizinische Ausrüstung hier rüberzuholen?“, unterbrach Jack ihre Gedankengänge. „Rafe ist Arzt, und so wie ich ihn kenne, ist er auf alles vorbereitet. Ich könnte einige Dinge gebrauchen, für alle Fälle.“

Cass nickte. „Überlassen Sie das mir, ich überlege mir was. Sie müssen erst sauber und trocken sein, bevor Sie irgendwas anderes tun.“

„Eine heiße Dusche könnte ich jetzt schon gut vertragen.“ Das Frösteln war sogar in seiner Stimme zu hören.

„Genau da geht es jetzt hin. Ins Gemeindehaus der Kirche.“

„Dort übernachten wir heute?“ Er blickte zu dem Kirchturm, der oben auf dem Hügel in den Himmel ragte.

„Ich fürchte ja. Das Wasser steht schon überall ziemlich tief ums Dorf herum“, bestätigte Cass. „Bei diesem Sturm und den Sturzfluten gibt es keinen sicheren Weg über den Fluss.“

Sie konnte sich darauf verlassen, dass die Überschwemmungen Jack mindestens für die nächsten vierundzwanzig Stunden hier festhalten würden. Mit Glück auch noch länger. Auch wenn es ihm vielleicht nicht recht war, ihm blieb keine andere Wahl.

„Ich will gar nicht über den Fluss. Jedenfalls nicht, solange ich eine Patientin versorgen muss“, erklärte er.

„Das weiß ich wirklich sehr zu schätzen.“

Ein solches Engagement für seinen Job war nicht selbstverständlich. Doch Cass musste sich erneut ermahnen, dass jedes Interesse an ihm als Mann sie nur in Schwierigkeiten bringen würde. Paul hatte sie verlassen, weil sie nicht schwanger werden konnte. Und dann hatte er behauptet, es wäre allein ihr Problem. Was er dadurch bewiesen hatte, dass er sieben Monate später bereits Vater geworden war. Angesichts ihrer Verzweiflung, dass sie vielleicht niemals ein eigenes Kind bekommen würde, war diese Demütigung fast nebensächlich gewesen.

Doch das alles hatte sie hinter sich gelassen. Die abgrundtiefe Enttäuschung jeden Monat. Die Hochzeit, die Paul immer wieder verschoben und schließlich ganz abgesagt hatte. Jetzt musste Cass sich auf Lynettes Baby konzentrieren, und sie würde mit aller Kraft dafür kämpfen, dass ihre Schwester alles bekam, was sie brauchte.

Jack ging eins nach dem anderen an. Seinen Blick auf den Kirchturm geheftet, sagte er sich, dass dies vorerst sein nächstes Ziel war. Er musste bloß seinen schmerzenden Körper dazu bringen, dieses Ziel zu erreichen.

Langsam schien der Turm zu wachsen, je näher sie ihm kamen. Die Kirche war offensichtlich schon Jahrhunderte alt. Aber als Jack von Cass um die grauen, verwitterten Mauern herumgeführt wurde, erblickte er dahinter ein relativ neues Gebäude. Durch eine Schwingtür ging sie in ein großes Foyer voran, wo die Garderobenhaken voller Mäntel hingen. Auf der gegenüberliegenden Seite sah man schattenhaft Menschen hinter einer Milchglastür, die offenbar zu einem großen Gemeindesaal führte.

„Die Duschen sind da hinten.“ Cass zeigte auf eine Tür an der Seitenwand des Foyers.

„Moment.“ Zuerst musste Jack etwas erledigen. Danach würde er den Rest Cass überlassen und sich auf eine heiße Dusche freuen. „Geben Sie mir Ihr Telefon.“

Sie zögerte. „Die medizinische Ausrüstung hat Zeit. Sie müssen sich jetzt unbedingt aufwärmen.“

„Es dauert nur eine Minute.“ Als er die Hand ausstreckte, schoss ihm ein scharfer Schmerz durch die Schulter, den er sich jedoch nicht anmerken ließ.

Cass nickte und zog ihr Handy aus der Tasche. „Okay. Sagen Sie ihr, dass wir wieder runterkommen, um die Ausrüstung zu holen. Ich glaube, ich weiß, wie wir sie zu uns rüberkriegen.“

Es überraschte ihn nicht, dass sie einen Plan hatte. Vermutlich war sie der Typ, der immer einen Plan parat hatte. Hochgewachsen und athletisch, bewegte sie sich mit der kontrollierten Eleganz von jemandem, der sich jederzeit auf seine Aufgaben konzentrierte. Jetzt, da sie ihre Kapuze heruntergezogen hatte, wirkte sie durch den stufig geschnittenen roten Haarschopf, der sowohl praktisch als auch feminin war, noch eindrucksvoller.

Auf Jacks SMS an Mimi kam sofort eine Antwort, in der sie bestätigte, dass er tatsächlich Rafe gesehen hatte. Mit der nächsten Nachricht bat Jack sie darum, so viel an medizinischer Ausrüstung in eine große Tasche zu packen, wie es nur ging.

„Hier.“ Er gab Cass das Handy zurück. „Sie wartet auf Ihren Anruf.“

„Gut.“ Sie steckte es ein. „Und jetzt wärmen Sie sich auf.“

Sie ging voran in eine geräumige Küche, in der große Geschäftigkeit herrschte. Doch als Jack und Cass mit ihren schmutzigen Stiefeln und nassen Sachen hindurchgingen, wurde plötzlich alles still. Hinter der Küche führte ein Flur zu einem Bad, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Nur für Damen“ hing. Cass steckte kurz den Kopf durch die Tür. Dann drehte sie das Schild auf die andere Seite mit der Aufschrift „Nur für Herren“.

Es sah aus, als hätte Jack das Bad für sich allein. Es gab eine lange Reihe von glänzend sauberen Waschbecken und Toilettenkabinen sowie Duschkabinen am anderen Ende des Raumes. Der ganze Raum roch nach Desinfektionsmitteln und Duftspray.

„Legen Sie Ihre Kleidung hierhin.“ Cass deutete auf einen abgeschrubbten Plastikhocker neben den Waschbecken. „Ich schicke jemanden rein, der sie abholt und frische Handtücher bringt. Und dann suchen wir Ihnen ein paar trockene Sachen heraus. Welche Größe haben Sie?“

Die Frage wurde von einer schnellen Musterung begleitet, bei der Jack unwillkürlich ein Prickeln überlief, und Cass errötete leicht. „Ich denke, L müsste passen.“

„Danke, das wäre super.“

„Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“ Ruhig sah sie ihn an. „Ich verlasse mich darauf, dass Sie mich als medizinischer Fachmann informieren, falls Sie irgendwelche Probleme haben.“

„Nein, alles in Ordnung.“

„Schön.“ Sie wandte sich ab.

Jack wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er mit schmerzverzerrtem Gesicht Jacke und Pullover auszog. Dann knöpfte er sein Hemd auf und betrachtete prüfend seinen Oberkörper im Spiegel. Allerdings war da nicht allzu viel zu erkennen. Einige Blutspuren, vermischt mit jeder Menge Schlamm aus dem schmutzigen Wasser. Zuerst musste er duschen. Danach konnte er seine Kratzer und Prellungen versorgen.

Sobald er unter der Dusche stand, klopfte es an der Tür, und eine Frau fragte, ob sie hereinkommen dürfte. Dann hörte er schnelle Schritte vor der Kabine. Gleich darauf war er wieder allein und genoss ausgiebig den heißen Wasserstrahl.

Nachdem Jack sich zweimal abgeseift hatte, fühlte er sich wieder einigermaßen sauber. Als er kurz aus der Duschkabine spähte, stellte er fest, dass der Raum leer war. Über einem der Waschbecken lagen zwei flauschige Handtücher. Eins davon groß genug, um es sich um die Hüften zu wickeln. Mit dem anderen rieb er sich die Haare trocken.

Er sah übel zugerichtet aus. An einer Schläfe bildete sich gerade eine dicke Beule, und obwohl die Jacke ein guter Schutz gewesen war, hatte er Abschürfungen an den Armen, die höllisch brannten. Außerdem noch eine Wunde an der Brust, wo der Reißverschluss der Jacke in seine Haut gepresst worden war.

„Ich komme rein.“ Ein Klopfen an der Tür und eine Männerstimme. Ein schlanker, rotblonder Mann um die vierzig trat mit einem Stapel Kleidung und einem Paar Turnschuhe ein. „Hi, Jack. Ich bin Martin.“

Er trug eine leichte Windjacke mit weißer Aufschrift auf dunkelblauem Hintergrund. Und als er sich umdrehte, stand dasselbe Wort in noch größerer Schrift auf seinem Rücken.

„Dann sind Sie also der Pastor.“ Jack lachte.

„Ja. Meine Frau hält das offenbar für eine gute Idee.“

„Ich würde mich immer freuen, Sie zu sehen.“ Trost und Hoffnung waren oft genauso wichtig wie medizinische Versorgung.

„Gleichfalls. Wir sind sehr dankbar für all die Mühen, die Sie auf sich genommen haben, um zu uns zu kommen.“ Martin legte die Kleidungsstücke auf die Ablage hinter den Waschbecken. „Die sehen übel aus.“ Er ließ den Blick über Jacks Schürfwunden gleiten.

„Das ist bloß oberflächlich, nichts Schlimmes.“ Jack durchsuchte den Kleiderstapel. Ein T-Shirt, Ein Kapuzen-Sweatshirt und ein Paar Jeans schienen seine Größe zu haben. Rasch streifte er sich das T-Shirt über. „Wie geht es meiner Patientin?“

„Lynette geht es gut. Sie ist im Pfarrhaus, trinkt Tee mit meiner Frau und beschwert sich über den Wirbel, der um sie gemacht wird“, antwortete Martin. „Sie glaubt anscheinend, dass sie bestimmen kann, wann das Baby kommt.“

„Es war gut, dass Sie uns gerufen haben. Sie muss auf jeden Fall untersucht werden.“

Martin nickte. „Ja, vielen Dank. Cass ist schon unterwegs, um Ihre medizinische Ausrüstung zu holen. Keine Ahnung, wie sie das schaffen will, aber wie ich sie kenne …“

Allein ihr Name ließ Jacks Herz schon höher schlagen. „Sie scheint sehr tatkräftig zu sein.“

„Manchmal sogar etwas zu sehr“, meinte Martin. „Jetzt eine wichtige Frage: Tee oder Kaffee? Ich fürchte, ich kann den Montagsclub nicht mehr lange unter Kontrolle halten.“

Jack musste lachen. „Tee mit Milch und ohne Zucker.“

„Sehr gut. Und ich hoffe, Sie mögen Flapjacks, diese leckeren Haferkekse. Sonst gibt es hier demnächst einen Aufstand.“

„Es scheint alles hervorragend durchorganisiert zu sein.“

Der Pastor nickte. „In den letzten achthundert Jahren wurden in dieser Kirche immer wieder Menschen aufgenommen. Kriege, Hungersnöte, Feuer und inzwischen auch die Überschwemmungen. Aber so was wie jetzt habe ich noch nie gesehen, und ich bin schon seit fünfzehn Jahren da. Das halbe Dorf ist überflutet.“

„Wie viele Leute haben Sie hier?“

„Nur zwei Familien zum Übernachten. Für die übrigen haben wir Unterkünfte in anderen Häusern gefunden. Aber alle kommen zum Essen her, und wir haben ein Aktionskomitee.“ Er lachte. „Das ist das Projekt von Cass. Ich beschränke mich auf Tee und Mitgefühl.“

„Und Gastfreundschaft“, ergänzte Jack.

„Wir haben noch nie jemanden abgewiesen und werden auch jetzt nicht damit anfangen.“ Ein entschlossener Ausdruck trat in Martins Gesicht, doch schnell lächelte er wieder. „Brauchen Sie sonst noch irgendwas?“

„Ein Telefon. Ich würde gerne zu Hause anrufen.“

„Selbstverständlich. Das Festnetz im Pfarrhaus funktioniert noch, dort können Sie das Telefon gerne benutzen.“ Martin ging zur Tür. „Kommen Sie in die Küche, sobald Sie fertig sind. Ich begleite Sie.“

2. KAPITEL

Martin öffnete eine Seitentür, die aus der Küche nach draußen führte. Dann gingen Jack und er über einen gepflasterten Weg, der provisorisch geschützt war durch Segelplanen, an denen noch einige durchweichte Farbgirlanden hingen. Weiter durch ein Gartentor und in die warme Küche des Pfarrhauses, wo ein Tisch stand, an dem Platz genug war für mindestens zwölf Personen.

Lynette hatte ebenfalls rotes Haar, so wie ihre Schwester. Ihre Züge wirkten weicher, aber dennoch viel weniger attraktiv. Sie war hochschwanger und schien sich bester Gesundheit zu erfreuen. Trotz der ersten leichten Wehen war sie offenbar davon überzeugt, dass das Baby jetzt noch nicht kommen würde. Jack sah die Sache zwar anders, behielt es jedoch lieber für sich.

Er ließ Lynette auf dem Küchensofa sitzen, während er am Tisch den Tee trank, der für ihn dort bereitstand. „Sobald Ihre Schwester mit der medizinischen Ausrüstung zurückkommt, werde ich Sie noch genauer untersuchen.“

„Danke, aber es gibt keinen Grund zur Sorge. Die ersten Kinder kommen doch immer zu spät, oder?“

Sue, die Frau des Pastors, zog die Brauen zusammen. „Nicht unbedingt. Mein Josh kam sogar zu früh.“ Sie schob Jack einen großen Teller voller Flapjacks, leckeren englischen Haferkeksen, über den Tisch zu. „Wenn ich noch einen davon esse, wird es mir leidtun, sobald ich auf die Waage steige. Ich wünschte, der Montagsclub würde mit dem Kochen und Backen aufhören.“

Lynette lachte. „Keine Chance. Mrs. Hawes möchte nicht, dass irgendjemand hungrig bleibt.“

Sue seufzte und blickte dann auf, als jemand an das Fenster der Hintertür klopfte. „Es ist offen!“, rief sie.

Die Tür ging auf, und zwei schwere Taschen wurden auf den Boden gestellt. Danach erschien Cass, das nasse Haar nach hinten gestrichen. In der einen Hand hielt sie ihre schlammigen Stiefel und die tropfende Jacke, in der anderen die wetterfeste Überhose. Rasch nahm Sue ihr alles ab und verschwand, um die Sachen auf die Vorderveranda zu bringen.

„Sie haben gleich zwei rübergekriegt?“ Erfreut inspizierte Jack den Inhalt der Taschen.

„Ja. Etwa vierhundert Meter flussabwärts hinter der Brücke konnten wir ein Seil ans andere Ufer werfen. Mimi geht es gut, sie fährt mit diesem Typen zum Krankenhaus zurück.“ Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Sie lässt herzliche Grüße ausrichten.“

Mit einem Nicken nahm Jack ein Stethoskop und ein Blutdruckmessgerät aus einer der Taschen. „So, meine Damen. Wenn es Ihnen hier bequem ist, Lynette, dann werde ich Sie jetzt gründlich untersuchen.“

Nach einigen Minuten lächelte er seiner Patientin freundlich zu und erklärte, dass alles in Ordnung war.

Danach führte Cass ihn zu einem kleinen Raum hinter dem Gemeindesaal, der Jack zum Schlafen zugewiesen worden war. Auf dem Feldbett in einer Ecke lagen säuberlich gefaltete Bettwäsche und Bettzeug bereit.

„Lynette ist schon in der ersten Geburtsphase, habe ich recht?“, meinte Cass.

„Ja, trotzdem könnte es falscher Alarm sein.“

„Oder auch nicht.“

„Stimmt.“ Er fuhr sich mit den Fingern durch das kurze Haar. „Aber es ist alles da, was ich brauche, und ich habe schon zahlreiche Babys zur Welt gebracht.“

„Wirklich?“

„Die Situation ist nicht ideal, aber wir werden Lynette ins Krankenhaus bringen, sobald das Wetter es zulässt. Sie haben Ihren Job gemacht, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich meinen mache“, erklärte Jack.

Seine warmherzige Art schien ihre Ängste etwas zu beschwichtigen. „Vielen Dank. Dieses Baby ist …“ Cass brach ab.

„Ich weiß, und es wird alles gut gehen.“ Sein Blick flößte ihr Vertrauen ein. „Ist der Vater interessiert?“

„Oh ja, absolut. Aber er kann leider nicht hier sein. Lynettes Ehemann ist bei der Royal Navy und momentan unterwegs“, antwortete sie. „Mein Vater arbeitet auch im Ausland. Mum wollte nächste Woche kommen, um zu helfen.“

„Dann sind also wir beide dran.“ Jacks Stimme klang sehr zuversichtlich. „Sie werden bei der Geburt dabei sein?“

„Jep.“ Cass presste die Lippen zusammen. Den Geburtsvorbereitungskurs mit Lynette zu besuchen, war für sie die natürlichste Sache der Welt gewesen. Jetzt jedoch kam ihr das alles erschreckend vor.

„Schön.“

Durch seine Ausstrahlung löste sich ein Teil der Angst, die seit Tagen schwer auf Cass lastete. Und auf einmal hatte sie das Gefühl, dass sie es vielleicht doch schaffen würde. „Es wäre mir lieber, wenn ich etwas Praktisches tun könnte.“

Jack lachte. „Etwas Praktischeres als eine Geburt gibt es gar nicht, Cass. Es ist das Einzige, was sich niemals ändert und hoffentlich auch nie ändern wird. Sie beide werden das wunderbar hinkriegen.“

Autor

Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
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