Du bringst das Eis zum schmelzen

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"""Helfen Sie meinem Kind. Bitte!"" Nur zögernd gibt die Sprachtherapeutin Mary Jane dem Drängen des reichen Geschäftsmannes Gavin Spencer nach: Seit dem tragischen Unfalltod ihres Sohnes arbeitet sie nicht mehr mit kleinen Kindern. Aber schon am ersten Tag in Gavins Haus ahnt sie, dass sie richtig entscheiden hat. Der kleine Sean berührt ihr Herz - und sein Vater weckt Träume von Liebe in ihr. Doch obwohl Gavin ihre Besuche offenbar von Mal zu Mal sehnlicher erwartet, weist er sie zurück! Wie kann sie den Eispanzer durchdringen, den er um sein Herz gelegt hat?"


  • Erscheinungstag 26.02.2008
  • Bandnummer 1617
  • ISBN / Artikelnummer 9783863493738
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Gavin Spencer wäre bereit, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, wenn er damit seinem Sohn helfen könnte.

Vielleicht ist das hier ja schon die Hölle, dachte er und starrte auf den Schüler mit den roten Stachelhaaren. Im Gesicht trug der Junge so viele Piercings, dass er aussah, als wäre er kopfüber in einen Kasten mit Angelhaken gefallen.

„Im Schulbüro hat man mir erklärt, dass ich hier M. J. Taylor finde“, sagte Gavin zu dem Jugendlichen, der vom Stuhl zu rutschen schien.

„Wen?“

„Deine Lehrerin.“

„Die Vertretung, meinen Sie?“

„Falls M. J. Taylor die Vertretung ist, ja.“

„Ja was?“

„Ja, die meine ich“, antwortete Gavin, kurz davor, die Geduld zu verlieren. Jede Minute, die er verschwendete, war eine Minute weniger, in der sein Sohn Sean ein normales Leben führen konnte.

„Warum?“

„Warum was?“, fragte Gavin.

„Warum suchen Sie sie?“

„Warum ich sie suche, geht dich nichts an. Wo ist sie?“

Der Irokese zuckte mit den Schultern. „Sie bringt Evil E. ins Büro.“

Den bösen E.? Kein Zweifel, dies war die Hölle, und von Sekunde zu Sekunde fiel es ihm schwerer, zu glauben, dass M. J. Taylor wirklich der Engel war, den der Arzt seines Sohnes ihm versprochen hatte.

In diesem Moment ging die Tür auf, und eine Frau kam mit einem weiteren Schüler herein. Zu Gavins großer Erleichterung sah ihr blondes schulterlanges Haar vollkommen normal aus. Statt Piercings im Gesicht trug sie silberne Kreolen an den Ohrläppchen. Sie wirkte sehr jung, aber die marineblaue Hose, die langärmelige weiße Baumwollbluse und die bequemen Schuhe mit den flachen Absätzen verrieten, dass sie kein Teenager mehr war. Was man von dem weißgesichtigen Gespenst neben ihr nicht behaupten konnte.

Gavin musterte die unheimliche Gestalt. „Das muss der berüchtigte böse E. sein“, meinte er leicht amüsiert.

Der blasse Junge runzelte die Stirn. „Berüchtigt? Ist das was Gutes?“

Betrübt schüttelte die Frau den Kopf. „Nein“, erklärte sie. „Und deine Hausaufgabe besteht darin, das Wort im Wörterbuch nachzuschlagen.“

„Aber ich bin vom Unterricht ausgeschlossen“, entgegnete er trotzig.

„Das heißt nicht, dass du keine Hausaufgaben machen musst. Es bedeutet nur, dass du mehrere Tage Zeit hast, um in Ruhe über dein Verhalten nachzudenken und es zu ändern, bevor du wieder in die Schule kommst.“

„Ich habe nicht angefangen. Das war er.“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte er auf den Irokesen.

„Du solltest doch längst weg sein, Sullivan“, sagte sie zu dem Punk.

„Ich habe auf Evil E. gewartet.“ Damit sprang der Teenager auf, schob die Lehrerin aus dem Weg und stürzte sich auf das Gespenst.

Sie erholte sich schnell von dem Schreck und drängte sich zwischen die Streithähne. „Hört sofort auf, ihr zwei“, befahl sie und stieß mit beiden Händen gegen die Brust des Gespensts.

Doch die entschlossenen Mienen der Jungen verrieten, dass sie nicht so schnell aufgeben würden. Bevor die Lehrerin ausweichen konnte, traf sie eine verirrte Faust.

Gavin packte das Bleichgesicht am Kragen seines schwarzen T-Shirts, zerrte es mühelos zurück, schob sich zwischen die Teenager und brachte die Frau mit seinem freien Arm in Sicherheit.

„Bleiben Sie zurück“, forderte er sie auf.

„Ich bin für sie verantwortlich.“

„Dann nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und rufen Sie Hilfe, während ich die beiden davon abhalte, sich gegenseitig umzubringen.“

Sie nickte, eilte zum Telefon an der Wand und führte ein kurzes Gespräch. Zwei Minuten später ging die Tür auf, und ein stämmiger Wachmann stürmte herein. Die Jungen erstarrten. Der Mann musterte sie kurz und schüttelte verärgert den Kopf.

„Ab ins Büro“, bellte er. „Sofort.“

Nach einem vernichtenden Blick zu Gavin schlenderte der Irokese betont lässig zur Tür. Jeder Schritt verkündete: Ich hasse dich und alle anderen Erwachsenen auf diesem Planeten. Das Gespenst folgte ihm ebenso langsam.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, fragte der Wachmann die Lehrerin.

„Ja“, erwiderte sie aufatmend.

Dann schloss sich die Tür hinter den dreien, und sie waren allein.

Die Frau sah Gavin an, und ihre Hand zitterte, als sie das seidige blonde Haar hinters Ohr schob. „Danke für Ihre Hilfe.“

„Ich bin froh, dass ich hier war.“

Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Sie war schlank und wirkte fast zerbrechlich. Erst jetzt bemerkte er die rote Stelle unterhalb ihres Auges.

Sanft legte er eine Hand an ihre Wange und tastete behutsam über die beginnende Schwellung. „Das muss gekühlt werden. Geht es Ihnen wirklich gut?“

Ihre wunderschönen blauen Augen weiteten sich. Hastig wich sie zurück. „Ja. Danke, dass Sie hier waren“, sagte sie und starrte ihn an. „Warum sind Sie eigentlich hier?“

„Ich suche M. J. Taylor.“

„Sie haben sie gefunden. Und Sie sind?“

„Gavin Spencer.“

Sie sah verwirrt aus. „Der Name sagt mir nichts. Haben Sie ein Kind in einer meiner Klassen?“

Gavins Blick glitt durch den Raum, über die Wasserflecken an der Decke und die zahllosen Schnitzereien in den etwa dreißig Tischplatten. Dieses Klassenzimmer sah nicht sonderlich einladend aus.

„Die wesentlich interessantere Frage ist, was Sie hier machen“, entgegnete er. „Nach dem, was ich gerade miterlebt habe, sollte das Geld der Steuerzahler besser für Pfeffersprays und Kurse in Selbstverteidigung ausgegeben werden als für Schulbücher und Computer.“

Sie lachte, und es klang herrlich und vertrieb die Schatten aus den Tiefen ihrer blauen Augen.

„So schlimm ist es gar nicht. Ich arbeite gern mit Teenagern. Sie sind lustig und spontan. So etwas wie heute passiert selten. Ein Streit um ein Mädchen – in der Mittagspause.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Teenagerleidenschaft, kombiniert mit einem Überschuss an Hormonen, das ergibt einen explosiven Cocktail. Meistens sind die beiden umgänglich und intelligent.“

„Geben Sie oft bei ihnen Vertretungsunterricht?“

„Sozusagen ständig. Ich habe die Klasse von einer Lehrerin übernommen, die gerade ein Baby bekommen hat.“

Plötzlich erlosch das Funkeln wieder, und die Schatten kehrten in ihre Augen zurück. Gavin fragte sich, warum.

„Am meisten Angst macht mir, dass die beiden über unser Wohlergehen entscheiden werden, wenn wir alt sind“, sagte er.

„Man kann nur hoffen, dass es nicht gerade die beiden sein werden“, erwiderte sie lächelnd.

„Das sollten Sie häufiger tun.“

„Was?“

„Lachen. Lächeln.“

Sofort wurde ihr Gesicht wieder ernst. Und traurig. „Jugendliche zu erziehen ist nicht lustig.“

„Warum tun Sie es dann?“

„Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen.“

„Aber doch nicht auf diese Weise“, sagte er und schaute sich dabei demonstrativ um.

„Das können Sie wohl kaum beurteilen.“ Ihre Augen verengten sich. „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Sind Sie wegen eines Schülers hier?“

„Nein, sondern weil Sie Sprachtherapeutin sind.“

„Woher wissen Sie das?“, entgegnete sie scharf.

„Dr. McKnight hat mir Ihren Namen genannt.“

„Ich war Sprachtherapeutin. Jetzt bin ich Lehrerin.“

„Vertretungslehrerin“, verbesserte er. „Warum?“

„Das geht Sie nichts an. Also, Mr. Spencer, wenn Sie nicht mit mir über einen Schüler reden wollen, sind wir wohl fertig.“

„Ich möchte über einen Schüler reden, aber er geht nicht in Ihre Klasse. Er ist mein Sohn und bei Kristin Hunters in der Grundschulklasse.“

„Ich kenne sie. Bei Kristin ist er in guten Händen und könnte keine bessere Schule besuchen.“

Das wusste Gavin. Er wollte nicht, dass sein Sohn in eine Privatschule ging wie er selbst früher. Und die Northbridge Elementary galt als die beste Grundschule in der Gegend. Natürlich gab es Dinge, die er seinem Sohn nicht bieten konnte. Eine Mutter zum Beispiel.

Auch Gavin war ohne mütterlichen Einfluss aufgewachsen und trotzdem ein anständiger Mensch geworden. Genau wie Sean, daran zweifelte er nicht im Geringsten. Denn sein Junge hatte sich großartig entwickelt, bis zu jenem schrecklichen Tag …

„Es ist eine gute Schule“, stimmte er ihr zu und verdrängte die schmerzhafte Erinnerung.

„Er hat großes Glück gehabt.“

Leider nicht, dachte Gavin. Hätte Sean Glück gehabt, hätte er den Unfall gesund überstanden. Jetzt brauchte sein Sohn dringend eine Therapie, und er war dafür verantwortlich, dass er sie bekam.

„Mein Sohn hat bei einem Sturz ein Gehirntrauma erlitten. Die Verletzung hat ihn verändert. Er braucht eine Therapie, Ms. Taylor, und Sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Soweit ich weiß, sind Sie die Beste.“

„Es tut mir leid, Mr. Spencer, ich …“

„Gavin.“

„Ich arbeite nicht mehr als Sprachtherapeutin und kann Ihrem Sohn nicht helfen.“ Sie wandte sich ab und ging zum Schreibtisch. Dort zog sie die unterste Schublade auf, nahm ihre Tasche heraus und hängte sie sich über die Schulter.

Doch bevor sie hinausgehen konnte, hielt er sie am Arm fest. „Warten Sie. Sie haben sich entschieden? Einfach so?“

Überrascht sah sie ihm erst ins Gesicht, dann auf seine Hand. Er ließ sie los.

„Nein, nicht einfach so“, widersprach sie. „Ich muss mich nicht entscheiden, denn ich übe den Beruf nicht mehr aus. Auf Wiedersehen.“

Doch dann wurde ihre Stimme mitfühlend. „Das mit Ihrem Sohn tut mir leid. Ich hoffe wirklich, dass Sie jemanden finden, der ihm helfen kann, seine Behinderung zu überwinden.“

„Ich habe bereits jemanden gefunden.“

„Aber nicht die Richtige. Ich kann nichts für ihn tun.“

„Da habe ich etwas anderes gehört.“

„Dann haben Sie etwas Falsches gehört.“

M. J. hatte geglaubt, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Bis Gavin Spencer aufgetaucht war. Vor zwei Tagen hatte sie die Wut und Trauer in seinen Augen gesehen, als er von seinem Sohn erzählte. Beides kannte sie nur zu gut. Aber wenigstens lebte sein Sohn noch. Der Schmerz raubte ihr fast den Atem, wenn sie an ihren eigenen Sohn dachte. An Brian. Ihren süßen Jungen. Sie vermisste ihn schrecklich.

Auch heute.

Immer.

Und deshalb konnte sie sich keinem anderen Kind mit ganzem Herzen widmen. Sie ertrug es einfach nicht.

Tränen traten ihr in die Augen, und sie blinzelte sie fort.

An den quälenden Erinnerungen war allein Gavin Spencer schuld. Er hatte sie vorgestern zurück an die Oberfläche geholt.

Müde lenkte M. J. den Kleinwagen in die lange Einfahrt zum Haus. Erst nachdem sie die hohen Zypressen, die den Weg säumten, hinter sich gelassen hatte, kam ihre geliebte alte viktorianische Villa in Sicht. Hier war sie aufgewachsen, das Haus gehörte seit drei Generationen ihrer Familie, und M. J. lebte mit ihrer Mutter und ihrer Tante auf dem Anwesen.

Sie wollte auf keinen Fall die Generation sein, die es verlor, und würde alles tun, um den Familiensitz zu erhalten.

Mit gerunzelter Stirn hielt sie hinter der schwarzen Limousine, die in der Einfahrt parkte. Als sie den Motor abstellte, schüttelte sich ihr Kleinwagen einmal kurz, bevor er endlich zur Ruhe kam. Soweit sie wusste, kannten ihre Mutter und ihre Tante niemanden, der ein so teures Auto fuhr.

M. J. betrat die breite Veranda, die rund um das Haus verlief, warf noch einen Blick auf den fremden Wagen und fragte sich, ob innen bereits der hagere Bankangestellte mit dem öligen dunklen Schnurrbart wartete, um ihnen das Zuhause wegzunehmen. Unsinn! Schließlich litt sie nicht unter Verfolgungswahn. Außerdem zahlte sie pünktlich die Raten für die Hypothek, von der ihre Mutter nichts wusste.

Sie ging zur Küche, von wo sie Stimmen hörte. Eine gehörte einem Mann und kam ihr beunruhigend bekannt vor. M. J. blieb im Durchgang stehen und sah ihre Mutter mit Gavin Spencer am Eichentisch sitzen. Offenbar ließ er sich nicht so schnell abweisen.

Na ja, es gibt immer ein erstes Mal, dachte sie und betrat die Küche. Zwei Augenpaare – eins blau, eins dunkelbraun – schauten ihr entgegen.

„M. Da bist du ja. Endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“ Nervös drehte Evelyn Taylor die zarte Porzellantasse mit Blütenmuster in den Händen. „Ich muss zugeben, manchmal habe ich Angst, dass du eines Tages überhaupt nicht mehr nach Hause kommst.“

„Es geht mir gut, Mom.“

Evelyn sah zu dem Mann ihr gegenüber. „M. J., du erinnerst dich sicher an Gavin Spencer. Er hat mir erzählt, dass er dir geholfen hat, einen Streit in deinem Klassenzimmer zu schlichten.“

„Wie geht es Ihrer Wange?“, fragte er.

Sie widerstand dem Bedürfnis, die Schwellung zu berühren. Der Bluterguss schillerte in verschiedenen Farben, von denen keine ihrem Teint schmeichelte. „Der geht es auch gut. Und ja, ich erinnere mich an ihn.“

Um Gavin Spencer zu vergessen, musste man schon unter Gedächtnisverlust leiden. Der Mann war groß, gebräunt und sündhaft attraktiv. Die fast schwarzen Augen sprühten vor Dynamik, und der athletische Körper strahlte Anspannung und gebändigte Kraft aus. Sein ritterliches Eingreifen hatte M. J. ebenso aus der Fassung gebracht wie seine sanfte Berührung. Noch immer meinte sie, die Hitze seiner Finger auf ihrer Haut zu fühlen.

„Diese Schule …“ Ihre Mutter schauderte sichtlich. „Sie hat den übelsten Ruf im ganzen Bezirk. Ich mache mir ständig Sorgen um meine Tochter.“

„Mom …“

„Ich verstehe wirklich nicht, warum du die Stelle angenommen hast.“

„Mom, bitte, fang nicht wieder davon an.“

„Es ist wirklich kein Wunder, dass sie dort kaum Lehrer finden.“

„So schlimm ist es nicht“, protestierte M. J.

„Nicht so schlimm?“ Evelyn seufzte dramatisch. „Du gerätst also gern zwischen prügelnde Teenager mit mehr Testosteron als Verstand?“

Wütend funkelte M. J. Gavin an. Da sie den Bluterguss nicht vor ihrer Mutter hatte verbergen können, hatte sie ihr eine harmlose Erklärung dafür geliefert. Aber offenbar wusste sie nun, was tatsächlich passiert war. „Die Kinder in der Schule würden Sie einen Spitzel nennen.“

„Nett.“

„Ganz und gar nicht. Sie haben mich bei meiner Mutter verpfiffen.“

„Sei ihm nicht böse“, sagte Evelyn. „Wir haben nur geplaudert, und er ist davon ausgegangen, dass ich die Einzelheiten kenne.“

Sehr viel mehr als die Tatsache, dass er ihrer Mutter die hässlichen Details verraten hatte, beunruhigte M. J. allerdings, dass er hier war. Woher wusste er, wo sie wohnte? Warum glaubte er, dass sie dieses Mal anders auf sein Angebot reagieren würde? Denn aus einem anderen Grund konnte er nicht hier sein.

Insgeheim dankte sie ihrer Mutter für ihre Anwesenheit. Wenn er sie erneut fragte und sie wieder Nein sagte, müsste er darauf Rücksicht nehmen.

Als hätte sie die Gedanken ihrer Tochter gelesen, sah Evelyn Taylor auf die Uhr und sprang auf. „Du meine Güte, ist es schon spät! Ich werde zu spät ins Kino kommen.“

„Warte, Mom …“

„Das kann ich nicht. Deine Tante Lil und ich wollten gerade aufbrechen, als Mr. Spencer kam. Ich habe sie vorgeschickt, um die Karten zu kaufen. Du weißt ja, wie sehr sie es hasst, im Dunkeln ihren Platz zu suchen.“

„Mom, ich …“

Evelyn küsste sie auf die Wange. „Bis später, Schatz. Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr. Spencer.“

Bevor M. J. protestieren konnte, war sie mit ihm allein, und das beunruhigte sie. Er war zu groß, zu attraktiv, zu überzeugend, zu … alles. Und das machte sie entschieden zu nervös.

„Was wollen Sie hier?“, fragte sie unverblümt.

„Unser Gespräch von neulich zu Ende führen.“

„Für mich war es beendet.“

„Geben Sie mir die Chance, Sie umzustimmen“, bat er.

„Sie verschwenden Ihre Zeit.“

„Es ist meine Zeit.“

„Sie werden mich nicht umstimmen“, beharrte sie.

„Das glaube ich nicht, Ms. Taylor.“

M. J. beschlich das ungute Gefühl, dass er allein mit seiner Persönlichkeit Menschen dazu bewegen konnte, etwas gegen ihren Willen zu tun. Aber bei ihr hätte er keinen Erfolg. Nach Brians Tod hatte sie versucht, auch weiterhin als Sprachtherapeutin zu arbeiten. Aber es tat ihr einfach zu weh, mit kleinen Kindern umzugehen. Deshalb hielt sie sich zurück und ließ sich nicht richtig auf ihre jungen Klienten ein. Nur konnte sie so den Kindern nicht mehr helfen.

M. J. beschloss, das Thema zu wechseln. „Woher wussten Sie, wo ich wohne?“

„Ich bin Ihnen nicht gefolgt.“

„Das habe ich nicht gefragt.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir leben im Zeitalter der Elektronik. Im Internet finden Sie jeden.“

„Ich empfinde das als deutliche Verletzung meiner Privatsphäre. Aber Sie sind wahrscheinlich kein Mensch, der sich darüber Gedanken macht.“

„Ein Vater muss tun, was ein Vater tun muss“, entgegnete er knapp.

Gegen ihren Willen verspürte sie einen Anflug von Respekt für seine elterliche Entschlossenheit. Hastig unterdrückte sie ihn wieder. „Und was tun Sie?“

„Was immer nötig ist, um meinem Sohn zu helfen. Er ist sechs Jahre alt.“

In ihr zog sich etwas zusammen, als umklammerte eine eiserne Hand ihr Herz. Der Schmerz raubte ihr fast den Atem. Brian wäre jetzt auch sechs gewesen.

„Ich habe es Ihnen bereits erklärt – ich arbeite nicht mehr mit Kindern.“

„Und wie passt das zu Ihrer Stelle als Lehrerin?“

„Die Highschool zählt nicht.“ Sie sah, wie er die Augenbrauen hochzog. „Na gut, juristisch gesehen sind sie noch Kinder. Aber auf meiner Schule kommen sie mir eher vor wie Erwachsene, die allzu impulsiv handeln.“

„Lassen Sie uns mit dieser Haarspalterei aufhören, ja? Sie brauchen die Arbeit.“

„Braucht die nicht jeder?“

Er stand auf und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Ich sage Ihnen jetzt, was ich über Sie weiß. Sie stehen in dem Ruf, eine begnadete Sprachtherapeutin für Kinder zu sein. Seans Lehrerin und sein Arzt haben mir erzählt, dass Sie wahre Wunder vollbringen können.“

„Sie wissen nicht, was …“

„Das muss ich auch nicht. Ich würde Drachen erschlagen und Festungen stürmen, wenn ich damit ungeschehen machen könnte, was meinem Sohn zugestoßen ist. Ich kann ihm nicht helfen, aber Sie können es.“

„Nicht mehr.“

„Das nehme ich Ihnen nicht ab.“

„Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig.“

„Nein. Das ist wahr. Aber ich werde nicht aufgeben.“

M. J. sah ihm an, dass er nicht bluffte. Wie konnte er es wagen, sie so unter Druck zu setzen? Warum fand er sich nicht einfach mit ihrer Antwort ab? Sie wollte das hier nicht. Sie wollte, dass er ihr Haus verließ. Aber sie wusste, dass er wiederkommen würde. Vermutlich ließ er sie erst in Ruhe, wenn er wusste, warum sie ihren Beruf aufgegeben hatte.

„Sie wollen eine Erklärung?“ Sie atmete tief durch. „Man nennt es Überlebenstrieb, Mr. Spencer. Ich bringe es einfach nicht mehr fertig, mich in ein Kind hineinzuversetzen. Und genau das muss man, wenn man sie erreichen will. Es geht um Hingabe und Konzentration, und beides kann ich nicht mehr leisten.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht mehr das Herz dafür habe. Mein Sohn hat es mitgenommen, als er starb.“

2. KAPITEL

Gavin wusste nicht, was er sagen sollte. Stünde der antike Eichentisch nicht zwischen ihnen, hätte er M. J. Taylor wahrscheinlich in die Arme genommen. „Hören Sie. Ich weiß, was Sie fühlen …“

„Nein, Gavin.“ Ihre Stimme klang so brüchig, als würde sie jeden Moment versagen. Sie umklammerte die Lehne des alten Stuhls vor ihr so fest, dass sich die Fingerknöchel weiß abzeichneten. „Sie können unmöglich verstehen, was ich fühle, denn Ihr Sohn lebt noch.“

Was stimmte. Mochte der Trost, den er M. J. bieten konnte, noch so ernst gemeint sein, helfen würde er ihr kaum. Also versuchte er es erst gar nicht. „Was ist ihm passiert?“, fragte er stattdessen.

„Brian“, sagte sie leise. „Er hieß Brian.“

„Brian.“ Gavin nickte. „Erzählen Sie mir von ihm.“

Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen. „Er war ein süßer Junge. Still. Sensibel. Klug.“

„War er krank?“

Etwas in ihrer Miene verriet ihm, dass sie das fast leichter ertragen hätte. „Nein, er wurde von einem Auto angefahren. Er rannte seinem Ball nach – auf die Straße. Der Fahrer konnte nicht rechtzeitig bremsen.“

Eine Frage schoss ihm durch den Kopf. Wer hatte auf ihn aufgepasst? Aber er sprach sie nicht aus. Es war ein Unfall. Und bestimmt hatte sie sich seitdem genügend quälende Fragen gestellt.

Das kannte er. Wenn Sean nun nicht auf die Felsen gefallen wäre? Wenn er sich nicht den Kopf gestoßen hätte? Wäre er dann der lebhafte Junge von früher geblieben?

Aber das war Sean eben nicht. Deshalb stand Gavin hier. „Es muss ein Trost sein, dass Sie Ihre Mutter haben. Und Brians Vater …“

Eine Sekunde lang verzog sich ihr Mund zu einer schmalen Linie, und in den Augen blitzte etwas auf. „Mein Mann ist knapp sechs Monate später gestorben“, sagte sie. „Auch ein Verkehrsunfall.“

„Das tut mir leid“, erwiderte er, bevor er es verhindern konnte.

Ihr Blick verriet, dass sie auf sein Mitgefühl verzichten konnte. Gavin ahnte, dass sie ihm eine Menge verschwieg, und es ging ihn auch nichts an. Aber er war nicht hier, um sie an ihren Schmerz zu erinnern, sondern um seinem Sohn in ein normales Leben zurückzuhelfen.

„Sie haben recht. Ich habe keine Ahnung, was Sie fühlen. Und um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen. Ich war kurz davor, meinen Sohn zu verlieren, und das reicht mir.“

„Es war sicher schwer für Sie.“ Ihr Griff um die Stuhllehne lockerte sich ein wenig.

„Die Zeit, in der er im Koma lag, war die Hölle. Nicht zu wissen, ob er überleben würde …“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Sean braucht Ihre Hilfe“, sagte er schlicht.

„Meine Antwort kennen Sie. Es tut mir leid.“

Die Verzweiflung drohte Gavin zu überwältigen. Fast hätte er die Beherrschung verloren. Was musste er tun, um zu ihr durchzudringen?

Er sah sich in der Küche um, als fände er in ihr eine Antwort. Die weißen Geräte und Armaturen waren makellos sauber, aber nicht sehr neu. Alt, um genau zu sein. Die Schränke aus Eichenholz mussten dringend aufgearbeitet werden. Der gelbe Anstrich an den Wänden war verblasst, und in der Nische, in der ein Tisch stand, blätterte die Farbe bereits ab.

Bei seiner Ankunft war ihm die viktorianische Villa mit ihrem Turm und der umlaufenden Veranda malerisch erschienen. Dann hatte er genauer hingesehen – auf dem Dach fehlten einzelne Ziegel, und auch das Geländer wirkte stellenweise marode und verwittert.

Er fuhr sich nun durchs Haar. „Hören Sie, wenn es um Geld geht …“

Das hätte er nicht sagen dürfen. Sie reagierte fast unmerklich, aber er hätte schwören können, dass ihr Rückgrat sich in einen Pfeiler aus Stahl verwandelte. Das Wort „Geld“ war ihr offenbar unter die Haut gegangen. Ihr Blick wirkte plötzlich trotzig, und sie schob das Kinn etwas vor. Doch sie antwortete nicht.

„Ich kann Sie gut bezahlen.“ Gavin hörte, wie vorsichtig er klang. Er hatte einer Frau schon einmal viel Geld gegeben, nachdem sie absichtlich von ihm schwanger geworden war. Sicher, dazu gehörten immer zwei, aber sie hatte behauptet, dass sie die Pille nähme. Sie drohte, die Schwangerschaft abzubrechen, wenn er nicht zahlte. Und er zahlte, denn das Leben, das sie in sich trug, war schließlich ein Teil von ihm.

Wie eine hinterhältige, geldgierige Hexe ein so gutmütiges, unschuldiges Kind wie Sean zur Welt bringen konnte, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. Er hatte sich auf den ersten Blick in seinen Sohn verliebt und würde alles tun, jeden Betrag zahlen, um ihm zu helfen. „Nennen Sie mir Ihren Preis.“

„Es geht mir nicht um Geld, Gavin.“

„Wo leben Sie? Es geht immer um Geld. Jeder kann sehen, wie verzweifelt ich bin. Warum sollten Sie die Situation nicht ausnutzen?“

„Sie täuschen sich gründlich.“

„Jeder ist käuflich“, entgegnete er.

„Das ist eine ziemlich zynische Einstellung.“

„Schicksalsschläge sind gute Lehrmeister. Das sollten Sie wissen“, erwiderte er mit einem Blick auf ihren Bluterguss.

„Lassen Sie mich raten“, begann sie und tastete nach ihrer geschwollenen Wange. „Ihre Frau hat Sie nach allen Regeln der Kunst ausgenommen. Wissen Sie: Anstatt mich zu bestechen, sollten Sie sich mit Ihrem Geld bessere Anwälte leisten. Schließen Sie beim nächsten Mal einen Ehevertrag.“

„Es gab keine Ehe, also stand ein Vertrag nicht zur Debatte. Aber ich habe nicht vor, jemals wieder unvorsichtig zu sein.“

„Glauben Sie mir, das versteht niemand besser als ich“, erwiderte M. J. trocken.

Gavin wollte nicht von ihr verstanden werden, und es war ihm vollkommen egal, ob sie ihm traute oder nicht. Er war kein gefühlloser Mensch, aber ihm lief die Zeit davon. Er wollte sie als Therapeutin für seinen Sohn engagieren, mehr nicht.

Mühsam zwang er sich zur Geduld. „Man muss kein Hellseher sein, um zu bemerken, dass Sie Geld brauchen. Ich habe eine Menge davon und kann Sie sehr gut bezahlen. Sagen Sie schon Ja, M. J.“

„Ich kann nicht.“

Nur drei Worte, aber sie hörte sich an, als zerrisse es sie innerlich. Brian hatte ihr Herz mitgenommen. Gavin begriff nur nicht, warum sie das daran hinderte, einen Beruf auszuüben, in dem sie so gut war.

„Warum nicht? Man sollte meinen, dass Ihr Verlust Sie noch zusätzlich motiviert, verletzten Kindern zu helfen.“

„Sie arroganter, dickköpfiger Idiot! Was fällt Ihnen ein?“ Ihre Augen funkelten zornig, und das war ihm lieber als ihre Trauer. „Was gibt Ihnen das Recht, mich zu verurteilen?“

„Ich verurteile Sie nicht …“

Autor

Teresa Southwick
Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
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