Du hast mir die Liebe geschenkt

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Behutsam reicht die hübsche Krankenschwester Victoria dem gut aussehenden Steve Henderson das kleine Baby. Nach den Angaben der Mutter, die kürzlich an den Folgen eines Autounfalls verstorben ist, soll Steve der Vater der kleinen Heidi sein. Victoria versteht nicht, warum Steve so verwundert ist - denn sie weiß nicht, dass er seine Exfrau Kim seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat! Doch er ist überzeugt, dass sie gute Gründe hatte, ihn als Vater anzugeben. Wie gut, dass sich jetzt Victoria als rettender Engel erweist. Denn sie will ihm helfen! Und da Steve überzeugt ist, dass sich um Kims Tod mysteriöse Umstände ranken, und er selbst auf dem Weg ins Krankenhaus beschattet wurde, beschließt er, vorübergehend mit Victoria und Heidi in seine Blockhütte in den Adirondacks zu ziehen. Er spürt, dass mit ihnen sein Lebensglück zum Greifen nah und die Einsamkeit für immer vorbei ist ...


  • Erscheinungstag 20.12.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754686
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der abendliche Verkehr auf dem Capitol Beltway war nicht stärker als sonst, doch Steve Henderson hatte einen anstrengenden Fall hinter sich und war erschöpft. Zu allem Überfluss summte jetzt auch noch das Rufgerät.

Aus Sicherheitsgründen nahm der Geheimdienst, für den er arbeitete, nie per Handy Kontakt zu ihm auf. Das Signal bedeutete, dass er die Autobahn verlassen und ein Münztelefon suchen musste. Leise fluchend nahm Steve die nächste Ausfahrt.

Kurz darauf entdeckte er ein öffentliches Telefon am Straßenrand. Normalerweise mied er solche Apparate, doch jetzt warf er nur einen flüchtigen Blick auf die Umgebung und tippte die Nummer seiner Dienststelle ein.

„Einundfünfzig“, nannte er seine Codenummer. „Was gibt es?“ Stirnrunzelnd hörte er zu und fragte schließlich: „Ins Kinnikec Hospital? Warum das denn?“

Verwirrt und in Gedanken bei Kim verließ er die Telefonzelle.

Wie war sie nach Kinnikec gekommen? Das lag zwar in Maryland, aber sie wohnte nicht in der Gegend. Seit ihrer Scheidung vor drei Jahren hatte Steve Kim nicht mehr gesehen. Warum hatte sie im Krankenhaus seinen Namen und die Nummer der Tarnfirma ‚Riggs and Robinson‘ genannt, über die man seine Dienststelle erreichte? Erstaunlich, dass sie sich nach so langer Zeit überhaupt noch daran erinnert hatte. Und wieso hatte sie ihn und nicht Malengo verständigen lassen?

Denn seines Wissens nach war sie zuletzt noch mit Malengo zusammen gewesen, diesem schleimigen Kerl, wegen dem sie ihn damals verlassen hatte.

Und jetzt war sie tot.

Er musste hinfahren. Steve stieg in seinen unauffälligen schwarzen Wagen und machte sich auf den Weg zum Kinnikec Hospital.

Vor dem Krankenhaus angekommen, ließ er eine Ambulanz mit zuckenden Lichtern passieren, parkte und ging durch den Eingang der Notaufnahme. Die Dame an der Auskunft schickte soeben einen Mann in den zweiten Stock.

„Ich wurde angerufen“, sagte Steve, als er an der Reihe war, und nannte seinen Namen. „Francine Henderson ist gestorben, und ich bin ihr … nächster Angehöriger.“

Während die Angestellte in den Unterlagen nachsah, erinnerte er sich daran, dass Francine sich schon kurz nach der Hochzeit Kim genannt hatte. Das passte angeblich besser zu ihr. Seither durfte niemand mehr ihren richtigen Vornamen benützen.

„Gehen Sie bitte ins Wartezimmer“, sagte die Frau jetzt und wandte sich bereits dem Nächsten hinter ihm zu. „Es kommt gleich eine Schwester zu Ihnen.“

Das Wartezimmer der Notaufnahme war überfüllt. Steve lehnte sich an die Wand und sah sich um. Kein bekanntes Gesicht, schon gar nicht Malengo. Noch immer wollte es nicht in seinen Kopf, dass Kim tot war. Was war passiert?

Endlich öffnete eine rothaarige Schwester die Tür und rief seinen Namen. Steve stieß sich von der Wand ab und ging zu ihr. Die Frau sah noch erschöpfter aus, als er sich fühlte – falls das überhaupt möglich war.

„Ich heiße Victoria“, sagte sie. „Kommen Sie bitte mit.“ Sie führte ihn in einen kleinen Raum. „Es tut mir sehr leid, Mr. Henderson“, fuhr Victoria fort, „wir haben alles Menschenmögliche getan, leider vergebens. Wir konnten Ihre Frau nicht retten. Der Arzt ist im Moment beschäftigt. Sobald er frei ist, erklärt er Ihnen …“

Obwohl Steve bereits gewusst hatte, dass Kim tot war, schien er es erst jetzt tatsächlich zu realisieren. Ihr Tod schmerzte ihn so sehr, dass er nicht einmal hörte, was die Schwester sagte. Nach der Scheidung hatte er nichts für Kim gefühlt – und dennoch war es ein Schock, dass sie nicht mehr am Leben war. Steve erinnerte sich daran, dass er einst geglaubt hatte, sie zu lieben. Trotz aller Probleme zwischen: Ihren Tod hatte er ihr niemals gewünscht.

Arme Kim. Sie war ein Waisenkind ohne Geschwister gewesen. Und zuletzt schien sie niemanden mehr gehabt zu haben – nur ihn, den Mann, den sie vor Jahren verlassen hatte. Was war mit ihr und Malengo geschehen? Hatte sie nach dieser langen Zeit endlich seine wahre Seite erkannt?

„Ich will nicht auf den Arzt warten“, bemerkte Steve schließlich und versuchte, seine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu richten. „Er kann mir wohl kaum mehr sagen als Sie.“

Victoria zögerte. „Stimmt. Mr. Henderson, es ist nur so, dass Sie Ihre Frau noch identifizieren müssen. Falls Sie dazu in der Lage sind, führe ich Sie hin.“

Steve nickte. Sicher, das schaffte er.

Sobald er diese traurige Aufgabe hinter sich gebracht hatte, folgte er Victoria, die ihn durch diverse Gänge des Krankenhauses führte. In Gedanken sah er noch Kims Gesicht, das endlich friedlich wirkte. Wohin gingen sie eigentlich? Wahrscheinlich wollte ihm die Schwester Kims Sachen aushändigen. Darauf hatte er sicher ein Anrecht, da Malengo sie nicht geheiratet hatte.

Steve verschwieg ganz bewusst, dass Kim nicht mehr seine Frau gewesen war. Als Geheimagent lernte man, niemals freiwillig Informationen zu liefern. Kim hatte sicher einen Grund gehabt, warum sie ausgerechnet ihn verständigen ließ, und bevor er diesen Grund nicht kannte, schwieg er lieber.

„Ich war gestern die ganze Zeit bei ihr, seit sie nach dem Unfall eingeliefert worden war“, sagte Victoria.

Steve nickte schweigend.

„Vielleicht wollen Sie im Moment nicht mehr hören“, meinte Victoria mitfühlend. „Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie mich bitte, einverstanden?“

Er nickte erneut und war froh, dass er sich jetzt nicht unterhalten musste. Er war todmüde, und bevor er Kims Tod nicht einigermaßen begriffen hatte, legte er keinen Wert auf nähere Details.

Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben. Vor einer Station bat Victoria ihn zu warten. Er lehnte sich wieder an die Wand und schloss die Augen. Neben den typischen Geräuschen eines Krankenhauses hörte er Babys weinen. Ein Jammer, dass Kinder krank wurden. Zum Glück waren seine Nichte und sein Neffe gesund.

Hätte er sich doch bloß bei seiner Schwester und ihrer Familie in Nevada entspannen können!

Steve kam erst durch Victorias Stimme wieder zu sich. Offenbar war er im Stehen eingeschlafen.

„Strecken Sie die Arme aus“, verlangte sie.

Benommen gehorchte er und zuckte zusammen, als sie ihm ein Baby in die Arme lag.

„Ich war während der Geburt bei Francine“, erklärte Victoria. „Wir waren alle sehr froh, dass dem Kind nichts zugestoßen ist. Ein Wunder.“

Kim hatte vor ihrem Tod ein Baby auf die Welt gebracht? Steve schluckte, als er begriff, dass Victoria ihn für den Vater hielt. „Unmöglich“, murmelte er und gab ihr das Baby zurück. „Völlig unmöglich.“

Victoria drückte das Baby an sich. Steve Henderson tat ihr so leid, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Was musste der arme Kerl jetzt durchmachen! Das war sicher alles zu viel für ihn. Der Mann hatte gerade erfahren, dass seine Frau gestorben war. Wie sollte er sich da über ein Baby freuen?

„Ich verstehe schon“, versicherte sie beruhigend. Obwohl sie stets versuchte, unbeteiligt zu bleiben, gelang ihr das nicht immer. Genau deshalb brauchte sie dringend Urlaub. Oft genug hatte sie sich die Nöte ihrer Patienten zu sehr zu Herzen genommen. Jetzt war sie einfach nur noch erschöpft. „Wir haben bei der Kleinen alle nötigen Untersuchungen durchgeführt und sie beobachtet. Sie können das Baby mitnehmen. Haben Sie jemanden, der sich darum kümmert?“

Er schüttelte wieder den Kopf. „Das Baby …“, setzte er an, sprach jedoch nicht weiter.

Obwohl Victoria sich vorgenommen hatte, nie wieder aus dem Augenblick heraus zu handeln, hielt sie sich an das Versprechen, das sie der Sterbenden gegeben hatte. „Hören Sie, Mr. Henderson. Ich trete morgen einen dreimonatigen Urlaub an. Wenn Sie möchten, kümmere ich mich einige Tage um das Baby, bis Sie jemanden finden.“

Steve wollte schon ablehnen und alles erklären, überlegte es sich dann aber anders. Kim hatte gewusst, dass er nicht der Vater war, aber trotzdem so getan, als wäre sie noch mit ihm verheiratet. Im Krankenhaus sollte man ihn für den Vater halten, damit er das Kind beschützt. Vor Malengo? Vermutlich war dieser Mistkerl der Vater.

Steve musste Kims letzten Willen respektieren und gleichzeitig herausfinden, warum sie ihn in diese Lage gebracht hatte.

„Ich kenne Ihren Namen noch nicht“, sagte er zu der rothaarigen Schwester.

„Reynaud. Victoria Reynaud.“

„Ich nehme Ihr Angebot an, Ms. Reynaud. Und vielen Dank.“

„Victoria“, sagte sie. „Das macht es einfacher.“

„Steve“, entgegnete er.

„Haben Sie denn die nötigen Sachen für das Baby?“, fragte sie.

„Welche nötigen Sachen?“

Sie sah ihn etwas irritiert an, meinte jedoch nur: „Eine Tragetasche, Windeln, Babynahrung, Fläschchen, das ganze Programm. Wenn Sie nichts davon haben, müssen wir erstmal einkaufen gehen …“

„Tja, das müssen wir wohl.“

Victoria entschied, Steves sonderliches Verhalten mit dem Schock zu begründen, den er sicherlich durch den Tod seiner Frau erlitten hatte. Während er die verschiedenen Formulare im Krankenhaus ausfüllte und Kims Beerdigung veranlasste, wirkte er wie in Trance. Schließlich bekam er noch Kims Habseligkeiten und er und Victoria, die das Baby trug, verließen das Krankenhaus.

Steve dachte angestrengt nach. Normalerweise bestimmte er stets, was geschah, doch das hier war alles andere als ‚normal‘. Er war nicht auf Kims Tod und noch viel weniger auf ihr Kind vorbereitet gewesen. Ein sonderbares Gefühl hatte ihn überkommen, als er das federleichte Bündel für einen Moment hielt.

Die Kinder seiner Schwester waren schon älter gewesen, als er das erste Mal mit ihnen zu tun hatte, noch kein Jahr alt, aber schon hellwach, aktiv und in der Lage, sich verständlich zu machen. Dieses Baby jedoch war völlig hilflos. Er konnte froh sein, dass er die Rothaarige bei sich hatte.

„Mein Wagen steht im Parkhaus“, sagte Victoria, doch Steve schien sie gar nicht zu hören. Daher wiederholte sie es und fügte hinzu: „Haben Sie auch einen Wagen?“

Er schaute sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und nickte. „Wir nehmen meinen. Morgen fahre ich Sie dann her, damit Sie Ihren Wagen holen können.“

Er fragte nicht, ob es ihr recht war – er bestimmte einfach. Vielleicht lag es am Schock? Victoria hoffte, dass der Mann ansonsten umgänglicher war, denn sie hatte keine Lust, sich auch nur einige Tage über einen Kerl zu ärgern, der sie herumkommandierte. Von solchen Typen hatte sie mehr als genug.

Wenn man bedachte, wie sehr sie sich auf diesen Urlaub gefreut hatte, war sie offenbar eine Verrückte. Sie hätte ja sonst wohl kaum ihre Hilfe angeboten. Seufzend drückte Victoria das leise wimmernde Kind an sich. Und schwor sich, das mutterlose Baby erst dann zu verlassen, wenn sie es in guten Händen wusste.

Steve blieb neben einem schwarzen Pkw stehen und sah sich um, ehe er ihr die Tür aufschloss. Wonach hielt der Mann Ausschau? Hier trieb sich doch niemand herum. Der Parkplatz war sicher.

Als sie losfuhren, fragte Victoria: „Könnten wir bei meiner Wohnung vorbeifahren, damit ich ein paar Sachen einpacke?“

„Jetzt nicht. Kaufen Sie alles Nötige.“

Victoria unterdrückte eine scharfe Antwort. Ganz ruhig, befahl sie sich. Ein lauter Wortwechsel hätte nur das Baby verunsichert und sie wollte schließlich, dass es der Kleinen gut ging.

„Dann fahre ich morgen zu meiner Wohnung, nachdem ich meinen Wagen geholt habe“, erklärte sie versöhnlich.

Er brummte nur. Erst nach einer Weile sprach er wieder. „Sie haben einen Unfall erwähnt. Was ist mit Kim passiert?“

„Kim?“

„Francine. Sie wollte Kim genannt werden.“

„Soweit ich weiß, waren zwei Autos beteiligt. Francine, also Kim, war allein in ihrem Wagen. Ich glaube, dass auch Leute aus dem anderen Wagen bei uns in der Notaufnahme waren. Genau kann ich das aber nicht sagen, denn ich war zu sehr mit Ihrer Frau beschäftigt, dass ich nicht darauf geachtet habe.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Als sie eingeliefert wurde, hatten bereits die Wehen eingesetzt.“

„Ich war beruflich unterwegs und wurde erst auf dem Beltway verständigt.“

Das erklärte, wieso seine Frau versucht hatte, selbst zum Krankenhaus zu fahren. Andererseits mussten die beiden doch gewusst haben, wann der Geburtstermin war. Seltsam, dass sie sich nicht darauf vorbereitet hatten.

„Und Sie haben nicht einmal ein Bettchen?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

Victoria lehnte den Kopf an die Nackenstütze, schloss die Augen und erstellte in Gedanken eine Liste aller nötigen Dinge. Heute Abend würde sie kein Bettchen mehr kaufen, sondern eine Tragetasche. Das würde für die ersten Tage sicherlich genügen.

Plötzlich berührte sie jemand am Arm und rief ihren Namen. Ruckartig wurde sie wach und fürchtete schon, das Baby fallen gelassen zu haben. „Ich bin wohl eingeschlafen“, sagte sie erleichtert, als sie feststellte, dass die Kleine unversehrt in ihren Armen lag.

Sie parkten jetzt vor einem Drugstore, der rund um die Uhr geöffnet hatte.

„Ich komme mit hinein“, sagte Steve. „Sie suchen die Sachen für das Kind und sich zusammen, und ich schiebe den Wagen und bezahle.“

Steve Henderson schien es offensichtlich gewöhnt zu sein, Befehle zu erteilen. Doch Victoria war zu erschöpft, um ihm zu erklären, was ihrer Meinung nach ein höfliches Verhalten war.

Vor Müdigkeit konnte Victoria sich kaum darauf konzentrieren, was das Baby brauchte, aber schließlich hatte sie alles beisammen. Und was brauchte sie selbst? Sie suchte Toilettenartikel aus und ein langes T-Shirt zum Schlafen.

Während Steve bezahlte, kämpfte sie einmal mehr gegen die bleierne Müdigkeit an. Endlich nahm er die Tüten und Victoria ging mit ihm zum Wagen hinaus.

„Wir sollten den Kindersitz befestigen“, schlug sie vor.

„Das kann warten. Ich wohne ganz in der Nähe und brauche dringend Schlaf.“

Da sind wir schon zwei, dachte sie und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Und wer von uns wird vermutlich schlafen? Sicher nicht die Person, die angeboten hat, sich um das Baby eines Fremden zu kümmern.

Victoria konnte kaum die Augen offen halten. Wie durch einen Nebel bekam sie mit, dass sie durch ein Tor mit einem Wächter in eine gesicherte Wohnanlage fuhren und Steve den Wagen in einer Garage abstellte.

Nachdem sie ausgestiegen war, öffnete Steve eine Tür, die von der Garage direkt in die Küche seines Hauses führte, und ließ Victoria hinein. Während er die Sachen aus dem Kofferraum holte, blickte sie sich gähnend in der modernen Küche um, die nicht so aussah, als wäre sie jemals benützt worden. Keine Spur von Lebensmitteln oder irgendwelchen Haushaltsgeräten. Ein Pizza-Service-Mann.

Während Steve Tüten und Kartons hereinschleppte, begann das Baby zu weinen. Zum Glück hatte man ihnen im Krankenhaus ein fertiges Fläschchen mitgegeben.

„Ich brauche den Fläschchenwärmer“, sagte sie zu Steve.

Er blieb stehen. „Aha, und wie sieht der aus?“

„Leeren Sie alles auf die Theke, und ich zeige ihn Ihnen. Und suchen Sie bitte auch den Schnuller.“

Während sie den Fläschchenwärmer anschloss, fand Steve den Schnuller und hielt ihn dem Baby hin. Es öffnete den Mund und schrie aus voller Kehle. „Was ist denn los?“, fragte er und wich zurück.

„Hungrig, nass, schmutzig oder vielleicht auch nur unglücklich, weil es das mütterliche Paradies verlassen musste. Wenn Sie die Tragetasche in mein Zimmer stellen, kümmere ich mich um alles andere. Ich nehme doch an, dass Sie hier mehr als nur ein Schlafzimmer haben?“

Er lächelte müde. „Ja, auch wenn es klein ist“, erwiderte er und verließ die Küche.

Während Steve das Bettchen in der Tragetasche vorbereitete, stellte er erleichtert fest, dass das Baby aufgehört hatte zu weinen. Danach zog er sich in sein Zimmer zurück, zog sich aus, schlüpfte in die Pyjamahose, fiel ins Bett und schlief auf der Stelle ein.

Jämmerliches Schreien eines Kindes weckte ihn aus wirren Träumen. Es war noch dunkel. Der Wecker zeigte vier Uhr. Er wartete, doch das Weinen verstummte nicht. Victoria konnte bei einem solchen Krach doch nicht schlafen! Oder doch?

Seufzend stemmte Steve sich aus dem Bett und tappte den Korridor entlang. Die Tür des Gästezimmers stand offen. Das Bett war leer, ebenso die Tragetasche. Stimmte etwas mit dem Baby nicht? Er fand die beiden in der Küche, wo Victoria das Kind auf dem Tisch wickelte.

„Ein Mädchen“, stellte er überrascht fest.

„Das habe ich Ihnen doch gesagt.“

Stimmt, jetzt erinnerte er sich wieder. Gestern Abend hatte er offensichtlich nicht richtig denken können. Offenbar war er nicht nur taub, sondern auch blind gewesen, denn es war ihm nicht aufgefallen, wie attraktiv Victoria war. Ihr T-Shirt war eigentlich viel zu groß, reichte jedoch nur bis zur Mitte ihrer Schenkel und entblößte die wohlgeformten Beine. Und als sie sich zu dem Baby beugte, bot sie Steve einen verlockenden Blick auf ihre Brüste.

Prompt reagierte er und war heilfroh, dass die alte Pyjamahose, die er anhatte, sehr weit geschnitten war.

„Die Kleine heißt Heidi“, fuhr Victoria fort, befestigte die Windel und hob das Baby hoch. Es hörte endlich zu schreien auf und weinte nur noch leise.

„Heidi?“, wiederholte er verblüfft.

„Ihre Frau wollte, dass das Kind Heidi Angela Henderson heißt. Haben Sie denn nicht über Namen gesprochen?“

Er hatte keine Ahnung, wie Kim auf den Namen Heidi gekommen war. Aber seine Mutter hatte Angela geheißen, und das rührte ihn. „Henderson?“, fragte er.

„So habe ich die Geburtsurkunde ausgefüllt“, erwiderte Victoria. „Wieso? Sie heißen doch Henderson, oder?“

„Äh, ja. Ich war nur überrascht“, erwiderte er. „Ich meine, dass Babys so schnell einen Namen bekommen.“

Aus ihren Augen, die ungewöhnlich golden und grün schimmerten, traf ihn ein sanfter Blick. „Ihre Frau befand sich in einem so schlechten Zustand, dass wir so viel von ihr erfahren mussten, wie nur möglich war. Ich glaube, sie hat bloß durchgehalten, bis sie die notariell beglaubigten Papier unterschrieben hatte.“

„Was für Papiere?“

„Steve, Sie scheinen gestern Abend wohl nicht viel mitbekommen zu haben. Ihre Frau wollte, dass Sie Vormund des Kindes werden. Wir haben uns darum gekümmert.“

Wovor hatte Kim dieses Kind bewahren wollen? „Ist es nicht ungewöhnlich, mich zum Vormund zu bestellen?“

Victoria zuckte mit den Schultern. „Wieso ungewöhnlich? Sie sind der Vater.“

Er betrachtete das winzige Köpfchen des Kindes, das seiner Meinung nach niemandem ähnlich sah, den er kannte. Das Mädchen hatte rote Haare, rot wie Kims. Und auch wie Victorias …

Nach der Scheidung hatte er sich geschworen, sich nie wieder mit einer Rothaarigen einzulassen. Und jetzt hatte er gleich zwei am Hals, allerdings nur vorübergehend.

Victoria holte das Fläschchen aus dem Wärmer, setzte sich und fütterte das Baby. „Ist ganz einfach, sehen Sie?“, fragte sie lächelnd. „Väter sollten sehr früh lernen, sich um ihre Kinder zu kümmern.“

„Aber nicht so früh. Sie ist unwahrscheinlich klein.“

„Babys sind nicht zerbrechlich, Steve. Man muss sie nur richtig halten, und das lernt man schnell. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“

Er wich kopfschüttelnd zurück.

Victoria genoss es zu sehen, wie schnell aus dem herrischen Macho ein nervöser Vater geworden war. Gestern Abend war ihr aufgefallen, wie verkrampft er war, doch das war unter den gegebenen Umständen verständlich gewesen. In seiner Küche wirkte Steve Henderson mit dem zerzausten Haar und der Pyjamahose, die ihm jeden Moment von den Hüften zu rutschen drohte, schon ganz anders. Er war ein attraktiver Mann, blond, groß und muskulös. Kurz: Ein Mann, in dessen Haus sie nicht einmal vorübergehend wohnen sollte.

Je schneller er jemanden für das Kind fand, desto besser war es. Trotzdem drückte Victoria die kleine Heidi beschützend an sich.

„Kümmern Sie sich um sie“, hatte die Sterbende gebeten. Genau das tat Victoria jetzt – und dennoch sollte dies nicht zum Dauerzustand werden. Heidis Vater musste jemanden suchen, der ihren Platz einnahm.

„Wird sie still sein, wenn sie satt ist?“, fragte Steve jetzt.

„Hoffen wir es. Jedes Baby verhält sich anders. Wir müssen Heidi erst genauer kennen lernen. Manche Kinder schreien gern.“

Steve sah auf die Uhr. Es war noch zu zeitig, um in der Dienststelle anzurufen. Das wollte er jedoch so bald wie möglich machen. Kim hatte Malengo offenbar verlassen, und er musste den Grund erfahren. Dann erst konnte er beurteilen, warum Kim ihn in diese Sache hineingezogen hatte. Denn schließlich hatte sie ihn nicht nur als Heidis Vater, sondern auch als Vormund angegeben.

So lange er für das Kind verantwortlich war, brauchte er jemanden, der die Kleine versorgte. Victoria war dazu in der Lage. Warum also sollte er sie ersetzen? Je weniger Leute Bescheid wussten, desto besser.

Während er sich ins Schlafzimmer zurückzog, redete er sich ein, dass das gar nichts mit Victorias grüngoldenen Augen oder ihren verlockenden Rundungen zu tun hatte. Victoria war Krankenschwester und konnte sich daher bestens um ein Baby kümmern. Und mussten Schwestern nicht ähnlich wie Ärzte über ihre Patienten schweigen? In dieser Situation brauchte er bestimmt niemanden, der zu viel redete.

Wenn er sie bei sich behielt, lag das nur an ihren Vorzügen – und damit meinte er nicht jene, die das T-Shirt verhüllte.

2. KAPITEL

Steve erwachte von einem Sonnenstrahl, der durch die Jalousie hereinfiel. Neun Uhr? So lange schlief er nie. Er stand auf und wollte Kaffee machen, als ihm einfiel, dass er nicht mehr allein im Haus war. Sollte er sich nicht besser etwas anderes anziehen? „Ach was“, murmelte er und ging nur in der Pyjamahose bekleidet in Richtung Küche. Er schaltete die Kaffeemaschine ein, kehrte ins Schlafzimmer zurück und verließ es geduscht, rasiert und in Jeans und Polohemd.

Jetzt war auch Victoria in der Küche. Sie trug noch ihre Schwesternkleidung von gestern und trank einen Kaffee. „Nicht schlecht“, stellte sie fest. „Besser als das Spülwasser im Hospital. Wann fahren wir?“

„Wohin?“

„Meinen Wagen holen. Wenn ich eine Weile bei Ihnen bleiben soll, brauche ich Sachen aus meiner Wohnung, und dafür wiederum benötige ich meinen Wagen.“

Steve blickte auf das Baby in ihren Armen. Ursprünglich hatte er von dem Telefon im Laden vor dem Tor in der Dienststelle anrufen wollen, doch das konnte er auch auf dem Weg zum Krankenhaus machen.

„Sie haben den leersten Kühlschrank, den ich jemals gesehen habe“, stellte sie fest.

„Ich bin selten daheim.“

„Kim offenbar auch.“

Steve entschloss sich zu einer Halbwahrheit, damit Victoria nicht misstrauisch wurde. „Kim und ich lebten getrennt. Sie wohnte nicht hier. Das hätte ich eigentlich schon früher erwähnen sollen, aber …“ Er warf einen bezeichnenden Blick auf das Baby. „Ich konnte gestern Abend nicht klar denken.“

„Verständlich. Das erklärt natürlich, dass Sie hier keine Babysachen und auch sonst nichts haben, was man braucht.“

Auch wenn ihn eine direkte Art normalerweise nicht störte, wechselte Steve doch das Thema, damit er nicht länger über Kim reden musste. „Wir können unterwegs einkaufen.“

„Und auch frühstücken. Ich bin hungrig.“

„Okay, dann lassen Sie uns gehen.“

„Wir sollten vorher noch den Kindersitz im Auto befestigen. Es ist zu unsicher, wenn ich Heidi halte. Und verboten ist es auch.“

Sie hatte ja recht – und dennoch passte es Steve nicht, dass sie plötzlich offenbar meinte, ihm Befehle geben zu müssen. In seinem Leben bestimmte bitte nur einer: er. Am besten zog er gleich eine Grenze. „Ich befestige den Kindersitz, bevor wir losfahren. Für das Baby sind Sie zuständig. Das wäre alles.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er die Küche.

Victoria sah ihm nach. Wieder ein Befehl vom Herrn und Meister? Kein Wunder, dass seine Frau ihn verlassen hatte, obwohl sie schwanger war.

Unterwegs hielten sie vor einem Fast-Food-Restaurant und frühstückten im Wagen. Das kam Victoria zwar ein wenig seltsam vor, aber sie hütete sich etwas zu sagen. Nachdem sie fertig gegessen hatten, stieg Steve aus und benützte das Münztelefon im Restaurant. Als sie schließlich wieder fuhren, fragte er Victoria nach Details über Kims Unfall aus.

„Es hieß, dass zwei Wagen zusammengestoßen sind“, erklärte sie. „Ich war aber viel zu beschäftigt, um mich genauer zu erkundigen. Wenn ich mich recht erinnere, war der Insasse des anderen Wagens schon tot, als er eingeliefert wurde.“ Sie warf einen Blick nach hinten zu dem Baby im Kindersitz. Es war wirklich ein Wunder.

Beim Kinnikec Hospital zeigte sie Steve den Parkplatz für die Angestellten, nannte ihm ihre Adresse und wollte ihm gerade erklären, wie er fahren musste, als er ihr ins Wort fiel:„Ich folge Ihnen.“

„Aber wir könnten uns im Straßeverkehr aus den Augen verlieren.“

„Bestimmt nicht.“

In Ordnung, wie er meinte. Victoria hoffte, dass es irgendeine rote Ampel gut mit ihr meinte und Steve Henderson daran hinderte, ihr zu folgen. Denn Männer, die meinten, einfach alles zu können, lagen ihr nicht. Ihr reichte schon der liebe Dr. Delmer, allgemein bekannt als Jordan, das Ekel.

Als sie ausstieg, fragte Steve: „Nehmen Sie die Kleine nicht mit?“

„Nein. Sie schläft. Wozu sollten wir uns die Mühe machen, den Kindersitz in meinem Wagen zu befestigen?“ Und damit ging sie, bevor er widersprechen konnte. Steve Henderson brauchte nicht zu glauben, dass er der Einzige sei, der kurz angebunden sein konnte.

An ihrem Wagen angekommen traf sie Fred Nelson, einen Kollegen aus der Ambulanz. Er stieg soeben in seinen Pickup, der neben ihrem Auto stand. „Hey, Vic“, sagte er, „was ist los? Hast du nicht Urlaub?“

„Richtig, aber ich kümmere mich vorübergehend um das Baby der Frau, die gestern gestorben ist.“

„Der Unfall, nicht? Schlimme Geschichte.“

„Ja. Fred, weißt du eigentlich genauer, was da passiert ist?“

„Einer ist tot. Sein Beifahrer war so schlimm zugerichtet, dass sie ihn ins Washington Hospital Center verlegt haben. Ein Polizist sagte, es hätte so ausgesehen, als wäre der Wagen der Frau von der Straße gedrängt worden und sei dann zurückgeprallt, auf den anderen drauf. Ist mit dem Baby alles in Ordnung?“

„Ja. Die Kleine hat ihrem Vater einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Der hat bestimmt noch nie ein Neugeborenes aus der Nähe gesehen.“

„Lass dir bloß nicht die ganze Verantwortung aufhalsen.“

Autor

Jane Toombs
In dem Alter, als Jane das Alphabet lernte, hatte ihr Vater, ein erfolgreicher Sachbuchautor, nach einer Krankheit vollständig sein Gehör verloren. Wer mit ihm kommunizieren wollte, musste schreiben. Er trug stets einen kleinen Block mit sich herum, darauf stand z.B.: Was hast du auf dem Schulweg gesehen? Und so musste...
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