Duchess – verzweifelt gesucht!

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Eine unerhörte Einladung: Der umschwärmte Oliver Norrington, Duke of Theakstone, bittet Miss Sofia Underwood, eine Woche auf Theakstone Court zu verbringen. Zu einer Brautschau! Denn der Duke beabsichtigt, unter den schönsten Debütantinnen seine zukünftige Duchess zu wählen. Bloß dass Sofia weder besonders schön noch gesellschaftlich besonders begehrenswert ist. Höchstens skandalös unkonventionell! Sofia ahnt nicht, dass es auch im Leben des Dukes ein höchst unkonventionelles Geheimnis gibt - was sie zur Favoritin der Brautschau macht …


  • Erscheinungstag 12.05.2020
  • Bandnummer 603
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748210
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Juli 1814

Es ging alles so schnell.

Erst gab es noch großes Oh und Ah beim Anblick eines Regens von roten und goldenen Funken, der sich über den Nachthimmel ergoss. Im nächsten Moment rannten alle schreiend vor einer Flammensäule davon, die mit einem Geräusch aufgeschossen war, das in ihren Ohren wie eine Salve Kanonenschüsse klang.

Schlimmer noch: Größere Menschen schubsten die kleineren beiseite, die sich nicht so schnell bewegen konnten. Inmitten all der Panik stieß ein großgewachsener Mann ihr den Ellenbogen ins Auge. Einen kurzen Moment später wurde sie von einem anderen Flüchtenden absichtlich zur Seite gestoßen. Durch den Schlag ins Gesicht, das Schubsen und die Welle von rennenden Menschen geriet sie ins Taumeln.

Sofia hatte ohnehin schon Angst, und jetzt musste sie auch noch befürchten, niedergetrampelt zu werden. Glücklicherweise hatte der Mann, der sie geschubst hatte, sie in die Nähe einer Gruppe von robust aussehenden Büschen befördert. Beherzt sprang Sofia in das Gehölz und kauerte sich unter die Äste, die ihr Schutz boten vor den stampfenden Tritten der fliehenden Massen.

Ihr Herz hämmerte, ihre Glieder zitterten, aber sie war vorläufig in Sicherheit – wenn auch ein wenig zerschrammt und schmutzig. Immerhin hatte sie endlich einmal eine gute Ausrede dafür, warum sie mit Laub und Flecken übersät zu ihrer Tante und ihrem Onkel zurückkehrte. Diesmal konnte sie jemand anderem die Schuld geben: dem Grobian, der sie geschubst hatte. Das war immerhin besser, als gestehen zu müssen, dass sie ihre Hündin aus einem Kaninchenbau hatte ausgraben oder von einer sumpfigen Wiese retten müssen, oder eines der vielen anderen Missgeschicke, die ihr jedes Mal zustießen, wenn sie Onkel Neds Anwesen erkundete.

Die riesige Menge, die sich versammelt hatte, um sich das Feuerwerk anzusehen, hatte sich in bemerkenswert kurzer Zeit wieder aufgelöst.

Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie sich aus der Deckung wagen konnte. Sofia stützte sich vorsichtig auf einen Ellenbogen und spähte unter den unteren Zweigen hindurch, um die Lage einzuschätzen.

Onkel Ned hatte die teuersten Eintrittskarten zu dem Fest zu Ehren des Friedensschlusses mit Frankreich gekauft, die der Stadtrat von Burslem Bay ausgegeben hatte. In dem Eintrittspreis war nicht nur ein Abendessen enthalten, sondern auch ein Platz, von wo aus man den besten Blick auf das Feuerwerk hatte. Deshalb konnte Sofia selbst von ihrem Standort unter den Büschen aus noch gut erkennen, dass das Gerüst, von dem das Feuerwerk abgefeuert worden war, lichterloh in Flammen stand.

Außerdem hörte sie, wie jemand schrie. Sie richtete sich noch ein bisschen weiter auf und sah zu ihrem Schrecken am Fuß des brennenden Gerüsts, dort, wo die Dienstboten und Krämer sich versammelt hatten, eine Frau stehen, deren Röcke brannten.

Die Frau war ganz allein. Sie schlug mit bloßen Händen auf die Flammen, die inzwischen ihre Ärmel hinaufzüngelten. Sofia hatte in ihrer Kindheit schon einmal etwas Ähnliches gesehen, als ein verirrtes Artilleriegeschoss ein Munitionslager und die Männer, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, in Brand gesetzt hatte. Deshalb wusste sie, dass die Frau sich auf den Boden werfen und hin und her rollen musste und nicht so herumhüpfen, wie sie es gerade tat. Aber jetzt war man hier in England in Friedenszeiten und nicht in einer Festung in Kampfbereitschaft. Möglicherweise war sie die Einzige weit und breit, die wusste, was zu tun war.

Entschlossen schlängelte Sofia sich unter dem Gebüsch hervor und rannte, so schnell sie konnte, zu der Verletzten. Sie hoffte inständig, dass sie stark genug war, um die verängstigte Frau auf den Boden zu werfen und die Flammen zu löschen, ehe es zu spät war. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass zwei junge Männer in dieselbe Richtung rannten – nach den weißen Hemden und blauen Schärpen, die sie trugen, wohl zwei der Kellner, die beim Dinner serviert hatten. Die beiden waren als Erste bei der brennenden Frau. Einer von ihnen warf sie auf den Boden. Der andere, der ihm dicht gefolgt war und der offensichtlich so geistesgegenwärtig gewesen war, sich einen Champagnerkühler zu schnappen, leerte dessen Inhalt über der unglückseligen Frau aus, sodass der größte Teil der Flammen sofort verlosch.

Als Sofia bei den dreien ankam, hatten die Kellner bereits alle Flammen gelöscht und waren zurückgetreten. Sie atmeten schwer und sahen aus, als wäre ihnen vom Anblick der armen Frau ein wenig übel geworden, die stöhnend und zitternd dalag.

Ihr Kleid war auf einer Seite zum größten Teil verbrannt, und ihr Haar war versengt. Sofia wunderte sich nicht darüber, dass die Frau zitterte. Ihre Kleidung hatte Feuer gefangen, sie war von einem stämmigen Mann auf den Boden geworfen worden, und dann hatte ein anderer sie mit eiskaltem Wasser übergossen. Sie fühlte sich selbst ein wenig zittrig, nachdem sie im Gebüsch hatte Schutz suchen müssen. Allerdings hatte ihr Kleid nur ein paar Risse abbekommen und war nicht weggeschmort.

Wenn sie doch nur irgendetwas für diese arme Frau tun könnte.

Ja, etwas konnte sie tun. Sie zerrte an den Bändern ihres Umhangs, kniete sich neben die Frau und deckte sie zu. Vielleicht konnte sie damit das Beben der armen Kreatur nicht stoppen, aber zumindest konnten die beiden Männer ihre nackten Beine nicht mehr sehen.

„Stehen Sie da nicht herum und glotzen“, schrie sie die beiden an. „Diese Frau braucht einen Arzt! Einer von ihnen beiden muss loslaufen und ihn holen!“

Die beiden Männer wechselten einen Blick.

„Ich würde sagen …“, setzte einer der beiden zum Protest an.

Aber der andere, der immer noch den leeren Champagnerkühler festhielt, hob die Hand, die er frei hatte, wie um seinen Kollegen zum Schweigen zu bringen.

„Sie hat recht, Gil. Lauf los, und hol Dr. Cochrane.“

Der erste Kellner rannte los. Der zweite warf den Champagnerkühler zur Seite und trat näher. Im flackernden Licht der verlöschenden Flammen bemerkte Sofia seine dichten, geraden Augenbrauen und seine Adlernase, die ihm ein strenges Aussehen verlieh.

„Sie können sie jetzt mir überlassen“, knurrte er sie an.

Knurren? Was hatte der Bursche sie anzuknurren? Und wieso starrte er sie so wütend an?

„Der Doktor kümmert sich um sie.“

„Wenn er irgendwann kommt“, erwiderte sie, „dann wird er das wahrscheinlich tun. Aber bis dahin bleibe ich lieber bei ihr.“ Sie ergriff die Hand der verletzten Frau, um der armen Person das bisschen Trost zu spenden, das sie ihr geben konnte.

„Sie sehen aus, als ob Sie selbst einen Arzt gebrauchen könnten“, sagte der Kellner mit den markanten Augenbrauen.

Nun merkte Sofia erst, dass es in ihrer Augenhöhle an der Stelle pochte, an der sie der Ellenbogen des großen Mannes getroffen hatte.

„Und Sie hätten wirklich nicht Ihren Umhang ablegen sollen.“ Bei diesen Worten sah er sie von oben bis unten an, und ihr wurde klar, dass zarter Musselin nicht der beste Stoff war, wenn man in einem Gebüsch Schutz suchte. Sie war schlicht dankbar gewesen, dass sie eine passende Ausrede für Tante Agnes hatte, weil sie schon wieder ein Kleid ruiniert hatte.

„Da haben Sie wahrscheinlich recht“, gab sie zu, als sie sah, wie der Blick des Kellners an der Stelle ihres zerrissenen Rocks hängenblieb, durch die ihr Knie zu sehen war, „aber jetzt gerade glaube ich, dass die Dame hier dringender Hilfe braucht als ich.“

„Sie ist keine Dame“, wandte er ein wenig pedantisch ein.

„Was hat die gesellschaftliche Position eines Menschen damit zu tun? Sie ist offensichtlich sehr schwer verletzt, und sie braucht einen Arzt und einen Umhang, um sich zu bedecken, und zwar beides dringender als ich.“

Der Kellner hob fast unmerklich eine Augenbraue.

„Das ist sehr … mitfühlend von Ihnen. Aber dennoch: Gewiss macht man sich Sorgen um Ihr Wohlergehen und sucht bereits nach Ihnen. Sie sollten nicht ganz allein im Dunklen herumlaufen.“

„Ich laufe nicht allein herum. Ich knie auf dem Boden und kümmere mich um eine Frau, die schwer verletzt ist. Und ich habe vor, bei ihr zu bleiben, bis eine andere Frau meinen Platz einnehmen kann.“

Wie aus Dankbarkeit drückte die Frau ihr zitternd die Hand.

„Oh, ich wünschte, ich könnte sie einfach mit nach Hause nehmen und mich selbst um sie kümmern“, sagte Sofia bedauernd. „Es muss schrecklich sein, wenn man in so einer Lage ist und sich auf Fremde verlassen muss.“ Zum zweiten Mal an diesem Abend kamen unangenehme Kindheitserinnerungen in ihr hoch. Dieses Mal waren es jedoch die Tage nach Papas Tod, als sie von einem überforderten Offizier zum anderen weitergereicht worden war, ehe man sie endlich auf ein Schiff zurück nach England verfrachtet hatte. Keiner dieser Männer war herzlos ihr gegenüber gewesen, aber sie hatten einfach keine Ahnung, wie sie mit der verwaisten kleinen Tochter eines Offizierskollegen umgehen sollten.

„Sie sind doch auch eine Fremde für sie“, warf der Kellner ein, der ihr langsam ziemlich gefühllos vorkam.

„Schon“, gab sie scharf zurück, „aber wenigstens bin ich eine Frau.“

„Hören Sie, Miss …“

„Underwood“, antwortete sie, ohne nachzudenken.

„Miss Underwood“, sagte er. „Ich verspreche Ihnen, dass ich dafür sorgen werde, dass diese Frau hier in den besten Händen ist. Und ich werde, so schnell es geht, dafür sorgen, dass eine Frau sich um sie kümmert.“

„Ja, das ist ja alles sehr schön, aber bis dahin …“

„Und damit Sie beruhigt sind, werde ich Sie außerdem auch wissen lassen, was aus ihr wird. Das heißt, falls Sie mir erlauben, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.“

Sofia biss sich auf die Unterlippe. Das Schlimmste an diesem Kellner war, dass er recht hatte. Ihre Tante und ihr Onkel machten sich sicher Sorgen um sie, wenn sie gemerkt hatten, dass sie sie in dem ganzen Tumult verloren hatten. Und sie konnte eigentlich auch nichts mehr für die verletzte Frau tun.

„Ja, ist gut. Wir sind im Marine View untergebracht. Im Theakstone Crescent.“

Der Mann wirkte ein wenig erschrocken. Er öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, erhielt dazu aber keine Gelegenheit mehr, weil Onkel Ned herbeigeeilt kam.

„Sofia! Was, zum Teufel, hast du hier verloren? Deine Tante ist ganz krank vor Sorge um dich! Steh sofort auf, und komm her!“

Sie stand auf. Und unter dem Vorwand, Laub und Asche von ihren Röcken zu klopfen, schlängelte sie sich näher an den Kellner heran. „Ich habe selbst ein bisschen Geld“, sagte sie leise, „und wenn es nötig ist, kann ich gern etwas zu den Kosten für ihre Pflege beitragen.“

„Sofia!“ Onkel Ned packte sie am Arm und zog sie so weit weg von dem Kellner, wie der Anstand es verlangte. „Wo ist dein Umhang?“

Sie zeigte auf die verletzte Frau.

„Du lieber Himmel“, stöhnte Onkel Ned und verdrehte dabei die Augen. Sofia zuckte zusammen, als sie sich die Szene ausmalte, die sie erwartete, wenn sie erklären musste, wieso sie den Umhang abgelegt hatte, den sie sich von ihrer Cousine Betty nur deswegen hatte ausleihen dürfen, weil sie versprochen hatte, gut darauf aufzupassen.

Onkel Ned musste denselben Gedanken gehabt haben, denn als er sie vom Ort des Geschehens wegzog, murmelte er: „Hast du denn gar keinen Verstand?“

Oliver ballte die Hände zu Fäusten und sah dem Mann hinterher, der mit einer Hand Miss Underwoods Oberarm umklammerte und sie hinter sich herzog, als ob er sie gerade auf frischer Tat ertappt hätte. Wenn es etwas gab, das er verabscheute, dann Männer, die ihre überlegene Körperkraft gegen Frauen einsetzten. Vor allem wenn es um die Frauen aus ihrer eigenen Familie ging.

Wenn die schwer verletzte Frau zu seinen Füßen nicht gewesen wäre, wäre er hinter Miss Underwood hergelaufen und hätte ihrem Onkel seine Meinung gesagt. Aber die Frau zu seinen Füßen hatte seine Hilfe nötiger als die, die auf eigenen Füßen den Schauplatz der Katastrophe verlassen konnte, in der der Abend geendet hatte.

Er schaute auf sie hinab. Sie hatte aufgehört zu stöhnen. War das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Wenn er nur gewusst hätte, was zu tun war, so wie Miss Underwood es intuitiv gewusst hatte.

Sie hatte sich hingekniet und die Hand der stöhnenden Frau gehalten.

Aber Miss Underwood war ja auch eine Frau. Das war ihm in diesem kritischen Augenblick sehr genau bewusst geworden, als er ihr Knie durch einen Riss in ihrem Rock gesehen hatte.

Wahrscheinlich würde es die Verletzte gar nicht beruhigen, wenn er sich hinkniete und ihre Hand nahm. Aber er musste irgendetwas tun. Er schaute sich um. Wo blieb der verdammte Arzt?

Plötzlich überfiel die Frau ein krampfartiges Zittern.

„Der Doktor kommt gleich, Miss … Mrs. …“ Er schwieg und knirschte mit den Zähnen. Er hatte nicht einmal daran gedacht, sie nach ihrem Namen zu fragen.

„Pagett“, krächzte die Frau.

„Pagett“, wiederholte er in einem Ton, der hoffentlich beruhigend war.

Sie stöhnte wieder.

„Seien Sie tapfer“, sagte er. „Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Doktor …“

„Das ist es ja gerade“, wimmerte sie. „Ich kann mir keinen Arzt leisten. Ich kann die Behandlung für so was …“, sie bewegte hilflos die Arme, „… für so was Aufwendiges nicht bezahlen.“

Und daran hatte Miss Underwood auch gedacht.

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, sagte er zu Mrs. Pagett. „Ich sorge dafür, dass die Rechnungen für Ihre Behandlung bezahlt werden. Und Sie bekommen die Pflege, die Sie brauchen, solange es nötig ist.“

„Sie?“ Sie sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. „Warum sollten Sie so was tun?“

„Weil es meine Pflicht ist, mich um Sie zu kümmern – und die des Komitees, das den heutigen Abend organisiert hat. Außerdem“, fügte er schnell hinzu, „sorge ich für Ihre Familie, solange Sie ausfallen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das sagen Sie jetzt. Aber wer wird schon auf Sie hören?“

„Alle“, antwortete er voller Zuversicht. „Weil ich der Vorsitzende des Komitees bin.“

„Sie?“ Sie sah ihn ungläubig an.

„Ja“, versicherte er ihr. „Ich bin der Duke of Theakstone.“

2. KAPITEL

Und Sie sagen, der fragliche Mann ist Viscount Norborough“, hakte Oliver nach. „Sind Sie ganz sicher?“

Sein Sekretär Perceval öffnete die Aktentasche, die er ins Arbeitszimmer mitgebracht hatte, blätterte durch den Inhalt und zog eine dünne Mappe hervor.

„Die Bewohner von Theakstone Crescent Nummer sechs“, sagte er und zeigte auf den entsprechenden Eintrag, damit Oliver sich selbst überzeugen konnte. „Lord und Lady Norborough, ihre Nichte Miss Underwood, verschiedene Dienstboten und ein Hund. Sie sind am ersten Juni eingezogen und haben einen Mietvertrag für drei Monate abgeschlossen.“

Oliver lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte mit gerunzelter Stirn daran, wie unsanft der Onkel seine hübsche junge Nichte vom Schauplatz des Unfalls weggeführt hatte. Er tippte mit einem Finger auf die Armlehne seines Stuhls. Er hätte darauf bestehen sollen, dass sie blieb, bis sich ein Arzt um sie kümmern konnte.

Allerdings hatte Dr. Cochrane mit Mrs. Pagett so viel zu tun gehabt, dass keine Zeit mehr für Miss Underwood geblieben wäre.

Ihm fiel ein, dass sie ihre Tante erwähnt hatte. Die Dame hatte mit Sicherheit alles Nötige unternommen, um die kleinen Schnitt- und Schürfwunden zu versorgen, die Miss Underwood davongetragen hatte.

Oder nicht?

„Was wissen wir über diese Norboroughs, Perceval?“

„Der Landsitz der Familie liegt in Derbyshire. Lady Norborough ist die älteste Schwester des Earl of Tadcaster. Der …“

„Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich wollte etwas über ihren Charakter wissen. Ihre Gewohnheiten. Ihre Geschichte.“

„Ich kümmere mich darum, Euer Gnaden“, sagte Perceval, ohne zu zögern.

Das reichte nicht. Oh, Perceval würde wühlen und graben, bis er auch noch das letzte Geheimnis enthüllt hatte, das das Paar möglicherweise jemals zu verbergen versucht hatte. Das brauchte jedoch seine Zeit. Aber vielleicht hatte Miss Underwood jetzt gerade wer weiß was auszustehen.

„Sie brauchen deshalb nicht alles andere stehen und liegen zu lassen, Perceval. Sie haben schon genug damit zu tun, die Ursache für den Unfall gestern Abend herauszufinden.“

Sie waren bereits am Ort des Brandes gewesen, in der Hoffnung, dass sie im Tageslicht feststellen konnten, was die Explosion der sorgfältig errichteten Konstruktion verursacht hatte.

Er verstand zwar nichts von Zündvorrichtungen und Schwarzpulver, die Männer, die alles aufgebaut hatten, aber schon, und sie waren alle gleichermaßen ratlos, wie das alles so schrecklich hatte schiefgehen können.

„Alle Beweise sind verbrannt“, hatte einer von ihnen niedergeschlagen gesagt. „Es ist nur noch Asche übrig.“

„Beweise?“ Oliver hatte sich mit einer Spur von Sorge auf dieses Wort und auf alles, was damit angedeutet werden konnte, gestürzt. „Wollen Sie damit vielleicht sagen, dass hier ein Verbrechen stattgefunden hat?“

„Sabotage“, hatte einer der anderen Arbeiter festgestellt. „Anders kann es nicht gewesen sein.“

„Oder Nachlässigkeit“, hatte Perceval gemurmelt, sodass ihn niemand außer Oliver hatte hören können. „Oder Betrunkenheit. Oder Unfähigkeit.“

Ganz gleich, was die Ursache gewesen war, Perceval würde dem auf den Grund gehen.

„In der Zwischenzeit“, entschied Oliver, „werde ich Miss Underwood aufsuchen.“ Er fand ohnehin keine Ruhe, solange er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, dass sie bei dem Zwischenfall keine bleibenden Schäden davongetragen hatte. Und das lag nicht daran, dass sie hübsch war, soweit er das im schwachen Schein der verlöschenden Flammen hatte sehen können. Es lag daran, wie tapfer sie auf die Frau zugerannt war, deren Kleidung Feuer gefangen hatte, während alle anderen selbstsüchtig und feige weggelaufen waren. Und das Mitgefühl, das sie bewiesen hatte, als sie sich hingekniet und die Hand der verletzten Frau genommen hatte. Und dass sie sich überhaupt nicht um die gesellschaftliche Stellung der Frau gekümmert hatte, als sie so selbstlos ihren Umhang geopfert hatte, um Mrs. Pagetts Beine zu bedecken, obwohl sie damit in Kauf nahm, dass er durch den Riss in ihrem Rock einen Blick auf ihre wohlgeformten Beine hatte werfen können.

Perceval steckte die Mappe zurück in die Tasche und holte Olivers Kalender hervor. „Sie nehmen morgen um fünf Uhr an einer außerordentlichen Sitzung des Komitees für die Feierlichkeiten zum Friedensschluss mit Frankreich teil.“

„Und Marine View liegt auf dem Weg. Effizient wie immer, Perceval. Ich brauche mich nur eine halbe Stunde früher auf den Weg zu machen.“

„Ich werde es notieren, Euer Gnaden“, sagte Perceval und leckte die Spitze seines Bleistifts an.

„Der Duke of Theakstone“, meldete Babbage, der an der Tür des Salons stand.

„Der Duke of Theakstone? Sind Sie sicher?“ Skeptisch blickte Tante Agnes den Butler an, der von ihrem Landsitz Nettleton mit ihnen hierhergekommen war. „Mir war gar nicht bewusst, dass wir überhaupt Herzöge kennen. Ned? Tun wir das? Kennen wir diesen Herzog?“

Onkel Ned ließ die Zeitung sinken. „Theakstone? Ah, jetzt, wo ich darüber nachdenke: Er ist unser Vermieter. Vielleicht gibt es Schwierigkeiten mit dem Mietvertrag oder etwas in der Art. Führen Sie ihn ins Arbeitszimmer, Babbage, ich werde mich dort mit ihm unterhalten.“

Babbage räusperte sich entschuldigend. „Seine Gnaden hat mir zu verstehen gegeben, dass er mit Miss Sofia zu sprechen wünscht, Mylord.“

Onkel Ned und Tante Agnes drehte sich beide um und starrten sie an. Onkel Ned erholte sich als Erster. „Unsinn! Das muss ein Missverständnis sein. Sofia kennt keinen einzigen Herzog. Du hast sie doch ständig im Auge, Agnes, nicht wahr? Wo hätte sie dem denn begegnen sollen, hm?“

„Nirgendwo“, sagte Tante Agnes bestimmt. „Das kann ich dir versichern.“

Das hätte ich ihm auch versichern können, dachte Sofia, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, mich zu fragen. Aber das war nicht seine Art. Sie war schließlich nicht, wie er so gern betonte, seine Nichte. Sie war sich ziemlich sicher, dass er nichts dagegen hatte, dass sie bei ihm wohnte. Er war nur eben davon überzeugt, dass es Frauensache war, sich um die Erziehung von Mädchen zu kümmern. Das hatte er gleich am ersten Tag gesagt, als sie nach Nettleton gekommen war, erschöpft und einen jämmerlichen Eindruck bietend nach der langen Reise. Und überzeugt davon, dass die beiden sie an die nächsten Fremden weiterreichen würden. Es war das erste Mal gewesen, dass er und Tante Agnes über sie geredet hatten, als ob sie gar nicht da wäre. In den Jahren, die darauf gefolgt waren, wurde das immer mehr zur Gewohnheit bei ihnen.

Babbage räusperte sich noch einmal, um sie alle taktvoll daran zu erinnern, dass sie einen Herzog in der Eingangshalle warten ließen. Sofia hatte allerdings keine Ahnung, wieso hier ein Mann auftauchte, der behauptete, ein Herzog zu sein, und nach ihr fragte. Soweit sie wusste, war sie ihr ganzes Leben lang noch keinem Herzog begegnet.

„Ja, ja, dann führen Sie ihn eben herein“, sage Onkel Ned ungeduldig. „Das muss irgendein Missverständnis sein. Ich denke, das klären wir im Handumdrehen. Ah, guten Morgen“, grüßte er und legte die Zeitung beiseite, ehe er sich erhob, um den Mann zu begrüßen, der hereingekommen war, als gehöre ihm das alles hier. Was er zwar behauptet hatte, was jedoch nicht sein konnte. Der Besucher war nämlich kein Herzog. Das war der Kellner von dem Abend, als das Feuerwerk schiefgegangen war.

Der Kellner nickte ihrem Onkel zu und kam dann direkt auf sie zu. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, und er sah sie besorgt an.

„Ihr armes Gesicht“, sagte er und streckte eine Hand aus, als wolle er ihr über das blaue Auge streichen. Erst im letzten Moment besann er sich eines Besseren. Anscheinend war ihm gerade wieder eingefallen, was sich gehörte.

Dennoch hatte Sofia das Gefühl, dass er sie berührt hatte. Das war ein seltsames Gefühl. Sie konnte sich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern, dass jemand sie voller Zuneigung berühren wollte. Oder Sorge. Tante Agnes ganz sicher nicht. Als sie sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie sich angeekelt geschüttelt, ehe sie sie mit einem sehr jungen Hausmädchen weggeschickt hatte, um sie auszuziehen und abzuschrubben. Seitdem hielt sie immer eine Armlänge Abstand von ihr.

„Vergiss nicht, dass du aus einer guten Familie kommst“, sagte sie immer und immer wieder zu ihr. Diese Ermahnung hatte ihre erste abgelöst: „Du bist jetzt in England und musst dich auch so benehmen.“

Gestern Abend jedoch, als sie das zerrissene Kleid und den Verlust von Bettys Umhang bemerkte, hatte sie Sofia mit ihrem gesamten Arsenal von Zurechtweisungen bombardiert. Und heute Morgen, als sie mit einem blauen Auge zum Frühstück erschienen war, hatte sie keineswegs eine Hand nach ihr ausgestreckt wie der Mann eben, sondern sie stattdessen an ihre eigene Stirn gelegt. „Genau wie dein Vater“, hatte sie geseufzt. „Der war auch nicht glücklich, wenn er nicht bis zum Hals in Dummheiten gesteckt hat.“

Das war wirklich ungerecht. Sofia hatte sich solche Mühe gegeben, eine anständige englische junge Dame zu werden, dass inzwischen alle innerhalb eines Zehn-Meilen-Umkreises von Nettleton sie für sterbenslangweilig hielten.

„Ist Ihre Nichte“, fragte der Kellner, der sich als Herzog ausgab, „nach dem Brand von einem Arzt untersucht worden?“ Er hatte sich sichtlich verärgert ihrem Onkel zugewandt.

„Das sind doch nur ein paar blaue Flecken und Kratzer, weiter nichts“, sagte Tante Agnes abwehrend.

Er hob eine Augenbraue und sah ihre Tante mit einem so vernichtenden Blick an, dass sie selbst auf der Stelle im Erdboden versunken wäre, wenn er sie so angesehen hätte.

Einen Augenblick lang überlegte Sofia, ob sie Tante Agnes sagen sollte, dass sie sich unter diesem Blick nicht zu ducken brauchte. Seine Augenbrauen wirkten vielleicht bedrohlich, aber sie zierten die Stirn eines einfachen Kellners. Keines Herzogs.

Andererseits kam es nicht gerade oft vor, dass jemand sich auf ihre Seite gegen ihren Onkel und ihre Tante stellte. Und so schwieg sie, während Tante Agnes rot wurde und stotternd nach Ausflüchten suchte.

„Sie wird doch regelmäßig von einem Arzt untersucht. Sie ist ja schließlich aus gesundheitlichen Gründen hier. Wegen der Seeluft“, erklärte sie schließlich.

„Gesundheitlich?“ Seine Stimme war so voller Verachtung, dass sogar Sofia begriff, wie er als Herzog durchgehen konnte. „Was hatte sie dann gestern Abend draußen in der Dunkelheit und Kälte verloren?“

„Das ist doch alles nur Einbildung, dass Sofia gesundheitliche Probleme haben soll“, warf Onkel Ned ein. „Diese Reise ans Meer ist nichts als eine der fixen Ideen, die der Bruder meiner Frau ihr in den Kopf gesetzt hat.“

Sofia wurde rot und ließ den Kopf hängen, denn Onkel Ned war näher an der Wahrheit, als er wissen konnte. Und sie fühlte sich noch immer ein wenig schuldig, weil ihr Onkel Barty den beiden eingeredet hatte, sie müssten mit ihr hierherkommen.

„Was du brauchst“, hatte er bei seinem letzten Besuch gesagt, „ist eine Pause von dieser höllisch langweiligen Einöde hier, sodass du mal mit jemand anderem reden kannst als mit Bauern. Sodass du ein bisschen ausgehen kannst und tanzen. Dann bekommst du von ganz allein wieder rosige Wangen“, hatte er prophezeit. Und dann hatte er seiner Schwester so lange in den Ohren gelegen, weil sie Sofia vernachlässigte, dass sie alle in das vornehme Seebad Burslem Bay gekommen waren, um zu sehen, ob eine Badekur ihr vielleicht den Appetit zurückgeben konnte und sie das Gewicht wieder zulegte, das sie im Winter verloren hatte.

„Also, Ned, das ist nicht wahr“, sagte Tante Agnes. „Die arme Sofia war ja nur noch ein Schatten ihrer selbst.“

Onkel Ned schnaubte. „Du hättest doch nicht einmal im Traum daran gedacht, so viel Geld für ein Häuschen am Meer auszugeben, wenn deine Landplage von Bruder sich nicht eingemischt hätte.“

„Aber er ist genauso für sie verantwortlich wie du und ich, Ned. Natürlich glaubt er, dass ihn ihr Wohlergehen etwas angeht.“

Sofia hätte sich vor Verlegenheit am liebsten unsichtbar gemacht. Es war ja schlimm genug, wenn die beiden sich über sie stritten, während sie im selben Raum war. Aber dann auch noch vor einem Fremden?

Der angebliche Herzog sah das zankende Ehepaar mit einem letzten verächtlichen Blick an, ehe er mit langen Schritten auf sie zukam und sich in den Sessel neben ihr setzte.

„Sie wollen doch sicherlich wissen, wie es Mrs. Pagett geht“, sagte er.

„Mrs. Pagett?“ Du lieber Gott, war das ihre Stimme, die da eben so gequietscht hatte? Aber seine Nähe war ein wenig zu viel für sie. Er strahlte ein solches Selbstbewusstsein und so viel Kraft aus.

Als wäre er tatsächlich ein Herzog.

„Die Frau, der Sie zu Hilfe gekommen sind, weil ihr Kleid Feuer gefangen hatte.“

„Oh, ja, vielen Dank! Wie geht es ihr? Haben Sie einen Arzt für sie gefunden?“

„Sofia, also wirklich“, unterbrach ihre Tante sie, die aus ihrem Streit mit Onkel Ned geschreckt worden war, als sie gehört hatte, dass Sofia allen Ernstes ein Gespräch mit jemandem führte, das nicht von ihr beaufsichtigt wurde. „Wo hast du nur deine Manieren? Bitte verzeihen Sie ihr, Sir. Ich bin überzeugt, es war nicht unhöflich gemeint, dass sie Sie so mit Fragen löchert.“

„Macht doch nichts“, sagte der Kellner-Herzog. „Das ist wohl nur der Ausdruck weiblicher Neugier und Sorge um jemanden, dessen unglückseliger Unfall sie offensichtlich sehr erschreckt hat.“

In diesem Augenblick beschloss Sofia, dass sie ihn mochte, ganz gleich, ob er Kellner war oder Herzog oder etwas ganz anderes. Denn von Onkel Barty einmal abgesehen, wenn er sich denn dazu herabließ, sie zu besuchen, hatte niemand sie jemals vor ihrer Tante in Schutz genommen. Zumindest nicht so von Angesicht zu Angesicht. Das war in all den Jahren, die sie nun schon unter einem Dach lebten, noch nie vorgekommen. Die Leute im Dorf hatten ausnahmslos Mitleid mit ihr, nachdem sie gehört hatten, dass Lady Norborough den verwaisten Sprössling ihres Taugenichts von Bruder bei sich aufgenommen hatte. Sie prophezeiten ihr, dass sie die Hände voll damit zu tun haben würde, das Produkt seiner skandalösen Heirat zu zähmen.

Nachdem er ihrer Tante diesen Dämpfer verpasst hatte, wandte sich der Kellner, der sich als Herzog ausgab, wieder Sofia zu. „Mein Leibarzt kümmert sich um ihre Behandlung. Er hält es für das Beste, wenn sich eine Krankenschwester jeden Tag bei ihr zu Hause um sie kümmert. Er hat mir mitgeteilt, dass ihre Verletzungen nicht so schwer sind, wie man vielleicht annehmen könnte, nachdem ihre Kleidung so lichterloh in Flammen gestanden hat. Aber ihre Kleider haben wohl auch den meisten Schaden davongetragen, abgesehen von ihrem rechten Bein und natürlich ihren Händen, als sie versucht hat, die Flammen auszuklopfen. Sie hat ein paar Brandblasen im Gesicht und ein bisschen Haar verloren, aber man hat mir gesagt, das wird nachwachsen. Ihr Haar meine ich.“

Sofia schauderte. „Oh, wie schrecklich. Die arme Frau. Aber Gott sei Dank sind Sie schnell bei ihr gewesen.“

Er nickte.

„Ich wünschte nur … Ich meine, kann ich irgendetwas tun?“

„Natürlich kannst du überhaupt nichts tun, du dummes Mädchen“, sagte Tante Agnes. „Du bist doch kein Arzt. Ich verstehe überhaupt nicht, wie du in so eine schmutzige Angelegenheit hineingeraten bist.“

Genauso wenig verstand sie es selbst. Aber als sie gestern Abend im Bett gelegen hatte, war ihr wieder eingefallen, dass ihr Papa immer gesagt hatte, wie viel Mumm sie in den Knochen hatte. Wahrscheinlich waren die schrecklichen Ereignisse um den Tod ihres Papas herum daran schuld, dass das inzwischen niemand mehr bemerkte. Als sie in Nettleton angekommen war, war sie so erleichtert gewesen, endlich einen Unterschlupf gefunden zu haben, dass sie sich die größte Mühe gab, sich anzupassen. Es hatte einige Jahre gedauert, bis sie aufgehört hatte, sich Sorgen zu machen, dass ihre neu gefundene Familie sie aus dem Haus werfen würde, wenn sie unzufrieden mit ihr war. Und bis dahin war ihr die extreme Vorsicht zur zweiten Natur geworden.

Aber sie ging noch immer schwimmen und kletterte auf Bäume, wenn sie sicher war, dass niemand davon erfahren würde. Gestern Abend, als sie die arme Frau in dieser schrecklichen Lage gesehen hatte, hatte sie überhaupt nicht an die Folgen gedacht. Sie war einfach losgelaufen, um ihr zu helfen.

Während ihr das alles durch den Kopf ging, hatte sich der Herzog Tante Agnes zugewandt und sah sie mit einem vernichtenden Blick an. „Ihre Nichte scheint über einen mitfühlenden Charakter zu verfügen, Lady Norborough. Mit Sicherheit hat sie nur daran gedacht, einen Besuch zu machen, um Trost zu spenden oder dergleichen.“ Er wandte sich wieder an Sofia. „Nicht wahr?“

„Also, nein … Ich meine, ich bekäme mit Sicherheit keine Erlaubnis, sie aufzusuchen“, sagte sie bedauernd und warf ihrer Tante kurz einen ängstlichen Blick zu. Sie sagte ihr immer, dass sie Besuche bei Mitgliedern niedrigerer sozialer Schichten unter allen Umständen vermeiden sollte, vor allem wegen der Gesellschaft, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte. „Aber ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht einen finanziellen Beitrag zu ihrer Pflege leisten könnte.“

„Also, einen Augenblick bitte …“ Dieses Mal war es Onkel Ned, der Einwände hatte.

„Das spricht sehr für Ihre Nichte“, sagte der Herzog. „Aber in diesem Fall, Miss Underwood“, fuhr er fort und wandte sich in freundlicherem Ton an sie, „kommt das Komitee für die Pflege von Mrs. Pagett auf, das den Abend organisiert hat. Immerhin ist es für die Sicherheit von allen verantwortlich, die an dem Dinner teilnahmen und sich das Feuerwerk angesehen haben.“

Er sah ihre Tante und ihren Onkel einen Augenblick lang schweigend an. Sie alle hielten den Atem an.

„Ich hole Ihre Nichte morgen zu einer Ausfahrt in meiner Kutsche ab. Seien Sie um drei Uhr abfahrbereit, Miss Underwood.“

3. KAPITEL

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen fuhr Oliver in seinem Zweispänner vor Miss Underwoods Unterkunft vor und fragte sich, warum er seinen vollen Terminkalender änderte, um Platz für ein Treffen mit ihr zu machen. Als er sie gestern besucht hatte, hatte er damit keine weitere Absicht verfolgt, als sich davon zu überzeugen, dass sie sich gut von dem Zwischenfall während des Feuerwerks erholte. Er hatte ganz bestimmt nicht vorgehabt, sie zu einer Ausfahrt einzuladen.

Aber dann hatten ihre Tante und ihr Onkel so herablassend über sie geredet. Was ungerecht war, wenn man an die Tapferkeit dachte, mit der sie Mrs. Pagett zu Hilfe geeilt war.

Es hatte ihm schon nicht gefallen, wie ihr Onkel sie an jenem Abend hinter sich hergezogen hatte.

Und es hatte ihm auch nicht gefallen, wie beide ihr Vorwürfe wegen ihres Verhaltens machten, obwohl es ihm mitfühlend und verantwortungsvoll vorkam.

Genau deswegen hatte er sie zu der Ausfahrt heute Nachmittag eingeladen – damit sie von ihren anmaßenden, missbilligenden Verwandten wegkam und sie sich frei unterhalten konnten. Über Mrs. Pagett.

Natürlich hatte es nichts mit der Anziehungskraft zu tun, die er gespürt hatte, als er sie im Sonnenlicht ihn diesem Salon hatte sitzen sehen. Er lernte ständig Dutzende von hübschen Mädchen kennen. Was das anging, war sie nicht außergewöhnlich. Er hatte einfach eine Vorliebe für schlanke Brünette mit braunen Augen, das war alles. Dass er ihre Beine durch den zerrissenen Rock hindurch gesehen hatte, hatte wahrscheinlich sein männliches Interesse geweckt.

Nachdem er mit ihr durch die Stadt und am Meer entlanggefahren war, würde er mit Sicherheit einen Charakterfehler bei ihr gefunden haben, aufgrund dessen er sie zu einer vorübergehenden Laune machen konnte.

Er hielt an, stieg vom Kutschbock und warf seinem Reitknecht die Zügel zu. Die mutige junge Dame, die er am Abend des Feuerwerks gesehen hatte, existierte sicher ohnehin nur in seiner Einbildung. Zumindest hatte er im Salon ihrer Tante eine ganz andere Miss Underwood angetroffen. Dieses Mädchen war nichts als höflicher Anstand und Geziertheit. Selbst als er sie direkt gesprochen hatte, war es ihm so vorgekommen, als wäre sie am liebsten in den Sofakissen versunken und unsichtbar geworden. Wenn er dieser Miss Underwood auf einem Ball oder bei einem Dinner begegnet wäre, hätte er keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet. Ganz sicher wäre er nicht mit ihrem Bild vor Augen eingeschlafen, wie sie auf dem Boden hockte und Mrs. Pagetts Hand hielt. Und er hätte danach auch nicht davon geträumt, dass er sich neben ihr auf den Boden hockte und seine Hand durch den Riss in ihren Röcken schob, um die seidenweiche Haut ihrer Schenkel zu spüren.

Er stieg die Treppen zur Vordertür hinauf und klopfte. Heute Nachmittag wollte er seine unangenehme Faszination für Miss Underwood begraben. Und danach konnte er zu seinem wohlgeordneten Leben zurückkehren, in dem jeder seiner Schritte von Pflichterfüllung, Ehre und Vernunft bestimmt wurde.

Nicht von Gefühlen oder Verlangen.

„Er ist da!“ Tante Agnes hüpfte fast auf und ab vor Aufregung. Sie hatte den ganzen Vormittag lang überlegt, was sie anziehen sollte. Wenn genug Zeit gewesen wäre, wäre sie losgegangen und hätte ein nagelneues Kleid mit passender Haube für sich bestellt. „Oh!“ Sie legte ihre Hände auf die Brust. „Er ist in einem absolut lächerlichen Gefährt vorgefahren. Da passen wir wohl kaum beide hinein. Hoffentlich hat er nicht vor …“ Sie drehte sich um und sah Sofia mit zusammengekniffenen Augen an. „Es ist ausgesprochen unschicklich, ohne angemessene Begleitung mit einem unvermählten Gentleman auszufahren, mit dem man nicht verwandt ist.“

„Das solltest du ihm lieber sagen, wenn er hereinkommt“, erwiderte Sofia spöttisch.

„Sei doch nicht albern! Also ob man ihm so etwas sagen müsste. Er hat seine Meinung einfach geändert, was die Ausfahrt angeht.“ Sie tippelte zum Spiegel hinüber, wo sie ihre Frisur überprüfte. „Wenigstens ist er höflich genug, herzukommen und es uns mitzuteilen.“ Sie ließ sich in einen Sessel sinken und ordnete ihre Röcke, beides gerade rechtzeitig, ehe Babbage ihren Besucher ankündigte.

Der Herzog kam bei den letzten Worten des Butlers herein. Er sah zu Sofia hinüber, die mit Snowball auf dem Sofa saß. Die Hündin hatte die Schnauze auf ihren Schoß gelegt. „Guten Tag, meine Damen.“ Er neigte höflich den Kopf. „Sind Sie noch nicht fertig?“ Er warf Sofia einen ziemlich verärgerten Blick zu. „Ich hatte doch ausdrücklich drei Uhr gesagt, und ich möchte nicht, dass meine Pferde zu lange auf der Stelle stehen.“

„Oh, aber wir dachten, dass Sie Ihre Meinung geändert hätten“, sagte Tante Agnes.

Er drehte sich nach ihr um. „Wie kommen Sie denn auf so etwas? Außerdem: Wenn es so wäre, hätte ich eine Nachricht geschickt. Also?“ Er wandte sich wieder Sofia zu.

„Ich muss nur meine Pelisse und meine Haube holen“, sagte sie und ließ ihn dabei nicht aus den Augen, damit sie weiter so tun konnte, als ob sie die verstohlenen Versuche ihrer Tante nicht bemerkte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn sie ihr verbieten wollte, ohne Begleitung mit ihm das Haus zu verlassen, dann hätte sie es ihm gleich mitteilen sollen, als er den Vorschlag gemacht hatte. Noch nie hatte ein Gentleman, mit dem sie nicht verwandt war, sie zu einer Ausfahrt eingeladen. Und Sofia hatte keineswegs die Absicht, sich dieses Vergnügen entgehen zu lassen. Immerhin hatte sie sich selbst gelobt, dass sie jede Gelegenheit, sich zu amüsieren, beim Schopfe packen wollte, als Onkel Ned endlich einverstanden gewesen war, mit ihr ans Meer zu fahren. Sie wollte die Vergangenheit endlich hinter sich lassen.

„Na, dann beeilen Sie sich“, sagte der Mann, der ihr die Möglichkeit bot, ihrer Tante und ihrem Onkel wenigstens für eine Stunde zu entkommen.

Sofia eilte in die Halle, zog die Pelisse an und setzte ihre Haube auf. Snowball, die merkte, dass es nach draußen ging, rannte im Kreis um sie herum und hätte den Herzog beinahe zu Fall gebracht, als er die Halle betrat.

„Hierher, Snowball“, rief Sofia und beugte sich vor, um die Hündin auf den Arm zu nehmen. „Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir sie mitnehmen, oder?“ Es fiel ihr viel zu spät ein, dass der Herzog vielleicht etwas dagegen hatte, wenn ein Tier von so zweifelhafter Abstammung auf dem Schoß der Dame saß, mit der er in seinem Zweispänner durch die Stadt fahren wollte. Einer Dame, die zudem noch ein unübersehbares blaues Auge hatte.

Der Herzog blickte auf das sich windende Fellbündel in ihren Armen hinab und sah ihr dann ins Gesicht, so als ob seine Gedanken denselben Weg genommen hätten wie ihre soeben. „Ganz und gar nicht“, sagte er mit kühler Höflichkeit. „Aber wäre es diesem Tier nicht lieber zu laufen? Mit einem Lakaien?“

„Oh, ich gehe später noch mit Snowball spazieren“, erwiderte sie und ging damit über seinen Einwand hinweg. „Eine Kutschfahrt ist ein besonderer Spaß für sie. Sie liebt Kutschfahrten.“

„Wirklich?“, fragte er trocken und sah Babbage an, der daraufhin zur Vordertür ging und sie öffnete, damit sie das Haus verlassen konnten.

„Oh, ja, Sie hätten sie mal auf der Fahrt hierher sehen sollen“, sagte Sofia, als sie die Eingangsstufen hinunterging. „Sie hatte die ganze Zeit ihre Nase am Türspalt der Kutsche und hat alles erschnüffelt, was sie konnte.“

„Hm, Hunde nehmen die Welt über die Nase wahr“, räumte er ein, als er ihr half, auf der Sitzbank Platz zu nehmen. Während er zur Fahrerseite ging, setzte Sofia Snowball direkt in die Mitte der Bank.

Der Herzog hielt inne, ehe er sich hinsetzte, und hob die linke Augenbraue.

„Also soll dieses kleine Fellbündel die Anstandsdame sein, die ich mit solcher Mühe von unserem Ausflug ferngehalten habe.“

„Ein Mädchen kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es um den guten Ruf geht“, wiederholte Sofia eine der häufigsten Predigten ihrer Tante.

„Ich habe natürlich einen Reitknecht dabei, der auf dem Dienertritt steht. Aber wie dem auch sei“, sagte er, ließ sich nieder und ergriff die Zügel, „es ist lobenswert, dass Sie nicht versuchen, sich die Situation zunutze zu machen.“

„Zunutze machen? Wie meinen Sie das denn?“

„Die meisten Frauen“, sagte er und nickte dem Reitknecht zu, sich auf seinen Platz zu begeben, „würden an Ihrer Stelle unter dem Vorwand, sich vor der Geschwindigkeit zu fürchten, versuchen, sich an meinen Arm zu klammern.“

„Wir sind doch noch gar nicht losgefahren“, wandte sie ein, als er die Pferde anziehen ließ. „Allerdings“, fügte sie schnell hinzu, „gibt es hier an meiner Seite ein kleines Geländer, an dem ich mich festhalten kann, falls Sie sich als rücksichtsloser Fahrer entpuppen sollten.“

Daran, wie er die Zähne zusammenbiss, merkte Sofia, dass es dem Herzog nicht gefiel, dass sie angedeutet hatte, sein Fahrstil könnte ihr vielleicht nicht gefallen, aber zum Glück blieb ihnen keine Zeit mehr dafür, das Thema zu vertiefen, denn Snowball hatte auf dem Fenstersims eines Hauses, an dem sie vorbeifuhren, eine Katze entdeckt und bellte laut.

„Ruhig, Snowball“, sagte Sofia und tippte der Hündin mit zwei Fingern fest auf die Schnauze, um den Befehl zu verstärken.

Der Herzog schnaubte. „Sie können doch von einem Hund, der etwas auf sich hält, nicht erwarten, dass er keine Katze anbellt.“

„Ganz im Gegenteil. Ich habe Snowball beigebracht, leise zu sein, wenn es nötig ist.“ Es war nötig gewesen. Tante Agnes war so strikt dagegen, ein Tier im Haus zu haben, dass Sofia Stunden um Stunden damit verbracht hatte, ihre Hündin zu absolutem Gehorsam zu erziehen. „Jetzt, nachdem ich den Befehl gegeben habe, wird sie keinen Ton mehr von sich geben, bis ich es ihr erlaube. Das garantiere ich Ihnen.“

„Ein bemerkenswertes Tier“, sagte er und sah auf Snowball hinab. „Ein Pudelmischling, nehme ich an?“

„Ja, ich glaube schon. Ich muss sie regelmäßig scheren lassen, sonst wird sie irgendwann zu einem vollkommen runden Fellball. Wie ein Schneeball auf Beinen, könnte man sagen.“

„Ach, daher der Name.“

„Nein, als sie noch ein Welpe gewesen ist, hat sie einfach wie ein flauschiger kleiner Schneeball ausgesehen. Außerdem war Weihnachten. Der Name hat sich einfach aufgedrängt.“

„Ihre Rute sieht allerdings aus wie die eines Spaniels.“

„Ja, ihre Mutter ist auf jeden Fall ein Spaniel gewesen. Aber ihr Vater, der …“

Oh Gott, wieso war ihr das nicht früher aufgefallen? Deswegen hatte Jack ihr den Welpen geschenkt. Weil er ein Mischling war. Es war ein grausamer Witz, der sich auf ihre eigene Herkunft bezog.

War das auch der Grund dafür, dass Tante Agnes so wütend geworden war? Es erklärte auf jeden Fall, wieso ihre Tante nicht mehr viel gegen Snowball gehabt hatte, nachdem die ersten Minuten vorbei gewesen waren, in denen sie Jack wegen seiner Gedankenlosigkeit ausgeschimpft hatte. Und wieso sie ihr nicht ein einziges Mal damit gedroht hatte, die Hündin erschießen zu lassen oder zu verschenken, ganz gleich, wie oft Sofia tropfnass oder schlammbespritzt von einem Spaziergang zurückgekommen war. Sie hatte mit ihr geschimpft, das ja. Sie hatte gesagt, sie würde die Hoffnung langsam aufgeben, eine richtige Dame aus ihr zu machen. Aber sie hatte nicht ein einziges Mal damit gedroht, ihr das Haustier wegzunehmen, in das Sofia sich auf den allerersten Blick verliebt hatte.

Genau wie sie auf Jack hereingefallen war.

Als er ihr sagte, dass er sich Springers neuesten Wurf angesehen und sofort an sie gedacht hätte, hatte sie geglaubt, dass er ihr etwas hatte schenken wollen, das nur ihr gehörte, weil er gemerkt hatte, wie einsam und fehl am Platze sie sich in England immer noch fühlte. Ein Wesen, das sie liebte und für immer bei ihr bleiben würde.

Aber er hatte sich die ganze Zeit nur über ihre Eltern lustig gemacht.

Wie … abscheulich von ihm. Wie grausam.

Und wie dumm von ihr, dass sie es nicht verstanden hatte.

Der Herzog räusperte sich. „Ich habe Sie allerdings nicht mitgenommen, um über Hunde zu sprechen.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte sie und fuhr geistesabwesend mit den Fingern über Snowballs Köpfchen. Obwohl ihr plötzlich klargeworden war, was die Hündin nach Jacks Meinung darstellen sollte, liebte sie das Tierchen nach wie vor. Snowball war treu und lieb, brav und klug. „Gutes Mädchen, Snowball“, sagte sie.

„Geht es Ihnen gut? Sie wirken ein wenig geistesabwesend.“

Autor

Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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