Ein Boss, ein Schloss und tausend Küsse

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Cal Bryce, der neue Graf von Lengroth, braucht dringend eine Nanny für seinen Neffen und seine Nichte. Doch kein Kindermädchen hält es lange mit den beiden elternlosen Rabauken aus. Bis unvermittelt die junge Lehrerin Heather vor dem schottischen Schloss steht, das er geerbt hat. Sie ist bereit für den Job - auch wenn sie wegen etwas ganz anderem nach Lengroth gekommen ist: Sein mittlerweile verstorbener Bruder hat sie verführt - mit süßen Folgen! Bekäme die Presse Wind davon, wäre der Skandal perfekt. Nur eine Heirat kann den Ruf der Familie retten …


  • Erscheinungstag 30.06.2020
  • Bandnummer 132020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714246
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Lengroth Castle wirkte noch beeindruckender als auf den Fotos. Mächtiger.

Die schicke, professionelle Internetseite des Grafen von Lengroth hatte das Schloss im hellen Sonnenlicht gezeigt. Hinter den Ecktürmen blitzte strahlend blauer Himmel hervor, und im grellen Sonnenschein erschienen die massigen Steinmauern fast weiß.

In Wirklichkeit hingen selbst an diesem milden Julitag dicke Wolken am Himmel, und die Schlossmauern wirkten erdrückend, dunkel und grau. Eine steinerne Treppe mit siebzehn Stufen führte über den Schlossgraben zu der Eingangstür aus schwerem dunklen Holz. Die Treppe war voller Moos und so schmal und steil, als wäre sie gebaut worden, um Besucher fernzuhalten.

Am liebsten hätte Heather Reid sich umgedreht und den nächsten Zug zurück nach Hertfordshire genommen.

Aber das kam nicht infrage. Nicht, bevor sie erledigt hatte, wofür sie hergekommen war. Und danach …? Das lag in den Händen von Ross Bryce, dem Grafen von Lengroth.

Heather holte noch einmal tief Luft, dann ging sie über den kiesbedeckten Hof und stieg vorsichtig die rutschigen steinernen Stufen hinauf. Als sie die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht hatte, wagte sie einen Blick nach unten in den Schlossgraben. Das stille Wasser wirkte schwarz und bodenlos. Wie ihre Angst. Sie schluckte und ging weiter.

Plötzlich hörte Heather neben sich ein lautes Platschen. Sie sprang vor Schreck in die Luft und klammerte sich Halt suchend an eine der oberen Treppenstufen. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, schaute sie nach unten und versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war.

Ein Fisch? Eine Ente? Ein Krokodil? Den Grafen von Lengroth würde sie sogar zutrauen, dass sie das Monster von Loch Ness persönlich in ihren Burggraben gesperrt hatten.

Dann sah sie die Gummiente, die fröhlich auf dem Wasser hin und her wippte.

„Kein Monster“, flüsterte sie erleichtert. „Immerhin.“

Aber die Ente war noch nicht dort gewesen, als Heather die ersten Treppenstufen hinaufgestiegen war. Sie schaute zu den Burgfenstern hinauf. Nichts zu sehen.

Ross Bryce hatte Kinder, erinnerte sie sich. Zwei sogar. Auf der Internetseite standen sie herausgeputzt in einem Kleid und einem Matrosenanzug neben ihrem gutaussehenden Vater, dem Grafen, und ihrer wunderschönen Mutter Lady Jane Bryce, Gräfin von Lengroth.

Als sie das Foto zum ersten Mal gesehen hatte, drehte sich ihr der Magen um, und um ein Haar hätte sie ihr Frühstück wieder von sich gegeben. Mit einem Schlag wurde ihr klar, wie weit die Konsequenzen ihres Fehltritts wirklich reichten.

Zugegeben, in letzter Zeit wurde ihr ständig übel. Aber der Anblick der glücklichen Familie auf dem Foto hatte ihr einen furchtbaren Schlag in den Magen versetzt. In dem Moment begriff sie zum ersten Mal das Ausmaß ihres Verhaltens.

Auch wenn der Besitzer der Gummiente nirgends zu sehen war, arbeitete Heather schon lange genug als Lehrerin, um die Geste zu verstehen. Wenn ein Kind eine Ente nach dir wirft, bist du nicht willkommen.

Vorsichtig beugte sie sich über das Wasser, hob die Ente heraus und klemmte sie unter ihren Arm.

„Glaub mir, ich wäre auch lieber woanders“, murmelte sie leise. Aber sie stieg weiter die Treppe hinauf. Denn ihr blieb keine andere Wahl.

Sie hatte einen Fehler gemacht, und jetzt musste sie dazu stehen. Musste die Folgen tragen. Denn sie wusste nur zu gut, was passierte, wenn Menschen ihre Schuld leugneten und ein Leben voller Lügen führten.

Zögernd griff sie nach dem schweren Türklopfer und ließ ihn gegen die Tür fallen. Ein lautes Echo klang über den Hof.

Wenigstens hatte sie die rutschigen Treppenstufen und den Entenangriff überlebt. Aber der wirklich schwierige Teil lag immer noch vor ihr.

Während der langen Zugfahrt hatte sie immer wieder im Kopf durchgespielt, was sie Ross sagen würde. Aber am Ende machten die Worte keinen Unterschied, das Ergebnis blieb dasselbe.

Ich bin schwanger. Mit deinem Kind.

Heather betete, dass seine Ehefrau bei ihrem Gespräch nicht dabei sein würde.

Auch wenn Ross seine Frau mit keinem Wort erwähnt hatte, als sie sich in London kennenlernten. Oder seine Kinder.

Stattdessen erzählte er ihr von dem Schloss, von dunklen, einsamen Nächten im kalten Schottland. Von der unbeschreiblich schönen Landschaft und von seiner großen Verantwortung.

Nur von seiner Familie sagte er kein Wort. Auch den Ehering, den sie später auf dem Familienporträt auf seiner Webseite an seiner Hand entdeckte, hatte er an jenem Abend nicht getragen.

„Bestimmt ist jede Adlige in Schottland hinter dir her“, hatte sie gescherzt, als er ihr ein Foto von Lengroth Castle auf seinem Handy zeigte. „Woher weißt du, dass sie wirklich dich und nicht nur dein Schloss wollen?“

„Glaub mir …“ Ein gefährliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Mein Schloss ist bei Weitem nicht das Beeindruckendste an mir.“

Bei dem Gedanken an den Spruch stöhnte Heather beschämt auf. Wieso war sie überhaupt darauf hereingefallen? Wahrscheinlich wegen der unzähligen Cocktails, die ihre Freundin Lacey bestellt hatte.

Langsam fragte Heather sich, ob überhaupt jemand öffnen würde. Jetzt war sie hier und wollte es nur noch hinter sich bringen. Endlich Ross Bryce treffen und mit ihm sprechen. Selbst wenn er sie hochkant aus dem Schloss warf, würde sie wenigstens ein paar Minuten lang die Verantwortung nicht mehr allein tragen.

Auch wenn sie sich wenig Hoffnungen machte, dass etwas Gutes bei dem Gespräch herauskommen würde, musste sie ihm die Wahrheit sagen. Ross hatte ein Recht darauf, von seinem Kind zu erfahren. Selbst, wenn er nichts mit seinem Baby zu tun haben wollte, hatte Heather dann wenigstens das Richtige getan.

Immerhin das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Wenn auch nur, weil ihre Mutter mit denkbar schlechtem Beispiel vorangegangen war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete eine gepflegte ältere Dame in einem dunkelblauen Kostüm und cremefarbener Bluse die schwere Holztür.

„Guten Tag, ich möchte den Grafen von Lengroth sprechen.“ Heather bemühte sich um einen selbstbewussten Tonfall. Als würde sie jeden Tag um ein Gespräch mit einem Grafen bitten.

„Sie sind zu spät.“ Die ältere Dame musterte sie mit strengem Blick. „Kommen Sie. Er wartet schon.“

Heather starrte die Dame verwundert an und folgte ihr in die große Halle. „Ähm … was meinen Sie mit zu spät? Ich habe doch gar keinen Termin vereinbart.“

Vielleicht wäre das besser gewesen. Aber Ross würde sich ganz bestimmt nicht darüber freuen, dass sie ihn besuchte.

Die ältere Dame gab keine Antwort. Heather war nicht sicher, ob sie ihre Frage über das laute Echo ihrer Schritte auf dem polierten Steinboden überhaupt gehört hatte.

Schweigend folgte sie der älteren Frau durch eine Reihe von Fluren, die ihr die Größe des Schlosses noch bewusster machten. In regelmäßigen Abständen standen Stühle mit Kissen in altmodischem Karomuster an den Wänden. Wahrscheinlich müssen die Leute sich zwischendurch setzen, um sich von dieser bedrückenden, kühlen Dunkelheit zu erholen, überlegte Heather.

Endlich blieben sie vor einer schweren Holztür stehen. Die ältere Dame klopfte kräftig mit den Fingerknöcheln gegen das Holz.

„Herein“, rief eine Männerstimme.

„Sir, das neue Kindermädchen ist hier.“ Die Dame winkte Heather ins Zimmer.

Kindermädchen? Offensichtlich gab es hier ein ernsthaftes Missverständnis.

Aber plötzlich war eine Verwechslung ihr kleinstes Problem. Fassungslos starrte Heather den atemberaubend gutaussehenden Mann hinter dem riesigen Mahagonischreibtisch an.

Denn das hier war nicht der Mann, mit dem sie vor knapp zwei Monaten in London die Nacht verbracht hatte.

Cal Bryce hatte nie den geringsten Wunsch gehabt, Graf von Lengroth zu werden. Ihn interessierten weder der Titel noch das Schloss oder die Pflicht, einen Erben hervorzubringen und den makellosen Ruf der Familie aufrechtzuerhalten.

Genau gesagt, war er auch gar nicht der Graf von Lengroth. Er blieb weiterhin der Sehr Ehrenwerte Calvin Bryce.

Titel und Schloss gehörten nicht ihm, sondern Ryan, seinem kleinen acht Jahre alten Neffen. Aber die Verantwortung, die lag seit dem Tod seines älteren Bruders ganz allein bei ihm. Wenigstens bis Ryan volljährig war. Und der makellose Ruf der Familie … anscheinend musste Cal auch den aufpolieren.

Warum zur Hölle musstest du so schnell durch die Kurve fahren? Der Gedanke quälte Cal nicht zum ersten Mal, seit er mitten in der Nacht den Anruf aus dem viele tausend Kilometer entfernten Schottland bekommen hatte.

Am anderen Ende der Leitung hatte Mrs. Peterson verzweifelt ins Telefon geschluchzt. „Sie sind tot! Sie sind beide tot!“

Mit einem Schlag war Cals Welt aus den Fugen geraten. Sein Leben lang hatte Ross ihm Halt gegeben. Und den hatte er so nötig gebraucht, ganz besonders in seiner Kindheit und Jugend.

Auch wenn der Rest der Welt die Familie Bryce für die perfekte moderne Aristokratenfamilie gehalten hatte, kannten Ross und Cal die bittere Wahrheit.

Der gute Ruf der Familie Bryce war nämlich ganz und gar nicht durch einen Mangel an Skandalen entstanden. Ihre Familie war nur verdammt gut darin, ihre Fehltritte zu vertuschen.

Schon als kleines Kind hatte Cal gelernt, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, sobald dieser einen seiner Wutanfälle bekam. Wenn sein Vater dann auch noch anfing zu trinken, war Cal nirgendwo im Schloss mehr sicher.

Der drei Jahre ältere Ross hatte Cal die besten Verstecke gezeigt – und ihm beigebracht, wann er weglaufen musste. Und wenn Cal doch einmal den Moment verpasste, dann stellte Ross sich zwischen ihn und ihren Vater.

Für Cal war Ross sein Held gewesen. Bis vor sechs Wochen.

Aber selbst als Teenager und später als junger Mann konnte Cal nicht wirklich erkennen, wie verdorben seine Familie war.

Erst nachdem er seinen Vater mit einer Kellnerin aus der Dorfkneipe im Bett erwischt hatte, fing er an, die Lügen zu durchschauen. Plötzlich entdeckte er mehr und mehr Geheimnisse im Leben seiner Eltern.

Zum Beispiel die jahrelange Affäre seiner Mutter mit dem Familienanwalt. Die endlos lange Liste von Dorfmädchen, die frühmorgens durch die Küche aus dem Schloss schlichen. Die blauen Flecken in Ross’ Gesicht und auf seinen Armen.

Als wäre das alles nicht genug, musste Cal sich jetzt auch noch mit der Legende von dem Geist von Lengroth herumschlagen.

Laut der Legende war vor rund hundert Jahren ein Dorfmädchen unverheiratet schwanger geworden. Das Mädchen behauptete, der damalige Graf sei der Vater ihres ungeborenen Kindes. Mit ruiniertem Ruf und ausgestoßen durch die Dorfbewohner, bat die junge Frau schließlich den Grafen um Hilfe.

Doch der Graf hatte sie abgewiesen, und bei ihrem Weg aus dem Schloss war das Mädchen die Schlosstreppen hinuntergestürzt und gestorben. Selbst heute behaupteten noch einige Dorfbewohner, dass jemand das Mädchen gestoßen hatte.

Wenn Cal ehrlich war, wollte er die Wahrheit gar nicht wissen. Schon ohne diese Geschichte waren seine Verwandten für ihn eine einzige große Enttäuschung. Außer Ross.

Ross hatte die wunderschöne, liebenswerte Janey geheiratet und mit ihr zwei wundervolle Kinder bekommen. Ross war als Einziger dem verdorbenen Erbe ihrer Familie entkommen.

Für Cal weckte schon der Anblick von Lengroth Castle all die schrecklichen Erinnerungen daran, was hinter den Schlossmauern passiert war.

Aber Ross war mit seiner jungen Familie eingezogen und hatte das alte Schloss in ein Zuhause verwandelt. Er hatte einen Weg gefunden, das Schlechte in ihren Genen zu besiegen.

Zumindest hatte Cal das geglaubt. Bis er nach dem Tod seines Bruders nach Lengroth zurückkehrte. Langsam bekam er den Eindruck, dass Ross einfach nur besser sein wahres Gesicht verbergen konnte als der Rest von ihnen.

Eigentlich dachte Cal, dass er in den letzten Jahren einiges über Verantwortung und große Herausforderungen gelernt hatte. Schließlich erforderte es ziemlich viel Zeit, Energie und Hingabe, eine Firma aufzubauen und zu leiten. Vor allem, wenn sie Umsätze im hohen Millionenbereich machte.

Aber das war, bevor er erfahren hatte, welche Spielschulden, Lügen und leere Versprechungen Ross ihm hinterlassen hatte.

Und bevor er versucht hatte, das richtige Kindermädchen für zwei trauernde und unkontrollierbare Kinder zu finden.

Er warf einen Blick auf die Neueste – Nummer neun in sechs Wochen. Abgesehen davon, dass sie fünfundvierzig Minuten zu spät gekommen war, wirkte sie in Sommerkleid und Sandalen für ein Vorstellungsgespräch etwas zu locker gekleidet.

Das kupferfarbene Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern, und auf dem Rücken trug sie einen Rucksack, als wollte sie gerade nach dem Schulabschluss auf Weltreise gehen. Jung genug sah sie jedenfalls aus.

Unter ihrem Arm klemmte eine Gummiente, aber Cal entschied, sie gar nicht erst darauf anzusprechen.

In der Not frisst der Teufel eben Fliegen. Wahrscheinlich konnte ihm die Agentur inzwischen einfach nichts Besseres mehr anbieten.

Eigentlich hätte er die junge Frau am liebsten direkt wieder nach Hause geschickt, doch er wusste, dass er sie brauchte. Er konnte seinem Neffen und seiner Nichte nicht der Elternteil sein, den die beiden Kinder so dringend brauchten. Er besaß einfach keine Vaterqualitäten.

Und das bedeutete, dass er jemanden brauchte, der die nächsten sechs Wochen durchhielt und auf Daisy und Ryan aufpasste. Bei seinem letzten Telefonat mit der Agentur hatte er den Eindruck bekommen, dass dieses Kindermädchen seine letzte Chance war.

Das hieß, er brauchte all seine Überredungskünste. Erstens musste er ihr mehr Gehalt anbieten, als sie irgendwo anders bekommen konnte. Zweitens musste er das Gehalt davon abhängig machen, dass sie die ganzen sechs Wochen durchhielt. Drittens durfte er das Gespenst nicht erwähnen. Das sollte einfach sein.

„Okay, Miss …“ Er warf einen Blick auf die Notizen von seinem Telefonat mit der Agentur. „Thomas. Meine Nichte und mein Neffe brauchen ein vertrauenswürdiges, zuverlässiges und kompetentes Kindermädchen für die nächsten sechs Wochen. Nach den Schulferien gehen sie nach England auf ein Internat.

Ihre Agentur hat mir versichert, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Darum mache ich Ihnen jetzt ein Angebot, das Sie nirgendwo sonst bekommen werden.

Wenn Sie sechs Wochen lang durchhalten und die Kinder auf das Internatsleben vorbereiten, dann zahle ich Ihnen ein komplettes Jahresgehalt. Aber wenn Sie vor Ablauf der sechs Wochen kündigen, dann bekommen Sie gar nichts.“

Die rothaarige junge Frau öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sagte sie: „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor …“

Cal unterbrach sie mit einer Handbewegung, bevor sie weitersprechen konnte. Er wusste, dass die Kindermädchen der Agentur untereinander tuschelten. Das hieß, auch dieses Kindermädchen wusste bestimmt schon genau, wie die Situation hier in Lengroth Castle aussah.

Die letzte Nanny war direkt wieder umgedreht, bevor sie auch nur einen Fuß in das Schloss gesetzt hatte, nachdem die elfjährige Daisy einen Eimer mit Seifenwasser aus dem Fenster über sie geschüttet hatte.

„Ich weiß, was Sie von Ihren Vorgängerinnen gehört haben müssen, Miss Thomas.“ Er bemühte sich um ein charmantes Lächeln. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Familien acht Kindermädchen verlieren, bevor sie die Richtige finden. Aber bei Ihnen habe ich ein gutes Gefühl“, schwindelte er.

„Acht Kindermädchen?“, wiederholte sie schwach.

Cal fluchte innerlich. Das hätte er nicht erwähnen sollen. Ausgesprochen klang es noch schlimmer als in seinem Kopf. „Die Kinder haben einiges durchgemacht, seit ihre Eltern vor zwei Monaten gestorben sind“, verteidigte er Daisy und Ryan. „Es ist nur natürlich, dass sie sich ein bisschen rebellisch verhalten. Außerdem haben sieben von den acht Kindermädchen gesagt, dass sie nicht wegen der Kinder kündigen, sondern wegen dem Geist.“ Verdammt. Er durfte doch den Geist nicht erwähnen.

Cal sah, wie Mrs. Peterson hilflos die Hände in die Luft warf, während sie das Zimmer verließ. Kopfschüttelnd schloss sie hinter sich die Tür.

Aber das neue Kindermädchen ging mit keinem Wort auf den Geist ein. Wahrscheinlich, weil sie eine vernünftige Person war, nicht an Gespenster glaubte und sein Angebot annehmen würde. Zumindest hoffte er das inständig.

„Acht Kindermädchen in weniger als zwei Monaten?“ Sie starrte ihn fassungslos an.

Plötzlich wirkte ihr Porzellanteint ganz blass. Fast, als hätte sie doch einen Geist gesehen.

„Moment mal, ihre Eltern …? Der Graf von Lengroth, Ross Bryce, und seine Frau …?“

„Ja. Mein Bruder Ross und meine Schwägerin Janey“, erklärte Cal verwirrt.

Obwohl er sie nicht dazu aufgefordert hatte, ließ sich das neue Kindermädchen in den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen. Doch er musste zugeben, dass sie aussah, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Wahrscheinlich hätte er ihr längst einen Stuhl anbieten sollen.

„Beide Eltern sind gestorben? Wann?“

Gedankenverloren setzte sie die kleine Gummiente auf den Schreibtisch.

„Vor knapp zwei Monaten“, wiederholte Cal geduldig.

„Juni.“ Ihre Stimme klang leise, und sie knabberte an ihrer Unterlippe. „Das war direkt, nachdem ich …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf, sodass ihre kupferfarbenen Locken wippten.

„Miss Thomas. So tragisch der Tod meines Bruders auch ist …“ Cal musste schlucken, als die Erinnerung an Mrs. Petersons panischen Anruf wieder in ihm aufstieg, „sollten wir uns auf das Dringendste konzentrieren. Ihre Position als Kindermädchen für meine Nichte und meinen Neffen.“

Sie hob den Kopf und schaute ihn aus grünen Augen an. „Und ich denke, dass wir noch einmal ganz von vorne beginnen müssen, Mr. Bryce. Ich bin nicht Miss Thomas von der Agentur, und ich bin auch nicht für das Stellenangebot als Kindermädchen gekommen. Ich bin wegen Ihrem Bruder hier.“

Sofort wusste Cal, dass seinem Glauben an seinen perfekten großen Bruder ein weiterer Schlag bevorstand. Ein Schlag, von dem sein Vertrauen sich vielleicht nicht erholen würde.

2. KAPITEL

Der jüngere und sogar noch attraktivere Bruder starrte sie über den großen Schreibtisch hinweg an. Wahrscheinlich ein Erbstück, überlegte Heather. Die Gummiente passte überhaupt nicht in diese Umgebung und gab der ganzen Situation etwas Unwirkliches.

Als wäre das Ganze nicht sowieso schon absurd genug.

Lass dich nicht ablenken. Konzentriere dich auf das, was du ihm mitzuteilen hast.

Aber über das Mobiliar oder Gummienten nachzudenken, war angenehmer, als dem Mann hinter dem Schreibtisch von ihrem One-Night-Stand mit seinem verstorbenen Bruder zu erzählen.

„Sie sind nicht von der Agentur geschickt worden? Wer genau sind Sie denn? Und vor allem, wie standen Sie zu meinem Bruder?“

Heather atmete tief ein. „Mein Name ist Heather Reid.“ Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Vor ungefähr zwei Monaten habe ich Ihren Bruder in einer Bar in London kennengelernt und die Nacht mit ihm verbracht. Und jetzt bin ich schwanger. Mit seinem Kind.“

Heather klammerte sich an die Stuhllehne, als sie die Worte aussprach. Ross lebte nicht mehr. Der lebendige, aufregende, charmante Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte, existierte nicht mehr. Ihr Kind würde niemals seinen Vater kennenlernen.

Selbst wenn er ein Ehebrecher und Lügner gewesen war, wünschte sie keinem den Tod. Und noch dazu musste sie jetzt ganz allein mit ihrer Situation fertigwerden.

Selbst wenn Ross sie aus dem Schloss geworfen hätte, hätte ihr Kind immer einen Vater gehabt, zu dem es später einmal Kontakt aufnehmen konnte. Es hätte noch einen Menschen auf dieser Welt gegeben, der zu ihrem Kind gehörte.

Aber jetzt gab es nur noch sie. Und den Onkel ihres Babys, der ihr gegenübersaß und die Ente anstarrte, die sie auf den Tisch gestellt hatte.

Plötzlich merkte sie, dass seine Miene sich kaum verändert hatte. Ihre Worte waren offensichtlich kein Schock für ihn. Das sagte ihr mehr über Ross’ Angewohnheiten, als sie wissen wollte.

„Mr. Bryce?“, fragte sie, als er nicht antwortete.

„Cal.“ Er rieb mit einer Hand seine Schläfen. „Mein Name ist Cal Bryce.“

„Möchten Sie … ich weiß auch nicht … einen Ausweis sehen oder so?“

Er hob fragend die Augenbrauen. „Von Ihnen oder von dem Baby?“

Sie spürte, wie sie errötete. „Ach so. Also, natürlich wollen Sie irgendwann einen DNA-Test von dem Baby sehen. Das ist völlig in Ordnung. Ich meine, soweit Sie wissen, bin ich irgendeine fremde Frau, die in der Zeitung vom Tod Ihres Bruders gelesen hat und jetzt Geld aus der Sache schlagen möchte.“

Cal schaute sie an, als wären das genau seine Gedanken gewesen. Dafür konnte sie ihm keinen Vorwurf machen.

„Oh! Ich habe eine Sache, die helfen könnte.“ Sie zog ihr Handy aus dem Rucksack und suchte ein Foto heraus, dann hielt sie Cal das Telefon über den Schreibtisch entgegen.

Ein Schatten zog über sein Gesicht, als er auf das Bild von ihr und Ross schaute. Im Dämmerlicht der Londoner Bar grinsten sie beide in die Kamera. Ross hatte ihr Handy genommen und ein Foto gemacht. Damit sie sich an ihn erinnern konnte, hatte er gesagt.

Dazu brauchte sie jetzt wohl kein Foto mehr.

Cal lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf einen Punkt hinter ihrem Rücken. Heather steckte das Handy zurück in ihren Rucksack. Das Ganze konnte auch für ihn nicht sehr angenehm sein.

Aber immerhin war er nicht derjenige, dem jeden Augenblick das Sandwich wieder hochkam, das er im Zug gegessen hatte. Also hielt ihr Mitleid sich in Grenzen.

„Glauben Sie mir?“, fragte sie nach einer Weile leise.

„Ja“, antwortete er. „Die Anwälte werden natürlich einen DNA-Test verlangen, aber ja, ich glaube Ihnen. Ich versuche nur herauszufinden, wie wir am besten mit der Situation umgehen.“

Heather lächelte ihn schief an. „Ich auch.“

Eigentlich ähnelte er seinem Bruder nicht besonders, wenn man mal von dem Äußeren absah, überlegte Heather. Ross hatte nicht einen Moment lang aufgehört zu reden. Über sich selbst, über sie, über Orte, an denen er gewesen war, oder die er noch sehen wollte. Und trotzdem hatte er nichts Wichtiges erzählt.

Cal dagegen hatte seit dem Stellenangebot kaum ein Wort gesagt. Aber er glaubte ihr. Der Gedanke gab ihr Halt.

„Was haben Sie sich davon erhofft, nach Lengroth zu kommen?“

Heather schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher. Vor allem wollte ich Ross von dem Baby erzählen. Nach dem Schwangerschaftstest habe ich ihn angerufen, aber er hat meine Anrufe ignoriert.“ Sie schluckte. „Also habe ich im Internet nach dem Schloss gesucht, von dem er den ganzen Abend lang erzählt hat.

Dabei habe ich die Fotos von ihm und seiner Familie gefunden. An dem Abend in London hat er keinen Ehering getragen, und vor allem hat er mit keinem Wort eine Beziehung erwähnt. Geschweige denn eine Ehefrau und Kinder.“

Cal schloss für einen Moment die Augen. „Ja, das glaube ich Ihnen.“

„Das heißt, ich habe weder auf ein Happy End gehofft noch irgendetwas in der Art. Um ehrlich zu sein, habe ich damit gerechnet, dass er mich direkt wieder hinauswirft. Dieses Gespräch läuft also immerhin schon besser, als ich es mir vorgestellt habe.“

Abgesehen davon, dass sein Bruder nicht mehr lebte. Oh, wenn sie nur einmal im richtigen Moment den Mund halten könnte!

„Am Ende war es einfach der richtige Weg. Ich wollte Ross von seinem Kind erzählen. Mehr nicht. Alles andere … nun, das hätte an ihm gelegen. Für mich war es einfach wichtig, das Richtige zu tun.“

Denn Heather musste jeden Morgen ihrem eigenen Spiegelbild ins Gesicht schauen. Damit sie das konnte, musste sie für ihr Kind geradestehen.

Genau das, was ihre Mutter nicht für sie getan hatte.

„Das Richtige?“ Cal lächelte ironisch. Er fühlte Mitleid für das Baby, weil es in die Bryce-Familie geboren wurde. Ihre ganze Familiengeschichte bestand nur aus Schlechtigkeit, Skandalen und Verletzungen. Welche Chance hatte das Kind?

Oder vielleicht hatte es auch mehr Glück als der Rest von ihnen. Immerhin würde dieses Baby nicht in Lengroth Castle aufwachsen. Nicht jeden Tag mit unerfüllbaren Erwartungen groß werden. Nicht lernen, ein skrupelloses Leben zu führen und jeden Fehltritt zu vertuschen.

Vor allem aber hatte dieses Baby Heather Reid als Mutter, und das war mehr, als Ross’ andere beiden Kinder von sich sagen konnten. Die beiden mussten sich mit Onkel Cal zufriedengeben, der ihnen wahrscheinlich den Rest ihrer Kindheit ruinieren würde.

Heather Reid dagegen war wahrscheinlich ein ehrliches, gutherziges Mädchen, das in einen Skandal hineingestolpert war, der ihre Fähigkeiten überstieg.

Natürlich konnte er sich auch in ihr täuschen. Denn wer reiste heutzutage noch den ganzen Weg von London in die schottische Wildnis, nur um das Richtige zu tun? Zumindest keiner in Cals Familie, so viel war sicher.

Wahrscheinlich war aus seiner Familie keiner auch nur in der Lage, das Richtige zu erkennen, selbst wenn es an die Tür klopfte. Nicht einmal Ross.

Doch so vertrauenswürdig Heather auch auf Cal wirkte, er würde nicht einfach auf diese großen, unschuldigen Augen hereinfallen.

„Haben Sie auf finanzielle Unterstützung gehofft?“ Das musste der wahre Grund sein. Schließlich hatte Ross ihr erzählt, dass er in einem Schloss lebte. Natürlich war sie auf Geld aus. „Oder dass er Ihnen Schweigegeld anbieten würde, um seinen Seitensprung vor Janey geheim zu halten?“

Wahrscheinlich hätte Ross sogar genau das getan. Generationen von Bryce-Männern hatten noch einiges mehr als das getan, um ihr Fehlverhalten und ihre Betrügereien zu vertuschen.

Autor

Sophie Pembroke
<p>Seit Sophie Pembroke während ihres Studiums der englischen Literatur an der Lancaster University ihren ersten Roman von Mills &amp; Boon las, liebte sie Liebesromane und träumte davon, Schriftstellerin zu werden. Und ihr Traum wurde wahr! Heute schreibt sie hauptberuflich Liebesromane. Sophie, die in Abu Dhabi geboren wurde, wuchs in Wales...
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