Ein Cowboy in New York

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Grace würde am liebsten im Erdboden versinken! Denn der Mann, den sie für einen Stripper im Cowboykostüm gehalten hat, ist „echt": Shane McHenry ist nach New York gekommen, um ein wertvolles Pferd zu verkaufen. Und Grace hat immer schon von einem Cowboy geträumt! Jetzt ist ihre Chance da ...


  • Erscheinungstag 08.04.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522281
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Jippie!“ Laramie Jones warf ihren schwarzen Stetson hoch in die Luft, ohne sich darum zu kümmern, dass sie vielleicht die anderen Gäste in der noblen Lounge des Reitclubs stören könnte. „Die Sitzung des Cowgirl-Clubs ist hiermit eröffnet.“

„Jippie!“, rief Grace Farrow zustimmend und fing den wirbelnden Hut geschickt auf. Sie setzte sich den Stetson auf ihren Lockenkopf und rutschte in die Bank der abseits gelegenen Ecknische, die die Gruppe zu ihrem Stammplatz erkoren hatte. Der Samstagnachmittag mit ihren Freundinnen, dem „Cowgirl-Club“ aus lange zurückliegenden Sommerferien, war für sie der Höhepunkt der Woche.

„Oh ja, und natürlich auch ein fröhliches Jippie-je!“, sagte Susans Schwägerin Caroline Farrow mit unverkennbarem Oberklasse-Akzent, der schrecklich affektiert und arrogant klang. Sie drapierte sich auf das weiche Lederpolster, in ihrem schicken englischen Reitdress ein demonstratives Anti-Cowgirl.

„Jill fehlt noch.“ Molly Broome wischte ein paar Pferdehaare von ihrer Jeans, bevor sie neben Laramie auf die Polsterbank rutschte.

„Jill hat sich schon wochenlang nicht im Stall blicken lassen“, sagte Laramie, „seit sie mit dieser Gruppe radikaler Vegetarier herumhängt.“ Laramie war groß und so schlank, dass sie fast eckig wirkte. Ihr langer, dunkler Zopf schwang auf ihrem Rücken hin und her, als sie energisch den Kopf schüttelte. „Wenn ihr mich fragt – Jill ist raus. Sie war ja sowieso nicht von Anfang an dabei.“ Sie senkte bekräftigend den Daumen.

„Du meinst, raus aus dem Cowgirl-Club?“, fragte Molly alarmiert. „Für immer?“

Caroline hob die Augenbrauen. „Du willst sie aus dem Club ausschließen?“

Grace schoss von ihrem Platz hoch. „Und mich willst du wohl auch rausschmeißen, weil ich mich verlobt habe, wie?“ Dass Michael Lyndens Heiratsantrag sie so viel kosten könnte, war ihr nicht bewusst gewesen.

Das Oberhaupt des Clubs fiel in Schweigen, um Graces problematischen Status zu überdenken. Für Laramie Jones bedeutete der Cowgirl-Club weit mehr als für Molly und Grace, die ihre Zusammenkünfte als ein Freizeitvergnügen betrachteten – als eine Gelegenheit zu reiten und Rippchen vom Grill zu essen und wie Teenager von kernigen Cowboys zu schwärmen. Seit sie sich vor fünfzehn Jahren im Camp Skowhegan kennengelernt und zum Cowgirl-Club zusammengeschlossen hatten, war der Club für Laramie ein wichtiger Teil ihrer persönlichen Geschichte geworden, denn ihre Herkunft war ziemlich zweifelhaft. Laut Laramies Hippie-Mutter war ihre Tochter in Laramie, Wyoming, der Heimatstadt ihres Vaters, gezeugt und nach dem Ort benannt worden. Laramie nahm ihren Namen und das, was er verkörperte, sehr ernst. Sie betrachtete Wyoming als ihre wahre Heimat und sich selbst als echtes Western-Girl.

„Ich denke“, sagte sie nach längerem Überlegen, „wir werden dich im Club behalten.“

„Wie gnädig“, bemerkte Grace ironisch.

„Allerdings werde ich eine kleine Strafe verhängen müssen.“

„Aha, eine Strafe.“ Grace verdrehte die Augen. „Findest du das nicht etwas übertrieben?“

„Es ist der Preis dafür, dass du einen Nicht-Cowboy zu heiraten gedenkst.“

„Moment mal“, protestierte Molly, „ich dachte, wir wären hier, um Graces Verlobung zu feiern.“

„Natürlich. Aber dies ist der Cowgirl-Club – wir sind wilde Frauen aus dem legendären Westen. Grace muss beweisen, dass Michael Cowboy genug ist, um eine von uns zu heiraten.“

Graces Lachen klang etwas hohl. „Also wirklich, Laramie. Wir haben doch nie im Ernst erwartet, dass wir uns ein paar waschechte Western-Cowboys mit dem Lasso einfangen würden. Ich meine, mal ehrlich, wir sind hier mitten in Manhattan. Wir reiten meistens im Central Park aus, und man kann nicht gerade sagen, dass es dort von Cowboys wimmelt.“

„Es geht ums Prinzip“, erwiderte Laramie resolut. „Wir waren uns alle einig, dass Cowboys den perfekten Mann verkörpern, stimmt’s?“ Sie blickte von Grace zu Molly, so als ob Caroline, die sowieso nur als leidendes Anhängsel mit ihnen zusammen war, überhaupt nicht existierte. „Als Mitglieder des Cowgirl-Clubs sind wir unseren Idealen verpflichtet. Und die sind, falls ihr es vergessen habt, eine einfache Sprache, harte Arbeit, weite Horizonte und …“

„Enge Jeans!“, sang das Trio unisono, wie immer einig und verbunden in seinem Cowgirl-Mantra.

Caroline stöhnte. „Das musste ja kommen.“

„Nicht zu vergessen die Cowboyhüte“, sagte Laramie, nahm ihren geliebten alten Stetson von Graces Kopf und hängte ihn über die Ecke der Nischenwand. Sie streckte einen Fuß hoch, der in einem maßgefertigten Stiefel aus Schlangenleder steckte. „Und Cowboystiefel!“

„Und wettergegerbte, sonnengebräunte Gesichter mit himmelblauen Augen, die meilenweit sehen können“, sagte Molly verträumt. „Große, kräftige, sanfte Hände …“

„Ich stehe besonders auf Chaps“, bemerkte Grace. „Mit vielen langen Fransen und diesen niedlichen kleinen Silbermuscheln.“ Sie meinte die typischen hüfthohen Beinschurze aus Leder.

„Dann schenk doch Michael Chaps zur Hochzeit“, schlug Laramie mit einem vielsagenden Grinsen vor.

Molly kicherte. „Lass ihn sie in euren Flitterwochen tragen, Grace … und sonst nichts.“

Grace seufzte sehnsuchtsvoll. Michael war ein anständiger, aufrechter Mann, der gut in ihre Familie passte, aber sie musste zugeben, dass ihr Liebesleben nicht sehr abenteuerlich war. „Damit wird es wohl nichts, Cowgirls.“

„Chaps bedecken aber nicht den Hintern“, entrüstete sich Caroline, nahm ihren Reithelm ab und strich ihr hellblondes, zu einem eleganten Nackenknoten zusammengestecktes Haar glatt. „Das ist entschieden nicht Michaels Stil.“

Grace warf ihrer Schwägerin einen genervten Blick zu. Sie hatte sich oft gefragt, warum ihr älterer Bruder Victor eine so sauertöpfische, verbiesterte Frau geheiratet hatte. Nun aber, da sie den subtilen, jedoch unablässigen Familiendruck erlebt hatte und immer wieder daran erinnert worden war, dass sie sich mit ihren fünfundzwanzig Jahren endlich auch standesgemäß verheiraten müsste, verstand sie Victors Entscheidung. Sie konnte nur beten, dass Michael Lynden sich nicht als ein ebenso großer Stimmungstöter entpuppen würde wie die untadelige Caroline mit ihrer makellosen Herkunft.

Die Farrows waren eine Familie von Erfolgsmenschen, und das schon seit Generationen. Von jedem wurde nur das Beste erwartet, die Lebenswege folgten einem festen Muster. Zuerst fantastische Studienabschlüsse und akademische Titel, dann ein schneller Start in eine gehobene Karriere, darauf eine gute Ehe, die mindestens zwei herausragende Sprösslinge hervorbringen musste, und noch mehr Auszeichnungen und noch bedeutendere Leistungen – beides zum Besten der Welt und zur Anhäufung weltlicher Güter – gefolgt von dem Wohlstand der mittleren Jahre und schließlich der Glorie eines gesegneten Alters.

Victor und Caroline waren auf dem besten Weg, die Bestimmung der Farrows zu erfüllen. Und Grace war im Begriff, ihrem Beispiel zu folgen – ganz im Sinne der Familientradition. Sie war voller guter Absichten, aber plötzlich war da wieder dieses Widerstreben. Bis jetzt hatte der Cowgirl-Club als Ventil gegen den Erwartungsdruck ihrer Familie gedient. Grace hatte nur nicht bedacht, dass eine Ehe mit Michael sie vielleicht vollkommen blockieren könnte.

„Ich schätze, meine Cowboy-Träume werden sich nie erfüllen“, sagte sie leise. „Das ist das Einzige, was ich in Bezug auf meine Verlobung bedaure.“

„Das Einzige?“, fragte Laramie bedeutungsvoll. Sie hatte sich von einem stillen, verschlossenen Mädchen zu einer starken, freimütigen Frau entwickelt, und sie war eine zu gute Beobachterin, um sich täuschen zu lassen.

Grace hielt es für besser, die Bemerkung zu ignorieren. „Na ja, MichaeI ist einfach nicht der Typ, der sich irgendwelchen Fantasien hingibt.“

„Ja, er ist eben ein sehr ernsthafter Mensch“, ergänzte Molly vorsichtig. Sie war ein lieber, sanfter Mensch und blickte über Fehler und Schwächen bei anderen hinweg, weil sie niemanden verletzen wollte – schon gar nicht ihre Freunde.

„Und das ist genau das, was Grace braucht“, bemerkte Caroline kühl. „Michael wird dafür sorgen, dass sie zur Ruhe kommt und sich etabliert.“

Im Muster der Farrows denkend, gab Grace ihr mit einem Nicken recht.

Laramie schnaubte verächtlich. „Ja, ja, sich etabliert. In einer Zehn-Zimmer-Wohnung in Manhattan, auf der feinen Upper East Side. Graces Zukünftiger wird garantiert dafür sorgen, dass sie zur Ruhe kommt. Er wird sie mit seinen Ansprüchen derart ersticken, dass sie nie wieder erleben wird, wie es ist, frei zu sein.“

„Was für ein schreckliches Schicksal“, bemerkte Caroline spitz.

Laramie reckte resolut das Kinn vor. „Jedenfalls entspricht es nicht dem Codex des Cowgirl-Clubs.“

Grace überdachte die Alternativen und entschied zum hundertsten Mal, dass sie die Heirat nicht bereuen würde. Michael war vielleicht etwas zugeknöpft, aber dafür war sie ja lebhaft. Ein gesunder Ausgleich. Die meisten ihrer Freundinnen betrachteten ihn als einen raren Fang – ein wohlhabender New Yorker Junggeselle mit guten Umgangsformen und ohne auffallende Neurosen, der willens war, sich zu binden – das gab es kaum noch. Grace war ganz ihrer Meinung. Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, oder etwa nicht? Zugegeben, Michaels Körpergröße ließ ein wenig zu wünschen übrig, aber Grace war schließlich auch nicht groß. Und sie konnte ihm wahrhaftig nicht vorwerfen, dass er an ihre unrealistischen Cowboyträume nicht heranreichte. Es wäre mehr als dumm, wenn sie es täte.

Michael war auch ein sehr geduldiger Mann. Zum Beispiel hatte er ohne ein Widerwort einer langen Verlobungszeit zugestimmt – allerdings in der Annahme, dass die Farrows diese Zeit brauchten, um die für die Trauung ausgewählte Kirche zu reservieren und die große Hochzeitsfeier im Plaza zu planen.

Eine plausible Erklärung, wie Grace fand. Ihre Finger gruben sich in das weiche lederne Sitzpolster, und als sie die Augen schloss und sich leicht vor- und zurückbewegte, konnte sie sich mühelos vorstellen, dass das knarrende Leder ein Sattel war. Was sie augenblicklich in eine Szenerie ihrer Träume trug – weites Land und kühle Luft, dampfende Pferdekörper, abgewetzte Lederschurze, die sich um die Schenkel eines großen, schweigsamen Mannes schmiegten, dessen tiefer Blick ihr alles sagte, was sie wissen wollte …

Sie tat es schon wieder, galoppierte davon in ihre Fantasiewelt! Dabei hatte sie sich am Tag ihrer Verlobung geschworen, ihre abwegigen Sehnsüchte aufzugeben.

Oder sie zumindest zu zügeln …

Grace zwang die schönen Traumbilder aus ihrem Kopf und lenkte ihre Gedanken wieder auf die Realität. Wenn sie ganz ehrlich war, stimmte die Aussicht, die nächsten fünfzig Jahre als etablierte New Yorkerin zu verbringen, sie nicht gerade glücklich.

Das war nicht normal für eine frisch verlobte Braut.

Sie stützte ihren Kopf in die Hände und starrte trübe vor sich hin. Was hatte sie getan? Warum hatte sie zugestimmt, als Michael ihr den Heiratsantrag machte? Und – um den Text ihres Clubsongs abzuwandeln – wo waren all die Cowboys, wenn man sie mal wirklich brauchte …

Ein Kellner trat an ihren Tisch und fragte sie nach ihren Wünschen. Grace schloss die Augen und gab einen gedämpften Seufzer von sich – das war alles, was sie sich als eine Farrow an Gefühlsausbrüchen erlauben konnte. Eine tolle Feier!

„Ich glaube, Grace braucht einen kräftigen Schluck Schnaps aus einer verbeulten Feldflasche“, bemerkte Molly mitfühlend. „Das trinken Cowboys doch, oder?“

Laramie schlug mit der Hand auf den Tisch. „Bringen Sie ihr einen doppelten Whiskey!“

„Hören Sie nicht auf diese Närrinnen“, sagte Caroline in herrischem Ton. „Wir möchten eine Flasche von Ihrem besten Champagner.“

Kaum war der Kellner gegangen, verkündete Caroline in überlegenem Ton: „Wir werden Graces Verlobung sehr wohl feiern. Weil ich nämlich der Meinung bin, dass sie sich keinen besseren Mann als Michael Lynden wünschen kann. Vielleicht bewirkt ja ihre Verlobung, dass sie diesen Cowgirl-Unsinn endlich aufgibt und erwachsen wird.“

„Aufgibt?“, fragte Molly verdutzt. „Erwachsen wird …?“

„Hört euch das an!“ Laramie schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich bin entsetzt.“ Sie warf Grace einen fragenden Blick zu.

Graces Entschlossenheit wankte. Einerseits musste sie die Erwartungen ihrer Familie erfüllen. Andererseits war da ihre Begeisterung für alles, was mit dem freien Leben im Wilden Westen zu tun hatte. Sie wich Laramies lauerndem Blick aus und zögerte ihre Antwort hinaus, obwohl sie bereits wusste, dass die Statuten des Cowgirl-Clubs für eine etablierte City-Frau kaum praktizierbar waren. In der kosmopolitischen Welt der Farrows waren einfache Werte, ein schlichter Lebensstil und Cowboys in engen Jeans nichts als romantische Anachronismen.

„Ich werde Michael heiraten“, erklärte Grace. „Sag mir die Strafe, die du mir zugedacht hast, Laramie.“

„Wenn du es so haben willst … okay.“

„O Grace, bist du dir sicher?“, warf Molly ein.

„Ich …“ Ich glaube ja. Grace ließ ihre Hände auf den Tisch sinken und starrte auf ihren nagelneuen Verlobungsring. „Ja. Ja, ich bin mir sicher.“

„Na gut“, sagte Laramie nüchtern, „du wirst schon wissen, was du tust. Michael ist zwar kein Cowboy, aber ganz so übel ist er wahrscheinlich auch nicht. Deine Strafe braucht nicht allzu hart auszufallen.“ Sie blickte sich in der ruhigen, schwach beleuchteten Lounge um, ein Après-Reit-Refugium mit Orientteppichen, mächtigen Clubsesseln und antiken Wandleuchtern, die durch geschliffene Kristallprismen dezentes Licht verbreiteten. „Okay, wie wär’s hiermit?“ Laramie griff nach ihrem Stetson und ließ ihn um ihren Finger kreisen. „Zur Strafe muss Grace mit dem ersten Mann, der an unseren Tisch kommt und einen Cowboyhut trägt, einen zünftigen Boogie aufs Parkett legen.“

Grace lachte ungläubig. Ein Tanz mit einem Mann, der letztendlich wahrscheinlich der Kellner sein würde, war eine lächerlich milde Strafe. Sie hatte hier schon andere Shows abgezogen, zum Beispiel war sie früher dafür berüchtigt gewesen, dass sie sich auf die halbhohe Rückwand der Nische schwang, als wäre diese ein ungesattelter Bronco – also ein Wildpferd – und unter wildem Gejohle ihren Reithelm schwang. Wahrscheinlich sorgte der Oberkellner deshalb dafür, dass ihre Ecknische samstags immer für sie zur Verfügung stand.

Laramie ließ den Hut schneller um ihren Finger kreisen.

„Ich weiß, du hast den Kellner im Auge“, sagte Grace. „Ich glaube, er heißt Spenser. Klingt nicht sehr nach Cowboy.“

Laramie zuckte gleichmütig mit den Schultern, aber ihre dunklen Augen glitzerten spitzbübisch.

Grace blickte unauffällig zu Spenser. „Okay. Hört sich ziemlich harmlos an. Pass auf, dass du mit deinem Stetson richtig zielst, Laramie.“

Caroline spitzte missbilligend die Lippen. „Wirklich, Grace, ich muss schon sagen …“ Sie machte ein Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. „Denk dran, dass du verlobt bist. Du solltest unbedingt anfangen, dich damenhafter zu benehmen. Ich bin sicher, Michael erwartet das von dir.“

Während Laramie und Molly bei ihren Worten das Gesicht verzogen – schließlich hatten sie nicht den Cowladies-Club gegründet –, musste Grace ihrer Schwägerin im Stillen recht geben. Bislang hatte Michael ihre „Verrücktheiten“ geduldet, so wie es auch ihre verdrossenen Eltern getan hatten. Aber seine Geduld ließ mehr und mehr nach, was eines der haarigsten Probleme für Grace war.

Wie jedes andere gut erzogene Mädchen der Oberklasse war Grace schon in frühen Jahren auf Etikette gedrillt worden. Sie wusste genau, wie man sich richtig benahm, sie beherrschte die ganze Palette der zum großen Teil überholten Höflichkeitsrituale. Die Sache war nur die, dass sie das gesellschaftliche Theaterspiel nie lange durchhielt. Ihrer Meinung nach war das Leben zu kostbar und zu aufregend, um es mit steifem Getue zu vergeuden. Obwohl sie den Leitlinien der Farrows bis zu einem gewissen Punkt folgte, blieb in einem Winkel ihres Bewusstseins der Traum, in eine andere Welt zu entfliehen. In eine Welt, wo sie jeden Tag in Jeans und T-Shirt verbringen könnte statt in schicken Kostümen und wo sie auf ihrem Pferd über das weite Land galoppieren könnte, statt in der Arena des Reitclubs im Kreis zu traben.

Grace träumte von einem Leben auf dem Lande, von einem Leben, das ihre Familie und ihr Verlobter als ein armseliges Dasein betrachten würden. Sicher, sie hätte die City verlassen können, bevor sie Michael kennenlernte, aber die ablehnende Haltung ihrer Eltern hatte sie daran gehindert. Außerdem kannte sie ihre Neigung zu Missgeschicken – wahrscheinlich wäre sie schon am ersten Tag in der Freiheit von einer Klapperschlange gebissen worden oder von einer Rinderherde niedergetrampelt. Und sämtliche Farrows hätten sich versammelt und die Köpfe über ihre fatale Dummheit geschüttelt, der Bestimmung der Farrows entfliehen zu wollen.

„Was habt ihr drei bloß mit euren Cowboys?“, ereiferte Caroline sich. „So wie ich es sehe, sind sie schmutzige, übel riechende Kreaturen mit schlechten Zähnen und sonnengeschädigter Haut.“ Sie schüttelte sich angewidert.

Laramie stupste Molly in die Seite. „Es ist wegen des Leders, stimmt’s? Einige Frauen kapieren das einfach nicht.“

„Wir bekennen uns zu den einfachen Werten“, stellte Molly richtig. „Eine klare, einfache Sprache, harte Arbeit …“

Caroline winkte ab. „Erspar mir diese Sprüche. Man kann von Cowboys nicht mehr erwarten als eine einfache Sprache, weil sie dumm wie Maulesel sind. Harte Arbeit bedeutet schlechte Bezahlung. Weite Horizonte? Wacht auf, und schnuppert die Luft im Central Park! Wir leben in New York City.“

„Das wissen wir“, bemerkte Grace.

„Dann gib um Himmels willen diesen Unsinn auf, Grace. Cowboys sind nichts als Hinterwäldler mit Hüten.“

Laramies Augen wurden schmal. „Hab ich richtig gehört? Hinterwäldler?“

Mit einem sanften Lächeln, das Caroline ihre begrenzte Sichtweise verzieh, sagte Molly: „Ich fürchte, du hast recht, Laramie. Einige Frauen begreifen es einfach nicht.“

Grace fragte sich, in welche Kategorie von Frauen sie gehörte – nun, da sie zu heiraten gedachte. Und sie würde Michael heiraten. Sie war sich zu fünfundneunzig Prozent sicher.

Caroline zupfte geziert an der Manschette ihrer perfekt sitzenden Reitjacke. „Das mag sein, wie es will – jedenfalls werde ich nie verstehen, wie Grace an Cowboys denken kann, wenn sie Michael Lynden hat.“

Laramie beugte sich nah zu Grace und flüsterte: „Vergiss nicht, wir haben es hier mit einer Frau zu tun, deren Fantasie so begrenzt ist, dass sie den Reiz von Lederschurzen einfach nicht verstehen kann.“ Sie lehnte sich wieder zurück. „Ich wette, dein Gatte zählt sich zu den wenigen Glückspilzen auf dieser Welt, Caroline.“

„Und wieso, wenn ich fragen darf, bist du so fest davon überzeugt, dass ein Cowboy weiß, wie ein Mann eine Frau glücklich macht?“, entgegnete die spröde Blondine. „Hast du je einen Western mit einer richtig guten Liebesszene gesehen?“ Ihre perfekt geschminkten Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln, als die drei Mitglieder des Cowgirl-Clubs sich betreten ansahen.

Ehe Caroline ihren nächsten Hieb landen konnte, kam der Kellner mit dem Champagner an ihren Tisch, entkorkte die Flasche und schenkte ringsum ein. Seinem Gesichtsausdruck nach machte das Schweigen der sonst so turbulenten Gruppe ihn misstrauisch – so als wäre er auf einen besonders verrückten Coup gefasst. Nach einem leisen „Zum Wohl“ entfernte er sich.

Caroline hob als Erste ihr Glas. „Meine besten Wünsche, Grace! Ich bin so froh, dass du deiner Teenager-Schwärmerei für Cowboys endlich entwachsen bist. Willkommen in der wirklichen Welt.“

Molly und Laramie tauschten einen Blick, dann hoben sie ihre Gläser und gratulierten ebenfalls – wenn auch zurückhaltend-höflich.

Sie lassen mich hängen, dachte Grace, ließ sich ihre Enttäuschung aber nicht anmerken. Das wäre nicht Farrow-mäßig gewesen. „Danke für eure guten Wünsche“, sagte sie mit dem feierlichen Ernst ihres Vaters, des Richters. „Seid versichert, dass ich die Tradition des Cowgirl-Clubs auch nach meiner Heirat hochhalten werde.“

„Oh, übrigens, was ist denn nun mit unseren Plänen für Laramie?“, fragte Molly. „Ich meine Laramie in Wyoming. Aus dem Trip wird nun wohl nichts.“

„Wieso denn nicht? Ihr wisst doch, die Hochzeit ist erst für nächsten Juni angesetzt. Wir können also wie geplant nach Laramie fahren.“ Aber so optimistisch Grace sich gab, sie war voller Zweifel. Sie hatten monatelang über ihre Traumferien gesprochen, aber im Grunde war es für sie nur eine Fantasterei gewesen. Laramie betrachtete das Projekt als Vorstufe für ihre Auswanderung ins Land ihrer Väter, und für Molly war es ein tolles Abenteuer. Grace aber würde nie nach Laramie kommen, das wusste sie. Sollte Molly das Abenteuer genießen, sollte Laramie ihre künftige Heimat erkunden – sie würde in New York bleiben … mit ihren Fantasien.

„Auf den Frühling in Wyoming!“, rief Molly aus und hob ihr Glas.

„Auf den Frühling in Wyoming“, echote Grace schwach.

„Auf das gloriose Finale des Cowgirl-Clubs“, sagte Laramie und stieß mit ihren Freundinnen an.

Caroline griff nach der Flasche. „Dem Himmel sei Dank.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Grace zwanzig Minuten später. Sie waren inzwischen bei ihrer zweiten Flasche Champagner angelangt. „Ich weiß, Michael ist ’n wunderbarer Bursche, blah, blah, blah. Aber bitte lasst mir trotzdem meine kleine Fantasie. Es iss das Einzige, was ich …“ Sie brach abrupt ab. Ihr Traumcowboy war das Einzige, was ihr noch blieb?

Ihre Freundinnen setzten ihre Gläser ab und blickten sie gespannt an. Carolines Gesicht bekam den üblichen säuerlichen Ausdruck. Grace räusperte sich. „Es ist das Einzige, was Michael … nie für mich … sein kann“, beendete sie den Satz. Der Korrekturversuch war so kläglich wie ein altersschwacher Kutschengaul im Central Park. „Weil er nämlich … hicks … weil er nicht der Cowboy-Typ ist. Ihr wisst schon – verwegen und draufgängerisch und männlich und …“

Carolines Kosmetikstudio-Augenbrauen bogen sich so hoch, dass Grace sie schon unter ihrem Haaransatz verschwinden sah. „Ich meine … männlich auf Cowboy-Art“, fügte sie hastig hinzu. „Aber das ist okay. Wirklich. Ich erwarte nicht …“

Molly rettete sie. „Natürlich nicht. Es ist nur eine Fantasie. Ich habe auch solche Fantasien.“ Sie lachte leise. „Trotzdem erwarte ich nicht, dass der Börsenking des Monats im Bett Sporen trägt.“

„Das will ich hoffen“, bemerkte Caroline. „Nicht auszudenken, wie am nächsten Morgen die Satinlaken zugerichtet wären.“ Offenbar brauchte es mehr als zwei Flaschen Champagner, um Mrs. Farrow junior aufzulockern.

Armer Victor, dachte Grace und richtete den Blick auf den blitzenden Klunker an ihrer linken Hand. Es war ein sechskarätiger Diamant von Tiffany, ein prachtvoller und unglaublich teurer Solitär. Sie hatte sich sehr erwachsen und wie eine echte Farrow gefühlt, als Michael ihr den Verlobungsring über den Finger streifte. Jetzt fühlte sie nur ein lästiges Jucken an der Stelle, wo der Ring saß. Reagierte sie allergisch auf Diamanten und Gold … oder nur auf den Gedanken an eine Ehe mit Michael?

Sie schob den Ring bis zum Knöchel hoch, sodass sie die juckende Stelle kratzen konnte. Mit einem kleinen „Hicks“ nahm sie die Unterhaltung wieder auf. „Wie auch immer – ich hätte nichts dagegen gehabt, wenigstens ein Mal mit ’nem Marlboro-Mann in den Sonnenuntergang zu reiten. Nun isses zu spät … hicks.“

Laramies Blick ging in die Ferne. „Cowboys werden modernen Karrierefrauen nicht einfach so beschert“, murmelte sie. „Jedenfalls nicht in Manhattan. Also gibt’s nur eins: Let’s go West!“

„Westwärts, Frauen!“, sagte Molly versonnen. Sie war die Westernfilm-Expertin.

Grace tauchte ihren Ringfinger in ihr Glas, um den Juckreiz zu lindern. „Ich hab’s versucht. Frühlingsferien. Letztes Schuljahr. Da hab ’n Molly un’ ich ’ne Bustour zu den Geisterstädten in Nevada gemacht. Weißt du noch, Molly? Wir dachten, wir würden da ’n paar Cowboys auftun, vielleicht sogar Geister-Cowboys. Aber alles, was wir getroffen haben, waren andere Touristen.“

„Aber da war doch dieser niedliche Cowboy, der in der Wild-West-Show Kunststücke mit dem Lasso vorgeführt hat.“

Grace winkte ab. „Der war aus Reno. Und sein Bronco war einer mit vier Rädern. Und er hatte bei Macy’s einen Job als Model für Unterwäsche.“

„Aber er hat Lederschurze getragen.“

„Stimmt, und besonders gern hat er sie im Spiegel bewundert.“ Grace kicherte, als ihr der Verlobungsring vom Finger rutschte und mit einem kleinen zischenden „Plop“ am Boden ihres Glases landete wie eine besonders kostbare Alka-Seltzer-Tablette. Sie knallte den zarten Champagnerkelch auf den Tisch und erklärte: „Ich will ’n richtigen Cowboy!“

Caroline hatte genug. „Hör mal, nur weil Michael keinen Lederschurz trägt, ob sie nun den Hintern bedecken oder nicht …“

„Alle Schurze lassen den Hintern frei“, unterbrach Laramie sie.

„Und sie würden über Michaels dreiteiligen Anzügen albern aussehen“, witzelte Molly.

„Also wirklich.“ Caroline nahm Grace energisch ihr Glas fort. „Ihr habt entschieden zu viel Champagner getrunken, wenn ihr nicht einsehen könnt, dass Michael Lynden unendlich begehrenswerter ist als ein Hinterwäldler mit Hut.“

„Vielleicht solltest du ihn dann heiraten“, meinte Laramie.

Caroline schnappte nach Luft. „Also … das ist doch … Du gehst entschieden zu weit, Laramie!“

Grace fand Laramies Idee gar nicht so übel.

„Apropos Hinterwäldler mit Hut“, sagte Molly in einem sonderbaren Ton. „Sieh jetzt nicht hin, Grace, aber ist das nicht ein …“

Grace blickte sofort hin. „Ein Cowboy.“ Ihre Stimme klang noch seltsamer als Mollys. Sie starrte zum Eingang der Lounge und konnte nicht glauben, was sie sah. Es musste ein Trugbild sein, eine Schöpfung ihrer vom Champagner benebelten Fantasie. Sie blinzelte ein paar Mal, aber der Cowboy verschwand nicht.

Ein Cowboy in New York – sie konnte es noch immer nicht fassen. Er war groß, das hatte sie auf Anhieb gesehen, aber ansonsten konnte sie kaum mehr von ihm erkennen als die Silhouette seines Stetsons und die eindrucksvolle Breite seiner Schultern. Um mehr zu sehen, lehnte sie sich halb aus der Nische, von prickelnder Erwartung erfüllt.

„Ein Cowboy“, sagte Laramie in demselben ungläubigen Ton wie Molly.

Grace hörte sie nicht.

„Ich dachte, echte Cowgirls könnten ein paar Gläser Sekt vertragen, aber offenbar habe ich mich geirrt. Zuerst steigert ihr euch in eure Western-Fantasien hinein, und nun meint ihr alle drei, einen leibhaftigen Cowboy zu sehen.“ Caroline rollte die Augen. Sie ließ sich nicht herab, den Kopf zum Eingang zu drehen. „Es gibt keine Cowboys in Manhattan.“

„Er ist ein Cowboy“, sagte Grace atemlos, „ein echter.“ Das wusste sie instinktiv.

Laramie kniff die Augen zusammen, als der Mann die Lounge betrat. „Ob echt oder nicht, er sieht sehr gut aus.“

Autor

Carrie Alexander
Von Anfang an stand fest, dass Carrie Alexander einen kreativen Beruf ausüben würde. Bereits als Kind hatte sie eine überaus lebhafte Fantasie, dachte sich Geschichten aus und malte viel.

Schließlich wurde sie Bibliothekarin. Sie versuchte sich in ihrer Freizeit an Horrorgeschichten und malte in Öl. Damals entdeckte sie ihre erste...
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