Ein Kuss bei Sonnenuntergang

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Seit Avery Chase die junge Lydia eines Abends verzweifelt vor seiner Haustür fand, wohnt sie bei ihm. Sie hat sonst niemanden auf der Welt, aber auch das bisschen Glück wird ihr nicht gegönnt: Averys Cousin Robert, ein überaus attraktiver Mann, sagt ganz offen, dass er sie für eine Lügnerin hält …


  • Erscheinungstag 05.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756857
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mein lieber Avery, du willst mir doch nicht erzählen, dass du dieser mysteriösen Fremden die Geschichte vom verlorenen Gedächtnis glaubst? Ausgerechnet du! Bisher hast du immer alle Tricks unschuldig wirkender Mädchen durchschaut!“ Robert Chase lachte seinen Cousin spöttisch an.

Dr. Avery Chase, ein erfolgreicher Arzt, der seine Praxis in London der Wissenschaft und Forschung wegen aufgegeben hatte, war ein gut aussehender Mann mit ernsten, etwas verschlossenen Zügen. Er wirkte älter, als er in Wirklichkeit war und gehörte zu den nachdenklichen und weniger zu den temperamentvoll-ungestümen Typen. Zu Roberts größtem Erstaunen hatte eben dieser besonnene Cousin jene junge Frau nachts in seinem Haus, dem Familienbesitz der Familie Chase, aufgenommen.

„Bob“, Avery war leicht verärgert, „wer ist eigentlich der Arzt in der Familie – du oder ich?“

Robert betrachtete lächelnd die Glut seiner Zigarette. Wieder einmal dieses ironische Schauspieler-Lächeln, dachte Avery böse und klopfte achtlos seine Pfeife aus, dass die Asche weit über seinen Schreibtisch wirbelte.

„Das Schlimme bei der Medizin ist, dass man sich heutzutage Bücher über alle Krankheiten kaufen kann“, grollte Robert. „Ich brauche nur alles über Amnesie nachzulesen, dann komme ich zu dir und spiele dir alle Symptome der Krankheit vor. Du würdest mir den Puls fühlen, der geht natürlich rasend schnell, denn ich weiß ja, dass ich dich belüge, und du würdest mit Bedauern feststellen – armer Kerl, er hat sein Gedächtnis verloren!“

„Das müsste ich ja wohl, nicht wahr?“ Avery lachte. Jetzt war der Ernst aus seinem Gesicht verschwunden. Man sah, dass er tatsächlich höchstens Mitte dreißig sein konnte. Zwei Jahre und ein paar Monate älter als Robert.

„Sag mal, Bob“, fragte Avery nachdenklich, „was hast du nur gegen dieses junge Mädchen, das tatsächlich sein Gedächtnis verloren hat?“

„Das will ich dir genau sagen. Erstens besitzt sie die Frechheit zu behaupten, sie erinnere sich nur an eines, an ihren Vornamen Lydia. Zweitens kommt sie mitten in der Nacht hier nach Devon Moors und fällt in Ohnmacht. Warum gerade an dein Haus, Avery? Es sei denn, sie weiß, du bist Arzt, und dir kann sie die einstudierten Symptome vorspielen! Und drittens“, Robert nahm einen letzten Zug und drückte dann die Zigarette aus. „Drittens“, fuhr er fort, „sie trägt an den Füßen seidene Abendschuhe mit Perlen und Strass bestickt, sonst aber nur billigen Plunder. Willst du wissen, was ich denke?“ Roberts Augen waren plötzlich ohne jedes Lächeln. Er sah böse und zynisch aus. Seine Lippen waren wie ein dünner Strich.

„Ich glaube“, sagte er weiter, „sie ist irgendwo Zofe bei einer reichen Frau gewesen, will ein Abenteuer erleben, hat keine Lust mehr zum Arbeiten. Vielleicht hat sie sogar gestohlen – die Abendschuhe auf jeden Fall. Gerda erzählte, die Schuhe seien ihr viel zu groß, sie hätte sie vorn an den Zehen mit Watte ausgestopft.“

Bei der Erwähnung seiner Sekretärin runzelte Avery die Brauen. „Gerda ist natürlich voreingenommen gegen das Mädchen, weil du es auch bist!“, knurrte er.

„Wieso?“ Robert blickte unschuldig. „Gerda hat das Mädchen gesehen, ich noch nicht. Ich wusste nichts von ihr bis heute Nachmittag.“

„Du weißt genau, was ich meine.“ Avery schien missgestimmt. „Gerda ist so vernarrt in dich, sie kann gar nicht mehr geradeaus denken.“

Robert schüttelte den Kopf. „Ach komm, lass die dummen Launen und Einbildungen der Frauen aus dem Spiel. Kann die medizinische Wissenschaft denn nicht mal Abhilfe schaffen? Du solltest eine Pille erfinden, mein Junge, die Frauen dazu bringt, sich in gute, ehrenhafte Männer zu verlieben und nicht in so verdammt ungute Außenseiter wie mich!“

„Kommen wir zurück auf den Fall Gedächtnisschwund“, sagte Avery abrupt, stand auf und ging zum Kamin. Es war erst August, doch die Abende schon kühl in dem großen Haus, so hatte man ein Feuer im Kamin angezündet. „Diese junge Frau lügt nicht, Bob. Ich habe sie sehr gründlich untersucht und getestet“, begann Avery wieder. „Und du weißt, ich bin kein naiver Landarzt. Sie erinnert sich tatsächlich nicht, wer sie ist, woher sie kommt und warum sie ausgerechnet mein Haus fand und dann auf den Eingangsstufen ohnmächtig wurde. Und das gegen zehn Uhr abends, nicht mitten in der Nacht.“

Avery musste lächeln. Robert als Schauspieler neigte stets zu Übertreibungen. Dann fuhr er fort.

„Dass sie ausgerechnet mein Haus fand, das Haus eines Arztes, machte mich zuerst auch stutzig, das gebe ich zu. Doch alles, was sie sagen konnte, war, sie fühle sich auf einmal so entsetzlich allein und verlassen da draußen in der Moorlandschaft. Sie fürchtete sich, zitterte vor Angst. Als dann plötzlich die Lichter des Hauses auftauchten, war das wie eine Erlösung … du weißt ja, dass Granny die Vorhänge immer weit offen lässt, die Lampen wirken wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.“

Avery erinnerte sich, wie sie gestern Nacht ausgesehen hatte, diese nächtliche Besucherin, die aus dem Nichts kam. Die unheimlich großen Augen von der Farbe wilder Veilchen in einem schneeweißen Gesicht. So furchtsame, schmale Hände, die sich Hilfe suchend an seine Schultern geklammert hatten, als er sie ins Haus trug.

Ellen, die Köchin, hatte sie gefunden. Sie war aufgeregt zu ihm in die Bibliothek gestürmt.

„Da liegt eine Kranke auf den Stufen, Doktor“, hatte Ellen gerufen. „Kommen Sie schnell, das arme Geschöpf ist ohnmächtig geworden.“

Die Fremde war gerade wieder zu sich gekommen und blickte verstört um sich. Avery hatte sofort gewusst, dass etwas Ernsthaftes mit ihr passiert sein musste.

Deshalb traf es ihn auch so hart, als Robert die Kleine als scheinheilige Betrügerin bezeichnete, obwohl er sie gar nicht kannte. Noch mehr ärgerte ihn allerdings, dass Gerda die Gelegenheit seiner Abwesenheit benutzt hatte, um Robert, als er zum Wochenende eintraf, alle Einzelheiten aus ihrer Sicht mitzuteilen. Gerda hatte damit ihren großen Auftritt vor Robert gehabt.

„Diese verdammten Frauen“, schimpfte Avery, „dass sie doch immer so schnell dabei sind, ihr eigenes Geschlecht zu kritisieren und schlecht von anderen Frauen zu denken.“

Robert hob spöttisch eine Augenbraue. „Sind wir wieder bei Gerda gelandet?“

„Jawohl, wir sind wieder bei Gerda“, brummelte Avery und ging mit großen Schritten an seinen Schreibtisch. Er ergriff seinen Tabaksbeutel und ging zum Kamin zurück. Mit den Schultern lehnte er sich an den Marmorsims und stopfte sich eine neue Pfeife. „Was hat sie über unseren Gast gesagt? Ungehöriges, nehme ich an.“

„Sie meinte, das Mädchen spiele Theater und wollte sich offensichtlich bei dir einnisten. Nur merktest du das nicht.“ Robert beobachtete Avery genau.

„Sonst noch was?“, fragte Avery kurz.

„Oh ja. Sie berichtete auch, dass das Mädchen keinen Cent in der Tasche hatte, und dass sie grün vor Schreck wurde, als Gerda ihr erzählte, du seiest nach Brinsham zur Polizei gefahren, um dich zu erkundigen, ob jemand mit ihrer Beschreibung Vermisstenanzeige erstattet hätte.“

„Verstehe.“ Avery riss ein Streichholz an und entzündete unter kräftigem Schmauchen seine Pfeife.

„Dass sie erschrocken war, ist durchaus verständlich, weißt du“, begann Avery dann ein wenig dozierend. „Welches junge Mädchen möchte schon gern mit der Polizei zu tun haben? Ich habe sie bei der Polizei beschrieben. Die Meldung geht in den Umlauf. Wenn sie jemand als vermisst meldet, hören wir es sofort!“

„Niemand wird sich melden“, erwiderte Robert schnell.

„Hör zu, Bob“, Averys graublaue Augen blickten eiskalt. „Du hast kein Recht, jemanden als Betrüger zu bezeichnen, den du gar nicht kennst. Das ist nicht fair.“

„Die kleine Lydia hat dich ganz schön eingewickelt, alter Junge.“ Robert betrachtete seinen Vetter nachdenklich.

Avery war ein außerordentlich reicher Mann. Seine Mutter war die einzige Tochter eines wohlhabenden Barons gewesen, und als Haupt-Nachfolger des Chase-Besitzes hatte er auch von seinem Vater eine ansehnliche Erbschaft gemacht.

Obwohl ihn seine Prominentenpraxis in London mit sehr vielen schönen, reichen und charmanten Frauen zusammengebracht hatte, war er Junggeselle geblieben. Robert hatte sich stets darüber amüsiert, wie Avery sich geschickt aus allen Fallstricken und Tricks der Londoner Damen herausgehalten hatte. Deshalb fand er Averys offensichtliche Zuneigung zu dieser ominösen Lügnerin mit der Geschichte vom verlorenen Gedächtnis gar nicht komisch.

Gerda Maitland sah viel zu gut aus, um auf das Aussehen einer anderen Frau, wenn die Fremde überhaupt attraktiv war, eifersüchtig zu sein.

„Eine richtige Elendsgestalt, Robert“, hatte Gerda gesagt. „Kurzes schwarzes Haar ohne jeden Glanz und ein Körper wie ein Junge.“

„Wann werde ich die Dame Lydia kennenlernen? Oder willst du sie mir vorenthalten?“, fragte Robert seinen Cousin.

Avery musste schon wieder über ihn lachen. „Du siehst sie zum Abendessen. Tagsüber soll sie ruhen, doch abends braucht sie etwas Gesellschaft. Das ist meine Therapie.“

Avery musterte den zynischen Ausdruck in Roberts Gesicht und wurde sofort wieder ernst. „Und ich wünsche als Arzt keine dummen Sprüche, Bob. Wenn du das Kind aufregst, werden wir beide hart aneinander geraten, das versichere ich dir.“

„Sagtest du Kind?“ Robert verzog seine Mundwinkel nach unten.

„Werde bitte nicht wieder sarkastisch, Bob. Ja, dieses Kind leidet an Amnesie, und ich habe vor, mich um sie zu kümmern, bis sie wieder gesund ist oder bis sich Angehörige melden, die sie abholen. Mir ist völlig egal, was ihr davon haltet oder wer dieses Mädchen in Wirklichkeit ist. Ich bin Arzt, und es ist meine Pflicht, ihr ärztliche Hilfe zu geben.“

„Warum schickst du sie nicht in ein Krankenhaus?“, schlug Robert vor.

„Bei der Furcht, die sie vor allem hat? Sie in ein Hospital zu geben, würde ihr bewusst machen, dass sie ernsthaft krank ist. Sie ist aber nicht krank in dem Sinne, dass sie ein Krankenhausbett braucht. Sie läuft vor irgendetwas oder irgendwem davon. Wenn sie aufhören kann, sich vor der Situation, vor der sie davonläuft, zu fürchten, wird sie sich wieder erinnern. Das kann jederzeit passieren. Heute Nacht vielleicht. Oder morgen. Möglicherweise erst nächste Woche.“

„Oder niemals“, murmelte Robert. „Nun, das ist dein Problem, Avery. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, wie das Sprichwort sagt. Aber vielleicht denkst du auch einmal an ein anderes Sprichwort, an das, wonach der Weise einen guten Rat nicht braucht und nur der Narr ihn nicht annimmt.“

„Na gut, vielleicht bin ich ein Narr“, erwiderte Avery und ging wieder an seinen Schreibtisch, andeutend, dass er jetzt zu arbeiten wünschte, und Robert verließ den Raum.

Gerda Maitland genoss den Lebensstil in Devon Moors immer wieder von Neuem. Sie kam aus kleinen Verhältnissen. Der Vater war Postbeamter in Finchley, die Mutter Verkäuferin in einer Boutique – eine ehrgeizige Mutter, die mit ihrer sehr hübschen Tochter viel vorhatte. Gerda hatte ihr Sekretärinnen-Examen mit guter Note bestanden. Dass sie heute Privatsekretärin von Dr. Avery Chase war, verdankte sie ihrer guten Ausbildung, ihrem Ehrgeiz, nach oben zu gelangen, und einem glücklichen Zufall.

An einem regnerischen Abend war sie aus dem Kino kommend losgerannt, um den Bus zu erreichen. Sie stolperte, verlor einen Absatz und fiel auf die Straße, direkt Avery Chase vor die Füße. Er hatte Gerda sofort aufgeholfen und mit kundiger Hand geprüft und festgestellt, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Allerdings, so meinte er, brauche sie sicher einen Brandy.

Bei einigen Gläsern und einem angeregten Gespräch erzählte sie, dass sie eine Stellung als Sekretärin suche, und er wiederum konnte berichten, dass seine Sekretärin in Kürze heiraten und ihre Stellung bei ihm aufgeben werde …

Gerda hatte den Job tatkräftig in die Hände genommen. Jetzt, vier Jahre später, war sie in Averys Haushalt in Devon zu einer festen Einrichtung geworden. Es gefiel ihr hier außerordentlich gut, auch, weil dieses Haus von Zeit zu Zeit Averys jungen Cousin Robert als Gast beherbergte.

Gerdas voller, sinnlicher Mund lächelte, als sie ihr Weinglas absetzte und zu Robert hinüberblickte. Das Schwarz-Weiß des Abendanzugs stand ihm blendend.

„Sind Sie traurig, dass Ihr Theaterstück ausgelaufen ist, Robert?“, fragte sie und löffelte den Nachtisch.

„Ein bisschen schon“, lächelte Robert zurück. „Ein Stück, das man zweieinhalb Jahre spielt, wird zur lieben Gewohnheit, wird zu einer Art Liebesaffäre. Man möchte, dass sie vorbeigeht, und wenn dann Schluss ist, die letzten Adieus gesagt sind, die letzten Küsse getauscht, dann stellt man traurig fest, dass einem etwas fehlt, dass man alles am liebsten noch einmal von vorn beginnen würde.“

Robert sah Gerda mit Vergnügen an. Sie war sehr hübsch, ihre blauen Augen waren diskret mit Wimpern- und Lidtusche unterstrichen. Ihr hellblondes Haar schimmerte silbrig. Über den schönen runden Schultern trug sie ein blaues Spitzentuch, das die Haut durchschimmern ließ.

„Sie sind sehr attraktiv, Gerda, das wissen Sie, nicht wahr?“, sagte Robert.

Gerda errötete ein wenig, und als könne sie nicht anders, blickte sie auf die junge Frau, die links neben Robert saß. Sie hatte den Kopf mit den blauschwarzen Haaren tief über ihren Teller geborgt, dennoch aß sie nicht. Dann fühlte sie wohl, dass Gerda sie anschaute. Lydia hob die Augen, und ihre Blicke trafen sich. Es waren scharfe Blicke, mit einer gewissen Verwunderung in den hellblauen Augen von Gerdas Weißrosa-Schönheit und einer ebensolchen Abwehr in ihrem schmalen, beinahe noch unfertigen Gesicht, dem Gesicht einer Kreatur, die man in eine Ecke getrieben hat.

Avery lehnte sich zu Lydia hinüber. „Sie essen sehr wenig. Haben Sie keinen Hunger?“, fragte er.

Lydia löste sich von Gerdas Blick. „Nein, nicht viel, Dr. Chase“, antwortete sie. Beim Ton ihrer Stimme drehte sich Robert abrupt zu ihr um. Lydias tiefe, melodische Stimme überraschte ihn. Sie klang kultiviert.

„Lydia ist ein seltsamer Name“, sprach er sie an. „Woher haben Sie ihn? Wer nannte Sie so?“

„Ich verstehe Ihre Frage nicht?“ Lydia wandte sich zu Robert um. Sie bemerkte seinen zynischen Gesichtsausdruck und war betroffen. Furcht trat in ihren Blick.

„Tatsächlich nicht?“, lächelte er spöttisch.

„Hör auf, Bob. Ich wünsche keine Unterhaltung in diesem hintergründigen Ton“, mischte Avery sich ein.

Robert zuckte mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Gerda zu.

„Wenn Avery Ihnen einen freien Tag gönnt, Gerda, würde ich Sie morgen gern zu dem Farmhaus mitnehmen, das ich mir gekauft habe. Ob er einverstanden ist?“

„Oh, Avery“, bat Gerda ihren Chef. „Darf ich mit? Ich kann am Sonnabend alles Wichtige erledigen, wenn es sein muss.“

„Warum dann nicht gleich am Sonnabend?“, fragte Avery ablehnend.

„Sonnabend ziehe ich bereits um“, antwortete Robert. „Ein großer Teil meiner Polstermöbel kommt aus London.“ Er hob sein Weinglas und lächelte seinen Vetter charmant an. „Komm Avery, gib dem Mädchen einen Tag frei von ihrer Sklavenarbeit bei dir. Ich bringe sie unversehrt wieder zurück. Das verspreche ich dir.“

„Du bist ein unverbesserlicher Nichtsnutz, mein Lieber!“ Gegen seinen Willen musste Avery lachen. „Also gut, sie gehört dir, aber nur für morgen.“

„Sehen Sie, Gerda“, lachte Robert dröhnend. „Sie gehören mir – für morgen.“

„Danke, vielen Dank, Avery“, rief Gerda überschwänglich, und ihre Augen leuchteten.

„Meine liebe Gerda“, lachte Avery, „ich werfe Sie dem Löwen zum Fraß vor! Danken Sie mir nicht.“

Alle tranken. Robert beobachtete Lydia scharf. Sie merkte es und blickte ihn an. „Wie ist das nur möglich, dass Sie alles vergessen haben. Ich kann das nicht glauben“, murmelte er herausfordernd.

Lydias Gesicht wurde noch weißer, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Abrupt stieß sie ihren Stuhl zurück, sprang auf und lief zur Tür hinaus. Avery folgte ihr schnell.

„Nun, das freut Sie, nicht wahr, Robert?“, sagte Gerda mit maliziösen Lächeln.

Robert hob eine Augenbraue. „Was habe ich denn getan?“

„Sie haben Lydia sehr intensiv und forschend angesehen.“

„Ist das denn schlimm?“ Robert hob sein Glas, betrachtete den schönen Schliff. „Haben Sie auch das Gefühl, weinen zu müssen, wenn ich Sie intensiv anschaue, Gerda?“

„Nun, mich haben Sie auf diese Weise noch nie angesehen wie dieses arme, hilflose Geschöpf“, erwiderte Gerda, „doch wenn Sie es vielleicht mal tun, würde ich vielleicht auch in Tränen ausbrechen.“ Damit faltete sie ihre Serviette zusammen und stand auf.

„Ich gehe besser in den Salon zu Ihrer Großmutter“, fuhr sie fort und lachte. „Wenn Avery zurückkommt, wird er schäumen, weil jemand sein kleines Spielzeug gekränkt hat.“

„Moment mal, Gerda“, hielt Robert sie zurück. „Ist Avery ernsthaft interessiert an diesem Mädchen?“

Gerda nickte. „Ich glaube, dieses merkwürdige Geschöpf weckt Beschützerinstinkte in ihm. Armer Avery!“

„Armer Avery? Was soll das?“, fragte Robert. Er zog Gerda plötzlich dicht an sich heran, küsste sie hinter das Ohr und flüsterte: „Was heißt das, Beschützerinstinkte zu entwickeln?“ Dann hob er den Kopf und lachte ihr in die Augen. „Warum wecken Sie solche Instinkte nicht auch mal in mir, meine Süße?“

Gerda befreite sich langsam von ihm. „Weil ich nicht ein so bedauernswert hässliches Geschöpf bin, hoffe ich“, schmollte sie. Dann ging sie zur Tür, und Roberts lautes Lachen klang hinter ihr her.

„Er denkt, ich bin eine Betrügerin, nicht wahr?“ Lydia stand am Schreibtisch in der Bibliothek. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. Averys Gesichtsausdruck hatte sich verdüstert.

„Ich glaube, ich kann nicht länger hier bleiben, Dr. Chase. Es ist wohl besser, ich gehe in ein Hospital.“

„Dies ist mein Haus, Lydia, nicht Roberts.“ Avery betrachtete Lydia mit medizinisch geschultem Blick. „Er ist meist nur ein oder zwei Tage hier. Am Sonnabend übersiedelt er ganz in sein Cottage. Sie haben ja gehört, wie er es sagte. Kommen Sie“, er lächelte sie beruhigend an. „Sie brauchen doch vor ihm keine Furcht zu haben. Er hat eine merkwürdig-teuflische Art von Humor. Wenn er merkt, dass er jemanden einschüchtern kann, wird er noch spöttischer.“ Avery streichelte Lydias Hand.

„Die Schwierigkeit mit ihm ist“, fuhr er erklärend fort, „dass er ständig hofiert, ständig bewundert wird. Er hat außerordentlichen Erfolg im Theater und ist tatsächlich ein echt guter Schauspieler, wissen Sie. Nur darf man es ihm am besten niemals sagen.“

„Von mir wird er das sicher nie hören, Dr. Chase“, antwortete Lydia leise. „Ich glaube, ich werde überhaupt nicht mehr mit Ihrem Cousin reden. Ich finde ihn – böse und grausam.“

Avery lachte. „Lassen Sie das nie meine Großmutter hören. Granny hält ihn für eine Art Gottheit, die Wiedergeburt irgendeines uralten Gottes, wissen Sie.“

„Pluto?“ Die veilchenblauen Augen Lydias glühten. „Ja, Pluto, denn ich glaube, Ihr Cousin könnte auch nur eiserne Tränen vergießen, Dr. Chase.“

„Und dennoch könnte er Persephone aus dem Hades zurückholen!“ Avery war lebhaft geworden. „Eine Tür hat sich geöffnet, Lydia, ein wenig Licht ist in das Dunkel gekommen. Sie haben offensichtlich klassische Literatur gelesen oder kennen die griechische Mythologie.“

„Klassische Literatur?“, wiederholte Lydia mit erstaunten Augen.

„Pluto und seine Tränen aus Eisen – Sie sprachen davon.“

„Wirklich?“ Einen Moment erhellte sich ihr Gesicht. „Ich kannte die Geschichte, natürlich.“

Dann erschauerte Lydia. Und wieder hüllte sie die Verzweiflung über ihre verlorene Identität ein. Sie fühlte sich wie in einer beängstigenden Leere. Furcht stieg auf, ließ ihre Pulse höher schlagen. Alles, an das sie sich erinnerte, war ein dunkler Himmel und der Mond, über den die Wolken hinwanderten. Sein Licht schien über die Moorlandschaft, hin und wieder wurde es düster, wenn die Wolken das Mondlicht verschlangen. Und dann tauchte plötzlich das Licht auf, wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Sie war gerannt, gestolpert, hingefallen und weitergerannt, bis sie endlich die Treppen zur Haustür erreichte. Die Leute hinter den dicken Steinwänden mussten glauben, dass sie verrückt sei – oder eine Betrügerin. Ja, das war es, was Robert Chase dachte.

Lydia presste ihr Gesicht in die Hände und versuchte mit aller Kraft, Licht in das Dunkel ihrer Erinnerungen zu bringen. Aber nichts, nichts fiel ihr ein. Mit Sicherheit wusste sie tatsächlich nur, dass sie Lydia hieß. Lydia – wie?

„Es ist entsetzlich!“, wisperte sie.

„Mein Gott, Sie dürfen sich nicht verrückt machen, Lydia“, versuchte Avery sie zu beruhigen. „Ihre Erinnerung wird zurückkommen, alles zu seiner Zeit.“

„Aber wie und wodurch?“ Lydias Augen blickten flehend. „Wie konnte es überhaupt geschehen?“

„Es ist eine Art hysterische Amnesie, wie wir Ärzte das nennen. Dieser Gedächtnisschwund tritt manchmal nach heftigen Gefühlsausbrüchen auf.“

„Nach Gefühlsausbrüchen? Was meinen Sie damit?“

„Nun, liebes Kind, eine Liebesaffäre zum Beispiel, die unglücklich ausgeht. Eine schwere Auseinandersetzung im Beruf, Streit mit den Eltern oder so.“

„Meine Eltern“, wiederholte Lydia perplex, „kann man denn jemals seine Eltern vergessen? Ich – ich habe das Gefühl, als hätte ich niemals welche gehabt.“

Avery streichelte Lydia über die Wange. „Eltern sind ein sehr notwendiger Bestandteil des Lebens, Lydia – wo wären wir alle ohne unsere Eltern?“ Er legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern. Ihr kurzes Zurückzucken ignorierte er, dann führte er sie aus der Bibliothek hinaus in die Wohnhalle.

„Ich möchte Sie jetzt mit meiner wunderbaren Großmama bekannt machen“, lächelte er, „das wird Sie von Ihren Problemen ablenken. Großmama isst immer allein, weil ich sie auf eine spezielle, strenge Diät gesetzt habe. Sie ist wirklich eine reizende alte Dame.“

„Hoffentlich denkt sie nicht auch so wie Ihr Cousin Robert“, murmelte Lydia. „Macht Ihnen seine Meinung gar nichts aus?“

„Nein, sie bedeutet mir nichts. Robert ist ein charmantes Ekel. Hin und wieder freue ich mich an seiner Gesellschaft, seinem Intellekt, doch wir haben total verschiedene Ansichten vom Leben. Leider wird er einmal böse über seinen eigenen Sarkasmus stolpern.“

„Er ist schlimm – und grausam“, flüsterte Lydia.

Avery blickte sie forschend an. Plötzlich stellte er fest, dass ihn dieses schmale, weiße Gesicht mit den großen ausdrucksvollen Augen, diese ganze zarte Persönlichkeit, die an ein verlorenes Kind erinnerte, mehr als nur beruflich interessierte. Sie konnte neunzehn, höchstens zwanzig Jahre alt sein. Sie sprach und bewegte sich wie eine Dame. Und wie er bei Tisch beobachten konnte, hatte sie ausgezeichnete Manieren.

Die Augen waren das Schönste an ihr. Dichte dunkle Wimpern umrahmten das Oval der Augen. Wenn sie unter halb geschlossenen Lidern um sich blickte, hatte sie etwas elfenhaft Geheimnisvolles an sich. Avery war kein fantasievoller Mann, doch diese Mädchenaugen erregten ihn auf besondere Weise.

Sie war einfach angezogen, musste er feststellen. Auch die von Gerda geborgten Schuhe waren zu groß. Beim Öffnen der Tür sagte Avery: „Morgen werden wir in Brinsham passende Schuhe für Sie kaufen. Sie könnten sich auf den Treppen ja die Füße brechen in den großen Schuhen von Gerda.“

„Da haben wir also unseren nächtlichen Gast?“ Die Stimme war tief, und Lydias Aufmerksamkeit wandte sich ihr zu. Sie starrte Averys Großmutter an, und sofort kam die Angst wieder. Es war nicht das herbe alte Gesicht mit den vielen Falten, das ihr Furcht einflößte, es waren die funkelnden, dunklen Augen, die den greisenhaften Zügen etwas erstaunlich Junges und Schalkhaftes gaben. Es waren Robert Chases Augen!

„Lydia?“ Die alte Dame klopfte neben sich auf das Polster der Couch, auf der sie saß. „Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir“, forderte Mrs. Chase sie auf. „Machen Sie kein so furchtsames Gesicht, Sie werden von mir nicht gefressen.“

Lydias Herz schlug heftig, als die alte Dame ihre knochige Hand auf ihren Arm legte, an deren Zeigefinger ein immens großer Rubinring leuchtete. Sie nahm Lydias Hand hoch und betrachtete sie von beiden Seiten. Schließlich sagte sie:

„Sie haben einen Ring am dritten Finger der Hand getragen.“

„Einen – einen Ring?“ Lydia blickte verwirrt auf ihre Hand, die noch immer von der Großmutter festgehalten wurde. Tatsächlich, da sah sie es auch. Eine runde Vertiefung zog sich wie ein Reifen um den Ringfinger.

„Ein Ring hast du gesagt, Granny?“ Avery war von hinten an die Couch getreten und beugte sich über Lydia. Seine Finger umschlossen hart ihr Handgelenk.

„Ein Verlobungsring – oder Ehering vielleicht?“, fragte er und blickte Lydia an.

„Wird hier über Eheringe gesprochen?“, kam Roberts Stimme von der Tür. Er war von allen unbemerkt eingetreten. „He, die Dinge verdichten sich, wie mir scheint“, setzte er sarkastisch hinzu.

„Aufregend, Robert, unheimlich aufregend“, bemerkte Gerda. „Wir haben gerade festgestellt, dass Lydia einen Ehemann hat.“

„Alles Vermutungen, Gerda“, wies Avery sie kurz zurecht, nahm sich dann jedoch zusammen, als er Roberts zynischen Blick sah. „Granny hat mit ihren scharfen Augen gerade die Spuren eines Ringes an Lydias linkem Ringfinger entdeckt.“

Autor

Violet Winspear
Violet Winspear wurde am 28.04.1928 in England geboren. 1961 veröffentliche sie ihren ersten Roman „Lucifer`s Angel“ bei Mills & Boon. Sie beschreibt ihre Helden so: Sie sind hager und muskulös, Außenseiter, bitter und hartherzig, wild, zynisch und Single. Natürlich sind sie auch reich. Aber vor allem haben sie eine große...
Mehr erfahren