Ein Lord, ein Kuss, ein Mistelzweig

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Eigentlich wollte Lord Selwick das Christfest in aller Stille begehen. Doch unversehens findet er sich in einer großen Familie wieder - und trifft die verführerische Sophia Pettibone unterm Mistelzweig!


  • Erscheinungstag 30.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728441
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Nahe Greystoke, Cumberland

17. Dezember 1818

Die Geier sammeln sich, Mylord“, sagte der Butler, ein steifer, betagter Mann mit vollem silbergrauem Haar, und reichte ihm ein gefülltes Punschglas.

„Dann sind sie nun alle hier, Potter?“ Viscount Sebastian Selwick stand am Kamin in der Bibliothek von Windsong Hall und wärmte sich die Hände. Er schien die Kälte einfach nicht aus seinen Knochen vertreiben zu können, was aber nur zum Teil dem kühlen Raum geschuldet war. Eher hatte es mit der Aufgabe zu tun, die vor ihm lag. Zum Teufel damit!

„Mr. und Mrs. Evans sind mit ihren Bediensteten gekommen. Ich habe sie im Ostflügel untergebracht. Mr. Jonathan Arbuthnot traf am frühen Vormittag ein und ist im Südflügel. Und erst vor Kurzem dann Mrs. Emma Grant mit ihrem kleinen Sohn, Master George, ebenfalls im Ostflügel.“

Sebastian fragte sich, ob Potter bestimmte Gründe für die Zuteilung der Räume gehabt hatte. Streit unter den Verwandten und daher besser Trennung voneinander? Er wünschte nicht zum ersten Mal, dass er mehr über die Familie wüsste. „Und wie viele fehlen noch?“

„Ich glaube, nur Miss Sophia Pettibone. Für sie habe ich ein Zimmer im Südflügel herrichten lassen.“

„Ah, ja. Die unverheiratete Nichte.“ Er sah sich zum Fenster um, hinter dem trotz der Mittagsstunde Dämmerlicht herrschte. Anscheinend braute sich ein Unwetter zusammen. „Sollten wir jemanden nachsehen lassen, ob sie irgendwo auf der Straße feststeckt?“

Potter zuckte mit den Schultern. „Gewiss dauert es nicht mehr lange. Wir können jemanden ausschicken, wenn sie bis zum Supper nicht hier ist, Mylord.“

Supper. Sebastian seufzte. Zuerst würde er den Lunch hinter sich bringen müssen. Es behagte ihm nicht, sich mit Fremden zum Essen an den Tisch zu setzen. Viel lieber hätte er in London in seiner Bibliothek vor dem warmen Feuer gehockt und wäre dem Feiern und den guten Wünschen zum Fest aus dem Wege gegangen.

Zumindest um das Feiern musste er sich hier keine Gedanken machen. Was hier von ihm verlangt wurde, war nur, Mr. Oliver Pettibones persönlichen Besitz zu inventarisieren, Pettibones Bestattung zu überwachen und den versammelten Erben das Testament zu verlesen, ehe er danach sein gesegnet ruhiges Leben in London wieder aufnahm. Nur eins bekümmerte ihn.

„Warum bestand Mr. Pettibone darauf, diesen speziellen Teil des Testaments auf Windsong Hall abzuwickeln? Hätte es London nicht auch getan?“

„Es war sein letzter Wunsch, Mylord. Er hatte immer vorgehabt, nach England zurückzukehren, wenn er erst in den Ruhestand träte, und deshalb erwarb er Windsong Hall.“ Potter räusperte sich heftig, ehe er weitersprach, und Sebastian fragte sich, ob der Mann noch um seinen Brotherrn trauerte. „Und so, als er erfuhr, dass er bald … äh … sterben und Windsong Hall nie bewohnen würde, brachte er den Wunsch zum Ausdruck, dass die Beisetzung und die Verlesung des Testaments hier stattfinden solle, und zwar so bald nach seinem Ableben wie möglich.“

So sehr das einzusehen war, ärgerte Sebastian sich doch immer noch, dass er die lästige Reise nach Cumberland hatte machen müssen, nur weil er der älteste Sohn von Oliver Pettibones ebenfalls schon verstorbenem Partner war und in Cambridge Jura studiert hatte. Und weil ihm womöglich das Gewissen schlug, wenn er dem Andenken an seinen Vater nicht Respekt zollte. Er seufzte. „Familien …“

„Sie machen eine Menge Schwierigkeiten, Mylord. Meistens, denke ich“, stimmte Potter sinnierend zu.

Jedenfalls für Sebastian. Nachdem sein Vater, verwitwet, erneut geheiratet hatte – dieses Mal eine Frau mit drei Töchtern – gab es nie wieder auch nur einen Augenblick Frieden im Hause. Und nach dem Tode seines Vaters war es noch ärger geworden. Lieber wäre er Napoleons Armee gegenübergetreten als seiner Stiefmutter und seinen Stiefschwestern in ihrer Wut.

Er schlürfte seinen Punsch und entspannte sich langsam, als das heiße Gebräu die Verkrampfung in seinem Magen löste. „Und die sterblichen Überreste?“, fragte er seufzend.

„Sollten morgen eintreffen. Oder übermorgen. Das Londoner Fuhrunternehmen versicherte mir, es werde mit gehöriger Schnelligkeit vorgehen.“

Verflucht! Er hing hier auf Windsong Hall fest, bis Mr. Pettibones sterbliche Hülle eintraf. Noch gab es nichts auf dem hartgefrorenen Friedhof oberhalb des Tals zu bestatten, und das Testament durfte vorher nicht verlesen werden. Wenigstens konnte er die Zeit bis dahin nutzen, Pettibones persönliche Habe durchzusehen.

Die Glocke rief zum Lunch, und er trank in einem langen Schluck sein Glas leer – zur moralischen Stärkung. Es war so weit. Er musste sich seiner Aufgabe stellen. Musste der versammelten Familie begegnen. Er straffte die Schultern und marschierte zum Speisesalon.

Gott behüte mich vor Familien.

Nachdem die allgemeine Vorstellung vorüber war, nahmen alle Platz, und die Suppe wurde serviert, eine hervorragende Geflügelcremesuppe. Bald wandte sich die anfangs noch ein wenig steife Unterhaltung dem einzigen abwesenden Gast zu.

„Es überrascht mich nicht, Mylord, dass sie nicht pünktlich eingetroffen ist. Also, ich wäre überrascht, wenn sie überhaupt kommt“, verkündete Mrs. Marjory Evans über ihrer Suppentasse.

Unberechenbar, schloss Sebastian für sich.

„Ein ungewöhnliches Mädel“, fiel ihr Gatte Thomas ein. „Nie gefügig – hat einem Duke den Laufpass gegeben, wissen Sie – und sie zieht Katastrophen förmlich an.“

Auch zu Skandalen neigend?

Mr. Arbuthnot, ein gut aussehender schneidiger junger Londoner, der so ziemlich alles lästig zu finden schien, schnaubte abfällig. „Wirklich, Thomas? Ich glaube kaum, dass du unparteiisch bist. Wenn ich mich recht entsinne, war der Duke nicht der einziger Verehrer, den sie abwies.“

„Deutest du an, dass ich für Thomas die zweite Wahl war?“, fragte Mrs. Evans, die Brauen hebend.

„Ich deute an, Marjory, dass Thomas vielleicht nicht der unbefangenste Kritiker ist. Was Laufpässe betrifft ist mir, als wäre da die Rede von ‚nicht gegängelt werden wollen‘ gewesen.“

Sebastian biss die Zähne zusammen und stählte sich für ein oder zwei weitere Wochen Gezänk. Da die Familie hinsichtlich einer unbefangenen Beschreibung der Dame kein verlässlicher Quell war, versuchte er, sich zu erinnern, was man ihm über Miss Sophia Pettibone erzählt hatte.

Als das einzige noch lebende Kind von Oliver Pettibones älterem Bruder war Miss Sophia in noch zartem Alter der mütterlichen Linie der Familie übergeben worden. Später war da in London ein Skandal gewesen – wahrscheinlich jene Sache mit dem Duke, die Mr. Evans eben erwähnt hatte. Die Worte „ungewöhnlich“, „eigensinnig“ und „wunderlich“ waren gefallen. Das zusammen mit „nicht gefügig“, „unpünktlich“, und „Hang zu Katastrophen“ und er konnte sich ein solches Geschöpf nicht einmal vorstellen. Das verhieß zwangsläufig Schwierigkeiten, und er konnte schwierige Frauen nicht ausstehen. Er fragte sich, ob die Stallknechte, die er ausgeschickt hatte, sie schon gefunden hatten.

„Ich wollte nur anmerken, dass wir von ihr nicht das übliche Verhalten erwarten können“, äußerte Mrs. Evans. „Ich garantiere, wenn sie kommt, wird sie keine Anstandsdame dabeihaben.“

„Sie werden schon sehen, Mylord, und ich beneide Sie nicht darum, sich mit ihr abgeben zu müssen“, ergänzte die ansonsten recht schüchterne Mrs. Emma Grant.

„Hmmm“, war Sebastians einzige Antwort, wobei er sich erhob und die Serviette auf seinen Stuhl warf. Mit leichtem Nicken in Richtung der Damen ging er hinaus. Wenn das Frauenzimmer solche Unannehmlichkeiten versprach, sollte er vielleicht die Stallknechte bei ihrer Suche nach ihr unterstützen. Dem ungebärdigen Ding sollte nichts zustoßen, während er hier auf Windsong Hall verantwortlich war.

Sophia Pettibone rieb mit ihrer behandschuhten Hand über die zugefrorene Scheibe des Wagenfensters, um in die Winterlandschaft hinausspähen zu können. Sie wurde zusehends aufgeregter. Wie schön es sein würde, die Verwandten väterlicherseits wieder einmal zu sehen! Ja, das war zweifellos die Gelegenheit, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Zu selten sahen sie einander, um sagen zu können, dass sie sonderlich vertraut miteinander wären, doch nach eben dem Gefühl solcher Nähe sehnte sie sich. Sehnte sich danach, einem größeren Ganzen zuzugehören. Sie seufzte und verscheuchte die melancholischen Gedanken.

„Ich hörte, der Lake District sei die schönste Gegend von ganz England“, sagte sie zu ihrem Kammermädchen. „Ich habe meine Wasserfarben eingepackt. Wenn schon sonst nichts, kann ich wenigstens ein paar Skizzen machen. Fertigstellen kann ich sie später immer noch.“

„Aye, Miss. Bestimmt bleibt Ihnen reichlich Zeit dazu, aber was könnten Sie denn malen, wo die Bäume kahl sind und alles ist so kalt und öde?“

„Öde? Siehst du nicht die Schönheit des Winterhimmels? Das Muster, das der Frost zeichnet, und die jungfräulich weiße Schneedecke? Ich finde es faszinierend, wie sich die nackten Zweige der Bäume gegen den grauen Himmel abheben.“ Sophia griff nach der ledernen Halteschlaufe, da der Wagen über eine Furche rumpelte und heftig schwankte. „Guter Gott! Halt dich fest, Janie! Hoffentlich ist der Rest der Fahrt nicht so ungemütlich.“

„Wir müssten so gut wie da sein, Miss. Der Stallbursche beim letzten Gasthof sagte, es wären nur noch ein paar Stunden. Ich fürchte, den Lunch haben wir schon verpasst.“

Ehe Sophia antworten konnte, schlingerte der Wagen, holperte gewaltig und neigte sich seitwärts. „Himmel!“ Mit erhobener Stimme rief sie dem Kutscher zu: „Was ist passiert, Sir? Ist ein Rad gebrochen?“ Und in just dem Moment kippte das Gefährt langsam auf die Seite.

Sophia packte Janie und zog sie, um deren Fall abzufangen, dicht zu sich. Sie prallten mit ziemlicher Wucht gegen den Wagenschlag. Sophia betete, das Fenster möge heil bleiben, damit sie sich nicht an den Scherben schnitten. Der Türgriff bohrte sich in ihr Knie, und ein scharfer Schmerz schoss ihr durchs Bein. Mühsam versuchten sie und Janie, sich aufzurichten, und klammerten sich in dem mageren Licht, das durch das von Reif bedeckte Fenster über ihnen fiel, aneinander. Janie wimmerte und zitterte an allen Gliedern, und Sophia betete, das Mädchen möge nicht vollkommen die Beherrschung verlieren.

Plötzlich hörte man laute Rufe, die nicht allein ihrem Kutscher und dem Lakaien zugeschrieben werden konnten, doch die Geräusche wurden durch den Schnee und die Lage des Wagens gedämpft. „Miss? Miss! Ist alles in Ordnung?“, schrie der Fahrer.

„Uns geht es gut, Sir“, rief sie. „Können Sie uns hier herausziehen?“

Der Wagen geriet in Bewegung, als jemand auf die Achse stieg, und einen Moment später wurde die Tür oben geöffnet. Der Umriss eines männlichen Kopfes samt Oberkörper erschien über ihnen – schwarz vor dem grauen Himmel und, der Größe nach zu urteilen, nicht der Kutscher.

Ihr wurde eine Hand entgegengestreckt, doch sie stieß sie fort und stupste ihre jammernde Zofe an. „Erst Janie bitte.“

Der Mann hievte das dralle Mädchen ohne die geringste Mühe empor, und sie verschwanden aus Sophias Sicht, zweifellos, um Janie auf Verletzungen zu untersuchen. Als der Wagen erneut zur Seite wegrutschte, hielt Sophia den Atem an und presste die Lippen fest zusammen, um nicht doch aufzuschreien. Bitte, lass die Kutsche nicht an einem Abhang liegen!

„Haltet die Achse fest!“, rief laut eine unbekannte Stimme.

Die Kutsche knarrte erbärmlich, als der Mann erneut hinaufkletterte und den Kopf durch die Öffnung steckte. „Nun Sie, Miss.“

Rasch streifte sie die Handschuhe ab, damit sie besseren Halt hatte, und reichte ihm die Hand. Als er ihr Handgelenk umfasste, tat sie bei ihm das Gleiche, und er zog auch sie ohne Zögern zu sich herauf. Er würde nicht versagen, denn sein Griff war selbstsicher und kraftvoll.

Ehe sie ihn noch richtig betrachten konnte, schwang er sie hinab und in die wartenden Arme des Kutschers, der unter dem jähen Anprall leicht strauchelte. „Sind Sie unverletzt, Miss Pettibone? Sie wirken … bestürzt.“

„Umgestürzt wäre der passendere Ausdruck, Mr. York. Aber mir geht es gut. Was ist mit Janie?“

„Hier bin ich, Miss!“, rief die Zofe von der Straße her. „Mir ist nichts passiert.“

Erleichtert atmete Sophia die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. „Gott sei Dank. Sie können mich jetzt absetzen, Mr. York.“

Der Kutscher stellte sie auf die Füße, doch da fuhr ihr ein schneidender Schmerz durch ihr rechtes Knie. Sie verzog das Gesicht und tastete Halt suchend nach Mr. Yorks Arm. „Nur eine Prellung“, versicherte sie ihm. „Einen Augenblick nur, dann bin ich so weit. Gleich bin ich wieder ganz in Ordnung.“

„Bestimmt, Miss?“

„Ich …“

„Werde das Bein nicht belasten, bis es untersucht wurde.“

Sophia wandte sich um zu der angenehm männlichen Stimme, die den Satz beendet hatte, und erkannte den Umriss des Mannes, der sie aus dem Wagen gerettet hatte.

Oh, je! Er war wirklich sehr stattlich anzusehen. Der Wind hatte sein dunkles Haar zerzaust und über seine Stirn geweht, sodass es nun die interessantesten Augen einrahmte, die sie je gesehen hatte – eine Farbe irgendwo zwischen Grau und Grün. Er hatte ein kräftiges Kinn, das kaum merklich gespalten war, und roch nach frischem Leinen, Wolle und einem Hauch von Rasierseife – ein sehr angenehmer Duft, der tief in ihrem Innern ein kleines Prickeln erzeugte. Besorgt beugte er sich über sie

Ehe sie antworten konnte, hob er sie hoch und trug sie zu einem Wagen, der ein paar Schritt entfernt stand. In Sophias Kopf begannen ein paar Alarmglocken zu schrillen. Ja, der Mann sah gut aus, aber sie konnte unmöglich wissen, was er vorhatte.

Sie zappelte und wollte sich losmachen. „Sir, setzen Sie mich ab!“

„Ich denke nicht, Miss Pettibone. Wir müssen Sie rasch nach Windsong Hall schaffen.“

Windsong Hall? „Sind Sie einer der Gäste, Sir?“

„Ich bin der Testamentsvollstrecker Ihres verstorbenen Onkels.“

Sophia hatte von einem Viscount Selwick einen Brief erhalten mit der Anweisung, zum Zwecke der Verlesung des Testaments umgehend Windsong Hall aufzusuchen. Dann musste dies der unbekannte Viscount sein, aber das half ihr in ihrer augenblicklichen Zwangslage nicht im Mindesten.

„Lord Selwick? Wirklich, Sie brauchen mich nicht zu tragen, und außerdem muss ich bei Janie und der Kutsche bleiben.“

„Ich habe mich schon persönlich überzeugt, dass Janie unverletzt ist. Wenn ich irgendetwas von meinen Stiefschwestern gelernt habe, dann ist es, Einwände zu ignorieren. Sparen Sie Ihren Atem, Miss Pettibone.“

Bei seinem Ton ließ sie die Brauen in die Höhe schnellen. „Mein Retikül …“

„Darum wird sich Ihre Zofe kümmern.“

Sie war nicht daran gewöhnt, sich etwas befehlen zu lassen. In einem Haushalt, der nur aus Frauen bestand, war häufig sie diejenige, die sich der Dinge annahm. Dennoch, das hier könnte auf kuriose Weise spannend werden.

2. KAPITEL

Der Viscount setzte Sophia in seinen Wagen und legte ihr eine Pelzdecke über die Beine, dann stieg auch er ein und ließ sich ihr gegenüber nieder. Er klopfte gegen das Dach, und die Kutsche nahm in würdevollem Tempo Fahrt auf.

„Und nun, wenn Sie gestatten, Miss Pettibone, würde ich mir gerne Ihre Verletzung ansehen.“

„Das ist wirklich nicht nötig. Ich stürzte einfach gegen den Türgriff, als die Kutsche umfiel.“

Doch zu spät. Schon beugte er sich vor und hob ihren rechten Fuß an, bis die Ferse auf seinem Knie ruhte. Sie spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen schoss, als er den Saum ihrer Röcke bis zur Wade hochschob, wodurch zusammen mit ihren robusten Reisestiefeln ihre hellblauen Strümpfe zum Vorschein kamen.

„Guter Gott“, murmelte er, ohne zu ihr aufzusehen. „Ich bezweifle, dass Sie durch solch vernünftige Reiseausstattung hindurch größere Verletzungen erleiden könnten. Aber wir wollen es nicht darauf ankommen lassen.“ Er begann, die Schnürsenkel der Stiefel zu lösen.

Das war etwas mehr, als Sophia ertragen konnte. „Mylord! Das dürfen Sie nicht!“, protestierte sie.

Nun sah er ihr zum ersten Mal voll ins Gesicht; der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen, während er den Absatz packte und ihr den Stiefel auszog. „Ich werde die Augen schließen, Miss Pettibone, wenn das Ihrer Sittsamkeit Genüge tut.“

Sprachlos sah sie, wie er die Augen schloss und mit seinen Händen kraftvoll und sicher vom Knöchel über ihre Wade bis zum Knie strich. Sie hätte schwören können, dass in der Art, wie das geschah, etwas … Verführerisches lag. Und tastete sich seine Hand tatsächlich ein wenig höher vor als nötig? Behutsam beugte er ihr Knie, fast als erwartete er, dass sie stöhnte oder aufkeuchte. Ungewollt erfüllte sie die Erwartung, da plötzlich ein scharfer Schmerz durch ihr Bein zuckte. Seine Hand glitt über einen großen Riss in ihrem Strumpf, und erschrocken spürte sie die intime Wärme seiner Hand auf ihrer nackten Haut.

„Ich fürchte, ich werde doch nachsehen müssen, Miss Pettibone. Ihr Aufschrei und der zerrissene Strumpf sagen etwas ganz anderes als Ihre vorherigen Worte.“ Und dann öffnete er sehr langsam seine Augen – diese Augen mit der wechselhaften Farbe – und senkte den Blick sofort auf die bewusste entblößte Stelle.

Nun schaute auch sie hin und stellte überrascht fest, dass Blut das reine Blau des Strumpfs beschmutzte, und sie eine tiefe blutende Schramme am Knie hatte – nicht zu tief oder zu lang, doch beträchtlich schmerzhaft. Der Viscount zog ein Schnupftuch aus seiner Rocktasche und riss es mittendurch. Die ein Hälfte faltete er zu einem kleinen Polster, das er auf die Wunde legte, die andere schlang er als provisorischen Verband darum.

„Waschen Sie das gut mit heißem Wasser aus, wenn wir daheim sind, ja?“

Ihr fehlte plötzlich die Wärme seiner Hand. Und nach seiner Miene zu urteilen, dachte sie, ist auch er ein wenig aus der Fassung. Himmel, das geht so nicht!

Autor

Gail Ranstrom
<p>Geboren und aufgewachsen ist Gail Ranstrom im Nordwesten der USA, in den Weiten von Montana. Schon damals hörte sie gerne Geschichten über vergangene Epochen und weit entfernte Länder, und dabei durfte natürlich auch Abenteuer, Spannung und Romantik nicht zu kurz kommen! Bevor sie jedoch selbst mit dem Schreiben anfing, machte...
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