Ein Neuanfang für Schwester Brianna?

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

"Wir sind immer noch verheiratet, Brianna." Als ob Brianna das jemals vergessen könnte! Vor zwei Jahren hat sie ihren Ehemann in einer dunklen Stunde verlassen. Doch jetzt taucht er plötzlich im St. Piran Krankenhaus auf. Und in ihrem Leben …


  • Erscheinungstag 26.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718299
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber das stimmt nicht. Manchmal genügt ein Song, eine geflüsterte Bemerkung oder eine unerwartete Begegnung, und der Schleier, den die Zeit gewoben hat, zerreißt. Dann ist der Schmerz wieder da und nimmt dir die Luft zum Atmen.

„Dann stimmt es also.“ Stationsschwester Brianna Flannigan trank einen Schluck von ihrem Kaffee. „Sie wollen wirklich jemanden herholen, der die Abteilungen auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft?“

„Ich fürchte, ja.“ Megan Phillips seufzte. „Er soll schon heute im Laufe des Tages hier sein.“

„Aber das St. Piran ist ein hervorragendes Krankenhaus. Jeder arbeitet mit vollem Einsatz, die Qualität der Chirurgie kann sich mit Londoner Standards messen, und für die Menschen in diesem Teil von Cornwall bietet es eine unersetzliche medizinische Versorgung.“

„Richtig.“ Jess Corezzi nickte beifällig. „Aber die Krankenhausleitung ist überzeugt, dass hier das Geld zum Fenster hinausfliegt und …“ Sie setzte sich und verdrehte die Augen. „…dass etwas getan werden muss.“

„Das heißt doch wohl nicht, dass Stationen geschlossen werden?“, fragte Brianna. „Es gibt sicher andere Möglichkeiten, um Kosten zu sparen.“

„Meine Stelle steht wahrscheinlich mit als Erstes auf der Abschussliste“, meinte Jess mit düsterer Miene. „Der Prüfer wird die psychologische Betreuung von Patienten und ihren Familien als unnötigen Luxus werten.“

„Dein Job ist unglaublich wichtig!“, protestierte Brianna. „Die Eltern meiner Babys auf der Neugeborenen-Intensivstation brauchen dich auf jeden Fall!“

„Genau wie die Kinder und ihre Eltern in der Pädiatrie“, ergänzte Megan.

„Ich weiß nicht“, meinte Jess zweifelnd. „Aber eins ist sicher: Eure Abteilungen werden von Kürzungen nicht betroffen sein. Niemand, der bei Verstand ist, würde eine Säuglingsintensivstation oder eine Kinderstation schließen.“

Doch. Brianna kannte jemanden, einen Mann, dem statistische Werte und Effizienzberechnungen immer wichtiger gewesen waren als Menschen. Bei der Erinnerung daran fröstelte sie unwillkürlich.

Megan hatte es gesehen. „Alles in Ordnung?“

Brianna zwang sich zu einem Lächeln. „Ach, mir gefällt das nur nicht – Abteilungen schließen, Personal entlassen … Das St. Piran ist mein …“ Sie unterbrach sich. Mein Zufluchtsort hatte sie sagen wollen. Aber obwohl Jess und Megan gute Freundinnen geworden waren, seit Brianna vor zwei Jahren hier angefangen hatte, so gab es doch Bereiche ihres Lebens, über die sie nicht sprach. Ihre Vergangenheit, zum Beispiel. „Ich arbeite so gern hier“, schloss sie lahm.

„Ich auch“, meinte Jess, und Megan nickte zustimmend.

„Wisst ihr, wer er ist? Ich meine, wo kommt er her, welche Krankenhäuser hat er noch bewertet?“

„Wir wissen nur, dass er aus London ist“, antwortete Jess.

„London?“ Brianna unterdrückte ein Schaudern. „Jess …“ Weiter kam sie nicht, weil ein Pager klingelte.

Die drei Frauen warfen einen Blick auf ihre kleinen Geräte, und Megan stand mit einem Stöhnen auf.

„Hoffentlich nichts Schlimmes auf deiner Station?“, erkundigte sich Brianna besorgt.

„Nein, die Verwaltung. Sie drehen halb durch vor dieser Untersuchung. Gestern wollten sie alles in zweifacher Ausfertigung, und heute haben sie beschlossen, dass dreifach doch besser ist.“

Die pädiatrische Oberärztin eilte davon. Brianna und Jess sahen ihr nach und beobachteten, wie sie den Kantinenausgang in dem Moment erreichte, als Josh O’Hara den Saal betrat. Der Chefarzt der Notaufnahme sagte etwas zu Megan, streckte sogar die Hand aus, um sie aufzuhalten, aber sie wich aus und hastete ohne ein Wort weiter.

Ihre Freundinnen tauschten einen vielsagenden Blick.

„Zwischen den beiden ist richtig dicke Luft“, sagte Brianna.

Jess seufzte. „Solange Josh mit Rebecca verheiratet ist, wird sich daran auch nichts ändern. Megan ist nicht der Typ, der sich in eine Ehe drängt.“

„Hat sie dir etwas erzählt?“

„Anscheinend gibt es da eine alte Geschichte, aber ich habe keine Ahnung, worum es geht. Ich würde auch nicht im Traum daran denken, Megan zu fragen. Ich vermute nur, dass sie mal zusammen waren, bevor Josh geheiratet hat. Was damals passiert ist, oder warum sie sich getrennt haben …“ Die Psychologin zuckte mit den Schultern. „Ich wünschte, er hätte den Chefarztposten in der Notaufnahme nicht übernommen. Okay, er hat wohl nicht gewusst, dass Megan auch am St. Piran arbeitet. Aber kannst du dir vorstellen, wie schrecklich es sein muss, wenn jemand, den du geliebt hast, wieder in deinem Leben auftaucht? Und dann musst du mit ihm zusammenarbeiten, ihn jeden Tag sehen …“

Oh ja, das konnte Brianna sich sehr gut vorstellen. Sie dachte jedoch nicht daran, sich auf dieses Glatteis zu begeben.

Geheimnisse, dachte sie, während sie sah, wie Josh zur Theke marschierte und lustlos die Auslagen betrachtete. Sie, Jess und auch Megan, sie alle hatten ihre Geheimnisse. Vielleicht hatte sie das unbewusst zueinander hingezogen. Oder sie waren Freundinnen geworden, weil sie die Privatsphäre der anderen immer respektiert hatten. Daher hatten sie bis vor ein paar Monaten auch nicht geahnt, dass Jess HIV-positiv war oder dass Megan immer noch darunter litt, dass jemand ihr das Herz gebrochen hatte. Was sie jedoch nicht wussten, war, dass Brianna …

Nicht, bremste sie die schmerzlichen Gedanken aus. Denk nicht daran.

„Dummerweise mag ich ihn“, fuhr Jess fort, als Josh sich einen Donut und einen Kaffee holte, um sich damit allein an einen der Tische am Ende der Kantine zu setzen. „Was auch immer zwischen ihm und Megan vorgefallen sein mag, ich glaube, er gehört eher zu den guten als zu den bösen Jungs.“

„Weiß dein Mann, dass du Josh magst?“, neckte Brianna.

Jess lachte auf. „Gio weiß, dass ich nur Augen für ihn habe. Aber Megan und Josh … die Situation ist völlig verfahren, und ich würde ihnen so gern helfen.“

Ich auch, dachte Brianna, während sie mit Jess die Kantine verließ. Sie hatte Josh auf Anhieb gemocht. Wie sie, so stammte auch er aus Irland und hatte das gleich zum Anlass genommen, ein bisschen mit ihr zu flirten. Mit ihrem welligen kastanienroten Haar würde sie ihn an die Hollywooddiva Maureen O’Hara erinnern, die in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts große Erfolge gefeiert hatte. Brianna hatte nur gelacht – Josh war der geborene Charmeur, er schaffte es mühelos, eine lockere, unbeschwerte Atmosphäre herzustellen. Nur bei Megan nicht, seufzte sie stumm. Die Kinderärztin schien gegen seinen Charme immun zu sein.

Ein paar Minuten später wünschte Brianna sich Josh herbei mit seinem betörenden Charme. Sie hatte ihren Dienstausweis durch den Kartenleser gezogen und die Säuglingsintensivstation betreten, als ihr prompt Rita über den Weg lief. Die Stationssekretärin war der einzige Mensch im ganzen Krankenhaus, den Brianna nicht ausstehen konnte.

„Ich habe meine Mittagspause nicht überzogen“, begann sie mit einem betonten Blick auf ihre Armbanduhr. „Anscheinend ist auch kein Feuer ausgebrochen, und Sie hätten mich sicher verständigt, wenn eins der Babys mich bräuchte. Also kann ich nur annehmen, dass Sie jemanden vom Pflegepersonal wegen irgendeiner geringfügigen Verfehlung melden wollen?“

„Er ist da!“, zischte die Sekretärin. „Der Prüfer. Seit einer halben Stunde sitzt er in meinem Büro und sieht Unterlagen durch. Aber ich weiß nicht, wie lange ich ihn dort festhalten kann.“

„Haben Sie schon an Ketten, Handschellen und vielleicht eine Zwangsjacke gedacht?“

„Das ist nicht lustig, Schwester Flannigan“, erwiderte Rita empört. „Wer soll diesen wichtigen Mann jetzt begrüßen? Dr. Brooke ist leider noch im OP.“

„Ja, wie rücksichtslos von der kleinen Amy Renwick, dass sie aber auch gerade jetzt so krank werden musste.“

Doch Rita schien völlig unempfänglich für ihren Sarkasmus. „Diese Untersuchung kommt zum denkbar schlechten Zeitpunkt“, jammerte sie. „Ich habe nur noch zwei Jahre bis zur Rente. Nicht auszudenken, wenn sie diese Abteilung dichtmachen.“

Und du denkst dabei nur an dich, dachte Brianna. „Ich bezweifle stark, dass jemand eine Säuglingsintensivstation schließen wird“, sagte sie jedoch nur.

„Wir sind personell stark unterbesetzt.“ Ihre grauen Dauerwelllocken hüpften, als Rita ihre Worte mit einem heftigen Kopfnicken unterstrich. „Das muss diesem Prüfer ja auffallen. Natürlich will ich mich nicht beklagen …“

Du tust nichts anderes, dachte Brianna. Der Tag, an dem Rita sich nicht ein einziges Mal beschwerte, müsste rot im Kalender angestrichen werden!

„Und niemand kann behaupten, ich gäbe nicht mein Bestes.“ Rita redete sich in Fahrt. „Aber ohne eine Pflegedienstleitung kämpfe ich einen aussichtslosen Kampf!“

Brianna war versucht, ihr zu sagen, dass sie es sicher leichter hätte, wenn sie nicht den halben Tag tratschen und die andere Hälfte damit zubringen würde, neugierig in anderer Leute Angelegenheiten herumzuschnüffeln. Aber im Grunde hatte die Sekretärin recht. Seit Diego Ramirez, ihr Pflegedienstleiter, nach Spanien zurückgekehrt war, hatte niemand offiziell sein Platz eingenommen, trotz der Zusage der Verwaltung, die Stelle neu auszuschreiben.

„Der Prüfer wird das sicher berücksichtigen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen …“

„Wie selbstsüchtig von Mr Ramirez, uns mit allem alleinzulassen“, fuhr Rita unbeirrt fort. „Früher hatten die Menschen mehr Pflichtgefühl, aber heute schert sich niemand mehr um Verantwortung. Sehen Sie sich nur die vielen ledigen Mütter an, deren Kinder wir hier haben. Charakterlos, willensschwach, allesamt. Zu meiner Zeit …“

„Gab es nur Vorzeigefamilien, und es ist nie etwas Schlimmes passiert, da bin ich sicher“, unterbrach Brianna sie scharf. „Aber da Sie so sehr darauf bedacht sind, bei unserem Prüfer einen guten Eindruck zu machen, wie wäre es, wenn Sie jetzt weiterarbeiten?“

Rita blieb der Mund offen stehen, und im ersten Moment sah es so aus, als wollte sie zum Angriff übergehen. Doch dann schnaubte sie nur und stolzierte davon.

Brianna seufzte stumm. Wahrscheinlich würde Rita es ihr bei Gelegenheit heimzahlen, aber sie hatte sich nicht zurückhalten können. Rita mit ihrem Moralapostel-Getue ging ihr heute besonders auf die Nerven.

Brianna wusch sich sorgfältig die Hände und rieb sie hinterher mit einem Antiseptikum ein, um keine Bakterien auf die Station zu tragen.

Doch als sie aufblickte und sich im Spiegel sah, hielt sie einen Moment inne und seufzte leise. Feldmaus hatten die anderen sie genannt, als sie noch in der Ausbildung war. Aber das war jetzt vierzehn Jahre her, und sie war längst keine unscheinbare graue Maus vom Lande mehr. Sie war zweiunddreißig, Stationsleiterin einer Intensivstation, und die Zeit und das Leben hatten sie verändert. Vor allem die letzten zwei Jahre.

Lass es, ermahnte sie sich, als ihr Herz sich schmerzlich zusammenzog. Du darfst nicht zurückblicken, niemals.

Normalerweise schaffte sie das ganz gut. Brianna schob eine vorwitzige rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte fest, dass ihre Hand bebte. Ja, normalerweise lebe ich in der Gegenwart, ohne zurückzusehen oder an die Zukunft zu denken. Diese ungewohnte Unruhe, daran war nur dieser verdammte Prüfer schuld. Seine Ankunft scheuchte jeden auf und verbreitete eine Ungewissheit, die ihr kleines Paradies gefährdete. Brianna wollte, dass das St. Piran genauso blieb, wie es war. Hier hatte sie sich geborgen und zu Hause gefühlt, nach allem, was passiert war.

„Verfluchter Zahlenschieber“, murrte sie, als sie mit dem Ellbogen die Tür zur Intensivstation aufschob. „Von mir aus kann er verschwinden!“

„Du meinst doch wohl nicht unseren verehrten Besucher?“ Ihre Kollegin Christina hatte sie gehört und amüsierte sich königlich.

„Du hast es erfasst, Süße.“ Brianna entspannte sich, als die vertraute Wärme sie umfing und die stetigen Geräusche der Überwachungsgeräte an ihr Ohr drangen. „Ist etwas gewesen, während ich zur Pause war?“

„Dr. Brooke operiert noch.“

„Also musste er doch einen Teil des Dünndarms entfernen.“

Bis zuletzt hatten alle gehofft, dass diese Operation nicht nötig sein würde. Amy Renwick war zwölf Wochen zu früh zur Welt gekommen, und kaum einen Monat später hatte man bei ihr eine nekrotisierende Enterokolitis diagnostiziert. Diese Entzündung des Magen-Darm-Trakts trat bei Frühchen häufig auf, doch bei Amy hatte die Antibiotika-Behandlung nicht ausgereicht. Der Chefarzt wollte zunächst nur eine Drainage für die infektiöse Flüssigkeit legen, aber nun hatte er sich anscheinend doch zur Teilresektion entschlossen.

„Ist Mrs Renwick da?“

„Ja, im Elternzimmer, ihre Familie ist bei ihr.“

Was in den letzten Wochen für Naomi und ihren Mann eine große Hilfe gewesen war. Diese Familie ist Gold wert, dachte Brianna. Nicht alle ihre Mütter und Väter, denen sie tagtäglich begegnete, hatten so viel Glück. Manche Familien wohnten zu weit weg, um sie zu unterstützen, und andere wiederum ertrugen die Angst und die Sorgen nicht, die ein Frühchen bedeutete.

Und manchmal lässt dich jemand, auf den du dich hundertprozentig verlassen hast, einfach im Stich.

„Alles in Ordnung, Brianna?“

Christina musterte sie fragend, und Brianna zwang sich zu einem Lächeln.

„Du bist die Zweite, die mich das heute fragt, aber mir geht’s gut“, versicherte sie. „Ich habe nur den Montagsblues. Dass dieser verdammte Prüfer schon im Haus ist, macht es leider nicht besser.“

„Wappne dich, mein Schatz“, antwortete die Kollegin mit gesenkter Stimme. „Er hat gerade die Station betreten, zusammen mit Dr. Brooke und Rita. Was für ein Mann! Groß, gut aussehend, Maßanzug, der Typ ist sich seiner Macht voll bewusst. Einschüchternd, wenn du mich fragst.“

Brianna warf einen Blick über die Schulter, und in dieser Sekunde hörte die Welt auf, sich zu drehen. Wie durch Watte hörte sie, wie der Chefarzt seinen Begleiter als Connor Monahan vorstellte. Was sie betraf, wäre es nicht nötig gewesen. Seit zwei Jahren versuchte sie, den hochgewachsenen, athletisch gebauten Mann mit dem dichten schwarzen Haar und den intensiven blauen Augen zu vergessen, der jetzt im teuren Businessanzug, einen flachen modernen Laptop in der Hand, am Eingang der Station stand. Ihre Finger gehorchten ihr nicht mehr, und der Aktenordner, den sie in Händen gehalten hatte, landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Fußboden.

Neben ihr schnappte Christina überrascht nach Luft, und Dr. Brooke warf ihr einen verwunderten Blick zu. Brianna bückte sich schnell, um den Ordner aufzuheben. Als sie sich wieder aufrichtete, setzte ihr wild klopfendes Herz einen Schlag lang aus. Natürlich hatte Connor sie erkannt, aber jetzt blitzte Ärger in seinen Augen auf, und als er sie eindringlich ansah, hatte sie das Gefühl, dass ihr Herz brach … wie vor zwei Jahren.

„Ich darf Ihnen versichern, dass meine Mitarbeiter für gewöhnlich nicht alles fallen lassen, Mr Monahan“, hörte sie Dr. Brooke sagen.

„Das kann jedem passieren. Und bitte, sagen Sie Connor zu mir. Mein Besuch dient nicht dazu, irgendjemanden zu begutachten. Betrachten Sie mich als Beobachter, der lediglich herausfinden soll, welche Bedeutung dieses Krankenhaus für die lokale Gemeinde hat.“

„Ja, klar“, murmelte Christina. „Als ob wir nicht wüssten, dass sie ihn geschickt haben, um festzustellen, welche Abteilung geschlossen werden kann. Die Leier ‚Wir sind doch alle Freunde‘ kann er sich gern sparen. Ach herrje, jetzt stellt Dr. Brooke ihn jedem einzeln vor“, fuhr sie mit einem entnervten Blick in die Richtung ihres Chefs fort. „Wetten, dass er nicht mal die Hälfte unserer Namen behält?“

Brianna war es egal, was Dr. Brooke tat. Sie presste den Ordner wie einen Schutzschild an die Brust und wünschte sich meilenweit weg. Doch dann sah sie aus dem Augenwinkel, wie zwei glänzende schwarze Schuhe in ihr Blickfeld traten. Ein Hauch von Sandelholz-Aftershave stieg ihr in die Nase, und sie atmete unwillkürlich tiefer ein. Wenn es nur endlich vorbei wäre …

„Und dies ist Stationsschwester Flannigan“, stellte der Chefarzt vor.

„Stationsschwester Flannigan“, wiederholte Connor langsam.

So sarkastisch hatte noch nie jemand ihren Nachnamen ausgesprochen. Brianna zuckte insgeheim zusammen und blickte widerstrebend auf.

„Sie ist erst seit zwei Jahren bei uns“, fügte Dr. Brooke hinzu, anscheinend ohne die unterschwellige Stimmung wahrzunehmen. „Aber für das Team ist sie unersetzlich.“

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich über die Anerkennung des korpulenten Chefarztes, der selten Lob verteilte, gefreut. Doch sie sah nur, wie Connor spöttisch die Brauen hochzog.

„Ach, dann leben Sie seit zwei Jahren hier in Cornwall, Schwester Flannigan?“, erkundigte er sich betont interessiert.

Brianna umklammerte den Ordner fester. Nicht, wollte sie sagen. Bitte nicht. Nicht vor allen Leuten. Aber das konnte sie nicht. Ihr Chef war anwesend, und Ritas Miene nach zu urteilen, drehten sich die Rädchen in ihrem Kopf bereits in eine bestimmte Richtung. Neugierig blickte die Stationssekretärin von Brianna zu Connor und wieder zurück.

„Ja“, antwortete sie. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …“

„Oh, auf gar keinen Fall“, erklärte Connor mit eisiger Stimme. „Im Gegenteil, ich bestehe darauf, dass Sie bleiben.“

War er immer schon so groß, so einschüchternd gewesen? Unfreiwillig trat sie einen Schritt zurück. Sie fühlte sich wieder wie die graue Maus vom Land, und sie hasste dieses Gefühl!

„Ich fürchte, das geht nicht“, erwiderte sie mit so viel Nachdruck, wie sie aufbringen konnte. „Ich muss mich um unsere Babys kümmern und außerdem mit einer der Mütter sprechen. Ihre kleine Tochter wurde gerade operiert …“

„Wovon sie sicher vollständig genesen wird“, unterbrach Dr. Brooke sie. „Die nächsten Tage sind zwar kritisch, aber das werde ich Mrs Renwick persönlich erklären.“

Genau das wollte ich verhindern, dachte Brianna betrübt. Sicher barg jede Operation Risiken, aber nicht umsonst war Dr. Brooke im Team als Quasselstrippe verschrien. Er war ein exzellenter Chirurg, neigte jedoch dazu, auch sämtliche Komplikationen in epischer Breite auszuführen – womit er die armen Eltern zu Tode erschreckte. Megan hätte Naomi Renwick sehr viel behutsamer von der Operation berichtet, nur leider war Megan nicht da.

„Ich rede gern mit Mrs Renwick, Dr. Brooke“, unternahm sie einen zweiten Versuch. „Ich könnte jetzt …“

„Sie laufen doch nicht vor mir davon, Schwester Flannigan?“, meinte Connor.

Ob jemandem der besondere Unterton aufgefallen war? Dieses „schon wieder“, das bei seiner Frage mitgeschwungen hatte … Brianna wünschte sich ein Mauseloch, in dem sie sich verkriechen konnte.

„Selbstverständlich nicht“, antwortete sie. „Es ist nur … ich bin persönlich für die Kleine verantwortlich …“

„Und ich habe sie operiert und bin leitender Chefarzt dieser Abteilung, also spreche ich mit ihrer Mutter“, entschied Dr. Brooke in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Nun, Connor, unsere Sekretärin wird Ihnen gern weitere Akten zur Verfügung stellen, die Sie überprüfen können …“

„Was sicher eine faszinierende Aufgabe wäre“, unterbrach ihn Connor freundlich, „aber da ich insgesamt nur sechs Wochen am St. Piran sein werde, möchte ich in den nächsten Tagen erst einmal mit dem Personal der Säuglingsintensivstation sprechen. Ich würde gern jeden einzeln befragen, um mir ein Bild zu machen, wie der jeweilige Mitarbeiter sich im Team begreift, welche Pflichten er hat, wie viel Verantwortung er trägt – das große Ganze, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Sechs Wochen? Connor wollte sechs Wochen im St. Piran bleiben? Selbst wenn er nur ein paar Tage auf ihrer Station verbrachte, so waren das eindeutig ein paar Tage zu viel!

Dr. Brooke schien ähnlicher Meinung zu sein. „Ich denke nicht, dass es nötig sein wird, meine Mitarbeiter zu befragen, wenn ich Ihnen einen Überblick verschaffen kann“, sagte er. „Kranke Babys kommen zu uns, wir versuchen, sie gesund zu machen, Ende der Geschichte.“

Brianna hätte ihren Chef küssen können.

Connor lächelte dünn. „Ich möchte mich trotzdem mit Ihrem Team unterhalten. Jedes Gespräch dürfte nicht länger als eine halbe Stunde dauern, und danach bin ich lediglich ein stummer Beobachter. Sie werden gar nicht merken, dass ich hier bin.“

Ich schon, dachte Brianna und hoffte inständig, dass es Dr. Brooke genauso erging.

Aber der hatte das Thema schon abgehakt. „Na schön, tun Sie, was Sie nicht lassen können“, meinte er jovial. „Aber stehen Sie uns nicht im Weg, wenn wir unsere Arbeit machen. So, wen wollen Sie zuerst befragen?“

Connor ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, aber Brianna wusste genau, wen er sich herauspicken würde.

„Ich bin sicher, Schwester Flannigan und ich werden uns viel zu erzählen haben“, erklärte er schließlich mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Dr. Brooke, gibt es hier ein Büro oder ein anderes Zimmer, das ich als Standort nutzen kann, während ich am St. Piran bin?“

Er wollte die Säuglingsintensivstation zu seinem Stützpunkt machen? Das bedeutete, dass er hier aus und ein gehen würde, auch wenn er in anderen Abteilungen zu tun hatte. Nein, dachte sie verzweifelt. Bloß das nicht!

„Ich werde die Verwaltung bitten, Ihnen das Büro der Pflegedienstleitung herzurichten. Zurzeit steht es leer, aber es enthält vertrauliche Patientenunterlagen, die erst ausgelagert werden müssen. Bis dahin können Sie den Schwesternraum benutzen, wenn Sie möchten.“

Connor nickte. „Ist mir recht.“

Brianna war das überhaupt nicht recht. Und noch weniger gefiel ihr, dass Connor keinen Zentimeter von ihrer Seite wich, während sie den Flur entlanggingen. So, als wollte er verhindern, dass sie die Flucht ergriff.

Versucht hätte sie es gern, aber es war illusorisch zu glauben, dass sie mit ihren knapp ein Meter sechzig einem durchtrainierten Mann von fast einsneunzig davonlaufen könnte!

„Möchtest du Tee oder einen Kaffee?“ Sie marschierte zum Wasserkocher, sobald sie das Zimmer betreten hatten. „Wir haben auch Kräutertee, aber ich kann nicht garantieren, dass er schmeckt, und Kakao wäre …“

„Ist Brianna Flannigan richtig?“, unterbrach er kurzerhand ihren Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern. „Oder hast du deinen Vornamen auch geändert?“

Sie starrte auf die Pinnwand, die eine der Schwestern über dem Wasserkocher aufgehängt hatte. Urlaubskarten hingen dort, zusammen mit lustigen Cartoons, aber ihr war noch nie so wenig zum Lachen zumute gewesen wie jetzt.

„Ich … ich habe ihn behalten. Flannigan ist der Mädchenname meiner Mutter.“

„Aber nicht deiner. Dir ist doch klar, dass ich dafür sorgen kann, dass du gefeuert wirst, weil du an diesem Krankenhaus unter falschem Namen arbeitest?“

„Nur zu!“ Plötzlich war ihr alles egal. „Mach doch, was du willst!“

„Natürlich will ich das nicht!“ Connor warf seinen PC auf den nächsten Sessel. „Für wen hältst du mich?“

Wenn ich das wüsste, dachte sie, als sie in sein kaltes, hartes Gesicht sah. Ich kenne dich nicht mehr, und vielleicht habe ich dich nie richtig gekannt.

„Können wir uns setzen?“, fragte sie nervös. „Es ist nicht gerade hilfreich, wenn du auf mich herabblickst wie die personifizierte ewige Verdammnis.“

Mit einem unterdrückten Fluch setzte er sich, und nach kurzem Zögern nahm sie auf dem Stuhl Connor gegenüber Platz.

„Du wolltest nicht, dass ich dich finde, stimmt’s?“ Durchdringende blaue Augen waren auf sie gerichtet. „Deswegen hast du deinen Nachnamen geändert und bist in ein Kaff in der hintersten Ecke von Cornwall gezogen.“

„Connor, so war es nicht …“

„Nein?“, unterbrach er sie spöttisch. „Wie war es dann?“

„Ich wollte …“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Ruhe. Nur ein bisschen Ruhe.“

„Und dafür musstest du mich verlassen?“ Ungläubig sah er sie an. „Ohne ein Wort verschwinden?“

„Ich habe dir einen Brief geschrieben.“

„Ach ja, natürlich.“ Der sarkastische Unterton war nicht zu überhören. „‘Ich muss für eine Weile allein sein‘“, zitierte er. „‘Ich brauche Zeit, um wieder zu mir selbst zu finden‘“. Daraus kann ja wohl keiner ‚Ich verlasse dich und komme nie wieder‘ lesen, oder?“

„Connor …“

„Du hattest dich auf diese Stelle beworben, ohne mir ein Wort zu sagen. Du hast sie bekommen und das mit keiner Silbe erwähnt. Ich hatte keine Ahnung, was du vorhast, ist das korrekt?“

Sie schluckte. „Ja.“

„Deshalb hast du nur dreihundert Pfund von unserem Konto abgehoben. Du brauchtest kein Geld, weil du den Job hattest.“

„Ja“, flüsterte sie.

„Warum, Brianna, warum?“ Heftig fuhr er sich mit seinen schlanken Fingern durch das schimmernde schwarze Haar. „Ich dachte, wir wären glücklich. Ich dachte, du liebst mich.“

„Zwischen uns war … einiges schon lange nicht mehr in Ordnung“, entgegnete sie. „Das weißt du doch …“

„Blödsinn.“

Brianna presste die Hände aneinander, versuchte die richtigen Worte zu finden. „Ich konnte nicht mehr, Connor.“ Sie schluchzte auf. „Nach dem, was passiert war … Du wolltest nicht mit mir reden, du hast mir nicht zugehört. Ich musste einfach weg, ich wollte nicht immer tiefer in diesem schwarzen Loch versinken …“ Bebend holte sie Luft. „Ich hatte solche Angst, dass ich da nie wieder herauskommen würde.“

„Und ich?“ Seine blauen Augen blitzten zornig. „Zwei Jahre, Brianna! Zwei Jahre ist es her, dass du mich verlassen hast. Nicht ein einziges Mal hast du zum Telefon gegriffen, um mir zu sagen, dass es dir gut geht. Kein Lebenszeichen, nicht einmal eine Postkarte!“

Autor

Maggie Kingsley
Maggie Kingsley ist in Edinburgh, Schottland geboren. Als mittlere von 3 Mädchen wuchs sie mit einem schottischen Vater und einer englischen Mutter auf. Als sie 11 Jahre alt war, hatte sie bereits 5 unterschiedliche Grundschulen besucht. Nicht weil sie von ihnen verwiesen wurde, sondern der Job ihres Vaters sie durch...
Mehr erfahren