Ein Playboy mit Herz

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Die hübsche Krankenpflegerin Mary O'Mara weiß genau, warum Ben nach Jahren zum ersten Mal nach Colorado gekommen ist: Er befürchtet, dass seine Großmutter ihn enterbt, wenn er sich nicht endlich ein bisschen um sie kümmert! Kein Wunder, dass Mary ihm skeptisch gegenübertritt - aber sie hat nicht damit gerechnet, dass Ben ihr mit seiner unwiderstehlichen Art den Kopf verdreht ...


  • Erscheinungstag 06.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759513
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sobald ich aus dem Wagen steige, verwandele ich mich in einen Betrüger, dachte Taggart Lancaster und umfasste das Steuer so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ja, dann war er – vermeintlich – das schwarze Schaf der Familie, das nach sechzehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Hause kam.

Starr sah er durch die Windschutzscheibe auf das alte Landhaus vor sich und verwünschte sich im Stillen. Was war bloß in ihn gefahren, sich auf den verwegenen Plan einzulassen?

Missmutig ließ er den Blick weiter zu dem beeindruckend schönen Panorama gleiten. Hoch ragten die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains in den Sommerhimmel, an den Berghängen erstreckten sich unberührte Wälder, hier und da sah man schroffe Klippen und tiefe Schluchten, in die sich tosende Wasserfälle ergossen.

Die Rocky Mountains waren tatsächlich so großartig, wie sein bester Freund und Klient Ben Wittering behauptet hatte. Ihn, Taggart, erinnerte die Landschaft an jene Gegend in den Schweizer Alpen, wo er und Ben jahrelang gemeinsam ein Internat besucht hatten. Sehnsucht nach den „alten Zeiten“ überkam ihn plötzlich, und rasch unterdrückte er das Gefühl. Schon damals hatten er und Ben gemeinsam der Welt die Stirn geboten – und diese Verbundenheit brachte ihm jetzt nichts als Scherereien ein.

Allerdings brauche ich wirklich dringend Urlaub, dachte Taggart. Es war eins der Argumente gewesen, die sein Freund ins Treffen geführt hatte, um ihn zu überreden, bei dem waghalsigen Unternehmen mitzumachen. Ben konnte nicht selbst herkommen, weil er Boston nicht verlassen durfte. Er war nur deshalb auf freiem Fuß anstatt in Untersuchungshaft, weil er eine hohe Kaution hinterlegt hatte.

Taggart seufzte. Als Bens Anwalt konnte er diesem unter keinen Umständen gestatten, die Stadt zu verlassen. Ben hatte jedoch geschworen, genau das zu tun, wenn ihm keine Wahl blieb.

„Ich muss verrückt gewesen sein, mich auf sein Vorhaben einzulassen“, sagte Taggart halblaut und schüttelte den Kopf. Jedem außer Ben hätte er eine Absage erteilt. Er empfand für ihn jedoch so viel Zuneigung wie für einen Bruder, und er sah ihm sogar ähnlich wie ein Bruder. Leider! Ohne diese Ähnlichkeit wäre das Unterfangen von vornherein nicht möglich gewesen.

Es ist kein Verbrechen, einem Freund einen Gefallen zu tun und zugleich eine alte Frau glücklich zu machen, ermunterte Taggart sich. Er ließ das Steuer los und streckte die Finger, dann atmete er tief durch und stieg aus.

Die Scharade hatte begonnen.

Taggart nahm das Gepäck aus dem Auto und trug es zur Veranda. Er stellte seinen Koffer ab und klingelte an der Tür.

Bens Großmutter wird nicht merken, dass ich nicht ihr Enkel bin, redete Taggart sich ein. Ben war mit neunzehn Jahren zum letzten Mal hier gewesen und hatte sich seither sehr verändert. Außerdem war sie, wie er behauptet hatte, nahezu blind und schwerhörig.

Und Ben und er sahen sich wirklich verblüffend ähnlich. Sie hatten schwarzes Haar, braune Augen und waren gleich groß. Da sie mehrmals in der Woche in ein Fitnessstudio gingen, waren sie durchtrainiert und muskulös.

Bens Lebensgeschichte kannte er so gut wie seine eigene. Ja, er war bestens geeignet vorzugeben, er sei Ben! Dessen kranke Großmutter wünschte sich nichts sehnlicher, als ihren Enkel – den einzigen Angehörigen, den sie noch hatte –, endlich wiederzusehen.

Nur bin ich nicht ihr Enkel, dachte Taggart unangenehm berührt. Sie würde es jedoch glauben und glücklich sein, und allein darauf kam es an.

Die Tür wurde geöffnet, und er sah sich einer rundlichen Frau von ungefähr Mitte vierzig gegenüber. Höflich und zugleich kühl blickte sie ihn an. „Mr. Wittering?“ Sie klang nicht, als würde sie sich freuen, ihn kennenzulernen.

Taggart nickte. „Ich hätte schon früher hier sein sollen, aber das Flugzeug hatte Verspätung.“

„Ich weiß. Wir haben uns am Flughafen erkundigt.“

Anscheinend hatte man befürchtet, dass er – oder vielmehr Ben – es sich mit dem Besuch anders überlegt haben könnte und seine Großmutter wieder einmal enttäuschen würde.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich hätte anrufen sollen.“

„Das wäre nett gewesen“, erwiderte die Frau brüsk.

Die feindselige Haltung konnte er ihr nicht verübeln. Vermutlich war sie die Pflegerin, die Ben immer wieder geschrieben und ihn gebeten hatte, seine Großmutter zu besuchen. Man merkte, dass sie ihre Arbeitgeberin gern hatte und ihr jeden Kummer ersparen wollte.

„Ich möchte meine Großmutter so bald wie möglich sehen“, bat Taggart und versuchte, wie ein reuiger Enkel zu klingen.

Die Frau sah nun freundlicher aus, aber sie lächelte immer noch nicht. „Ich zeige Ihnen zuerst Ihr Zimmer, dann sage ich Miz Witty Bescheid, dass Sie da sind und sie begrüßen möchten.“

Ja, richtig: Ben nannte seine Großmutter Miz Witty, das durfte er, Taggart, nicht vergessen.

Die Frau trat beiseite. „Ich bin die Haushälterin Ruby Kent. Alle im Haus nennen mich beim Vornamen.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Ruby“, erwiderte er und folgte ihr durch die Diele zur Treppe. Die Einrichtung des Hauses bestand, wie er mit einem flüchtigen Blick feststellte, aus einer gelungenen Kombination von modernen Möbeln und Antiquitäten. An den Wänden hingen Ölbilder, echte Meisterwerke, die vermutlich im Verlauf von Jahren gesammelt worden waren.

Das Haus wirkte hell und behaglich, es duftete nach Möbelpolitur und Bienenwachs, nach Blumen und einem Hauch Parfüm. Sein Penthouse hatte früher dasselbe Flair besessen … als Annalisa noch lebte. Nein, daran wollte er jetzt nicht denken.

„Das ist Ihr Zimmer, Mr. Wittering.“

Rubys Stimme riss ihn aus den wehmütigen Gedanken.

„Nennen Sie mich Ben“, bat Taggart, während die Haushälterin ihm die Tür eines Zimmers im ersten Stock öffnete. Es behagte ihm nicht, sich für Ben auszugeben, aber er würde sich daran gewöhnen müssen.

„Wenn Sie darauf bestehen“, erwiderte Ruby höflich. „Miz Wittys Zimmer liegt am Ende des Flurs. Ich sage ihr jetzt, dass Sie angekommen sind. Sie können sich zuerst frisch machen, bevor sie zu ihr gehen.“

„Danke, Ruby.“ Taggart betrat das sonnige Zimmer, in dem er sich sofort wohlfühlte. Es war mit schlichten Möbeln eingerichtet, auf dem Holzfußboden lagen Flickenteppiche in leuchtenden Farben. Ein bunter Blumenstrauß auf dem kleinen Tisch am Fenster verströmte einen zarten Duft.

Nachdem Taggart sein Gepäck abgestellt hatte, wollte er Ruby ein Kompliment über das gemütliche Gästezimmer machen, aber sie hatte den Raum bereits verlassen und ging durch den Flur zu Miz Wittys Zimmer.

Dort würde sie jetzt verkünden, dass der verlorene Sohn – oder vielmehr Enkel – endlich zurückgekehrt sei.

Jedenfalls glaubten sie das.

Taggart beschloss, Miz Witty einige Minuten zu gönnen, in denen sie sich auf seine Ankunft einstellen konnte. Er packte den Koffer aus und verstaute die Sachen im Schrank. Nach kurzem Überlegen entschied er sich, den Anzug anzubehalten, obwohl Ben nur selten Anzüge trug. Miz Witty würde jedoch nicht wissen, wie ihr Enkel sich üblicherweise anzog. Zum letzten Mal hatte sie ihn beim Begräbnis seiner Eltern gesehen, die bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen waren.

Gereizt fuhr Taggart sich durchs Haar. Es ärgerte ihn so sehr, sich auf Bens Vorhaben eingelassen zu haben, dass er am liebsten mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt hätte, um seiner Wut Luft zu machen. Als er im Spiegel seine finstere Miene erblickte, versuchte er, ein freundlicheres Gesicht zu machen, und verließ das Zimmer. Es wurde Zeit, Miz Witty kennenzulernen. Diesen Augenblick hatte er schon lange genug hinausgezögert.

Er ging zu Miz Wittys Zimmer und klopfte an.

„Herein!“, rief drinnen eine Frau erfreut.

Unbehagen überkam ihn erneut, aber er verdrängte es rasch und öffnete die Tür. Als Erstes fiel ihm das große Bett mitten im Zimmer auf, das mit kunstvoller Schnitzerei reich verziert war. Die Bettdecke aus weißer Seide, Spitze und silbernem Brokat ließ ihn an eine Winterlandschaft denken.

Im Bett saß, an zahlreiche Kissen gelehnt, eine zierliche weißhaarige Frau. Sie hatte große hellbraune Augen und klassisch schöne Züge. Obwohl sie ziemlich blass war, sah sie sehr attraktiv und erstaunlich jugendlich aus, wenn man bedachte, dass sie in wenigen Tagen ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag feiern würde.

Lächelnd streckte sie die Arme aus. „Mein Benny!“, sagte sie zärtlich, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Er wusste, dass es Freudentränen waren, und hätte Ben am liebsten telepathisch eine Strafpredigt gehalten, weil der seine Großmutter seit Jahren vernachlässigte.

Ohne noch länger zu zögern, ging er zum Bett und umarmte Bens Großmutter behutsam. „Wie schön, dich zu sehen, Miz Witty“, sagte er und presste seine Wange kurz an ihre. „Du siehst großartig aus!“

Da Ben gesagt hatte, es würde ihr sehr schlecht gehen, war er, Taggart, überrascht, dass sie so gut aussah. Und blind war sie bestimmt nicht, denn sie schien nicht einmal eine Brille zu brauchen. Ob sie schwerhörig war, konnte er noch nicht beurteilen. Er wusste nur, dass sie sein Klopfen gehört hatte, obwohl es nicht besonders laut gewesen war.

„Wie geht es dir?“, fragte er in normaler Lautstärke.

„Großartig! Seit dem letzten Schlaganfall ist mein rechtes Bein zwar gelähmt, und die Lungenentzündung war auch keine Kleinigkeit, aber ich werde von Tag zu Tag kräftiger.“ Miz Witty fasste ihn bei den Armen und schob ihn ein Stück von sich, um ihn besser betrachten zu können.

Taggart bewahrte mühsam den freundlichen Ausdruck, während sie ihn lächelnd musterte. Sah sie gut genug, um zu bemerken, dass er nicht Ben war? Beinah wünschte er, sie würde sich nicht hinters Licht führen lassen, denn er hasste es, sie anzulügen.

Zärtlich streichelte sie seine Wange. „Du bist jetzt noch attraktiver als früher.“

Was sollte er darauf antworten? Bevor ihm etwas einfiel, hörte er, wie sich jemand hinter ihm räusperte. Er wandte den Kopf. Wenige Schritte von ihm entfernt stand eine hinreißend attraktive junge Frau, die Jeans, ein rosa T-Shirt und Turnschuhe trug. In den Händen hielt sie ein Tablett, auf dem Teegeschirr, ein Teller mit Toast sowie ein zierlicher Kristallbehälter standen.

Überrascht, weil er sie nicht hatte hereinkommen hören, richtete Taggart sich auf.

„Ben, das ist meine Pflegerin Mary O’Mara, die bei mir lebt“, stellte Miz Witty die junge Frau vor. „Mary, darf ich Sie mit meinem Enkel bekannt machen?“

Mary O’Mara nickte ihm zu und lächelte höflich. „Guten Tag, Mr. Wittering!“ Ihre Stimme war angenehm tief und ein bisschen heiser.

Taggart beobachtete Mary, während sie das Tablett zum Bett trug. Ihr Gang war so anmutig, dass es beinah aussah, als schwebte sie. Das glatte schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und schwang bei jedem Schritt hin und her.

Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an. Ihre Augen hatten eine ungewöhnliche Farbe: Sie waren grau mit braunen Sprenkeln darin. Wie der Rauch von Laubfeuern im Herbst, dachte er und bemerkte, dass sie ihn anfunkelte.

„Entschuldigung, Mr. Wittering, aber könnten Sie …“

Jetzt erst fiel ihm auf, dass er ihr im Weg stand. „Tut mir leid“, sagte er und trat einen Schritt beiseite.

„Keine Ursache“, erwiderte sie und wandte sich Miz Witty zu. „Leider gibt es keine Orangenmarmelade mehr. Hoffentlich ist Ihnen Erdbeerkonfitüre ebenfalls recht.“

„Ja, natürlich!“ Miz Witty lachte melodisch und nahm Taggarts Hand. „Heute kann mich nichts anfechten. Ich bin überglücklich, weil mein Enkel endlich nach Hause gekommen ist.“

Widerstrebend wandte er den Blick von Mary O’Mara und sah stattdessen Miz Witty an. In ihren Augen schimmerten wieder Tränen, und von Schuldgefühlen geplagt drückte er ihr sanft die Hand. Ein Lächeln konnte er sich jedoch beim besten Willen nicht abringen.

„Es freut mich, dass Sie glücklich sind, Miz Witty“, sagte Mary mit verhaltener Stimme und wandte sich ihm lächelnd zu. „Ich hoffe, Sie genießen den Aufenthalt hier, Mr. Wittering.“

Wenn sie lächelte, sah sie noch hinreißender aus. Plötzlich fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen, ein Gefühl, das er seit Annalisas Tod für keine Frau mehr empfunden hatte.

„Nennen Sie mich Ben“, bat er und kam sich wie ein linkischer Schuljunge vor.

„Wenn Sie wollen! Miz Witty, kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Nein, danke, Mary.“ Miz Witty goss sich Tee ein und runzelte plötzlich missbilligend die Stirn. „Wo sind bloß meine guten Manieren geblieben? Ben, möchtest du auch eine Tasse Tee?“ Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: „Natürlich möchtest du! Mary, seien Sie so lieb und bitten Sie die Köchin um mehr Tee und noch etwas Toast.“

„Ja, sofort.“

„Wenn Sie Kaffee für mich hätten …“, begann Taggart, seltsam enttäuscht, weil Mary gehen wollte. „Ich begleite Sie gern in die Küche und hole ihn mir.“

„Sie brauchen sich nicht zu bemühen, ich bringe Ihnen den Kaffee“, bot sie an.

„Nein, das kommt nicht infrage! Ich bin gleich wieder da“, versprach er Miz Witty.

„Du bist ein richtiger Kavalier“, lobte sie ihn und fügte, an Mary gewandt, hinzu: „Ist er nicht ein Schatz?“

Mary lächelte nur und ging anmutig hinaus. Taggart folgte ihr, wobei er den verlockenden Duft ihres leichten, blumigen Parfüms wahrnahm. Plötzlich war es ihm äußerst wichtig, ihr wieder in die Augen zu blicken, ihr bezauberndes Lächeln zu sehen …

Einen so glühenden Wunsch hatte er nicht mehr gespürt seit dem Moment, als er Annalisa zum ersten Mal begegnet war. Er hätte nicht gedacht, jemals wieder ähnlich intensive, geradezu berauschende Empfindungen zu haben. Er und Annalisa hatten sich auf den ersten Blick leidenschaftlich ineinander verliebt. Sie hatten sich zufällig kennengelernt, waren zusammen essen gegangen und hatten sich verlobt, während sie das Dessert aßen. Drei Wochen später waren sie verheiratet gewesen.

Nach Annalisas Tod hatte er lange sehr zurückgezogen gelebt, bis seine Freunde ihn schließlich überredeten, öfter auszugehen und sich mit Frauen zu treffen. Seither lebte er nicht mehr wie ein Mönch, war aber keineswegs ein Playboy wie Ben.

Die Arbeit füllte sein Leben aus, und er bemühte sich nicht um Frauen, sondern diese sich um ihn. Deshalb überraschte, ja beunruhigte ihn nun das dringende Verlangen, Mary O’Mara näher kennenzulernen. Er war doch sonst so kühl und besonnen!

„Mary?“ Am oberen Ende der Treppe holte er sie ein. „Ich darf Sie doch Mary nennen? Sie haben mir die Briefe geschrieben, stimmt’s?“

Mary blieb unvermittelt stehen und wirbelte herum. Ihre wunderschönen Augen blitzten vor Wut, ihr Blick war vernichtend. „Oh ja, das habe ich!“ Ihre Stimme klang scharf. „Wie konnten Sie es wagen, Ihre wunderbare Großmutter jahrelang zu vernachlässigen, Sie … Sie egoistischer Schuft!“

Sprachlos stand Taggart da, völlig bestürzt über die unerwartete Verwandlung der freundlichen jungen Frau in eine wahre Furie.

„Miz Witty zuliebe werde ich höflich zu Ihnen sein, wenn wir mit ihr in einem Zimmer sind“, fügte Mary eisig hinzu. „Ich werde mir nicht anmerken lassen, dass ich Sie widerwärtig finde. Ich werde Sie sogar Ben nennen und versuchen, nicht laut zu stöhnen, wenn Sie mich Mary nennen. Sonst, Mr. Wittering, gehen Sie mir besser aus dem Weg!“

2. KAPITEL

Taggart sah Mary nach, als diese die Stufen hinuntereilte. Jetzt weiß ich, wie ein Baum sich fühlt, wenn ihn der Blitz getroffen hat, dachte er spöttisch und lockerte die Krawatte.

„Das war ja eine schöne Abfuhr“, sagte er halblaut. Als Anwalt war er an Feindseligkeiten gewöhnt, aber Marys heftige Abneigung hatte er nicht vorhergesehen. Warum eigentlich nicht? Seit zwei Jahren hatte sie Ben immer wieder geschrieben und ihn eindringlich gebeten, seine Großmutter zu besuchen, aber der hatte sich eine Ausrede nach der anderen einfallen lassen. Ja, so gesehen durfte er, Taggart, sich über Marys Reaktion nicht wundern. Normalerweise war er allerdings gut darin, Menschen einzuschätzen, und spürte sofort, ob sie aufrichtig waren oder nicht.

Marys bezauberndes Lächeln hatte offensichtlich sein Gespür beeinträchtigt, und deshalb hatten ihre scharfen Worte ihn so unerwartet getroffen wie der sprichwörtliche Dachziegel.

„Bis jetzt ist man mir erstens argwöhnisch, zweitens liebevoll und drittens hasserfüllt begegnet“, fasste Taggart halblaut zusammen und schob die Hände in die Taschen. Er hatte keine Lust mehr auf Kaffee, aber da er Miz Witty gesagt hatte, er würde sich welchen holen, blieb ihm nichts anderes übrig.

Unten ging Taggart zur Rückseite des Hauses, wo er die Küche vermutete – zu Recht, wie er gleich darauf feststellte. Überrascht stellte er außerdem fest, dass Mary ebenfalls hier war, zusammen mit einer Blondine von ungefähr fünfunddreißig Jahren, die am Herd stand. Sie war durchaus attraktiv, aber bei Weitem nicht so hinreißend wie Mary.

Als die Blondine ihn, Taggart, sah, zog sie die Brauen hoch und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Mary wandte ihm rasch den Rücken zu, und ihre Haltung verriet deutlich ihre Abneigung.

„Hallo!“, sagte die Blondine und verschränkte, den Kochlöffel noch in der Hand, die Arme. Sie trug enge Jeans und ein Männerhemd, das über ihren üppigen Brüsten spannte und nur so weit zugeknöpft war, dass man noch den Rand des BHs sehen konnte. „Sie sind also der böse Junge, von dem wir so viel gehört haben“, fügte sie hinzu und merkte nicht, dass Tomatensoße vom Kochlöffel auf den Boden tropfte.

„Pauline, du tropfst“, warnte Mary.

„Oh, tut mir leid, aber Mr. Wittering ist so appetitlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft.“

Ihr anzüglicher Ton verblüffte Taggart.

„Benimm dich!“ Mary ging – ohne ihn eines Blickes zu würdigen – zu Pauline und nahm ihr den Kochlöffel aus der Hand. „Ich meinte die Soße!“

„Oh, oh!“ Die Köchin sah zu Boden und zuckte mit den Schultern, woraufhin noch ein Knopf an ihrem Hemd aufging.

„Und dein Ausschnitt klafft schon wieder“, schimpfte Mary und knöpfte ihr das Hemd bis oben zu. „Falls du mich brauchst, ich bin im Keller.“

„Danke, Mom“, erwiderte Pauline spöttisch und fixierte ihn, Taggart, erneut.

Er blickte Mary nach und fand, dass die helle, behagliche Küche plötzlich trist wirkte.

„Ich habe Mary noch nie so kratzbürstig erlebt.“ Pauline strich sich übers Haar. „Sie will mal Krankenschwester werden, wenn sie das Geld für die Kurse beisammen hat. Schwestern müssen mit Kranken gut auskommen, sogar mit den schlecht gelaunten Nörglern. Ich dachte immer, sie wäre ganz locker – bis Sie jetzt hier aufgetaucht sind.“

Mary kam demnach mit allen gut aus, außer mit Ben Wittering, den sie als egoistischen Schuft ansah! „Vielleicht würde sie mich lieber mögen, wenn ich krank wäre“, meinte Taggart und fügte im Stillen hinzu: Wahrscheinlich wünscht sie mir die Pest an den Hals.

Pauline lachte. „Sie sind echt witzig. Witzig und umwerfend.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Die Kombination finde ich toll bei Männern.“

Ihm behagte nicht, wie sich das Gespräch entwickelte. Er kannte Frauen wie Pauline und spürte, dass sie im Grunde unsicher war. Durch ihr aufreizendes Benehmen versuchte sie, es zu überspielen, aber in der Rolle als Sexbombe war sie eine Fehlbesetzung.

Nun ging sie zu ihm und hielt ihm die Hand hin. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Pauline Bordo. Miz Witty und Ruby rufen mich einfach ‚die Köchin‘, aber das mag ich nicht. Sie, Mr. Wittering, dürfen mich rufen, wie Sie wollen.“ Wieder zwinkerte sie ihm zu. „Und wann immer Sie möchten.“

Indem er sich vor Augen hielt, dass die bedauernswerte Pauline an einem Minderwertigkeitskomplex litt, schaffte er es, höflich zu bleiben und ihr die Hand zu schütteln. „Ich bin … Ben.“

„Das weiß ich doch.“

Taggart wich Paulines Blick aus und bemerkte die halb volle, gläserne Kaffeekanne auf der Warmhalteplatte. Mit dem Kopf wies er darauf. „Ich wollte mir nur schnell eine Tasse Kaffee holen, Pauline. Miz Witty wartet auf mich.“

„So ein Pech!“ Pauline ließ seine Hand nicht los. „Ich wohne – im Gegensatz zu Ruby und Mary – übrigens nicht hier und habe üblicherweise ab sieben Uhr frei. Meistens bin ich abends verabredet, aber Sie brauchen nur zu pfeifen, und ich komme stattdessen zu Ihnen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Ben!“

Vermutlich nichts Gutes, fügte Taggart im Stillen schaudernd hinzu. „Das Angebot vergesse ich bestimmt nicht“, sagte er laut und entzog ihr die Hand. Rasch ging er zum Regal und nahm einen Becher, den er mit Kaffee füllte. Dass Pauline nicht den Blick von ihm wandte, war ihm überdeutlich bewusst.

„Ein schöner Rücken kann mich entzücken“, bemerkte Pauline, als Taggart sich ihr wieder zuwandte.

Es fiel ihm schwer, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen, und wieder sagte er sich, dass Pauline sich nach Anerkennung sehnte. Ja, er würde höflich bleiben, egal, wie viel Mühe es ihn kostete – aber er würde die Köchin auf keinen Fall ermutigen.

Allerdings hielt sie ihn für Ben Wittering, den notorischen Frauenheld! Um in der Rolle zu überzeugen, musste er, Taggart, sich eine überzeugend klingende, aber im Grund nichtssagende Antwort einfallen lassen.

„Ich wäre steinreich, falls ich jedes Mal, wenn man mir das gesagt hat, zehn Cent bekommen hätte, Pauline.“

„Das überrascht mich nicht.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften, und die drei oberen Hemdenknöpfe sprangen aus den Knopflöchern.

Taggart fragte sich, ob Pauline das geübt hatte und die Knöpfe nach Belieben öffnen konnte – ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen.

„Sie überraschen mich schon“, fügte sie bedeutsam hinzu.

Nein, heute ist offensichtlich nicht mein Tag, und es wird von Minute zu Minute schlimmer, dachte Taggart. Der einzige Lichtblick war die Bekanntschaft mit Miz Witty.

Mühsam den höflichen Ton bewahrend, fragte er: „Inwiefern überrasche ich Sie, Pauline?“

„Ich dachte, ich müsste Ihnen nur den Ball zuwerfen, und Sie würden ihn fangen – wenn Sie wissen, was ich meine, Ben!“

Durchaus, denn Ihre Anspielungen sind nicht dezenter als Ihre Aufmachung, hätte er am liebsten geantwortet.

„Ich habe Ihnen wie verrückt Bälle zugeschanzt, und Sie stehen ungerührt da.“ Pauline lächelte aufreizend. „Das muss man euch Playboys lassen: Ihr wisst, wie man einen Fisch an den Haken bekommt.“ Wieder zwinkerte sie ihm zu, und allmählich fragte er sich, ob sie an nervösen Zuckungen litt. „Na schön, ich spiele mit. Dieses gleichgültige Gehabe bringt mein Blut echt in Wallung!“

„Dann ist mein Job hier erledigt“, erwiderte Taggart mehrdeutig und verließ fluchtartig die Küche. Noch in der Diele hörte er Paulines anerkennendes Gelächter.

Das Klingeln des Handys weckte Taggart. Benommen tastete er suchend auf dem Nachttisch herum. Zuerst geriet ihm der Wecker in die Hände, dann die Brieftasche – und schließlich sein Mobiltelefon.

„Hier Lancaster. Wer stört?“, fragte er ungehalten.

„Ein böser Fehler, alter Freund“, erklang es aus dem Hörer. „Du darfst unter keinen Umständen deinen Namen verwenden. Hoffentlich liegst du allein im Bett!“

Taggart rieb sich die Augen und gähnte. „Natürlich, Ben! Allein mit zwei Supermodels“, fügte er sarkastisch hinzu.

„Es war demnach ein ereignisloser Tag?“

„Ereignislos wäre er vielleicht für dich gewesen, aber mir hat er gereicht. Und wieso, zum Teufel, rufst du mich um …“, er blickte auf die Leuchtziffern des Reiseweckers, „… halb zwei Uhr nachts an?“ Plötzlich kam ihm ein erschreckender Gedanke. „Bitte, Ben, sag mir, dass du nicht im Gefängnis bist!“

Im Hörer erklang Bens herzliches Lachen. „Taggart, hör auf, dich besorgt wie eine alte Frau aufzuführen. Ich benehme mich so tadellos wie ein Chorknabe und sitze hier friedlich in meiner Wohnung, wo ich mir unglaublich spannende Werbesendungen im Fernsehen anschaue. Wusstest du, dass man einen Gürtel mit Elektroden kaufen kann, der die Bauchmuskeln im Schlaf trainiert?“

Die Information war Taggart absolut gleichgültig. „Bestell dir einen, und geh ins Bett“, empfahl er seinem Freund.

Wieder lachte Ben laut, und seine unerschütterlich gute Laune besänftigte ihn, Taggart, wie durch Zauberei.

„Na gut, ich komme aufs eigentliche Thema“, lenkte Ben ein. „Wie läuft es? Du hast mich noch nicht angerufen, deshalb wollte ich mich erkundigen, ob man dich schon gelyncht hat.“

Taggart setzte sich auf. „Noch nicht, ich habe aber den Eindruck, dass Mary O’Mara mich gern am nächsten Baum aufknüpfen würde.“

„Die mischt sich doch nur in Sachen ein, die sie nichts angehen, und ist auf alles und jeden schlecht zu sprechen. Beachte sie einfach nicht!“

„Warum ist mir das nicht schon selbst eingefallen?“, fragte Taggart spöttisch.

Nach kurzem Überlegen erwiderte Ben: „Wenn sie dir ständig in die Quere gerät, ist das natürlich nicht so einfach.“

„Du sagst es.“ Mühsam verdrängte Taggart den Gedanken an Marys faszinierende graue Augen.

Autor

Renee Roszel

Renee ist mit einem Ingenieur verheiratet, was einen großen Vorteil und einen kleinen Nachteil hat. Der Vorteil: Wann immer ihre Kinder Probleme in Mathe haben, kann er helfend einspringen, denn Renee könnte es ganz sicher nicht! Der Nachteil: Seine Liebeserklärungen tendieren dazu, sehr sachlich zu sein – er ist und...

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