Ein Ring sie zu lieben - fünf romantische Hochzeitsgeschichten

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DIE STRANDHOCHZEIT

Nur um ihren habgierigen Verwandten zu entkommen, gibt Holly ganz spontan dem attraktiven Jack Armour ihr Ja-Wort. Doch in der leidenschaftlichen Nacht nach der Traumhochzeit am Strand von Sugar Island erkennt sie, dass sie diesen Entschluss niemals in ihrem Leben bereuen wird …

EINE BRAUT GEHÖRT DAZU

Keine Braut, keine Hochzeit - so einfach ist das. Also muss die hinreißende Hochzeitsausstatterin Meredith für den Millionär Adam Morgan erstmal eine Braut finden, denn Adam will ganz schnell heiraten. Nach dem ersten leidenschaftlichen Kuss, der ersten sinnlichen Nacht fällt Adam dann plötzlich ein, wen er am liebsten heiraten würde - Meredith …

ERST HOCHZEIT, DANN LIEBE

Nur Philippa kann den finanziellen Ruin ihres Vaters verhindern. Der reiche David Morgan will dessen Schulden übernehmen, wenn sie ihn heiratet. Geht es David wirklich nur um Rache an den Corbetts, die immer auf ihn herabgesehen haben? Oder besteht ein Fünkchen Hoffnung, dass er Philippas Liebe erwidert?

HAB ICH WIRKLICH JA GESAGT?

Dani soll mit dem Schauspieler Beau Chamberlain verheiratet sein? Das wüsste sie doch! Aber Beau präsentiert die Heiratsurkunde, und plötzlich hat Dani das unbehagliche Gefühl, dass es stimmt, was er sagt. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was vor drei Wochen während ihres Trips nach Mexiko passiert ist …

LUST AUFS HEIRATEN?

Verlobt mit dem Falschen! Das wird der zauberhaften Malerin Emma klar, als sie Burke, den attraktiven Bruder ihres zukünftigen Mannes Clay, kennen lernt. Auch Burke verzehrt sich nach ihr. Aber das wagt er ihr nicht zu zeigen. Emma ist total verunsichert. Kann sie Clay überhaupt noch heiraten?


  • Erscheinungstag 19.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736316
  • Seitenanzahl 650
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sophie Weston, Millie Criswell, Susanne Mccarthy, Cathy Gillen Thacker, Gail Link

Ein Ring sie zu lieben - fünf romantische Hochzeitsgeschichten

IMPRESSUM

Die Strandhochzeit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2000 by Sophie Weston
Originaltitel: „Midnight Wedding“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1437 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Bettina Röhricht

Umschlagsmotive: GettyImages_GeoffGoldswain

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733756208

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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PROLOG

Den internationalen Journalisten war nicht ganz wohl in ihrer Haut, als sie nach einer abenteuerlichen Fahrt mit dem Geländewagen in Ignaz ankamen. Der Ort lag in viertausend Meter Höhe in den Anden. Es regnete unaufhörlich, der Schauplatz der Katastrophe war von einer graubraunen Schlammschicht überzogen, und der Pressesprecher des Katastrophenhilfe-Unternehmens war sichtlich überfordert.

„Was, um alles in der Welt, soll ich denn hier fotografieren?“, flüsterte die Journalistin des Magazins Elegance, die auf Artikel über Prominente spezialisiert war.

„In einer halben Stunde wird der Regen aufhören“, bemerkte eine Stimme hinter ihnen kühl.

Abrupt drehten sie sich um. Der Pressesprecher war erleichtert. „Meine Damen und Herren, dies ist Dr. Jack Armour.“

„Du meine Güte“, sagte die Elegance – Journalistin beeindruckt.

Jack Armour war groß, schlank und strahlte Gelassenheit und Selbstvertrauen aus. Im Gegensatz zu den Journalisten, die Schutzbekleidung trugen, hatte er nur das Nötigste an. Der herabströmende Regen machte ihm offenbar nicht das Geringste aus. Wasser rann ihm über die breite Brust und ließ die Haare auf seinem Oberkörper schwarz erscheinen. Seine sonnengebräunte Haut hatte einen schimmernden Goldton. Die langen, muskulösen Beine waren nackt.

„Dr. Armour ist der amerikanische Experte, von dem ich Ihnen erzählt habe, und der Vorstandsvorsitzende der Armour-Katastrophenhilfe. Er wird Sie auf dem Gelände herumführen und Ihre Fragen beantworten.“

„Wie ein griechischer Gott“, flüsterte die Elegance – Journalistin.

„Guten Morgen“, sagte der griechische Gott amüsiert.

Er führte die Gruppe den Berg hinauf, wobei er sich so geschmeidig wie eine Gämse bewegte und den Journalisten gleichzeitig wichtige Informationen lieferte. Seinen kräftigen, aber schlanken Beinen schienen der matschige Untergrund, die Steigung und die spiegelglatten Felsen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Und auch der Regen machte ihm offenbar nichts aus. Die Journalisten begannen, vor Anstrengung zu keuchen.

„Bitte entschuldigen Sie mein Tempo“, rief Jack Armour ihnen über die Schulter zu. „Ich habe es eilig, weil ich heute noch nach Paris muss.“

„Sie Glückspilz.“ Einer der Journalisten seufzte sehnsüchtig.

„Ich hasse Paris, aber dort findet eine wichtige Konferenz statt, die ich nicht verpassen darf.“

„Sie hassen Paris?“, fragte die Elegance – Reporterin schockiert. „Die Stadt der Kultur und der Liebe?“

Jack Armour lachte nur. „Wenn ich nach Paris fahre, dann geht es immer um Naturkatastrophen – nicht um Sehenswürdigkeiten oder Sex.“

Sie verzog den leuchtend rot geschminkten Mund. „Und wann finden Sie die Zeit für Sehenswürdigkeiten?“

Sein Lächeln verschwand, und seine Augen wirkten plötzlich so dunkel, als wären sie schwarz.

„Seien Sie ruhig“, warnte ein britischer Journalist die Frau. Er kannte Jack Armours wunde Punkte bereits.

„Für so etwas habe ich keine Zeit“, erwiderte Jack Armour nachdrücklich.

„Aber …“

Jacks Miene war undurchdringlich. „Netter Versuch. Aber wie Sie sehen, funktioniert es bei mir nicht.“

Das brachte die Reporterin endlich zum Schweigen.

1. KAPITEL

Holly trat vorsichtig aus dem Fahrstuhl. Sie balancierte einen hohen Stapel Schachteln eines Lieferservices. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, und sie versuchte, ihre Bedrücktheit als Aberglauben abzutun. Sie hasste diese riesigen, unpersönlichen Gebäude. Diese erinnerten sie immer daran, wie sie ihre Mutter bei deren Arbeit in einem großen Londoner Bürokomplex besucht hatte.

Meist gelang es ihr, all diese Gedanken zu verdrängen: an ihre Mutter, London und jenes andere Leben. Immerhin lag es schon fast acht Jahre zurück. Damals hatte ein Zugunglück das Leben ihrer Mutter ausgelöscht – und mit ihr alles, was ihr, Holly, die damals noch zur Schule gegangen war, vertraut und wichtig gewesen war.

Holly blickte in die verspiegelten Türen des Fahrstuhls. In letzter Zeit erkannte sie sich manchmal kaum wieder. Sie war sehr gewachsen und hatte lange, schlanke Beine. Ihr mittelbraunes Haar war so hell geworden, dass es bei bestimmtem Licht fast golden wirkte. Doch nach wie vor kringelte es sich in widerspenstigen Locken. Deshalb trug sie es lang und flocht es zu einem Zopf, wenn sie arbeitete. Mit ihrer Baseballkappe und der Latzhose sah sie ein wenig aus wie ein Schuljunge.

Hier in Paris bin ich ja auch als Lieferjunge wieder geboren worden, dachte sie ironisch. Ihre Mutter hatte versucht, sie auf die unerwarteten Ereignisse vorzubereiten, die das Leben vielleicht für sie bereithielt. „Alles ist vergänglich, Hol“, sagte sie immer wieder. Ihre großen Augen wirkten stets ein wenig traurig. „Du musst selbst auf dich aufpassen“, flüsterte sie einmal und drückte sie an sich. „Denn niemand sonst wird es tun.“ Und wenn sie zu erschöpft war, um zu lachen oder traurig zu sein, bat sie: „Bitte verzeih mir.“

Damals hatte sie, Holly, natürlich noch nicht gewusst, dass es etwas zu verzeihen gab. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Und sie konnte nicht ahnen, dass ihre Mutter ihm durch ihr Testament eine Nachricht zukommen lassen würde.

Doch das hatte diese getan. Und die verzweifelte Holly fand sich plötzlich im Hause eines amerikanischen Millionärs im Mittleren Westen der USA wieder. Damals hatte sie die zweite wichtige Botschaft endlich voll und ganz verstanden, die ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte: „Das Einzige, worauf du dich bei einem Mann verlassen kannst, ist, dass er dir das Herz brechen wird.“

Das alles gehörte allerdings der Vergangenheit an. Der Vater, den sie nie wirklich kennengelernt hatte, war tot. Die Stiefschwester, die schon ihre, Hollys, Existenz als Affront empfunden hatte, war weit weg – fünf Jahre und ein ganzer Kontinent lagen zwischen ihnen. Und wenn es auch bedeutete, dass sie allein war, so war es Holly nur recht. Solange ihr Herz wie aus Eis war, kam ihr zumindest niemand zu nahe. Sie war frei und in Sicherheit.

Holly verschob die Schachteln mit dem Essen ein wenig, sodass sie diese ein wenig besser tragen konnte. Dann ging sie durch die schier endlosen, stillen Flure zum Geschäftszimmer des Internationalen Katastrophenhilfekomitees.

„Vielen Dank, meine Herren“, sagte die Vorsitzende. „Sie haben uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben.“

Jack unterdrückte den Impuls zu protestieren. Er hatte bisher nicht einmal über die Hälfte der vorbereiteten Themen gesprochen. Er hatte festgelegt, dass sein Unternehmen, die Armour-Katastrophenhilfe, den Vortrag auch während des Mittagessens weiterführen sollte. Die anderen Teilnehmer hatten zugestimmt. Doch das war vor Ramons Gefühlsausbruch gewesen. Die Vorsitzende des Komitees hatte für Gefühle nichts übrig. Jack wollte weiteren Fehlschlägen vorbeugen und stand auf. „Vielen Dank.“

Ramon Lopez sah ihn ungläubig an. „Wir können noch nicht gehen! Das Komitee …“

„Hat unseren Bericht und den Vertragsentwurf vorliegen“, führte Jack den Satz zu Ende. Er umfasste die Lehne von Ramons Stuhl und zog unauffällig, aber heftig daran. „Und selbstverständlich stehen wir Ihnen bei Fragen jederzeit zur Verfügung. Sie haben meine Telefonnummer?“

Die Vorsitzende warf einen Blick auf die Visitenkarten, die sie vor sich ausgebreitet hatte. „Ja, vielen Dank, Dr. Armour. Wir werden sicher zahlreiche Fragen haben. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn Sie erreichbar sind.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Jack lächelnd. Sein charmantes Auftreten war nur gespielt, doch außer Ramon bemerkte es niemand. „Zum Glück gibt es ja Handys.“

Die anderen Vorstandsmitglieder erwiderten das Lächeln ein wenig verlegen, wobei sie Ramon anblickten. Sie befürchteten, dass der unbeherrschte Spanier sich nicht von der Stelle bewegen würde, und bereiteten sich innerlich auf eine unangenehme Szene vor.

Jack war allerdings nicht nur der Chef der Organisation, sondern auch eine starke Persönlichkeit, und so ging Ramon mit ihm, obwohl er leise fluchte. Er nahm seine Aktentasche und folgte ihm aus dem Konferenzzimmer.

Sobald sie auf dem Flur waren, rief er: „Verdammt! Warum habe ich nur den Mund nicht gehalten?“

Jack prüfte, ob sein Handy eingeschaltet war. „Das nächste Mal wirst du es bestimmt besser machen“, antwortete er, ohne aufzublicken.

„Es ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen.“

Jack betrachtete Ramon, und seine Augen funkelten humorvoll. „Immerhin hast du sie ganz schön beeindruckt, als du mit der Faust auf den Tisch geschlagen hast.“

Der Spanier wirkte zerknirscht. „Hoffentlich habe ich nicht alles verdorben.“

„Mach dir keine Gedanken. Jetzt müssen wir die Verhandlungen eben anders führen.“

„Dich bringt wohl nichts aus der Fassung.“

„Wenn man es von der richtigen Seite betrachtet, ist jeder Rückschlag auch eine Gelegenheit“, zitierte Jack Ramons bevorzugten Managementspezialisten.

Der Spanier musste lächeln. „Gilt das auch für diese Journalistin aus New York, die einen Artikel über dich schreiben wollte?“ Die Mitarbeiter der Armour-Katastrophenhilfe diskutierten seit einiger Zeit eifrig per E-Mail über die Frage, ob Rita Caruso die neueste Eroberung ihres Chefs war.

Jack seufzte nur resigniert. Ramon war inzwischen wieder bester Laune. „Ich kann es kaum erwarten, ihre Bilder zu sehen.“

Jack schnaufte und steckte sein Handy zurück in die Hosentasche. „Da kannst du lange warten.“

„Du hast doch gesagt, wir bräuchten Publicity.“

„Aber nicht solche.“

„‚Kaum jemand ist sich der langfristigen Folgen von Naturkatastrophen bewusst‘“, zitierte Ramon den Satz über die Unwilligkeit zu spenden, der aus dem Bericht für das Komitee stammte. Er hatte ihn unzählige Male umschreiben müssen, bis Jack damit zufrieden gewesen war. „‚Die meisten Journalisten verlieren schon kurze Zeit nach einer Katastrophe das Interesse an dem Thema. Doch es sterben wesentlich mehr Menschen in der Zeit danach als während des tatsächlichen Unglücksfalls. Wir müssen alles tun, um dies zu ändern.‘“ Er lächelte. „Gehören hübsche Fotos für eine Lady, die dich anhimmelt, nicht dazu?“

Jack verdrehte die Augen. „Du weißt genau, dass ich mich sogar an ein Heer von Bürokraten verkaufen würde, um meine Aufgaben zu erfüllen. Aber bei Aktfotos ist bei mir die Grenze erreicht.“

Überrascht sah Ramon ihn an. „Aktfotos?“

„Rita Caruso ist Fotojournalistin bei der Elegance. Dieses Magazin schreibt nur über Mode, Sex, Klatsch und Tratsch. Ich war ziemlich erstaunt, dass überhaupt eine der Mitarbeiterinnen nach Ignaz geschickt wurde.“

„Und woher weißt du, worüber die Elegance schreibt? Seit wann hast du denn Zeit, etwas zu lesen, was nicht mit deiner Arbeit zu tun hat?“

Ein kurzes Schweigen folgte. Dann antwortete Jack ruhig: „Susana hat sie gern gelesen.“

Und zum ersten Mal hielt Ramon den Mund.

Holly balancierte die Schachteln mit dem Essen vor sich her wie eine Zirkusartistin. Am Ende des Flurs sah sie zwei Männer in dunklen Anzügen stehen. Einer von ihnen war klein und wirkte sehr besorgt, der andere war groß, dunkelhaarig und strahlte kühle Selbstbeherrschung aus.

Der Mann hatte hohe Wangenknochen und markante Gesichtszüge. Seine Miene war undurchdringlich, doch Holly fiel seine Körperhaltung auf. Er wirkte sehr angespannt. Zum Glück bin ich nicht diejenige, die ihn so gereizt hat, dachte sie.

Dann sagte der kleinere Mann auf Englisch: „Es tut mir leid, Jack. Ich habe einfach nicht nachgedacht.“

Der Angesprochene schwieg einen Moment. „Du warst vermutlich aufgeregt wegen der Konferenz“, erwiderte er schließlich. Und Holly wusste, dass die Gefahr vorüber war.

Der andere Mann blickte ihn zweifelnd an.

„Betrachte es doch einmal von der positiven Seite“, fügte sein Begleiter hinzu. „Zumindest hast du es uns erspart, weitere achtundvierzig Stunden in dem Konferenzzimmer zu verbringen.“

Holly griff nach oben, um den schwankenden Schachtelturm am Umstürzen zu hindern, und ging auf die beiden Männer zu.

„Achtundvierzig Stunden?“, wiederholte der andere Mann entsetzt. „Du meine Güte, Jack! Meinst du wirklich, es wird so lange dauern?“

Sie merkte plötzlich, wie attraktiv der große, Furcht einflößende Fremde war. Er wirkte zwar sehr unnachgiebig, und seine eiserne Selbstbeherrschung war erschreckend. Aber ganz ohne Zweifel sah er auch unglaublich gut aus.

Der schöne Jack, wie Holly ihn insgeheim taufte, war nicht nur gut aussehend, sondern auch sarkastisch: „Wenn Bürokraten erst einmal zu Wort kommen, hören sie so bald nicht wieder auf zu reden.“

Der kleinere Mann stöhnte auf. „Wären wir nur nicht auf sie angewiesen!“

Jack lachte kurz auf. „Eigentlich bräuchten wir einen netten Millionär, der an langfristige Planung glaubt. Aber so einen haben wir leider nicht, und unter den verbleibenden Möglichkeiten ist das Katastrophenhilfekomitee die beste Wahl.“

Holly hatte die beiden erreicht. „Entschuldigung“, sagte sie hinter dem Schachtelturm. Der Stapel neigte sich zur Seite. Sie beugte sich ein wenig in die andere Richtung, damit die Schachteln nicht hinunterfielen. Vielleicht hatten die beiden Männer sie nicht gehört, oder sie waren zu sehr in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Jedenfalls hatten sie sie nicht bemerkt.

„Wenn ich nur nicht die Geduld verloren hätte“, meinte der kleinere Mann zerknirscht.

„Das passiert nun einmal leicht bei Bürokraten. Sie …“

„Entschuldigung!“

„… müssen ständig zeigen, wie viel Einfluss sie …“ Ungeduldig drehte Jack sich um. „Was gibt es denn?“

Seine Augen funkelten wie schwarze Diamanten. Der Stapel schwankte, doch Holly konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden. Sie stellte fest, dass ihr erster Eindruck richtig gewesen war. Aus der Nähe wirkte er noch unnachgiebiger. Seine edlen, klar geschnittenen Gesichtszüge glichen denen eines griechischen Gottes – und sein Temperament offensichtlich ebenfalls. Sie konnte sich gut vorstellen, dass viele Menschen sich von seinem strengem Blick einschüchtern ließen. Aber mir passiert das nicht so leicht, dachte sie entschlossen und erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Darf ich bitte vorbei?“

Holly spürte förmlich, wie er sie musterte. Doch sie ließ sich nicht abschrecken. Ungeduldig stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. Der Schachtelturm begann, bedenklich zu schwanken.

„Ich möchte bitte vorbei.“

Jack betrachtete sie gelassen. Sie hatte schon immer schnell die Beherrschung verloren, noch bevor sie im Haus ihres Vaters hatte lernen müssen, sich zu verteidigen. Sie bemühte sich nicht länger, höflich zu sein.

„Lassen Sie mich endlich vorbei!“

Als sie merkte, dass die Schachteln umfielen, hatte er bereits reagiert und sie aufgefangen.

„Danke“, sagte sie widerstrebend.

Um seinen Mund zuckte es leicht. „Nichts zu danken.“ Er wirkte amüsiert, ließ sich durch den Vorfall allerdings nicht im Geringsten ablenken und sagte über den Stapel hinweg zu seinem Begleiter: „Du solltest dir wirklich keine Vorwürfe machen, Ramon.“

„Ich hätte das Reden lieber dir überlassen sollen.“

Jack zuckte die breiten Schultern, die durch den eleganten Anzug noch betont wurden. „Du hast eben die Beherrschung verloren – das kann jedem mal passieren.“ Er warf Holly einen gleichgültigen Blick zu. „Wohin soll das hier geliefert werden?“

„In das Büro am Ende des Ganges.“

Ohne etwas zu sagen, wandte er sich um.

„Für einen Mr. Armour“, fügte sie hinzu. Toll, dachte sie. Tritt zurück, du armseliges kleines Wesen, und lass das einen starken Mann übernehmen. Am liebsten hätte sie den schönen Jack getreten.

Der Mann namens Ramon lief neben ihm her. Bei jedem großen Schritt seines Begleiters musste er zwei machen. „Sie werden uns doch nicht wirklich achtundvierzig Stunden hier warten lassen?“, fragte er verzweifelt.

„Zumindest können sie es versuchen.“

Jack erreichte die große, imposante Flügeltür am Ende des Gangs und stieß sie mit der Schulter auf, ohne anzuklopfen. Dann stellte er die Schachteln auf dem nächsten Schreibtisch ab. „Ist es hier recht?“

Bevor Holly etwas sagen konnte, griff die elegante Frau ein, die in dem Sekretariat arbeitete. Sie stand auf und kam schnell auf Jack zu.

„Oh, Mr. Armour. Ich wusste ja nicht … Ja, vielen Dank, lassen Sie das Essen ruhig dort stehen.“

Holly kannte die Frau. Señora Martinez hatte bereits mehrmals Essen bei Chez Pierre bestellt. Sie sprach mehrere Sprachen fließend, war sehr professionell und allgemein bekannt dafür, dass sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Jetzt genügte allerdings ein kurzer Blick aus Jacks dunklen Augen, um sie zu verunsichern.

„Hier sind einige Nachrichten … Der Vorstand hat nach Ihnen gefragt … aber ich dachte, Sie wären noch in der Konferenz“, erklärte sie stockend.

Interessiert verfolgte Holly das Gespräch. Der schöne Jack muss ja ein ganz schön hohes Tier sein, überlegte sie.

Gut gelaunt erwiderte er: „Das Komitee hat uns hinausgeworfen, Elena.“ Er schenkte Señora Martinez ein strahlendes Lächeln, und sein Charme blieb nicht ohne Wirkung.

Sie errötete und schüttelte lachend den Kopf. „Aber Mr. Armour, das kann ich gar nicht glauben. Ich weiß doch, wie beeindruckt alle von Ihrem Entwurf waren.“

Es gefiel Holly ganz und gar nicht, ignoriert zu werden. Der Mann hatte sie keines Blickes gewürdigt, seit sie in dem Sekretariat waren.

„Mr. Armour, richtig?“ Sie stellte sich vor ihn und fügte laut hinzu: „Mittagessen für zehn Personen.“

„Wie bitte?“, fragte er verständnislos.

Schweigend hielt sie ihm den Lieferschein hin. Endlich schien er sie zur Kenntnis zu nehmen. Er nahm zwar den Lieferschein nicht entgegen, aber immerhin sah er sie an.

„Ja?“, meinte er gleichgültig.

Holly war wütend. Allerdings wusste sie, dass das, was er sah, nicht gerade beeindruckend war. Die doppelreihige Kochjacke hatte nach einem langen Vormittag voller Auslieferungen in diesem belebten Pariser Stadtteil ihre ursprünglich strahlend weiße Farbe verloren. Und auch die Baseballkappe, die ihre widerspenstigen goldbraunen Locken bedeckte, war nicht gerade sauber.

Doch Holly wollte sich nicht einschüchtern lassen. Sie hob das Kinn. „Ich brauche eine Unterschrift für die Lieferung“, sagte sie trotzig und fügte dann etwas verspätet hinzu: „Sir.“

Der Mann kniff die Augen zusammen, und Señora Martinez wirkte schockiert.

„Junge Dame“, erwiderte er, „was soll ich denn mit Mittagessen für zehn Personen?“

Holly verlor endgültig die Geduld. „Von mir aus können Sie die gesamte Quiche Lorraine an die Tauben verfüttern“, antwortete sie zuckersüß. „Ich will einfach nur eine Unterschrift.“

Señora Martinez griff ein. „Hier liegt ein Missverständnis vor“, erklärte sie nervös. „Das Essen ist für die Konferenz des Komitees mit Mr. Armour bestimmt. Ich habe es bestellt.“ Sie nahm den Lieferschein und unterschrieb ihn.

Holly ignorierte sie. „Sie sind also Mr. Armour?“ Spöttisch ließ sie den Blick über seine große Gestalt gleiten. „Das hätte ich mir ja denken können. Amerikanische Unternehmen sind die einzigen auf der ganzen Welt“, zitierte sie ihren Chef, den Gourmetkoch Pierre, „die ihren Mitarbeitern befehlen, am Konferenztisch zu essen.“

Der griechische Gott sah tatsächlich aus wie einer jener Männer, die Mittagspausen nur im äußersten Notfall zuließen. Während sie seinen undurchdringlichen Blick auf sich gerichtet spürte, bekam sie allerdings immer mehr das Gefühl, dass sie einen großen Fehler begangen und sich lächerlich hatte.

Doch er zuckte nur die Schultern. „Wenn ich Ihrer Meinung nach der König des Lieferservice bin – was sind Sie dann?“

Holly war sprachlos.

„Vermutlich essen Sie so etwas gar nicht“, mutmaßte er, „sondern verkaufen es nur.“

Diese selbstgefällige Art kannte sie nur zu gut. Ihr Schwager und dessen Cousin Homer, der inzwischen das Unternehmen ihres Vaters führte, waren genauso gewesen – absolut sicher, dass sie im Recht waren und sie, dieser unbequeme, uneheliche Neuankömmling, dies schließlich akzeptieren würde. Plötzlich verspürte sie den Drang, laut zu schreien.

Jack Armour lächelte. „Eins zu Null für mich, stimmt’s?“ Er wandte sich ab. Ramon lachte.

Holly errötete. Sie war so wütend, dass sie ihn am liebsten getreten hätte, damit er sie wenigstens wahrnehmen würde. Aber schließlich gewann ihre Vernunft die Oberhand. Womöglich würde Pierre sie entlassen, und sie brauchte den Job dringend. Holly beschloss, das Büro zu verlassen, bevor ihr Temperament mit ihr durchgehen würde.

Sie riss Señora Martinez den Lieferschein aus der Hand und stopfte ihn in ihre Baumwolltasche. Dabei entdeckte sie unzählige Werbeflugblätter des Clubs, in dem sie abends arbeitete. Sie hatte ganz vergessen, dass sie die Zettel eigentlich hatte verteilen sollen. Schuldbewusst warf sie einen Blick auf die Uhr, nahm die Tasche und eilte hinaus.

Heute war einfach nicht ihr Tag. Erst hatte sie verschlafen – nach einem Auftritt mit der Querflöte im Club Thaïs am Vorabend. Dann kam die Metro viel zu spät. Und als sie endlich bei der Arbeit erschien, schäumte Pierre bereits vor Wut, während das Telefon ununterbrochen klingelte und noch niemand daran gedacht hatte, die anstehenden Lieferungen vorzubereiten. Und zu guter Letzt war sie noch einem dunkelhaarigen, gut aussehenden Fremden begegnet, der sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen hatte.

„Mr. Armour, hier ist eine Nachricht von der Vorsitzenden des Komitees für Sie.“ Señora Martinez überreichte ihm ein Schreiben. Jack öffnete den Umschlag und überflog die Nachricht.

„Wir beide“, sagte er ironisch zu Ramon, „haben heute Nachmittag frei. Das Komitee hat beschlossen, dass wir nicht weiter an der Konferenz teilzunehmen brauchen.“

Der Spanier schien den Tränen nahe zu sein. „Aber der Vertrag …“

Jack lachte. „Das Komitee hat meine Telefonnummer. Sie können mich anrufen, wenn sie den Vertrag unterzeichnen wollen.“ Er schob Ramon aus dem Zimmer und zum Fahrstuhl.

„Wir hätten bleiben sollen“, stellte der Spanier fest, während sie zum Erdgeschoss fuhren. „Wir hätten diesem verdammten Komitee die Meinung sagen sollen und …“

„Ganz ruhig, Ramon. Warte, bis wir das Gebäude verlassen haben.“ Jack warf einen vielsagenden Blick auf die Überwachungskamera an der Decke des Aufzugs. „Ich habe die letzten drei Monate in Schlammlöchern und mit Bürokraten verbracht und hätte Lust, mich mal wieder richtig zu amüsieren – mit gutem Essen, gutem Wein und guter Musik.“

„Das bedeutet, dass du nicht mit zu dem offiziellen Abendessen bei der internationalen Hilfsorganisation kommst und ich wieder allein hingehen muss“, bemerkte Ramon resigniert.

„Verabrede dich doch mit einer Frau, und nimm sie mit dorthin“, schlug Jack unbekümmert vor. „Du könntest zum Beispiel die Vorsitzende des Komitees fragen. Dein südländisches Temperament hat sie sehr beeindruckt.“

Ramon erwiderte sein Lächeln. „Geh du doch mit einer Frau hin. Dann hätte ich endlich mal den Abend frei.“

Jack lächelte noch immer. Aber seine Augen wirkten plötzlich ausdruckslos.

Oh nein, dachte Ramon, ich Idiot! Schon das zweite Mal innerhalb einer halben Stunde. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fuhr er fort: „Du hättest die junge Frau, die das Essen gebracht hat, nach ihrer Telefonnummer fragen sollen – anstatt sie zu provozieren.“

Jack schüttelte den Kopf. „Die war viel zu streitlustig.“ Doch zumindest schien sein Lächeln jetzt wieder von Herzen zu kommen.

Inzwischen war der Aufzug im Erdgeschoss angekommen, und sie stiegen aus. Ramon warf einen misstrauischen Blick zurück auf die Kamera. „Meinst du, sie war eine Spionin?“

Jack musste lachen. „Nein, keine Angst. Wozu sollte jemand Männer ausspionieren, die in Katastrophengebieten Notunterkünfte errichten? Ich wollte vorhin nur verhindern, dass du dich negativ über das Komitee äußerst, denn das könnte böse Folgen haben. Wachleute verkaufen gern kompromittierende Ausschnitte aus den Filmen, die mit den Überwachungskameras aufgenommen werden.“

Ungläubig sah Ramon ihn an. „Woher weißt du das?“

Jack zuckte die Schultern. „Ich habe auch einmal in der Branche gearbeitet.“

Das konnte der Spanier sich gut vorstellen. Sein Chef hatte früher praktisch jeden Job angenommen, um Geld für die Armour-Katastrophenhilfe zu beschaffen.

„Allerdings nie in einem so modernen und vornehmen Gebäude wie diesem hier.“ Jack lächelte ironisch und blickte sich in der Eingangshalle um. Palmwedel bewegten sich sanft im Luftzug der Klimaanlage. Wasser plätscherte leise aus einem barocken Springbrunnen, und die Marmorwände glänzten. Überall standen Palmen. Ein nicht enden wollender Strom von Leuten war zu sehen, die kamen und gingen. Der Klang ihrer Schritte und Stimmen verlor sich in dem Raum, der so hoch wie eine Kathedrale war.

Plötzlich ließ Jack seine Aktentasche fallen und lief über den spiegelnden Boden der Halle. Verwirrt hob Ramon die Tasche auf. Dann sah er, was Jacks Aufmerksamkeit erregt hatte.

Es war die temperamentvolle junge Frau vom Lieferservice. Sie stand mit dem Rücken an der Wand. Ein großer, stämmiger Mann hatte sich drohend vor ihr aufgebaut. Offensichtlich schrie er sie an, doch seine Stimme ging in dem riesigen Raum unter. Die junge Frau schien ihn ohnehin nicht zu hören. Ihre Miene versteinerte. Sie hatte panische Angst.

Ramon kannte diesen Ausdruck sehr gut und wusste genau, wie Jack auf das verängstigte Gesicht der jungen Frau reagieren würde. „Oh nein“, sagte er und eilte ihm nach.

Nach den körperlichen Anstrengungen der vergangenen drei Monate war Jack ebenso schlank wie durchtrainiert. Aber der Gegner der jungen Frau hatte einen Körper wie ein Preisboxer, mit breiten Schultern und stämmigem Nacken. Er schien Jack körperlich überlegen zu sein, und trotzdem hatte dieser ihm mit einer einzigen Bewegung den Arm auf den Rücken gedreht und hielt ihn fest.

Ramon wusste, wozu Jack bei seinen seltenen Wutanfällen fähig war. Er eilte zu ihm. Jack betrachtete den Mann, den er festhielt.

„Wer gibt Ihnen das Recht, Frauen zu belästigen?“

Der Mann blickte ihn überrascht und wütend zugleich an. Die junge Frau schien sich langsam zu entspannen. Die Panik war aus ihrem Gesicht gewichen. Ein goldbrauner geflochtener Zopf fiel ihr über die Schulter. Sie wirkte sehr jung und verletzlich.

Schwer atmend sagte sie: „Er hat kein Recht dazu! Ich habe nichts mit ihm zu tun.“

Der Mann hatte sehr markante Gesichtszüge und aufwendig frisiertes Haar. Doch sein Blick war durch und durch bösartig.

„Tatsächlich nicht? Dabei habe ich ein Dokument, in dem steht, dass ich dein Vormund bin.“

Sie zuckte zusammen, stritt die Behauptung allerdings nicht ab.

„Jack, diese Leute wollen sicher nicht, dass wir uns in ihre Privatangelegenheiten einmischen“, meldete sich Ramon zu Wort.

Jack ignorierte ihn und sah die junge Frau an. „Nun?“

„Er ist mit … mit einer Verwandten von mir verheiratet“, erwiderte sie nervös. „Ich habe die beiden nie um etwas gebeten, und ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“

Der Mann stieß einen wütenden Laut aus, durch den ein Angestellter des Sicherheitsdienstes auf sie aufmerksam wurde. „Du bist Donna etwas schuldig“, erklärte er drohend. „Das weißt du genauso gut wie ich.“

Der Wachmann näherte sich ihnen. Die junge Frau war aschfahl geworden. Ihre Hände zitterten. „Ich … ich schulde niemandem etwas. Ich habe nie darum gebeten … Bitte …“

Jacks Miene war undurchdringlich. „Wie alt sind Sie?“

„Zweiundzwanzig“, antwortete sie stockend.

„Mit zweiundzwanzig hat man doch keinen Vormund mehr“, sagte er zu dem kräftigen Mann, den er noch immer festhielt.

„Allerdings, wenn man …“

Aber die Frau wartete nicht ab, was er sagen würde. Als der Wachmann die kleine Gruppe erreichte und sie sich alle zu ihm umwandten, nutzte sie die Gelegenheit zur Flucht. Sie drängte sich so schnell an ihnen vorbei, dass sie Ramon beinah umwarf. Innerhalb weniger Sekunden war sie durch die Drehtür ins Freie gelangt.

Der Mann fluchte leise und versuchte, ihr nachzulaufen. Jack drückte ihn gegen die Wand.

„Sie bleiben hier“, stellte er fest.

„Aber das Mädchen ist mein Mündel.“

„Offensichtlich ist sie anderer Meinung. Und ob Sie jetzt Ihr Vormund sind oder nicht, in meiner Gegenwart werden Sie nicht wieder so grob mit ihr umspringen.“ Jacks Stimme klang kalt und hart wie Stahl, sodass sich sogar Ramon die Nackenhaare sträubten.

„Hat die süße kleine Holly Ihnen etwa auch den Kopf verdreht?“, fragte der Mann höhnisch. „Darin ist sie wirklich gut“, fuhr er verächtlich fort. „Bei uns in Lansing Mills hat sie schon unzählige Kerle abgeschleppt. Deshalb ist ihr auch …“

„Sparen Sie sich das.“ Angewidert sah Jack ihn an.

Der Wachmann beschloss einzugreifen. Er kannte Jack als Besucher des Komitees und vertraute ihm. Der andere Mann dagegen war ihm unbekannt, und so stellte er ihm einige Fragen. Als Ramon seine Worte ins Französische zu übersetzen begann, war die junge Frau längst weit weg. Jack ließ den Mann los, als dieser sich schließlich bereit erklärte, die Fragen des Wachmanns zu beantworten.

„Ich heiße Brendan Sugrue“, sagte er und zog seinen Pass aus der Hosentasche. „Das Mädchen ist die Tochter des Adoptivvaters meiner Frau – rechtlich gesehen also ihre Schwester. Wir stammen aus Lansing Mills in Oklahoma und sind die Vormunde von Holly. Sie ist von zu Hause weggelaufen, und seitdem bin ich auf der Suche nach ihr.“

„Warum?“, erkundigte Jack sich ruhig, doch es klang wie ein Pistolenschuss.

Der Wachmann, der den Pass geprüft hatte, blickte auf.

Brendan Sugrue blinzelte nervös. „Sie ist noch sehr jung und …“

„Mit zweiundzwanzig kann man durchaus auf sich selbst aufpassen.“

„Sie ist verantwortungslos und nimmt keinerlei Ratschläge an …“

„Mit anderen Worten, sie tut nicht, was Sie wollen“, mutmaßte Jack.

„Monsieur Armour …“, begann der Wachmann freundlich, aber energisch.

Jack ignorierte ihn. „Ist es nicht die Wahrheit?“

„Monsieur Armour, offensichtlich handelt es sich um eine persönliche Angelegenheit.“ Der Wachmann gab den Pass zurück. „Da die junge Dame weg ist und keinerlei Schaden verursacht wurde, ist die Angelegenheit beendet. Auf Wiedersehen, meine Herren.“

Brendan Sugrue rückte seinen Schlips gerade und strich sich das Jackett glatt, das ein wenig unter Jacks festem Griff gelitten hatte.

„Vielen Dank“, sagte er zum Wachmann. Der Blick, den er Jack zuwarf, war weit weniger freundlich. „Ich wollte die Angelegenheit eigentlich im Guten mit Holly klären. Nachdem Sie sich eingemischt haben, bleibt mir nichts anderes übrig, als zur Polizei zu gehen. Ich rate Ihnen, mir nicht noch einmal in die Quere zu kommen.“

Er drängte sich an Jack und Ramon vorbei und stürmte wütend davon.

Der auf Hochglanz polierte Boden war übersät mit unzähligen Flugblättern aus leuchtend gelbem, minderwertigem Papier. Jack betrachtete sie und kniete sich dann hin, um sie aufzusammeln. Er zeigte Ramon eines davon.

„‚Club Thaïs‘“, las dieser. „‚Cooler Jazz, heiße Rhythmen‘.“ Er überflog mit geübtem Blick die kurze Speisekarte auf der Rückseite. „Das ist nur eine billige kleine Brasserie.“

„Die junge Frau hat die Flugblätter vorhin verloren. Vielleicht geht sie abends gern dorthin oder ist dort angestellt.“

„Vielleicht arbeitet sie auch nur für die Firma, die diese Blätter gedruckt hat.“ Ramon ahnte bereits, was Jack vorhatte, und wollte ihn um jeden Preis von seinem Plan abbringen. „Woher willst du wissen, wer bei dieser Angelegenheit im Recht ist? Vielleicht stimmt es, was Sugrue gesagt hat, und das Mädchen ist wirklich ein bisschen schwierig. Außerdem solltest du nicht schon wieder den edlen Ritter spielen.“

Eine Weile sahen sie einander in die Augen und verstanden sich auch ohne Worte. Ramon wandte zuerst den Blick ab. Das habe ich wirklich großartig gemacht, dachte er ironisch, dreimal an einem einzigen Tag.

„Jack, es tut mir wirklich leid.“

„Schon gut“, erwiderte Jack ausdruckslos.

„Du hast doch gesehen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Gleich bei der ersten Gelegenheit hat sie sich aus dem Staub gemacht. Und bestimmt ist sie von jetzt an auf der Hut, sodass dieser Typ sie nicht noch einmal erwischen wird.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Jack ihm zu.

Seine Stimme klang munter, aber um seinen Mund zuckte es leicht. Ramon wusste, was das bedeutete. „Das Ganze geht uns nichts an“, bekräftigte er verzweifelt. „Außerdem sind wir nur noch zwei Tage hier – und was kann man in zwei Tagen schon erreichen? Du weißt ja noch nicht einmal, wie sie heißt.“

Nachdenklich schob Jack ein noch auf dem Boden liegendes Flugblatt hin und her. „Ich habe allerdings so eine Vermutung – und viel Zeit, bis das Komitee uns anruft.“

„Du willst also wirklich nach ihr suchen?“

„Ich werde meinem Instinkt folgen“, antwortete Jack. Er wirkte fest entschlossen. Ramon kannte diesen Gesichtsausdruck allzu gut. Er gab auf.

2. KAPITEL

Holly stürzte blindlings aus dem Gebäude und zur Metro, denn sie wusste, dass sie in dem dort herrschenden Gedränge nicht leicht zu finden wäre. Erst als sie die Treppe bereits zur Hälfte hinuntergerannt war, fiel ihr der kleine Lieferwagen von Chez Pierre ein, den sie vor dem großen Gebäude im Parkverbot abgestellt hatte. Sie befürchtete, dass der Wagen abgeschleppt wurde, wenn sie ihn dort noch lange stehen ließ.

Unvermittelt blieb sie stehen. Ein Mann prallte von hinten gegen sie. Holly schrie vor Schreck auf und drehte sich um. Doch es war nur ein Passant, der einen leisen Fluch ausstieß und an ihr vorbei zur Metro hastete.

Holly presste sich die Hand aufs Herz, das wie wild klopfte. Nach einer Weile beruhigte sie sich, ging die Treppe wieder hinauf und trat ins Licht der hellen Frühjahrssonne. Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Das hier ist Paris und nicht Lansing Mills. Hier werden die Polizisten nicht nach Brendans Pfeife tanzen. Und er kann mich schließlich auch nicht auf offener Straße kidnappen.

Als Holly zum Lieferwagen ging, sah sie sich allerdings vorsichtig nach allen Seiten um. Zu ihrer unendlichen Erleichterung war Brendan Sugrue nirgends zu sehen – und ihr Retter auch nicht. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass diese Feststellung sie ein wenig enttäuschte.

„Es ist besser so“, redete sie sich ein. „Ich brauche den schönen Jack nicht als Aufpasser.“ Sie stieg in den uralten Wagen und drehte den Zündschlüssel um, aber der Motor sprang nicht an. Wütend trommelte sie mit den Fäusten aufs Lenkrad. Sie konnte nichts tun, als abzuwarten, nachzudenken … und sich zu erinnern.

Doch es war nicht Brendan mit seinen hinterhältigen Plänen und Schikanen, der ihr in den Sinn kam, oder Lansing Mills, wo sie sich immer eingeengt gefühlt hatte. Noch nicht einmal der Nachfolger ihres Vaters mit den sorgfältig manikürten Händen und den kalten Augen, die sie schließlich dazu gebracht hatten, von zu Hause wegzulaufen. Stattdessen dachte sie an den ungeduldigen Mann mit dem breiten, sinnlichen Mund, der so viel Gelassenheit und Selbstbewusstsein ausgestrahlt hatte – und der sie gerettet hatte.

„Schluss jetzt!“, schimpfte sie mit sich. „Ich habe in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal einen Retter gebraucht. Und jetzt tue ich es auch nicht – erst recht keinen überheblichen Kerl im Armani-Anzug!“

Als sie den Motor schließlich starten konnte und auf den Boulevard fuhr, konnte sie den Gedanken an Jack Armours dunkle Augen allerdings nicht ganz verdrängen – und daran, wie schön es wäre, wenn ein Mann wie er ihr den Kampf mit Brendan abnehmen würde.

Holly versuchte, Jack Armour aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Und als sie abends zur Arbeit fuhr, war es ihr fast gelungen. Eine halbe Stunde nachdem der Club Thaïs aufgemacht hatte, betrat sie ihn wieder einmal über den Notausgang. Schnell streifte sie ihre Kleidung ab und zog ein schwarzes Top und die schwarzen Jeans an, die alle Angestellten tragen mussten.

„Du bist spät dran“, bemerkte Gilbert, der Besitzer des Clubs. „Ist dein Mann dir wieder auf der Spur?“

Er legte Wert darauf, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Also hatte sie ihm erzählt, ihr eifersüchtiger Ehemann könnte eines Tages im Club auftauchen und nach ihr fragen. Gilbert hatte sich bereit erklärt, ihr zu helfen.

Holly nickte, doch er hatte das Interesse an ihrem Privatleben offenbar schon wieder verloren. „Wie viele Flugblätter hast du verteilt?“, erkundigte er sich.

„Alle“, erwiderte sie und verdrängte den Gedanken daran, dass die Hälfte davon auf den Boden des großen Bürokomplexes gefallen war.

„Gut. Wir könnten ein paar neue Gäste gebrauchen. Heute Abend ist bisher nicht sonderlich viel Betrieb.“

Holly glättete mit geübten Bewegungen die widerspenstigen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.

„Wenn Tobacco zu spielen anfängt, kommt sicher bald Stimmung auf.“ Tobacco war eine neue, bei den Stammgästen sehr beliebte Band.

Bestimmt werde ich heute nicht spielen, dachte Holly. Ihre Querflöte hatte sie bereits hinter den Kleidern verstaut.

„Wenn es nachher wirklich hoch hergeht, wirst du länger arbeiten müssen“, stellte Gilbert fest. „Ist das in Ordnung?“

Holly nickte. Dann würde sie mehr Trinkgeld bekommen. Und wenn Gilbert einen großzügigen Tag hatte, würde er ihr auch einen Zuschlag geben. Den könnte sie gut gebrauchen, für den Fall, dass sie bald wieder flüchten musste. Brendan hatte nicht gewirkt, als würde er seine Jagd aufgeben.

Sie folgte Gilbert und prägte sich schnell die Gerichte ein, die auf einer Tafel standen. Die Speisekarte des Club Thaïs änderte sich selten, denn die meisten Gäste kamen her, um zu tanzen, Musik zu hören und sich zu unterhalten.

Einen Moment lang war Holly traurig, denn in den vergangenen zehn Monaten war der Club für sie so etwas wie ein Zuhause geworden. Sie würde ihn vermissen. Aber es hatte keinen Sinn, traurig zu sein – darüber, dass sie von hier fortmusste, oder darüber, dass sie den schönen Jack nicht wieder sehen würde. „Lebe für den Moment“, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und in den letzten fünf Jahren hatte sie gemerkt, wie recht ihre Mutter gehabt hatte.

Holly nahm ihren kleinen Block für die Bestellungen und hob das Kinn. „Auf geht’s, Gilbert“, erklärte sie fröhlich und stieß die Schwingtür zum Lokal auf.

„Warum mussten wir ausgerechnet hierher kommen?“ Ramon stand am oberen Ende einer Treppe, die zu dem kleinen Lokal im Souterrain führte, und verzog das Gesicht. „Oh nein, suchst du etwa immer noch nach diesem Mädchen?“

Jack lächelte ungerührt. „Du wolltest doch das echte Paris kennenlernen. Und außerdem lässt du dir sonst auch keine Gelegenheit entgehen, dich ein bisschen zu amüsieren.“

„Aber nicht bevor unsere Verhandlungen abgeschlossen sind. Ich möchte morgen früh um acht keinen Kater haben, wenn wir zu der Besprechung gehen.“

Jack gab allerdings nicht nach. „Komm schon, Ramon“, sagte er, „es wird bestimmt eine interessante Erfahrung.“

Leise fluchend gab Ramon sich geschlagen und folgte ihm widerstrebend in den dunklen Raum. Der unebene Boden war mit Steinplatten ausgelegt, und an den Wänden hingen Plakate, auf denen Dichterlesungen und Bands angekündigt wurden, von denen sie noch nie gehört hatten.

Sie setzten sich an einen wackeligen Tisch in der Ecke, der mit grobem Papier bedeckt war. Darauf stand eine halb heruntergebrannte Kerze auf einer angeschlagenen Untertasse.

Etwa die Hälfte der Tische war besetzt. Auf der Bühne spielte ein einzelner Musiker auf einer Tabla, und die Gäste unterhielten sich angeregt. Jack bestellte eine Flasche Rotwein und sah sich aufmerksam um.

„Oh nein“, platzte Ramon plötzlich heraus.

„Wo ist sie?“ Jack blickte sich um.

„Bitte denk doch einmal nach …“

Jack ignorierte ihn, winkte den Kellner herbei und fragte: „Wie heißt die junge Kellnerin mit dem langen Zopf?“

„Holly“, erwiderte der Mann und musterte ihn misstrauisch.

„Und mit Nachnamen?“

Der Kellner zuckte die Schultern. „Fragen Sie sie doch selbst. He, Hol, komm mal her!“ Er verschwand.

Holly kam an den Tisch. „Ja? Kann ich etwas …?“ Sie verstummte, und ihr Herz begann, heftig zu schlagen. „Sie sind es“, flüsterte sie. Sie schüttelte den Kopf, um das Trugbild zu vertreiben, aber Jack stand noch immer vor ihr – groß, dunkelhaarig und genau so gut aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Wie versteinert blickte sie auf ihren Block und brachte kein Wort heraus.

„Hallo, Holly“, sagte Jack.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken, und ein unbekanntes Gefühl nahm von ihr Besitz. Sie blickte ihn an und erschrak. Noch nie hatte jemand sie so angesehen – als würde er all ihre Geheimnisse und Gefühle kennen.

„Holly wer?“, erkundigte er sich sanft.

Das Lokal, die Gäste, der Lärm – plötzlich nahm sie all das nicht mehr wahr. Es gab nur noch sie beide, Holly und Jack. Holly versuchte, etwas zu sagen, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

„Sie kennen schließlich auch meinen Namen.“

Holly musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht nachzugeben. „Ich verrate meinen Namen nicht jedem Fremden.“

Er lächelte erneut. Es war derselbe gelassene, leicht überhebliche Gesichtsausdruck, den sie schon am Nachmittag bemerkt hatte. Jack schien so überzeugt davon, dass er im Recht war, dass er sich nicht einmal die Mühe gab, dies zu beweisen.

„Ich bin für Sie doch kein völlig Fremder. Immerhin habe ich Ihnen heute aus einer unangenehmen Lage geholfen.“

Sie hob das Kinn. „Ich wäre auch ohne Sie mit Brendan zurechtgekommen.“

„Es sah aber nicht danach aus“, bemerkte er trocken.

Holly zögerte. Ihre Art, sich mit Brendan Sugrue auseinanderzusetzen, hatte bisher darin bestanden, die Flucht zu ergreifen, wann immer er auftauchte. Und obwohl es ihr schon immer widerstrebt hatte, jemanden zu belügen, wollte sie es diesem überheblichen Mann gegenüber um keinen Preis zugeben.

Jack schien zu erahnen, was in ihr vorging. „Wenn er heute Abend hier auftaucht, dann würden Sie meine Hilfe also nicht benötigen?“

„Heute Abend?“ Bei dem Gedanken zuckte Holly zusammen. Sie dachte an Brendans wütenden Gesichtsausdruck, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie hilflos sie war.

Seine Miene war ausdruckslos. „Wenn Sie mir sagen, dass Sie mich nicht brauchen, gehe ich sofort.“

Schweigend blickten sie einander in die Augen. Ihr Atem ging stoßweise, als wäre sie gerannt. Holly wusste nicht, warum sie so durcheinander war.

Seine Augen funkelten, dann kniff Jack sie zusammen. Holly hatte das merkwürdige Gefühl, dass er aus irgendeinem Grund noch verwirrter war als sie. Sie verstand das alles nicht. Aber um keinen Preis würde sie zugeben, dass sie Jack Armour brauchte.

Um vom Thema abzulenken, fragte sie: „Meinen Sie wirklich, dass Brendan heute Abend herkommt?“

„Ich habe Sie schließlich auch gefunden.“

Sie blickte sich um. Der Raum füllte sich langsam mit Gästen, doch Brendan war nirgends zu sehen. Dafür entdeckte sie Gilbert, der an der Küchentür stand und sie energisch zu sich winkte.

„Ich muss arbeiten“, erklärte sie zerstreut.

„Es ist nicht meine Art, mich aufzudrängen. Wenn Sie mir sagen, dass ich gehen soll, werde ich das sofort tun.“

Wieder sahen sie einander an. Dann wandte Holly den Blick ab. Angestrengt überlegte sie, was sie erwidern konnte. Sie entdeckte die Weinflasche auf dem Tisch.

„Sie brauchen nicht zu gehen. Schließlich sind Sie ein zahlender Kunde.“ Holly entfernte sich langsam. „Trinken Sie Ihren Wein aus.“

„Ich bin nicht hier, um Wein zu trinken, und das wissen Sie auch.“

Holly blickte ihm fest in die Augen. „Weswegen sind Sie dann hergekommen?“, rief sie. „Meinetwegen?“

Er schwieg, aber seine Augen funkelten.

„Und Sie behaupten, Sie würden sich anderen nicht aufdrängen?“

Jack presste die sinnlichen Lippen zusammen. „Ich habe Sie heute Nachmittag aus einer ziemlichen unangenehmen Lage befreit“, sagte er ein wenig schroff.

„Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht …“

„Vielleicht nicht. Allerdings habe ich meine Aufgabe noch nicht ganz erledigt.“

Sie war so überrumpelt, dass sie ihre Verärgerung vergaß. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Mr. Sugrue hat mich davor gewarnt, ihm noch einmal in die Quere zu kommen.“

„Und Sie fühlen sich von ihm herausgefordert?“, erkundigte sie sich verständnislos.

„Sagen wir einfach, das Ganze ist für mich noch nicht erledigt.“ Eindringlich sah er sie an. „Trotzdem werde ich gehen, wenn Sie es wollen.“

Holly spürte, dass sie gezwungen war, ihm eine Antwort zu geben. „Nein. Bitte bleiben Sie“, bat sie ihn widerstrebend.

„Holly!“, rief Gilbert ungeduldig.

„Gehen Sie ruhig.“ Jack machte es sich auf seinem Stuhl bequem und lächelte zufrieden, als hätte sie ihn angefleht zu bleiben – und als hätte er sich gnädig dazu bereit erklärt.

Am liebsten hätte sie vor Wut geschrien. Als sie Gilbert ein weiteres Mal energisch rufen hörte, warf sie Jack noch einen resignierten Blick zu und lief schnell zwischen den Tischen hindurch.

„Tobacco wird sich verspäten, und Jerry ist gleich fertig“, sagte Gilbert. „Hol deine Flöte.“

Ramon atmete tief durch. „Einen Moment lang dachte ich, sie würde dich wegschicken.“

Jack lächelte. „Ich wusste ja, dass sie sehr eigensinnig ist“, bemerkte er zufrieden.

Sie aßen eine Pastete und bestellten dann einen marokkanischen Schmortopf. Eine Musikerin betrat die kleine Bühne. Ihr goldbraunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, und sie hatte eine silbern glänzende Querflöte in der Hand.

Ramon verschluckte sich fast an seinem Wein, als er sie sah. Jack dagegen blieb ungerührt. Doch als sie das Instrument an die Lippen setzte und ein Blues-Riff zu spielen begann, das an ein Saxofon erinnerte, kniff er die Augen zusammen.

„Sie scheint sehr vielseitig begabt zu sein“, stellte Jack nachdenklich fest. Anschließend lauschte er schweigend der Musik. Als Holly ihr Solo beendet hatte, stimmte ein anderer Musiker auf einem Keyboard mit ein. Ihre heißen Salsarhythmen brachten einige Gäste dazu, aufzustehen und zu tanzen. Jack drehte seinen Stuhl ein wenig, sodass er weiterhin die Musiker betrachten, gleichzeitig aber auch ein Auge auf den Eingang haben konnte.

Der Kellerraum füllte sich. Die Kellner zwängten sich zwischen den Tischen hindurch. Auf ihren übervollen Tabletts transportierten sie Teller mit Essen, Flaschen und kurze Weingläser. Der Raum war erfüllt von Stimmengewirr und Gelächter, und die Musik wurde lauter.

„Hier ist es gar nicht schlecht“, rief Ramon und wischte die letzten Tropfen Soße mit einem Stück des knusprigen Baguettes auf.

Und tatsächlich schien die ausgelassene Stimmung alle Gäste anzustecken, bis auf Jack. Holly bewegte sich leichtfüßig im Takt und spielte so konzentriert, dass sie nichts außer der Musik wahrzunehmen schien. Und als ein stämmiger Mann den Raum betrat und sich vom Treppenabsatz aus im Raum umblickte, bemerkte ihn niemand – außer Jack. Er war bereits aufgesprungen, bevor Ramon bemerkt hatte, was vor sich ging.

„Besorg uns ein Taxi“, rief Jack ihm über die Schulter zu und rannte zur Bühne. „Warte hinter dem Gebäude auf uns. Und beeil dich!“

Holly standen Schweißperlen auf der Stirn, und so war sie erleichtert, als der Keyboardspieler ihr mit einem Handzeichen ankündigte, dass er nun ein Solo spielen würde. Sie nahm die Flöte von den Lippen. Als die Zuschauer laut Beifall klatschten, verbeugte sie sich lachend.

Doch plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrem Arm.

„Es ist Zeit zu gehen.“

Erschrocken wandte sie sich um. Es war allerdings nicht Brendan, sondern Jack. Er hielt sie fest, als würde sie ihm gehören.

„Ihr überaus sympathischer Schwager ist soeben hereingekommen“, erklärte er. „Wollen Sie hier bleiben und ihn zum Zweikampf herausfordern, oder wollen Sie lieber weglaufen?“

Holly war wie versteinert, und plötzlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern, erfüllt von jener unsagbaren Angst, die sie so lange nicht mehr verspürt hatte. Sie strich sich die zerzausten Locken aus der Stirn und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Ich … ich weiß nicht“, erwiderte sie verwirrt.

„Dann sollten Sie sich schnell entscheiden, bevor Ihr Schwager Sie findet.“

Holly sah zu Brendan hinüber, der nach und nach alle Kellner betrachtete. Den Musikern hatte er bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat meine Musik nie ernst genommen, dachte sie, erfüllt von schmerzvollen Erinnerungen. Keiner von ihnen hatte das getan.

In diesem Moment entdeckte Brendan sie. Er rannte die Stufen hinunter und zwängte sich zwischen Tischen und Kellnern hindurch. Jack stieß einen ungeduldigen Laut aus und zog sie mit sich durch die Schwingtüren in die Küche. „Keine Angst“, sagte er leise, „ich bringe Sie hier raus.“

Gilbert stellte sich ihm in den Weg.

„Sie haben einen Gast, der Schwierigkeiten machen wird“, berichtete Jack kurz angebunden. „Halten Sie ihn auf.“

Besorgt warf Gilbert ihr einen Blick zu. Als er ihren ängstlichen Gesichtsausdruck bemerkte, nickte er, trat beiseite und ging schnell ins Lokal.

Jack nahm ihr die Querflöte ab, die sie noch immer in der Hand hielt. Anschließend trug er sie die Stufen des Hinteraufgangs hinauf. In der Gasse standen leere Gemüsekisten. Der Geruch nach Essensresten riss sie plötzlich aus ihrer Benommenheit.

„Meine Tasche …“

„Die können Sie morgen abholen.“

Er klingt, als würde er das hier nicht zum ersten Mal tun, überlegte sie. Jack Armours ganzes Auftreten flößte Vertrauen ein. Holly war dankbar dafür. Sie lehnte sich an ihn und versuchte, sich zu beruhigen.

Dann sah sie ein Auto am Ende der Straße, das eine Lampe auf dem Dach hatte.

„Polizei“, flüsterte sie erschrocken.

Jack sah sie durchdringend an. „Nein, nur ein Taxi. Ich habe Ramon beauftragt, eins zu rufen.“ Er nahm ihre Hand, und sie rannten zu dem bereitstehenden Wagen.

Die Mitarbeiter der Armour-Katastrophenhilfe waren in einem sehr komfortablen kleinen Hotel untergebracht, das versteckt lag. Ohne sie zu fragen, fuhr Jack mit Holly dorthin, ließ ein Zimmer für sie reservieren und nahm sie mit in die kleine Bar.

Holly saß zusammengekauert auf einem Sessel am Kamin, in der Hand eine Tasse Kaffee. Alles andere hatte sie abgelehnt.

„Zum letzten Mal: Wie heißen Sie mit Nachnamen?“, fragte Jack.

Sie gab nach. „Dent. Mein Name ist Holly Dent.“

Er nickte. „Ich finde, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.“

Holly schluckte. „Meine Tasche …“, begann sie.

Jack blickte Ramon an. Der Spanier seufzte resigniert. „Also gut, ich fahre noch einmal hin und hole sie. Sonst noch etwas?“

„Meine Querflöte.“

„Die habe ich mitgebracht, sie liegt hinter der Bar.“

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Da bin ich aber erleichtert. So kann sie Brendan nicht in die Finger geraten.“ Unwillkürlich rieb sie sich die Schulter, als würde sie den Griff einer kräftigen Hand verspüren.

„Gut. Also nur Ihre Tasche?“

Holly schüttelte hilflos den Kopf. „Die Kleider, die ich anhatte, als ich zur Arbeit kam. Der kleine Koffer für meine Flöte und … Ich kann im Moment einfach nicht denken. Aber Gilbert wird schon wissen, was Sie noch mitbringen müssen.“

Ramon nickte und ging hinaus. Holly schien es nicht einmal wahrzunehmen. Jack setzte sich ihr gegenüber in einen mit Gobelinstoff bezogenen Sessel und betrachtete sie aufmerksam. „Warum haben Sie solche Angst vor diesem Mann?“, erkundigte er sich.

Sie zuckte zusammen. Ohne aufzublicken, erwiderte sie: „Das ist eine lange Geschichte.“

Jack ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Doch seine Stimme klang ruhig und gelassen. „Hat er Gewalt über Sie – im rechtlichen Sinne?“

Wenn es darauf nur eine einfache Antwort gäbe, dachte Holly verzweifelt. Sie trank einen Schluck Kaffee. Dann antwortete sie leise: „Vielleicht.“

Jack schwieg eine Weile. Schließlich erklärte er sanft: „Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, kann ich Ihnen nicht helfen. Und momentan bin ich vermutlich Ihre beste Wahl.“

Sehr wahrscheinlich sogar meine einzige, überlegte sie. Wenn es Brendan gelungen war, ihre Spur so schnell zum Club Thaïs zu verfolgen, würde er sie vermutlich überall finden.

Die arme Donna! Sie hatte ihren leiblichen Vater nie kennengelernt und daher sehr an ihrem Stiefvater gehangen. Doch nach seinem Tod hatte sie feststellen müssen, dass er das Unternehmen seiner leiblichen Tochter hinterlassen hatte, von deren Existenz er gerade erst erfahren hatte. Donna war verletzt gewesen, Brendan dagegen hatte vor Wut geschäumt. Und Donna, die ihn liebte, tat nun alles, was er ihr sagte. Sicher gab sie ihm Geld, damit er sie, Holly, suchen konnte.

Bei diesem Gedanken lief es Holly eiskalt über den Rücken. Ja, es war besser, sein Herz zu verschließen und keinen Mann hineinzulassen.

„Und?“

Jacks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Holly versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Ich weiß wirklich nicht, ob Brendan, rechtlich gesehen, Macht über mich hat. Er ist mit meiner Stiefschwester verheiratet“, fuhr sie fort. „Meine Eltern sind im Abstand von wenigen Jahren gestorben, und so habe ich schließlich mit Donna, meiner Stiefschwester, und Brendan zusammengelebt.“ Sie hatte zwar eine ganze Menge wichtiger Details ausgelassen, aber zumindest war es nicht gelogen.

„Das erklärt nicht, warum Sie Angst vor ihm haben.“

Holly senkte den Blick. „Wir … wir sind unterschiedlicher Meinung, was meine Zukunft betrifft. Deshalb bin ich von Zuhause weggegangen.“

„Worüber genau waren Sie sich nicht einig?“

Sie wollte so wenig wie möglich von sich preisgeben – schon gar nicht den Namen ihres Vaters.

„Ich … ich wollte meine berufliche Ausbildung fortsetzen“, antwortete sie ausdruckslos.

Jack sah sie mit seinen dunklen Augen so eindringlich an, als wäre er der Richter und sie die Angeklagte. Holly erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Also gut“, meinte er schließlich, doch es klang nicht, als würde er ihr glauben. „Und wie kann er Sie davon abhalten? Geht es um Geld?“

Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich habe noch nie Geld von Donna und ihm angenommen.“

„Wenn Sie wirklich zweiundzwanzig Jahre alt sind, kann er Ihnen doch gar nichts vorschreiben.“

Holly überlegte. „Wahrscheinlich haben Sie recht“, stimmte sie ihm zu. „Aber sie leben nun einmal in einer Kleinstadt in den USA, und mein Vater hat ein völlig verrücktes Testament hinterlassen. Ich hätte es anfechten müssen. Allerdings habe ich nie daran geglaubt, dass ein Gericht mir recht geben würde.“

„Warum nicht?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich komme übrigens auch aus einer amerikanischen Kleinstadt“, fügte er ein wenig trocken hinzu.

„Dann sollten Sie wissen, was ich meine“, erwiderte sie. „Kein Rechtsanwalt würde mich als Mandantin annehmen, wenn ich gerichtlich gegen meine Familienmitglieder vorgehen will. Sie gehören zu den angesehensten Einwohnern der Stadt.“ Sie lächelte ironisch. „Mit anderen Worten, meine Familie ist der wichtigste Arbeitgeber der Region – wenn nicht sogar der einzige.“

„Ich verstehe.“ Jack war sofort klar, was sie meinte.

Holly seufzte. „In gewisser Hinsicht ist es nachvollziehbar. Schließlich war ich erst siebzehn und hatte nur zwei Jahre in Lansing Mills gewohnt. Aber meine Stiefschwester Donna kennen alle Menschen dort bereits seit ihrer Geburt – und Brendan seit der Hochzeit. Vermutlich haben die Leute geglaubt, die beiden wollten nur auf mich aufpassen und dafür sorgen, dass ich keine Dummheiten mache – natürlich alles zu meinem Besten.“ Einen Moment war ihr Gesicht unendlich traurig.

Jack kannte diesen Blick. Er hatte ihn schon sehr oft gesehen. Diesen Gesichtsausdruck hatten Gefangene, die aufgegeben hatten und nicht mehr versuchten, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sein Magen krampfte sich zusammen. Doch Jack sagte nur: „Also sind Sie weggelaufen. Was genau war der Anlass?“

Holly antwortete ausweichend. „Das Testament meines Daddys besagte, dass Donna sich um mich kümmern soll, bis ich fünfundzwanzig bin, es sei denn, ich würde vorher heiraten.“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Brendan und sie waren der Ansicht, ich solle zu Hause bleiben und weder aufs College gehen noch reisen oder irgendetwas anderes tun.“

Jack schwieg eine Weile nachdenklich. „Sie hatten heute Nachmittag große Angst vor diesem Mann“, stellte er schließlich fest. „Das war deutlich zu sehen.“

Holly hob den Kopf. Er bemerkte den wachsamen Ausdruck in ihren leuchtenden haselnussbraunen Augen.

„Sie trauen mir nicht über den Weg“, bemerkte er. „Stimmt’s?“

Sofort senkte sie die Lider. Sie zuckte die Schultern. „Warum sollte ich das auch tun?“

„Weil Sie nicht sehr viele Möglichkeiten haben. Und Sie brauchen Hilfe.“

Holly hob das Kinn. „Nein, das tue ich nicht!“

Er ging nicht darauf ein. „Warum sind Sie von Zuhause weggelaufen?“

Sie sahen sich an. Hollys Augen drückten Verärgerung und Angst aus, Jacks Miene dagegen war unbewegt. Sie senkte zuerst den Blick.

Der Barkeeper näherte sich ihnen. „Mr. Armour, da ist ein Anruf für Sie.“

Jack zögerte. Als er aufstand und zur Bar ging, hatte Holly das Gefühl, dass ein unbarmherziges Verhör endlich vorbei war. Erschöpft ließ sie sich gegen die Lehne des Sessels sinken. Während der vergangenen fünf Jahre hatte sie gelernt, Menschen schnell zu durchschauen. Doch in Jack Armour hatte sie sich getäuscht. Wegen seiner selbstsicheren, typisch männlichen Art war er für sie nur „der schöne Jack“ gewesen. Und er war wirklich sehr attraktiv mit seinen geheimnisvollen, schräg stehenden Augen, den hohen Wangenknochen, den markanten Gesichtszügen, dieser Aura der Macht …

Er ist ziemlich sexy, stellte Holly sachlich fest. Allerdings war Jack Armour viel mehr als ein Mann mit erotischer Ausstrahlung. Er hatte sofort gemerkt, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und noch nie hatte jemand versucht, ihr all ihre Geheimnisse zu entlocken. In gewisser Hinsicht war Jack Armour genauso entschlossen wie Brendan Sugrue. Eigentlich war er sogar fast so schlimm wie Homer.

Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter, doch sie riss sich zusammen. Niemand ist so schlimm wie Homer, erinnerte sie sich. Und genau aus diesem Grund war sie weggelaufen – und sie würde immer wieder weglaufen, bis sie fünfundzwanzig Jahre alt wäre und Brendans gerissene Anwälte ihr nichts mehr anhaben könnten. Du bist schon so weit gekommen, ermahnte sie sich, du darfst jetzt nicht aufgeben.

3. KAPITEL

Jack beendete das Telefongespräch und kam zurück. „Ich muss arbeiten“, sagte er kurz angebunden.

Holly nickte. „Ich warte, bis Ihr Freund mir meine Sachen bringt, und dann werde ich gehen.“

Aus irgendeinem Grund schien ihm dieser Vorschlag nicht zu gefallen. „Aber was machen Sie, wenn dieser Kerl herausfindet, wo Sie wohnen?“

Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Doch sie hatte gelernt, sie sich nicht von ihrer Angst lähmen zu lassen. Also hob sie das Kinn und erwiderte ein wenig schnippisch: „Dann werde ich die Wohnungstür eben nicht öffnen.“

Obwohl Jack erklärt hatte, er müsste arbeiten, rührte er sich nicht von der Stelle.

„Sie können hier bleiben. Ich habe Ihnen ein Zimmer reservieren lassen.“

„Das kann ich mir nicht leisten“, entgegnete Holly ruhig.

Jack klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Er schien voller aufgestauter Energie zu sein. Was würde wohl passieren, wenn er nicht so mit seiner Arbeit beschäftigt wäre? Oder wenn er sie berühren würde … Sie riss sich zusammen, bevor ihre Fantasie mit ihr durchging.

„Ich kann es mir nicht leisten“, wiederholte sie – und damit meinte sie nicht nur den Preis für das Zimmer.

„Aber ich kann es.“

Holly blickte ihn an. Sie wusste aus Erfahrung, dass man selten eine Unterkunft angeboten bekam, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wurde.

Jack schien ihre Gedanken zu erraten. „Sehen Sie mich nicht so an. Ich werde Ihnen nichts tun.“

„Die meisten Männer erwarten eben, dass man sich revanchiert.“

Er presste die Lippen zusammen. „Dann haben Sie sich mit den falschen Männern abgegeben“, bemerkte er nur. „Aber es ist ihre Entscheidung. Wenn Sie das Zimmer möchten – es ist für Sie reserviert.“

„Aber …“

„Und Sie müssen weder etwas dafür bezahlen noch sich sonst irgendwie ‚revanchieren‘“, fügte er kühl hinzu. „Gute Nacht.“ Und bevor ihr einfiel, wie sie ihn aufhalten konnte, war er gegangen.

Holly nickte ein und schreckte auf, als Ramon wiederkam und ihre Sachen brachte. Er trug ihren Flötenkoffer und eine Plastiktüte, in die er ihre fleckige Jeans und ihre Baumwolltasche gestopft hatte. Sie begann, darin herumzuwühlen.

„Falls Sie Ihren Pass suchen, der ist hier.“ Der Spanier reichte ihr das Dokument, wobei er ihr einen merkwürdigen Blick zuwarf.

Erleichtert nahm sie den Pass an sich.

„Geld oder Schlüssel habe ich nicht gefunden“, fügte er gewissenhaft hinzu.

Holly lächelte und zog ein paar gefaltete Banknoten aus der Hosentasche. „Ich nehme immer nur Geld für die Metro oder ein Taxi mit, wenn ich zum Arbeiten in den Club gehe. Und was meine Schlüssel betrifft …“ Sie schob den Ärmel zurück, und Ramon sah, dass sie ein Bettelarmband trug, an dem auch ein Schlüssel hing.

„Sehr vernünftig“, sagte er. „Wo ist denn Jack?“

Ihre Fröhlichkeit war plötzlich wie weggeblasen. „Er bekam einen Anruf und meinte, er müsse arbeiten.“

Ramon seufzte. „Schon wieder eine Nacht ohne Schlaf. Ich sollte besser herausfinden, was ich zu tun habe.“ Er zögerte. „Und was ist mit Ihnen?“

„Machen Sie sich um mich keine Gedanken“, beruhigte Holly ihn. „Ich werde schon zurechtkommen.“ Ich muss es, dachte sie. „Ich … ich nehme an, Brendan war nicht mehr da, als Sie in den Club kamen?“

„Nein. Sie brauchen sich seinetwegen keine Gedanken zu machen. Die Angestellten dort scheinen alle auf Ihrer Seite zu sein.“ Ramon trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte sich mit Gilbert unterhalten und einiges erfahren, was ihn überrascht und verwirrt hatte.

„Das ist sehr nett von ihnen.“ Holly holte die Querflöte, die der Barkeeper aufbewahrt hatte, und begann, sie auseinanderzunehmen. Vorsichtig legte sie das Instrument ins Köfferchen und ließ die Verschlüsse zuschnappen. „Sie waren wirklich sehr nett zu mir. Vielen Dank.“ Sie reichte ihm die Hand.

Ramon merkte, dass sie aufbrechen wollte. Zögernd schüttelte er ihr die Hand. „Sie sollten sich lieber bei Jack bedanken, nicht bei mir.“

„Ich bin Ihnen beiden dankbar.“

Was wird Jack wohl sagen, wenn er erfährt, dass ich sie einfach so habe gehen lassen? fragte der Spanier sich. „Wollen Sie nicht hier bleiben?“

„Nein.“

„Aber Jack erwartet sicher …“

„Er weiß, dass ich nach Hause fahre. Wir haben darüber gesprochen.“ Holly ging zur Tür. Ramon folgte ihr.

„Möchten Sie sich denn nicht einmal von ihm verabschieden?“

„Und ihn bei seiner Arbeit stören?“, fragte sie ironisch.

Er blickte sie so flehentlich an, dass sie stehen blieb. „Sie und Mr. Armour haben bereits viel mehr für mich getan, als man von Fremden erwarten kann“, erklärte sie freundlich. „Außerdem ist Brendan mein Problem, und ich muss selbst einen Weg finden, wie ich mit ihm fertig werde.“

„Weg?“

Jack wandte sich um und sah Ramon an. „Wusstest du, dass sie wegfahren wollte?“ Sein sonnengebräuntes Gesicht war aschfahl, und um seinen Mund zuckte es leicht.

Nervös trat der Spanier von einem Fuß auf den anderen. „Sie … sie hat sich noch bedankt“, erwiderte er unsicher.

Jack kniff die Augen zusammen und wandte sich an die Rezeptionistin. „Hat die junge Frau mir eine Nachricht hinterlassen?“

Die Frau ließ den Blick über die Postfächer gleiten. In seinem Fach waren zahlreiche Nachrichten, die sie ihm reichte. Einige Male zog er beim Überfliegen die Augenbrauen hoch. Doch die Nachricht, die er suchte, war nicht dabei.

Ramon seufzte. „Keine Nachricht von Holly Dent, stimmt’s?“

„Nein.“

„Also ist sie wieder einmal davongelaufen. Wenigstens haben wir so eine Sorge weniger.“

Jacks Miene versteinerte. Ramon seufzte erneut und beschloss, ihm zu erzählen, was er am vergangenen Abend von Gilbert erfahren hatte. „Jack, sie hat uns an der Nase herumgeführt. Der Besitzer des Clubs sagte, sie wäre auf der Flucht vor ihrem Ehemann.“

Schweigend betrachtete Jack ihn.

„Höchstwahrscheinlich ist dieser Brendan also gar nicht ihr Schwager“, wiederholte Ramon eindringlich. „Und du willst dich doch nicht zwischen eine Frau und ihren Ehemann stellen, oder?“

Er hatte es wohlweislich vermieden, „nicht noch einmal“ zu sagen, aber das war auch nicht nötig. Jack blickte ihn mit seinen dunklen Augen an, als würde er durch ihn hindurchsehen.

„Sie hatte furchtbare Angst.“ Er klang, als würde er mit sich selbst sprechen.

„Zumindest hat sie das behauptet.“ Ramon zögerte, doch dann beschloss er, Jack alles zu erzählen, was er wusste. „Ich habe ihren Flötenkoffer geöffnet. Der Name, der darin stand, war nicht Holly Dent.“

„Und welcher Name war es? Sugrue?“

„Ehrlich gesagt, darauf habe ich nicht so genau geachtet“, gab Ramon zu.

„Vermutlich warst du zu sehr damit beschäftigt, sie zur Tür zu geleiten, damit du sie endlich los sein würdest.“

Der Spanier war gekränkt. „Das ist nicht wahr. Ich habe ihr gesagt, du würdest erwarten, dass sie bleibt. Sie meinte, du wüsstest bereits, dass sie nach Hause fahren würde. Ich gebe zu, dass ich erleichtert darüber war. Aber ich habe sie nicht gedrängt zu gehen.“

Tief in Gedanken, drehte Jack den Stapel Nachrichten in den Händen hin und her. „Ich glaube nicht, dass das Mädchen verheiratet ist.“

Resigniert hob Ramon die Hände. „Weil du es nicht glauben willst.“

„Später hat sie wirklich Mut bewiesen. Als sie diesen Mann sah, hatte sie allerdings panische Angst“, erinnerte Jack sich. „Niemand sollte sich so fürchten müssen.“

„Als sie ging, sagte sie, Brendan sei ihr Problem und sie würde es irgendwie lösen. Offenbar wollte sie nicht, dass du dich einmischst.“

Nach einem kurzen Schweigen lachte Jack. „Das scheint mein Lebensmotto zu sein“, stellte er selbstironisch fest. Nach einem Moment fügte er hinzu: „Schon gut, Ramon, ich habe es verstanden. Holly Dent braucht keine Hilfe. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.“

Ramon sandte ein Dankesgebet zum Himmel.

Holly hatte sehr schlecht geschlafen. Im Traum war sie von einem großen Mann mit hohen Wangenknochen und dunklen Augen verfolgt worden. Als sie morgens aufwachte, war sie aschfahl, und ihre goldbraunen Augen wirkten unnatürlich groß. Sogar Pierre, dem überarbeiteten Küchenchef, fiel es auf.

„Du siehst furchtbar aus“, stellte er fest. „Hat dich dein Freund jetzt doch gefunden?“ Pierre war der Cousin von Gilbert. Durch ihn hatte sie den Job im Club Thaïs bekommen.

Sie band sich eine Schürze über ihre Jeans. „Er ist nicht mein Freund“, widersprach sie energisch.

Pierre fuhr fort, die Quiche zu füllen, die er gerade vorbereitete, und zog die Augenbrauen hoch. „Soll das heißen, er ist wirklich dein Mann? Ich dachte, diese Geschichte hast du nur für Gilbert erfunden.“

„Ach so“, platzte sie heraus, „du meinst Brendan.“

„Wen denn sonst?“

Holly errötete. Warum, um alles in der Welt, hatte sie nur an Jack Armour denken müssen? Sie drehte den Wasserhahn auf und schrubbte sich übertrieben kräftig die Hände ab. „Vergiss es“, meinte sie leise, „es ist nicht so wichtig.“

„Du konntest Monsieur Brendan also entkommen?“

„Bisher schon.“

„Ich habe die anderen gewarnt. Wenn der Typ noch einmal hier auftaucht, wird ihm niemand irgendetwas verraten.“

„Danke“, sagte Holly. Allerdings wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Brendan sie finden würde. Er hatte sie bisher überall aufgespürt: in Barcelona, in Dublin … Ihr blieb nichts übrig, als so bald wie möglich abzureisen. Sie teilte es Pierre mit, als sie allein in der Küche waren. „Ich möchte dich wirklich nicht im Stich lassen, aber ich wäre froh, wenn du bis zum Ende der Woche eine Nachfolgerin für mich finden könntest.“

Der junge Koch zog die Augenbrauen hoch. „So bald schon? Gehst du mit jemandem zusammen weg?“

Heftig schüttelte Holly den Kopf. „Nein. Ich bin immer allein unterwegs.“ Doch einen kurzen Moment lang musste sie an Jack Armour denken und wünschte … Schnell verdrängte sie den Gedanken wieder und rollte den Blätterteig so energisch aus, dass er fast durchsichtig wurde.

Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten Jack sehr wütend gemacht, wie das Internationale Katastrophenhilfekomitee deutlich zu spüren bekam.

Die Vorsitzende teilte ihm mit, das Komitee sei bereit, den Vertragsentwurf der Armour-Katastrophenhilfe im Detail mit ihm und Ramon zu besprechen. Drei Stunden später schien sie am Ende ihrer Kräfte zu sein. Der Kaffee war schon lange ausgetrunken, und auch die meisten Mineralwasserflaschen waren leer. Jack hingegen schien gerade erst zu Höchstleistungen aufzulaufen.

„Wie ich bereits erwähnt habe, sehr geehrte Frau Vorsitzende, basieren diese Zahlen auf der Annahme, dass alle Katastrophengebiete leicht zugänglich sind. Aber das ist, wie wir alle wissen, so gut wie nie der Fall. Deswegen sind die Berechnungen in der nächsten Version …“

Er verteilte jeweils zehn zusammengeheftete Blätter an alle Anwesenden. Vor kurzer Zeit hatten sie noch entsetzt und ungläubig ausgesehen, doch jetzt wirkten sie nur noch erschöpft. Ramon unterdrückte ein Grinsen.

„Vielleicht könnten wir eine kurze Pause machen“, schlug die Vorsitzende vor.

Jack bemühte sich, enttäuscht auszusehen, stimmte jedoch zu. Er und Ramon gingen hinaus auf den Flur.

„Willst du sie in Papierbergen ersticken lassen?“, fragte der Spanier leise.

Jacks Augen funkelten. „Nein. Ich tue so, als würden wir einen Betrag benötigen, der dreimal so hoch ist wie der, den wir eigentlich brauchen. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden sie meinem Kompromissvorschlag sofort zustimmen.“

Jack hatte recht, wie sich herausstellte.

„Ich werde unterzeichnen, sobald das Sekretariat das Schriftstück aufgesetzt hat“, versicherte die Vorsitzende.

Jack runzelte die Stirn. „Aber wir brauchen das Geld so bald wie möglich, um ohne Verzögerung mit dem Projekt in Ignaz fortfahren zu können.“

„Keine Sorge, Mr. Armour“, erwiderte sie ein wenig schadenfroh, denn sie wusste, dass er offizielle Auftritte vermied, so gut er konnte. „Sicher gehen Sie heute Abend zum Empfang des Präsidenten. Ich werde Ihnen den Vertrag per Boten dorthin senden.“

Und zum zweiten Mal musste Ramon sich das Lachen verbeißen.

Die Place des Abbesses war eine der alten Metrostationen, die noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten waren. Über die steinernen Stufen gelangte man von den Gleisen nach oben. Der Eingang der Station war von wunderschönen verschnörkelten Eisengeländern umgeben, und das Dach bestand aus Milchglas. Normalerweise blieb Holly immer stehen, um die elegante Eisenträgerkonstruktion zu bewundern, die sie immer an die kunstvoll gefalteten Hauben aus der Zeit Eduards VII. erinnerten.

Doch heute würdigte sie die schöne Architektur keines Blickes, ebenso wenig die bereits grünenden Bäume. Die warme Aprilsonne schien strahlend auf die weißen Gebäude, und Holly bemerkte es nicht einmal.

Wo soll ich nur als Nächstes hin? fragte sie sich. Nach Brüssel? Oder nach London? Brüssel war zu klein, dort würde Brendan sie noch schneller aufspüren als hier in Paris. Und der Gedanke an London rief schmerzvolle Erinnerungen in ihr wach. Warum tat es nur so weh, an die schönste Zeit ihres Lebens erinnert zu werden?

Tief in Gedanken, machte Holly sich auf den Weg zu ihrem kleinen, gemieteten Zimmer. Wie oft werde ich noch alles zusammenpacken und an einen anderen Ort fahren können? überlegte sie, während sie den Hügel hinaufging. Wie lange konnte sie sich noch einreden, es würde ihr nichts ausmachen, kein Zuhause zu haben?

Unwillkürlich musste sie wieder an Jack Armour denken, doch sie zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Schließlich hatte sie Jack am Vortag zum ersten Mal gesehen, und er war nicht gerade freundlich gewesen. Sie wollte ihn ganz bestimmt nicht wieder sehen.

Aber ich habe mich bei ihm geborgen gefühlt.

Einen Moment lang befürchtete sie, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Erschrocken blickte sie sich um, aber keiner der Touristen in ihrer Nähe schien etwas gehört zu haben. Sie machten Fotos, unterhielten sich angeregt und schienen sie gar nicht zu bemerken.

Wie kann ich nur so dumm sein? schimpfte sie insgeheim mit sich. Dieses Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit war nichts weiter als eine Illusion. Das Einzige, was sie sich erhoffen konnte, war, mit sich im Reinen zu sein. Männer würden dieses innere Gleichgewicht nur gefährden.

Vielleicht nicht alle Männer. Manche waren mitfühlend wie Pierre, der es wirklich gut mit ihr meinte. Andere hielten sich lieber aus allem heraus, wie Gilbert. Und dann gab es viel zu viele Männer, die meinten, die Probleme von Frauen lösen zu können, indem sie über deren Leben bestimmten. Diese durfte man auf keinen Fall an sich heranlassen. Wehmütig erinnerte Holly sich an ihre Mutter, die einen hohen Preis dafür hatte zahlen müssen, dass sie einem Mann zu sehr vertraut hatte.

Nein, am besten verlasse ich mich nur auf mich selbst, entschied sie. Manchmal fühlte sie sich zwar sehr allein. Doch mit Einsamkeit konnte sie umgehen – im Gegensatz zu der Gefühllosigkeit von Männern wie Brendan oder ihrem Vater, dem einflussreichen Geschäftsmann. Und deshalb würde sie ein für alle Mal aufhören, von Jack Armour zu träumen.

Schnell ging sie die steil ansteigende Straße hinauf. Ihr Zimmer lag direkt über einem Café, dessen romantische Geschichte eng mit den Schicksalen begabter Künstler und verarmter Musiker verflochten war. Das Essen war nicht besonders gut und das Gebäude sehr heruntergekommen, aber sie zahlte nur wenig Miete für das Zimmer und hatte keine Empfehlungen vorlegen müssen.

Holly ging ins Zimmer und begann, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, damit sie jederzeit abreisen könnte. Plötzlich klopfte es. Sie wirbelte herum und blickte starr zur Tür, ohne sich zu rühren. Wieder klopfte es, und die altersschwache Tür sprang auf, als hätte jemand sich dagegen geworfen.

„Keine Angst, ich bin es nur.“ Jack Armour trat ein und strich sich die Jacke glatt.

Als er ihr aschfahles Gesicht sah, kam er zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Sehen Sie mich nicht so an.“

Holly entwand sich seinem Griff. „Was … was tun Sie hier?“, flüsterte sie.

„Wir müssen uns unterhalten.“

Holly schloss für einen Moment die Augen. Ich fühle mich bei ihm geborgen, schoss es ihr wieder durch den Kopf. Sie verdrängte diesen verrückten Gedanken und öffnete die Augen. „Warum?“, fragte sie.

„Weil Brendan Sugrue bereits zweimal bei mir im Hotel war“, erwiderte er ruhig.

Holly wurde so blass, dass die Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen deutlich hervortraten. Mit dem langen Zopf sieht sie aus wie ein Schulmädchen, dachte Jack. Am liebsten hätte er ihr Gesicht umfasst und gerufen, sie solle ihm endlich vertrauen.

„Oh nein.“ Sie wirkte zu Tode erschrocken. „Was … was haben Sie ihm erzählt?“

„Glauben Sie wirklich, ich würde einem gewalttätigen Mann bereitwillig alles verraten, was ich über Sie weiß? Nicht, dass es besonders viel wäre“, fuhr er ironisch fort. „Sie haben ja wohlweislich darauf geachtet, mich im Unklaren zu lassen.“

Holly merkte, dass sie ihn verärgert hatte. „Bitte entschuldigen Sie. Es ist nur … Wie hat er das Hotel gefunden?“

„Brendan hat das Taxi gefunden, mit dem wir gestern Abend gefahren sind“, antwortete Jack. „Der Fahrer muss ihm erzählt haben, wohin er uns gebracht hat. Und im Hotel hat man ihm bestätigt, dass Sie dort waren. Ich habe leider nicht daran gedacht, die Angestellten zu warnen.“ Er sah sie eine Weile schweigend an. „Ist er wirklich Ihr Vormund, nicht etwa Ihr Ehemann?“ Seine Stimme klang ausdruckslos.

Holly blickte ihn starr an. „Wie bitte?“

„Ihr Mann. Oder vielleicht ein verstoßener Liebhaber.“

Sie war so überrascht, dass sie laut auflachte. Nun hatte ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekommen, wie Jack bemerkte. Ihre Haut sah samtweich aus. Wie sie sich wohl anfühlte?

„Meinen Sie das ernst?“

„Er scheint Sie jedenfalls unbedingt finden zu wollen.“

In ihren Augen flackerte es. „Er mag es nicht, wenn man sich ihm widersetzt.“

„Oder er ist in Sie verliebt.“

Energisch schüttelte Holly den Kopf. „Brendan liebt nichts außer seiner Arbeit.“ Ihre Stimme klang tieftraurig.

Er betrachtete eindringlich ihr Gesicht. Warum sah sie so verzweifelt aus? Wünschte sie, der Mann würde sie lieben?

„Waren Sie in ihn verliebt, und er hat Sie enttäuscht? Ist es das?“

Holly hob das Kinn. „Ich frage mich, was Sie das alles angeht …“

„Ich habe Ihnen gestern aus einer schwierigen Lage geholfen. Deshalb betrifft es mich“, unterbrach Jack sie ruhig.

Es herrschte betretenes Schweigen. Seine Miene war ausdruckslos, doch irgendetwas in seiner Stimme ließ Holly aufhorchen. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Atem schnell und unregelmäßig ging. „Ich habe nie die Hilfe anderer gebraucht.“

„Tatsächlich?“

„Bisher bin ich immer gut allein zurechtgekommen.“

Jack nickte. „Wie zum Beispiel gestern im Gebäude des Internationalen Katastrophenhilfekomitees – bevor ich eingegriffen habe?“

„Legen Sie es darauf an, sich mit mir zu streiten?“, fragte sie aufgebracht.

„Nein, ich bin nur realistisch“, erwiderte er lächelnd.

Holly betrachtete seine sinnlichen Lippen. Mit aller Macht musste sie sich in Erinnerung rufen, wie wütend sie war. „Ich bin seit meinem siebzehnten Lebensjahr auf mich selbst gestellt, und ich bin immer gut zurechtgekommen.“

„Ja, das merkt man“, stimmte Jack ihr ironisch zu.

Sie blickte sich um. Plötzlich sah sie das ärmliche, kleine Zimmer mit seinen Augen und errötete.

„Ich weiß, mein Zimmer ist nicht so luxuriös wie Ihr Hotel“, sagte sie trotzig. „Aber dieser Stadtteil hat eine sehr interessante Geschichte. Ich kann sonntags am selben Tisch frühstücken, wo Apollinaire Gedichte geschrieben und Utrillo gemalt hat.“

Er lächelte. „Kulturell ist er sicher sehr reizvoll“, stimmte er zu. „Aber Sie haben mich missverstanden. Ich habe keineswegs die Art kritisiert, wie Sie wohnen. Ich habe nur nicht den Eindruck, dass Sie mit Brendan Sugrue fertig werden.“

„Darüber wissen Sie doch gar nichts.“

Überrascht beobachtete sie, wie Jack ihre halb gepackte Tasche aufhob.

„Immerhin weiß ich, dass man Probleme nicht löst, indem man vor ihnen davonrennt.“

Ungläubig blickte Holly ihn an. „Stellen Sie das sofort wieder hin.“

„Damit Sie zu Ende packen und wieder weglaufen?“ Jack schüttelte den Kopf. „Und was kommt dann? Wieder eine neue Stadt, ein schäbiges Zimmer und ein paar schlecht bezahlte Jobs?“ Er stellte die Tasche ab und sah Holly eindringlich an. „Sie müssen Brendan gegenübertreten und die Angelegenheit ein für alle Mal klären.“

„Das werde ich auch – sobald ich fünfundzwanzig bin und er mir nichts mehr anhaben kann.“

Wieder schüttelte er den Kopf. „Aber bis dahin sind es noch drei Jahre!“

Trotz ihrer Angst verspürte Holly eine unbändige Freude. Sie hatte Jack bewusst so gut wie nichts über sich erzählt. Ihr Alter hatte sie ihm nur versehentlich verraten. Doch er hatte es sich gemerkt, als wäre es eine besonders wichtige Information.

„Warum wollen Sie drei Jahre verschwenden? Betrachten wir es einmal ganz nüchtern. Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie fechten das Testament an, oder Sie gehen eine Vernunftehe ein.“

Ungeduldig erwiderte Holly: „Das wäre natürlich eine Lösung. Damals gab es in Lansing Mills allerdings niemanden, den ich hätte fragen können. Und jetzt …“

„Jetzt könnten Sie mich fragen.“

Sie war so überrumpelt, dass es ihr für eine Weile die Sprache verschlug. Dann strich sie sich die zerzausten Strähnen aus der Stirn. „Natürlich“, erwiderte sie gespielt lässig, „ich heirate einfach den erstbesten Mann, der mir über den Weg läuft – ob ich ihm vertraue oder nicht.“

„Wollen Sie damit sagen, dass es irgendwo auf der Welt einen Mann geben könnte, dem Sie vertrauen?“, fragte Jack ironisch.

„Eine Heirat kommt für mich nicht infrage“, erklärte Holly kurz angebunden. Sie stellte ihre Tasche aufs Bett und begann, die Dinge einzupacken, die sich im Nachtisch befanden. Ihre Hände zitterten leicht.

Er sah es und ballte die Hände zu Fäusten. „Was ist so schlimm daran, Brendan Sugrue gegenüberzutreten?“

Einen Moment lang hielt Holly inne. Sie blickte nicht auf, doch er beobachtete, wie sie schluckte.

„Wenn Sie sich ihm nicht stellen und wieder weglaufen, wird er Sie weiterhin verfolgen – und der Teufelskreis beginnt von Neuem. Warum setzen Sie sich nicht einfach mit ihm zusammen und einigen sich auf einen Kompromiss?“

Holly sah ihn noch immer nicht an, als sie ausdruckslos erwiderte: „Brendan macht keine Kompromisse.“

Von der Straße drang Lärm zu ihnen herauf. Jack blickte aus dem Fenster.

„Hat dieses Gebäude eine Feuertreppe?“

„Was?“ Holly lief zum Fenster und sah eine untersetzte Gestalt den Hügel hinaufkommen. Sie wurde aschfahl und hielt sich am Fensterrahmen fest.

Jack überlegte eine Weile angestrengt. Dann zog er einige Banknoten aus der Hosentasche und reichte sie ihr. „Ich werde ihn abwimmeln. Bitte nehmen Sie ein Taxi, und treffen Sie mich später in meinem Hotel.“

Holly blickte ihn an, als würde sie ihn gar nicht wahrnehmen. Schließlich nickte sie heftig.

Er umfasste ihr Kinn. „Misstrauen Sie mir noch immer?“

Sie senkte den Blick.

„Darüber werden wir später sprechen. Bis dahin müssen Sie mir versprechen, nicht mehr auszureißen.“

Holly blinzelte überrascht. „Gut, ich verspreche es.“

„Gut. Dann also bis nachher.“

Jack strich ihr sanft über die Wange, wandte sich um und ging. Sie hörte, wie er leichtfüßig die Treppe hinunterlief. Sekunden später wurde die Haustür mit einem lauten Knall zugeschlagen.

Vorsichtig sah Holly aus dem Fenster und bemerkte Brendan und Jack, die sich offenbar stritten. Dann lachte Jack spöttisch und begann, den Hügel hinunterzulaufen. Nach kurzem Zögern rannte Brendan ihm nach – offenbar in dem Glauben, Jack würde ihn zu ihr führen.

Schnell stopfte sie den Rest ihrer Sachen in ihre Tasche, nahm den Flötenkoffer und eilte hinaus.

Jetzt bin ich also doch in dem Zimmer gelandet, das er für mich reserviert hat, dachte sie kurze Zeit später. Sie hatte sich ein wenig beruhigt und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Die Vorstellung, dass Jack letzten Endes seinen Willen durchgesetzt hatte, missfiel ihr sehr. Als er an ihre Tür klopfte, war Holly in einer sehr streitlustigen Stimmung.

Jack schien es allerdings nicht aufzufallen. „Kein sehr liebenswerter Mensch, Ihr Schwager“, stellte er fest und ging an ihr vorbei ins Zimmer. „Aber immerhin wird er uns zumindest für ein paar Stunden nicht belästigen, hoffe ich.“

Er legte seine Aktentasche auf den kleinen Schreibtisch in der Ecke und setzte sich. Es gefiel Holly nicht, ignoriert zu werden. Wollte er ihr nicht einmal erzählen, was er zu Brendan gesagt hatte?

„Was machen Sie da?“, fragte sie.

Überrascht blickte er sie an. „Ich schalte meinen Computer ein.“

Sie sah, dass sich in seiner Tasche ein Laptop befand. „Das hier ist nicht Ihr Büro“, erklärte sie empört.

„Natürlich nicht“, stimmte Jack amüsiert zu. „Kein moderner Mensch arbeitet heute noch in einem Büro. Und jetzt …“ Er wandte den Blick von dem kleinen Bildschirm ab und drehte sich zu ihr um. „… lassen Sie uns darüber reden, wie wir unser Problem lösen können. Weglaufen funktioniert nicht. Sie wollen Brendan nicht gegenübertreten. Also bleibt nur noch Heiraten.“

„Vielen Dank für diese brillante Analyse, aber …“

„Es steht Ihnen nicht, sarkastisch zu sein“, unterbrach er sie ruhig und drehte sich wieder zum Computer um.

Holly verspürte den starken Drang, mit irgendetwas zu werfen. Dann würde er wenigstens seine Aufmerksamkeit von dem kleinen Bildschirm losreißen.

„Ich soll Sie heiraten? Lieber würde ich …“

Jack wandte sich um und blickte ihr in die Augen. „… mit Brendan Sugrue sprechen?“

Sie schwieg.

„Also nicht. Das hatte ich erwartet.“ Wieder widmete er sich dem Laptop. „Ich gebe zu, jemanden zu heiraten, dem man nicht traut, ist keine sehr schöne Vorstellung. Unter anderen Umständen würde so etwas für mich gar nicht infrage kommen. Deshalb …“ Er beugte sich vor und nahm einige Blätter aus einem Seitenfach seiner Aktentasche, wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus seinem Hut zog. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, reichte er sie ihr. „Mein Lebenslauf.“

„Und was soll ich damit tun?“

„Wie wäre es mit Lesen?“, schlug er ironisch vor. Als der Computer plötzlich piepste, beugte Jack sich vor und gab schnell einige Befehle ein. Über die Schulter sagte er zu ihr: „Sie trauen mir unter anderem deshalb nicht, weil Sie mich nicht kennen. In dem Lebenslauf finden Sie alle wichtigen Informationen über mich. Aber zuerst brauche ich noch Ihren Pass.“

„Wozu?“

Er schnippte mit den Fingern. „Um verschiedene Möglichkeiten zu überprüfen.“

„Warum sollte ich Ihnen meinen Pass geben?“, fragte Holly trotzig.

„Weil es um Sie geht und nicht um mich“, erklärte er geduldig, als würde er mit einem Kind reden.

Sie gab nach und reichte ihm den Pass.

Jack blätterte ihn durch und füllte einige Felder auf dem Computerbildschirm aus. Lässig erkundigte er sich: „Warum haben Sie einen englischen Pass? Ich dachte, Sie stammen aus einer amerikanischen Kleinstadt?“

„Meine Mutter war Engländerin“, erwiderte sie kurz angebunden. „Ich habe in London gelebt, bis ich fünfzehn war.“

Wieder füllte er etwas aus. „Und warum lautet der Name in Ihrem Pass ‚Holly Anne Dent‘, während auf dem Schild Ihres Flötenkoffers ‚Holly Lansing‘ steht?“

Holly hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie so unvorsichtig gewesen war. „‚Lansing‘ ist der Name meines Vaters“, gab sie widerstrebend zu. Falls Jack der Name Lansing etwas sagte und er wusste, dass ihr Vater ein großes, internationales Unternehmen besessen hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Um vom Thema abzulenken, vertiefte sie sich in die Blätter, die Jack ihr gegeben hatte. „‚Amerikanischer Staatsbürger. Geboren in Manila. Ledig, keine Kinder. Princeton, Cambridge, Osaka‘“, las sie vor. „‚Smart Buildings Ltd., Weltbankprojekt … Vorstandsvorsitzender und Hauptaktionär der Armour-Katastrophenhilfe, Hauptgeschäftssitz in Delaware, Tochtergesellschaften in Florida, Nagoya, Japan und Shropshire, England. Publikationen, E-Mail-Adresse … Wohnhaft in …‘“ Sie blickte auf. „Dieses Feld ist leer. Sie wohnen also nirgends?“

„Ich bin so gut wie immer unterwegs. Die Angestellten meines Büros in Miami wissen allerdings immer, wo ich mich gerade befinde.“

„Sie haben kein Zuhause?“

Jack hämmerte unnötig heftig auf der Tastatur herum. „Vor ein paar Jahren habe ich ein Haus in England gekauft, aber ich fahre nicht oft dorthin.“

„Warum nicht?“

Er blickte starr auf den Bildschirm. „Ich hätte das Haus gar nicht erst kaufen sollen – es war eine verrückte, romantische Idee. Investitionen in Immobilien sind nicht gerade meine Stärke.“ Offenbar wollte er nicht mehr zu diesem Thema sagen.

„Ihre Familie lebt also nicht in England?“, erkundigte Holly sich.

„Ich habe überall auf der Welt Familienmitglieder.“

„Ich meine Ihre Eltern und Geschwister.“

Jack wandte den Blick nicht vom Bildschirm ab. „Eltern tot. Keine Geschwister.“

Es klang so gleichgültig, dass ihr unter anderen Umständen ein Schauer den Rücken hinuntergelaufen wäre. Doch sie hatte das Gefühl, dass seine Gelassenheit nur gespielt war.

Vorsichtig fragte sie: „Und wo haben Sie als Kind gelebt?“

„Mein Dad war beim Militär, meine Mutter kam aus Ecuador. Als ich acht Jahre alt war, ließen sie sich scheiden. Meine Mutter ging zurück in ihre Heimat. Ich bin vom einen zum anderen gezogen, bis meine Mutter starb. Danach bin ich in den USA zur Schule und später aufs College gegangen. Ich zog von zu Hause weg, als ich sechzehn Jahre alt war. Seitdem habe ich nie wieder mit jemandem zusammengelebt.“

Plötzlich verspürte Holly Mitleid für Jack, unterdrückte es allerdings sofort. Jack Armour brauchte kein Mitleid. Und selbst wenn sie sich bei ihm geborgen fühlte – um keinen Preis durfte sie Gefühle investieren. Sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen, indem sie ungeduldig mit den Blättern herumwedelte. „Das hier sagt mir überhaupt nichts. Gibt es wirklich ein Unternehmen, das Smart Buildings Ltd. heißt?“

Jack lächelte. „Ja. ‚Smart Buildings‘ ist ein Begriff für Häuser, die unterschiedlichen Bedingungen und Bedürfnissen optimal angepasst werden. Ich habe sehr lange in dieser hoch technologisierten Branche gearbeitet. Irgendwann wurde mir klar, dass man diese Technik sinnvoller einsetzen konnte. Deshalb habe ich die Armour-Katastrophenhilfe gegründet.“

„Dann sind Sie also Wissenschaftler“, stellte Holly überrascht fest.

Er runzelte die Stirn. „Ich sehe mich eher als jemand, der Probleme löst. Sie haben auch eins – ein sehr dringendes.“

„Und Sie glauben, dass Sie es aus der Welt schaffen können?“

„Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen. Und ich kann nachvollziehen, dass Sie nicht leicht Vertrauen zu anderen Menschen fassen. Deshalb müssen Sie erst einiges über mich wissen, bevor Sie meinen Rat annehmen. Sie können mir glauben, dass die in meinem Lebenslauf erwähnten Unternehmen die wichtigsten im Bereich der Katastrophenhilfe sind. Heute Abend gehen Ramon und ich zu einem Empfang, auf dem auch zahlreiche Vertreter dieser Firmen sein werden. Deshalb sollten Sie mit uns kommen.“

Sie traute ihren Ohren nicht. „Sie wollen mit mir ausgehen?“

„Es ist keine Verabredung, sondern eine rein geschäftliche Angelegenheit. Sie haben sozusagen die Gelegenheit, meine Referenzen zu überprüfen.“

Am liebsten hätte sie ihm sehr drastisch gesagt, was sie von seinem Vorschlag hielt. Doch schließlich fragte sie nur: „Und was soll ich anziehen?“

„Nichts Besonderes“, erwiderte Jack ungerührt. „Ein Hosenanzug reicht völlig.“

Holly musste lachen. „Glauben Sie im Ernst, ich würde so etwas besitzen?“

„Nein, eigentlich nicht“, gestand er ein wenig verlegen. „Vielleicht …“

„Ich könnte ein kleines Schwarzes tragen.“

„Zeigen Sie es mir.“

Es war ein billiges Stretchkleid aus Satin mit langen Ärmeln, das über dem Knie endete.

Jack nickte. „Das müsste in Ordnung sein.“

Es war eine Untertreibung, wie Jack feststellte, als er und Ramon später in ihren Smokings auf Holly warteten. Als die selbstbewusste, junge Frau das Hotelfoyer betrat, erkannte er sie zuerst nicht. Sie hatte das goldbraune Haar locker hochgesteckt, sodass ihr schlanker Hals und ihre langen, bunten Ohrringe zu sehen waren. Das eng anliegende Kleid betonte ihre Figur.

Jack war verblüfft. Was er sah, war kein schüchternes Mädchen in einem billigen Kleid, sondern eine junge Frau, die Selbstbewusstsein und Gelassenheit ausstrahlte. Er hatte Holly kampflustig und ängstlich erlebt. Immer hatte sie sehr jung und verletzlich gewirkt. Die Frau mit der erotischen Ausstrahlung hingegen war eine neue Erfahrung – und sie behagte ihm nicht sonderlich. Doch das gestand er sich nicht ein. Stattdessen verhielt er sich den ganzen Abend über höflich, aber äußerst kühl. Gastgeber und Gäste waren gleichermaßen eingeschüchtert. Nur Holly schien es nicht zu beeindrucken.

„Sind Sie eigentlich nie nett zu anderen Menschen?“, fragte sie, nachdem er einem etwas aufdringlichen Verleger eiskalt eine Abfuhr erteilt hatte. „Der Mann hat schließlich nur seine Arbeit gemacht.“

„Dieser Mensch“, erklärte er, „verschwendet meine Zeit.“

„Und ich dachte, Sie wären für einen freundlichen Umgang mit Ihren Mitmenschen“, neckte sie ihn.

„Wenn man eine verrückte Frau mit einer Kamera auf die Menschheit loslässt, hört bei mir die Freundlichkeit auf“, erwiderte er, ohne nachzudenken.

Verwirrt sah Holly ihn an. „Was für eine Frau?“

Jack bereute bereits seine voreilige Bemerkung. „Ach, nur eine Fotografin, die für ihn arbeitet und ins Katastrophengebiet nach Ignaz gekommen war. Ich habe nichts gegen sie, nur gegen ihre merkwürdigen Ideen.“

Sie lächelte schalkhaft. „Frauen sollten also keine eigenen Ideen haben? Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, wie veraltet Ihre Einstellungen sind?“

„Es geht lediglich darum, dass ich nicht bei einem Shooting für ein Modemagazin mitmachen wollte!“, rief er verärgert.

„Die Fotografin wollte Sie als Model haben? Als Model wofür, um alles in der Welt? Beamtenmode?“, erkundigte sie sich ungläubig.

Das wirkte. Er betrachtete sie entgeistert. „Was?“

Er klingt nicht gerade begeistert, dachte Holly zufrieden. Sie hatte ein halbes Glas weißen Portwein getrunken, der sie in eine übermütige Stimmung versetzt hatte.

„Sie sind doch so etwas wie ein Beamter, oder?“ Sie machte eine ausladende Geste, wobei sie ein wenig Wein auf den weichen Teppich verschüttete. „Ich habe mir Ihren Lebenslauf genau durchgelesen. Für mich klingt es so, als würden Sie in erster Linie Berichte schreiben und zu Konferenzen gehen“, fügte sie ein wenig verächtlich hinzu.

Jack war sprachlos. „Wir stellen Notunterkünfte in Katastrophengebieten auf“, antwortete er schließlich kurz angebunden. „Zu den Konferenzen muss ich notgedrungen gehen, um die nötigen finanziellen Mittel aufzubringen.“

„Oh, bitte entschuldigen Sie.“ Versöhnlich legte sie ihm die Hand auf den Arm, erzielte damit allerdings nicht die gewünschte Wirkung, denn Jack erstarrte.

Holly zog die Hand zurück und lachte verunsichert. Sie versuchte, die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern. „Warum machen Sie denn so ein böses Gesicht?“

„Das tue ich doch gar nicht.“

„Und ob.“ Holly trank einen Schluck Portwein und lachte.

„Sind Sie immer so eine Nervensäge?“, fragte er gereizt.

Jack sollte sie lieber für eine Nervensäge halten als merken, wie unsicher sie war. „Ich tue mein Bestes“, erwiderte sie fröhlich.

„Dann wundert es mich, dass Ihre Familie Sie zurückhaben will.“

Kaum hatte Jack die Worte ausgesprochen, bereute er es schon. Ihr Lächeln verschwand. Er sah, wie Holly von schmerzvollen Erinnerungen überwältigt wurde, und hätte sich vor Wut ohrfeigen können.

„Ich muss mich entschuldigen. Das hätte ich wirklich nicht sagen sollen.“

Nach einem kurzen Schweigen erwiderte sie: „Es ist nicht weiter schlimm.“

Doch den Rest des Abends war sie schweigsam. Und als sie wieder im Hotel waren, wollte Holly nicht mit Ramon und ihm in die Bar, sondern verabschiedete sich kurz angebunden und ging auf ihr Zimmer. Jack fluchte leise.

Ramon bestellte zwei Gläser Brandy, und sie setzten sich an einen Tisch. Die Bar war noch immer gut besucht.

„Was willst du unternehmen, um ihr zu helfen?“, erkundigte Ramon sich ohne Umschweife.

„Die beste Möglichkeit für sie wäre, mich zu heiraten.“

„Und wenn eine Heirat nicht infrage kommt?“

Jack zuckte ein wenig nervös die Schultern. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Vielleicht könnte ich eine Stelle für sie finden oder den Kontakt zu Leuten herstellen, die ihr eine Unterkunft und eine Beschäftigung geben können. Eventuell wäre auch eine Rechtsberatung hilfreich. Ich verstehe nur nicht …“

„Da kommt sie“, unterbrach Ramon ihn.

Holly zwängte sich zwischen den anderen Gästen hindurch. Ihr Gesicht war aschfahl. Jack sprang auf.

„Was ist passiert?“

„Brendan war hier“, flüsterte sie und reichte ihm einen Zettel. Ihre Hand zitterte.

Jack stopfte sich das Papier in die Hosentasche. Dann legte er Holly den Arm um die Schultern und ließ den Blick über die Gäste in der Bar gleiten.

„Ich kann ihn nirgends entdecken.“

„Er wird zurückkommen.“ Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Er führte sie zur Tür. „Dann lassen Sie uns besser gehen. Kommst du, Ramon?“

Sie brachten Holly auf ihr Zimmer, wo sie sich in einen Sessel sinken ließ. Jack warf einen flüchtigen Blick auf die mit schwarzem Stift gekritzelte Nachricht. Er setzte sich Holly gegenüber hin und betrachtete sie besorgt. „Ihr Schwager wird schon merken, dass er hier in Frankreich nicht einfach jemanden kidnappen kann.“

Holly hatte die Hand auf einen kleinen Beistelltisch gelegt. Sie zitterte so stark, dass die Anhänger an ihrem Armband klirrten. Jack legte seine große Hand beruhigend auf ihre.

„Niemand kann Ihnen etwas vorschreiben, auch nicht Brendan. Ich bin sicher, dass Sie mit ihm fertig werden.“ Seine Stimme klang ruhig und gar nicht überheblich.

„Er hat recht“, pflichtete Ramon ihm bei.

Holly schluckte. „Nein, das … das kann ich nicht.“

„Wir werden bei Ihnen sein.“

„Sie verstehen das nicht. Ich kann nicht!“

„Dann werde ich Ihnen ein Anwalt besorgen …“

„Das habe ich schon versucht. Die einzige sichere Möglichkeit wäre eine Heirat. Alles andere …“ Die Stimme versagte ihr. „Die Gerichtsverhandlungen könnten sich über Monate hinziehen, und währenddessen könnte er …“

„Warum haben Sie solche Angst vor ihm?“, fragte Jack sanft.

Sie schloss die Augen. „Ich habe das Gefühl, in seiner Gegenwart zu ersticken.“

„Dann hören Sie auf, ständig wegzulaufen, und heiraten Sie jemanden, in dessen Gegenwart Sie keine Angst haben“, erklärte er ruhig.

Holly öffnete die Augen. „Sie meinen, ich soll Sie heiraten.“ Sie zitterte immer stärker.

Ihre Blicke trafen sich. Um seinen Mund zuckte es leicht. „Ja.“

Eine innere Stimme ermahnte Holly, Nein zu sagen. Und vielleicht hätte sie es getan, wenn Jack ihr nicht so behutsam die Jacke um die Schultern gelegt hätte …

„Sie brauchen nichts zu tun, was Sie nicht möchten“, beruhigte er sie sanft. Das Zittern ließ nach.

Sag Nein! Sag Nein!

„Gut, ich werde Sie heiraten.“

4. KAPITEL

Danach war alles so einfach. Es erschreckte Holly, wie schnell ein Verfahren über die Bühne ging, das ihr ganzes Leben verändern würde. Sie sprach Jack darauf an, als sie einander gegenüber im Zug saßen, der durch den Eurotunnel fuhr.

„Was haben Sie denn erwartet?“

„Es geht doch immerhin um eine Ehe.“ Ein Schauer lief Holly den Rücken hinunter. „Ich finde, es sollte nicht so einfach sein.“

Er lachte und beugte sich zu ihr. Einen Moment lang glaubte sie, er würde sie berühren. Sie hielt den Atem an und wünschte, er würde es tun. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor, denn sie wusste nicht …

Jack sah, wie angespannt sie war. Seine Miene verschloss sich. „Möchten Sie etwa, dass jemand Einspruch gegen unsere Eheschließung erhebt? Zum Beispiel Brendan Sugrue?“

Holly zuckte zusammen. „Nein, natürlich nicht.“

„Dann sagen Sie mir jetzt lieber, was für einen Ring Sie haben möchten.“

„Was?“

„Wenn Sie ohne Ring nach Sugar Island kommen, wird uns niemand glauben, dass wir verlobt sind.“

Auf der Karibikinsel Sugar Island sollten sie getraut werden, denn dort war eine schnelle Eheschließung ohne großen bürokratischen Aufwand möglich. Holly merkte, wie Jack den Blick über sie gleiten ließ. Sie errötete. „Ist es denn so wichtig, was sie denken?“, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

„Das finde ich schon. Außerdem sollten wir uns von jetzt an duzen, um überzeugender zu wirken.“ Er lächelte, aber sie stellte fest, dass seine Augen ernst blieben.

In London nahm er sie mit in ein Juweliergeschäft. Die Pracht der unzähligen Edelsteine überwältigte Holly. Sie konnte sich nicht entscheiden. Schließlich wies er ungeduldig auf einen riesigen Diamanten. Widerstrebend ließ sie sich den Ring anstecken. Seine Hand berührte ihre, und Holly spürte seinen Pulsschlag im ganzen Körper. Verwirrt blickte sie ihn an.

Doch er hatte sich bereits abgewandt und seine Kreditkarte herausgeholt. Wieder einmal ignorierte er sie. Einerseits war sie froh darüber, andererseits verletzte es sie, dass er sie so oft übersah.

Und nach wie vor wurde sie aus ihm nicht schlau. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worüber er nachdachte. Als er sie zu seinem Haus in der Nähe der walisischen Grenze brachte, das sich als kleines Schloss erwies, war er ihr noch immer so fremd wie zu Anfang. Während er in seinem Arbeitszimmer beschäftigt war, streifte sie durch das alte Gebäude. Sie fand allerdings nicht einmal ein Buch oder ein altes Foto, das ihr darüber Aufschluss hätte geben können, wer er wirklich war.

Am nächsten Tag brachte Jack sie zum Londoner Flughafen Gatwick. Als er sich von ihr verabschiedete, war Holly ganz benommen. Noch immer wusste sie über ihn nur das, was in seinem Lebenslauf stand. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr absichtlich nichts von sich preisgab.

War es ein Fehler, ihn zu heiraten?

Als Holly vor dem luxuriösen Ferienhäuschen stand, das Jack für sie gebucht hatte, stellte sie sich diese Frage noch immer. Ihr offenes Haar wehte in der Brise und strich ihr sanft über die nackten Schultern. Die Geräusche der karibischen Nacht erfüllten die Luft. Holly zitterte. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.

Sie war bereits seit zwei Tagen auf Sugar Island. Jack hatte alles in die Wege geleitet und Paula Vincent, eine einheimische Frau, beauftragt, alles Weitere zu organisieren, bis er ankommen würde.

Oft war Holly sich nicht sicher, ob sie das alles nur träumte. Noch nie hatte sie sich bei jemandem so geborgen gefühlt wie bei Jack – und noch nie hatte jemand sie so verunsichert. Und als sie allein unter dem karibischen Sternenhimmel stand, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben befand. Von jetzt an würde sie nicht mehr frei und ungebunden sein.

„Und ich dachte, ich würde inzwischen alle Arten kennen, auf die man sich fürchten kann“, sagte sie, tief in Gedanken.

„Wie bitte?“ Paula Vincent kam aus der Terrassentür des Häuschens.

Holly erschrak. „Nichts, ich habe nur mit mir selbst geredet.“

Paula nickte und sah sie mit ihren dunklen Augen freundlich an. Sie hatte sie vom Flughafen abgeholt und war ihr seitdem kaum von der Seite gewichen. Holly rieb sich frierend die Arme.

Paula bemerkte es und erklärte schuldbewusst: „Ich werde Ihnen ein warmes Schultertuch holen. Das Kleid ist wirklich nicht für eine mitternächtliche Hochzeit geeignet.“ Sie ging hinein.

Holly rang sich ein Lächeln ab. In gewisser Weise war es tatsächlich Paulas Schuld, dass sie fror. Denn ohne die Hochzeitsberaterin von Sugar Island würde sie jetzt nicht ein schulterfreies, knöchellanges Kleid aus cremefarbenem Stoff, sondern wie gewohnt Jeans und ein T-Shirt tragen.

Eine leichte Brise trug den salzigen Geruch des Meeres herauf. Zuckerrohr und Palmwedel bewegten sich sanft im Wind. Die Luft war erfüllt vom Zirpen der Zikaden, und aus einiger Entfernung hörte man das Rauschen der Wellen, die an den Strand schlugen.

Holly umklammerte das Holzgeländer der Terrasse so krampfhaft, dass der neue Diamantring ihr förmlich in die Haut schnitt. Am ersten Tag hatte sie ihn abgenommen. Sie war es nicht gewohnt, so wertvollen Schmuck zu tragen, und hatte Angst gehabt, ihn zu verlieren. Doch Jack beharrte darauf, dass sie ihn trug. Er nahm den Ring wieder aus dem mit Samt ausgeschlagenen Kästchen und streckte die Hand aus. Sie legte die Hände unter dem Tisch in ihren Schoß wie ein trotziges Kind. „Ich stehe schon viel zu tief in deiner Schuld.“

„Es ist kein Geschenk, sondern sozusagen Teil unserer Tarnung“, sagte Jack kurz angebunden. „Wenn du willst, dass man unsere Geschichte glaubt, musst du deine Rolle richtig spielen.“ Er legte den Ring zurück ins Kästchen, klappte es zu und stellte es auf den Tisch.

„Es ist deine Entscheidung.“ Seine Stimme hatte sehr sanft geklungen.

Und sie hatte beschlossen, den Ring zu tragen – nicht weil es notwendig war, um den Schein zu wahren. Sondern weil sie es wollte. Diese Erkenntnis erschreckte Holly. Sie befürchtete, dass sie gegen eine der Regeln verstieß, die ihre Mutter ihr vermittelt hatte: „Lass niemals einen Mann zu viel Macht über dich erlangen, sonst wird er dir das Herz brechen.“

Aber wenn man jemanden nicht liebt, kann er einem auch nicht das Herz brechen. Und zum Glück liebe ich Jack Armour nicht.

Paula kam auf die Terrasse. In einer Hand hielt sie ein Schultertuch, in der anderen ein klingelndes Handy. Sie reichte ihr das bunte Tuch mit den Fransen und nahm den Anruf entgegen.

„Hallo, bist du es, Paul?“

Holly legte sich den weichen Stoff um die Schultern, doch er schien sie nicht zu wärmen. Paula war in das Telefongespräch vertieft und hörte mit gerunzelter Stirn dem Anrufer zu. Ungeduldig sagte sie jetzt: „Dann haltet Ihr eben den Flughafen geöffnet, bis er ankommt.“ Offenbar widersprach der Mann am anderen Ende der Leitung, aber Paula ließ keine Einwände gelten. „Erinnere ihn einfach daran, was Jack Armour nach dem Hurrikan für uns getan hat.“ Sie schenkte ihr ein schalkhaftes Lächeln.

Es folgte ein kurzes Schweigen. Holly wusste selbst nicht, warum sie den Atem anhielt.

„Du meine Güte, der Mann möchte heute Abend heiraten! Willst du der Braut etwa das Herz brechen?“

Bei dem Wort „Braut“ zuckte Holly zusammen.

Paula deutete ihre Reaktion falsch. „Seine zukünftige Frau ist schon ganz aufgelöst“, teilte sie ihrem Gesprächspartner mit. „Entweder sorgst du dafür, dass Jack rechtzeitig ankommt, oder ich werde allen erzählen, wer daran Schuld hatte, dass die Trauung abgesagt werden musste.“ Sie klappte das Telefon zusammen und blickte Holly aufmerksam an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Holly schüttelte den Kopf, sodass die langen Locken ihr über die Schultern strichen. Auch das war Paulas Überredungskünsten zuzuschreiben. „Honey, Sie können unmöglich mit einem geflochtenen Zopf zu Ihrer eigenen Hochzeit gehen“, hatte sie gesagt. Also wusch und bürstete Holly sich das goldbraune Haar, bis es ihr seidenweich über die Schultern fiel. Paula war sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Als Holly in den Spiegel geblickt hatte, war sie erschrocken gewesen. Noch nie hatte sie so hübsch ausgesehen – und so weiblich.

„Jack wird rechtzeitig ankommen“, versuchte Paula sie jetzt zu beruhigen. „Er gibt auch in schwierigen Situationen nicht auf – und er hält seine Versprechen immer.“

„Sie … sie müssen ihn sehr gut kennen“, brachte Holly hervor.

Paula glaubte, sie wäre eifersüchtig. „Keine Angst, ich bin eine anständige Frau. Ich liebe diesen Mann wie meinen Bruder, das ist alles.“

„Mir ist kalt.“ Holly wandte sich abrupt um, ging hinein und holte ihre alte Jeansjacke. Sie hatte einige Löcher und war nicht ganz sauber, aber warm. Holly musste daran denken, wie Jack ihr in Paris diese Jacke um die Schultern gelegt hatte. Sie barg das Gesicht in dem rauen Stoff, der schwach nach Jack roch. Tief in Gedanken, atmete sie den Duft ein. Was tue ich hier nur?

Aber sie wusste, dass es zu spät war, um sich das zu fragen. Sie hatte Jack ihr Wort gegeben – und sie hielt ihre Versprechen immer. Das war eine Regel, gegen die sie auch während der schwierigen Zeit als Teenager nie verstoßen hatte. Und nach dem, was Paula gesagt hatte, schien es eine Gemeinsamkeit zwischen ihr, Holly, und Jack zu sein.

Sie kehrte auf die Terrasse zurück. „Jetzt ist mir wieder warm.“

Paula sah sie eindringlich an. „Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Schließlich ist es mein Beruf, Hochzeiten zu organisieren.“

„Wahrscheinlich macht das Warten mich nervös.“

Paula nickte verständnisvoll. „Auf Sugar Island ist man daran gewöhnt, dass die Flugzeuge Verspätung haben. Für Sie ist es natürlich etwas anderes. Aber ich verspreche Ihnen, dass Jack kommt“, fuhr sie lächelnd fort. „Jemand wird ihn von Barbados herfliegen. Und der Flughafen bleibt geöffnet, bis er gelandet ist.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte Holly.

„Ich habe die Verantwortlichen nur daran erinnert, wie Jack uns geholfen hat.“

„Was hat er denn getan?“

Erstaunt zog Paula die Augenbrauen hoch. „Hat er Ihnen das nicht erzählt? Vor einigen Jahren hat ein Hurrikan die Insel verwüstet. Jack kam damals mit einer internationalen Hilfsmannschaft her.“

„Ich weiß, dass sein Unternehmen Notunterkünfte herstellt, aber …“

„Ja, sie produzieren Zelte und so weiter. Aber Jack war hier. Er hat mit angepackt und ist nicht eher abgereist, bis jeder von uns ein Dach über dem Kopf hatte.“

Holly konnte sich gut vorstellen, wie Jack das Problem analysiert und dann jedem mitgeteilt hatte, was er zu tun hatte – gelassen und ohne eine Gefühlsregung.

„Seitdem hat er sehr viele Freunde auf Sugar Island.“

Die Bewohner von Sugar Island schienen Jack zu mögen und ihm auch zu vertrauen. Dieser Gedanke hätte sie beruhigen sollen. Doch wenn Holly an Jack dachte, war er ihr noch immer fremd: ein großer, schlanker Mann mit dunklen Augen, dessen Schweigsamkeit sie verwirrte und der ihr manchmal wie ein Bergsee erschien – still, tief und unergründlich. Jack und sie würden heute Abend ein Gelübde ablegen, das keiner von ihnen ernst meinte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ihr noch keinen einzigen Grund genannt hatte, warum er entschlossen war, sie zu heiraten.

Sie legte den Kopf zurück und blickte in den sternenklaren Himmel. Ihr war kalt bis ins Mark, aber das hatte nichts mit der kühlen tropischen Nacht zu tun.

Er kann mich nicht verletzen. Ich bin nicht in ihn verliebt.

Plötzlich fragte eine innere Stimme: Wirklich nicht?

Ruhig bleiben, befahl Holly sich. Hat er dir je zu verstehen gegeben, dass er dich attraktiv findet? Nein. Würdest du es dir wünschen? Nein. Langsam fühlte sie sich besser. Er hat mich noch nicht einmal richtig geküsst, dachte sie. Worüber machte sie sich eigentlich solche Sorgen?

Paulas Handy klingelte erneut und riss Holly aus ihren Gedanken.

„Hallo, Vinny. Wie geht’s?“

Holly konnte hören, was die Frau am anderen Ende der Leitung sagte. Es gab gute Neuigkeiten. Das Flugzeug war gelandet. Jack hatte bereits die Pass- und die Zollkontrolle hinter sich. In einer halben Stunde würden sich alle in Haven Beach am Strand treffen.

„Es geht los“, kündigte Paula an und lächelte strahlend. „Sie werden nicht vor dem Altar sitzen gelassen.“

„Da bin ich aber erleichtert.“ Holly rang sich ein Lächeln ab.

Paula hatte noch nie eine Braut erlebt, deren Augen so viel Angst ausdrückten. Da sie Jack sehr gern hatte, hoffte sie inständig, dass Holly nur wegen der bevorstehenden Trauung nervös war. „Möchten Sie noch einen letzten Drink als freie Frau?“, versuchte sie sie zu beruhigen.

Frei? überlegte Holly entsetzt. Doch dann riss sie sich zusammen. Sie und Jack würden eine Vernunftehe eingehen. Das war ihnen beiden bewusst. Es gab keinen Grund, zu glauben, er wolle sie zu irgendetwas zwingen. Im Gegensatz zu Homer Whittard, Brendans Cousin, wollte Jack sie ohne Hintergedanken heiraten. Er war einfach ein sehr praktisch veranlagter Mann mit einem ausgeprägten Beschützerinstinkt. Nur warum fühlte sie sich dann in seiner Nähe oft so unsicher?

Weil ich es nicht gewohnt bin, dass jemand sich um mich kümmert, redete Holly sich ein. Es bestand wirklich kein Anlass, in Panik zu geraten. Alles würde sich zum Besten wenden.

„Hier.“ Paula drückte Holly ein Glas in die Hand. „Ein Fruchtcocktail. Möchten Sie ein bisschen Rum, um das Feuer der Leidenschaft anzufachen?“ Sie lächelte schalkhaft.

Einen Moment lang war Holly wie versteinert. All die Dinge, die eine Braut normalerweise unter diesen Umständen empfinden würde, brachen wie eine Flutwelle über sie herein und verschlugen ihr den Atem. Nach einem kurzen Moment hatte sie sich wieder gefangen und schüttelte schweigend den Kopf.

Paula seufzte. Sie hatte gehofft, die angespannte Atmosphäre mit einem kleinen Scherz etwas auflockern zu können. „Also gut“, sagte sie betont munter, „Sie haben jetzt zum letzten Mal die Gelegenheit, sich als Junggesellin zurechtzumachen. Inzwischen sage ich Proteus Bescheid.“

Proteus war, wie sich herausstellte, der Taxifahrer, der Holly mit Paula vom Flughafen abgeholt hatte. Er war auch der Barkeeper des Hotels und der Trauzeuge. Das Auto, das sie zur Hochzeitsfeier bringen sollte, war ein mit Blumen geschmückter Strandbuggy, der mit quietschenden Bremsen vor der Terrasse zum Stehen kam.

Paula gab Holly einen flüchtigen Kuss. „Viel Glück. Wir sehen uns nachher bei der Party.“ Sie ging los.

Proteus betrat die Terrasse. „Schade, dass Sie den Sonnenuntergang verpasst haben. Aber die Nacht wird auch sehr schön.“

Holly nickte. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und sie zitterte. Das liegt am Adrenalin, redete sie sich ein, es ist keine böse Vorahnung. Sie war froh, sich über ein unverfängliches Thema unterhalten zu können. „Finden die Hochzeiten hier immer bei Sonnenuntergang statt?“

Proteus lächelte. Seine strahlend weißen Zähne leuchteten in der Dunkelheit. „Das kommt darauf an. Wenn die beiden Eheleute romantisch sind, heiraten sie bei Sonnenaufgang. Wenn sie eine große Party wollen, heiraten sie bei Sonnenuntergang. Und Jack wollte seine Hochzeit schon immer groß feiern.“

Holly war sprachlos. Sie hatte geglaubt, Jack hätte sich nur deshalb für eine Trauung auf Sugar Island entschieden, weil es an jedem anderen Ort zu lange gedauert hätte, die notwendigen Dokumente zu besorgen. Aber jetzt hatte sie den Eindruck, dass Sugar Island praktisch sein Zuhause war und seine Freunde hier schon lange darauf warten, mit ihm seine Hochzeit feiern zu können.

Proteus schien an etwas zurückzudenken und lächelte. „Er kam nach dem Hurrikan auf unsere Insel und brachte all diese niedlichen kleinen Zelte mit.“

„Ja, davon hat Paula mir erzählt. Aber ich wusste nicht, dass Sie und Jack so enge Freunde sind.“

„Jack, Paulas Mann Roy und ich haben gemeinsam den Notgenerator auf dieser Seite der Insel aufgebaut. Wir haben Jack danach eingeladen, uns mit seiner Lady zu besuchen, wenn hier alles wieder aufgebaut sein würde. Und dann sagte Paula: ‚Lass dich hier bei uns trauen. Dann werden wir die schönste Strandhochzeit der Welt für dich organisieren.‘“

„Ich verstehe“, erwiderte Holly leise. Warum war ihr nie der Gedanke gekommen, dass ein so attraktiver Mann wie Jack vielleicht schon eine Freundin hatte, die er heiraten wollte? Aber wo war sie? Und warum würde er sie, Holly, heiraten?

„Es war trotzdem eine Überraschung für uns, als Jack uns sagte, er würde tatsächlich hier heiraten. Aber so ist er nun einmal – er kommt einfach, ohne sich lange vorher anzukündigen. Wir freuen uns jedenfalls alle sehr.“

Neugierig erkundigte sie sich: „Ist der Flughafen wirklich extra für ihn geöffnet geblieben?“

„Natürlich.“

„Nur weil sein Unternehmen nach dem Hurrikan die Notunterkünfte aufgebaut hat?“

Wie Paula wies auch Proteus ein wenig entrüstet darauf hin, dass Jack viel mehr als nur seine Pflicht getan hatte. „Jack hat mit uns zusammen viele Menschen aus eingestürzten Häusern befreit. Viele Bewohner der Insel wurden seine Freunde. Sie werden alle nachher an den Strand kommen, um auf Sie beide anzustoßen und zu tanzen.“ Er lächelte strahlend. „Ich freue mich wirklich sehr, Ihr Trauzeuge sein zu dürfen“, fügte er hinzu. „Jack hat erzählt, dass Sie so viele Verpflichtungen haben. Er hat allerdings nicht erwähnt, wie jung Sie noch sind.“ Erneut lächelte er. „Als ich Sie vom Flughafen abgeholt habe, dachte ich zuerst, Sie wären noch ein Schuldmädchen“, gab er zu.

„Ich fliege nicht gern, und das merkt man mir sicher an“, antwortete Holly schnell. Sie wollte noch mehr darüber erfahren, was Jack den Inselbewohnern erzählt hatte. Sie hatte den Verdacht, dass er über eine ganz andere Frau gesprochen hatte. „Wann hat Jack Ihnen von mir erzählt? War es direkt nach dem Hurrikan?“

Proteus nickte.

Offenbar hatte er seine unbekannte Freundin also heiraten wollen. Warum, um alles in der Welt, hatte er es nicht getan? Holly überlegte angestrengt. Schließlich riss sie sich zusammen und fragte: „Wann fahren wir los?“

„Sobald Sie möchten. Jack müsste inzwischen schon am Strand sein.“

Mit dem Mut der Verzweiflung hob sie das Kinn und stieg in den Strandbuggy.

Die Party am Strand war bereits in vollem Gange. Fackeln steckten in langen Haltern im Sand. Dann und wann kam eine Windbö vom Meer und ließ die Flammen aufflackern. Ein Baldachin war aufgebaut worden, und jemand spielte Blues auf einem Saxofon.

Und überall waren Menschen! Einige Männer trugen Uniformen oder Anzüge, manche sogar mit Schlips. Andere waren in Jeans oder Shorts erschienen, und einige trugen jene weiten, dreiviertellangen Hosen, in denen sie wie Seeleute aus dem achtzehnten Jahrhundert wirkten. Bei den Frauen gab es alles – vom glitzernden Cocktailkleid bis zum Hosenanzug. Viele Gäste, sowohl Männer als auch Frauen, waren in farbenprächtige Batikgewänder gekleidet. Die Hautfarben rangierten von Tiefschwarz bis zu einem hellen Milchkaffeebraun.

Holly betrachtete die bunte Szene aufmerksam, als wollte sie das alles malen. Sie war so fasziniert, dass sie eine Zeit lang die Worte vergaß, die ihr unaufhörlich im Kopf herumgingen: Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich tue. Ich werde es ganz sicher bereuen …

Sie sah Jack, sobald Proteus ihr aus dem Auto geholfen hatte – eine große, imposante Gestalt. In der Menschenmenge war er der Einzige, den sie im Schein der Fackeln wahrnahm. Vielleicht lag es an seiner Regungslosigkeit, an der Art, wie er sich umdrehte und sie durchdringend anblickte. Inmitten der bunt gekleideten Menschen, des flackernden Lichts und der Palmen schien er der einzige ruhende Pol zu sein. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung, der sie magisch anzog. Holly schluckte und ging vorsichtig einige Schritte über den weichen Sand. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Sämtliche Menschen am Strand schienen Freunde von Jack zu sein. Sie umringten ihn, jubelten ihm zu und waren offenbar überglücklich, seine Hochzeit mit ihm feiern zu dürfen. Holly betrachtete die vielen Gäste. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt – und sie hatte viel Erfahrung mit Einsamkeit.

„Sind Sie bereit?“, fragte Paula Vincent. Sie strich ihr das Kleid glatt und nahm ihr das Umschlagtuch ab. Offenbar fand sie, dass die Braut nicht damit zum Altar schreiten konnte.

Ihr langes Haar wehte in der kühlen Brise. Dann spürte Holly seinen Blick. Jack sah sie mit seinen dunklen, geheimnisvollen Augen durchdringend an. Am liebsten hätte sie sich das Tuch wieder umgelegt, um sich vor ihm zu verstecken. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und ihr Herz schlug heftig.

Er betrachtete sie unablässig, während er mit einem großen, dunkelhäutigen Mann sprach. Dieser nahm daraufhin ein Buch zur Hand. Er trug ein schwarzes Gewand mit weißem Kragen und war offenbar der Geistliche, der sie trauen würde.

Ihr Herzschlag war so laut und heftig wie das Geräusch einer Trommel, das niemand außer ihr hören konnte. Holly hatte das Gefühl, dass sie träumte. Wie aus weiter Ferne hörte sie jetzt das Saxofon eine süße und getragene Melodie spielen. Die fröhlichen Gäste verstummten. Ihre flachen Sandaletten machten kein Geräusch, als sie über den feuchten Sand durch die Menschenmenge ging.

Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, und vergeblich versuchte sie, es zurückzustreichen. Sie merkte, dass Jack es betrachtete. Der dünne Stoff ihres Brautkleids flatterte leicht in der Brise. Wieder spürte sie seinen eindringlichen Blick, und plötzlich dachte sie: Jack will mich berühren. Obwohl sie sich einsamer fühlte als je zuvor, war sie erfüllt von einer freudigen Erregung und hatte das Gefühl, dass das größte Abenteuer ihres Lebens begann.

Schließlich stand sie neben Jack. Wie groß und muskulös er war! Sein Körper strahlte Wärme und Stärke aus. Noch nie hatte sie sich einem Mann gegenüber so verletzlich gefühlt. Er berührte sie nicht und nahm noch nicht einmal ihre Hand. Doch sie spürte seinen Blick, so sinnlich wie eine Liebkosung. Er will mich berühren, dachte sie erneut und begann zu zittern.

Autor

Cathy Gillen Thacker
<p>Cathy Gillen Thacker ist eine Vollzeit-Ehefrau, - Mutter und – Autorin, die mit dem Schreiben für ihr eigenes Amusement angefangen hat, als sie Mutterschaftszeit hatte. Zwanzig Jahre und mehr als 50 veröffentlichte Romane später ist sie bekannt für ihre humorvollen romantischen Themen und warme Familiengeschichten. Wenn sie schreibt, ist ihr...
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