Ein skandalös perfekter Lord

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Benedict Carsington, Lord Rathbourne, ist das Ideal eines Aristokraten - so perfekt, dass es schon fast ein Skandal ist. Groß und gut aussehend, mit tadellosen Manieren, weiß er sich in jeder Situation zu behaupten. Doch was passiert, wenn ein solches Musterexemplar von Mann auf eine Frau trifft, die alles andere als perfekt ist?


  • Erscheinungstag 12.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737740
  • Seitenanzahl 256
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Leseprobe

1. KAPITEL

Egyptian Hall, Piccadilly, London
September 1821

Er stand an den Fensterrahmen gelehnt und bot den Anwesenden im Ausstellungssaal eine formidable Rückansicht seiner hochgewachsenen, wohlproportionierten und kostspielig gekleideten Gestalt. Die Arme schien er vor der Brust verschränkt und seine Aufmerksamkeit dem Fenster zugewandt zu haben, wenngleich er durch das dicke Glas vermutlich kaum mehr als einen verschwommenen Blick auf Piccadilly erhaschen konnte.

Offensichtlich war indes, dass die Exponate – jene von Giovanni Belzoni in Ägypten entdeckten Wunder – sein Interesse nicht zu wecken vermochten.

Die Frau, die ihn verstohlen musterte, fand, dass er das perfekte Bild eines gelangweilten Aristokraten abgab.

Überaus selbstsicher. Absolut souverän. Makellos gekleidet. Groß. Dunkelhaarig.

Er sah zur Seite und präsentierte ein erwartungsgemäß nobles Profil.

Doch er war keineswegs, was sie erwartet hatte.

Ihr stockte der Atem.

Benedict Carsington, Viscount Rathbourne, wandte sich ab von dem dick verglasten Fenster und der verschwommenen Aussicht, die es auf das lebhafte Treiben draußen bot – auf Pferde und Fußgänger, Fuhrkarren und Karossen. Innerlich seufzend, richtete er seinen dunklen Blick in den Ausstellungssaal, wo man den Tod zur Schau stellte.

„Belzonis Grab“ – so der Titel der Ausstellung, in der die von dem berühmten Altertumsforscher in Ägypten gemachten Funde gezeigt wurden – hatte sich seit der Eröffnung am ersten Mai als durchschlagender Erfolg erwiesen. Wider besseres Wissen hatte Benedict sich mit eintausendneunhundert weiteren Besuchern am Tag der Eröffnung eingefunden. Dies war nun sein dritter Besuch, und wieder wünschte er sehnlichst, anderswo zu sein.

Das alte Ägypten übte auf ihn keineswegs dieselbe Faszination aus wie auf viele seiner Verwandten. Selbst sein unbedachter Bruder Rupert war dem Zauber erlegen – vielleicht weil das heutige Ägypten einem so mannigfaltige Möglichkeiten bot, sich in unbedachte Abenteuer zu stürzen und um Haaresbreite am Tod vorbeizuschrammen. Doch Rupert war ganz gewiss nicht der Grund, weswegen Lord Rathbourne einen weiteren endlos scheinenden Nachmittag in der Egyptian Hall zubrachte.

Der Grund seiner Anwesenheit saß am anderen Ende des Saals: Benedicts Neffe, der zugleich sein Patenkind war – der dreizehnjährige Peregrine Dalmay, Earl of Lisle und einziger Spross von Benedicts Schwager, dem Marquess of Atherton. Der Junge zeichnete gerade mit großer Sorgfalt Belzonis Modell der berühmten Zweiten Pyramide ab, deren Eingang der Forscher vor drei Jahren entdeckt hatte.

Sorgfalt, so würden Peregrines Lehrer einen wissen lassen – und so hatten sie es Peregrines Vater wissen lassen, und das nicht nur einmal –, zählte nicht zu Lord Lisles hervorstechendsten Charaktereigenschaften.

Ging es jedoch um irgendetwas auch nur annähernd Ägyptisches, konnte Peregrine von geradezu wundersamer Ausdauer sein. Seit zwei Stunden waren sie schon hier, aber es war nicht zu erkennen, dass seine Begeisterung nachließe. Jeder andere Junge wäre vor spätestens eindreiviertel Stunden unruhig geworden und nach draußen gestürmt, um sich auszutoben.

Doch wäre Peregrine jeder andere Junge gewesen, hätte Benedict ihn auch nicht persönlich in die Egyptian Hall begleiten müssen. Er hätte einen Diener geschickt, um das Kindermädchen zu spielen.

Peregrine indes war nicht jeder andere Junge.

Er sah aus wie ein Engel. Offenes, helles Antlitz. Flachsblondes Haar. Klare graue, absolut arglose Augen.

Wie der Schein trügen konnte.

Um Königin Caroline und ihre Anhänger von der Krönung des Königs im Juli diesen Jahres fernzuhalten, waren einige Boxer unter der Aufsicht von „Gentleman“ Jackson einbestellt worden. Gemeinsam mochte es diesen Burschen gelingen, den Frieden zu wahren, wenn Lord Athertons Erbe zugegen war.

Von derlei brachialen Maßnahmen abgesehen, war der einzige Mensch, der auf Lord Lisle einen nennenswerten Einfluss hatte, Benedict – oder vielmehr: der einzige außer dem Earl of Hargate, Benedicts Vater. Aber Lord Hargate vermochte jeden einzuschüchtern – jeden außer seiner Frau –, und würde sich zudem kaum dazu herablassen, auf anstrengende Sprösslinge aufzupassen.

Ich hätte ein Buch mitbringen sollen, dachte Benedict. Er verkniff sich ein Gähnen und ließ den Blick zu einer der zahlreichen Reproduktionen aus einem Pharaonengrab schweifen. Während er das Flachrelief betrachtete, versuchte er nachzuvollziehen, was Peregrine und andere Ägyptophile daran so reizvoll fanden.

Benedict sah drei Reihen recht primitiv gezeichneter Figuren. Eine ganze Kolonne von Männern, deren Bärte sich aufwärts wellten, und die sich allesamt vorlehnten, die Arme aneinandergepresst. Zwischen den Figuren vereinzelte Hieroglyphen. Lange Reihen von Hieroglyphen über ihren Köpfen.

In der mittleren Reihe zogen vier Figuren ein Boot mit drei weiteren Figuren darin. Ein paar sehr lange Schlangen belebten die Szene. Über ihren Köpfen noch mehr Hieroglyphen, reihenweise. Vielleicht redeten die Figuren ja? Waren Hieroglyphen womöglich der ägyptische Vorläufer der Sprechblasen in zeitgenössischen Karikaturen?

Ganz unten marschierte eine weitere Figurenkolonne unter einer Hieroglyphenreihe entlang, doch diese Figuren hatten andere Gesichtszüge und Frisuren als die oberen. Wahrscheinlich Fremde. Am Ende der Reihe entdeckte Benedict eine Gottheit, die sogar ihm bekannt war: Thot, der ibisköpfige Gott der Wissenschaft. Selbst Rupert, an den eine teure Bildung gänzlich verschwendet worden war – ebenso gut hätte Lord Hargate das Geld an die Ziegen verfüttern können, und das Ergebnis wäre dasselbe gewesen –, würde Thot mit seinem Ibiskopf erkennen.

Was der Rest bedeuten sollte, blieb der Fantasie überlassen, und Benedict hielt seine Fantasie – und noch einiges andere mehr – strikt unter Verschluss.

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem anderen Ende des Saals zu.

Seinem Blick boten sich wenig Hindernisse. Für die beau monde hatte sich der Reiz des Neuen längst verflüchtigt. Selbst das gemeine Fußvolk verbrachte einen so schönen Nachmittag lieber draußen an der frischen Luft als zwischen antiken Gräbern.

Somit sah Benedict sie klar und deutlich.

Zu klar und zu deutlich.

Einen Moment lang war er geblendet – so, als wäre er aus einer Höhle in die grelle Mittagssonne getreten.

Sie wandte ihm das Profil zu, wie die Figuren hinter ihr an der Wand. Sie betrachtete eine Statue.

Unter dem Rand einer hellblauen Haube sah Benedict schwarze Locken hervorschauen. Lange schwarze Wimpern auf perlweißer Haut. Einen Mund wie eine reife rote Pflaume.

Sein Blick schweifte abwärts.

Ihm wurde beklommen ums Herz.

Er bekam kaum noch Luft.

Regel: Nur der Ungebildete, der Einfältige und der Pöbel glotzt.

Er zwang sich, seinen Blick abzuwenden.

Das Mädchen schaute Peregrine über die Schulter. Er versuchte, die Störung zu ignorieren, aber sie stand ihm im Licht. Kurz sah er zu ihr auf, dann schnell wieder in sein Skizzenbuch, doch hatte es genügt, um zu sehen, dass sie die Arme verschränkt, die Stirn gerunzelt und die Lippen gespitzt hatte, als sie auf seine Zeichnung starrte. Er kannte diesen Blick. Es war ein Lehrerblick.

Sie musste sein kurzes Aufschauen als Einladung verstanden haben, denn sie fing an zu reden. „Ich hatte mich gewundert, weshalb du dir ausgerechnet das Modell der Pyramide ausgesucht hast“, sagte sie. „Es besteht nur aus geraden Linien und Winkeln. Die Mumie in dem Sarkophag wäre viel spannender. Aber jetzt verstehe ich, wo das Problem liegt. Du kannst überhaupt nicht zeichnen.“

Sehr langsam und bedächtig wandte Peregrine den Kopf und sah zu ihr auf. Als er sie genauer betrachtete, erschrak er. Ihre Augen waren so blau, dass sie gar nicht wie richtige Augen, sondern wie Puppenaugen aussahen.

„Wie bitte?“, sagte er in jenem Ton eisiger Höflichkeit, den er von seinem Onkel gelernt hatte. Sein Vater war zwar Marquess und somit Mitglied des Oberhauses, während sein Onkel derzeit nur den Ehrentitel Viscount Rathbourne trug, aber Onkel Benedict beherrschte die Kunst der gnadenlosen Zurechtweisung weit besser als Peregrines Vater. Geradezu berühmt war er dafür. Wenn er zu höflicher Hochform auflief, so hieß es, konnte Lord Rathbourne siedendes Öl aus zehn Schritt Entfernung gefrieren lassen.

Bei Peregrine funktionierte das mit der eisigen Höflichkeit nicht gar so gut.

„In Signor Belzonis Buch ist ein Querschnitt der Pyramide abgebildet“, klärte das Mädchen ihn mit einer Selbstverständlichkeit auf, als habe er es gebeten weiterzuplappern. „Möchtest du nicht lieber ein Souvenir von einer der Mumien haben? Oder von der Göttin mit dem Löwenkopf? Meine Mutter könnte dir eine absolut brillante Abbildung anfertigen. Sie kann nämlich ganz vorzüglich zeichnen.“

„Ich brauche kein Souvenir“, beschied Peregrine. „Ich werde nämlich selber Entdecker und eines Tages massenhaft solche Sachen mit nach Hause bringen.“

Das Mädchen hörte auf, die Lippen zu spitzen. Auch der strenge Blick verschwand. „Du meinst, ein richtiger Entdecker wie Signor Belzoni?“, fragte sie. „Oh, das müsste grandios sein, so etwas zu machen!“

Sosehr er sich auch mühte, Peregrine schaffte es einfach nicht, seine Begeisterung in echter Lord-Rathbourne-Manier zu bändigen. „Nichts könnte grandioser sein“, schwärmte er. „Entlang des Nils erstrecken sich Tausende Meilen Land, das es zu entdecken gilt. Wer schon dort war, sagt zudem, dass das, was man sieht, nur wie die Spitze eines Eisbergs sei, weil die eigentlichen Schätze nämlich unter Sand begraben liegen. Und wenn wir erst mal die Hieroglyphen zu lesen gelernt haben, werden wir auch wissen, wer was gebaut hat und wann. Derzeit ist das alte Ägypten für uns noch wie das frühe Mittelalter: ein großes Mysterium. Aber ich werde zu jenen gehören, die seine Geheimnisse lüften. Es wird sein, als würde man eine gänzlich neue Welt entdecken.“

Die blauen Puppenaugen des Mädchens wurden noch größer. „Oh, eine Schatzsuche! Und wahrlich ein nobles Ansinnen. Du wirst Licht in das finstere Mittelalter des alten Ägyptens bringen! Ich gehe auch gern auf Schatzsuche. Wenn ich groß bin, will ich Ritter werden.“

Fast hätte Peregrine sich den Finger ins Ohr gesteckt, um sich zu vergewissern, dass mit seinen Ohren alles in Ordnung war. Doch weil er seinen Onkel in der Nähe wusste und er sich genau den Blick vorstellen konnte, mit dem Rathbourne ihn bedenken würde, wenn er das täte, widerstand er dem Impuls. Stattdessen sagte er: „Wie bitte? Könntest du das wiederholen? Mir war, als hättest du gesagt, du wolltest Ritter werden?“

„Genau das habe ich gesagt“, erwiderte sie. „So wie die Ritter der Tafelrunde. Ich würde Sir Olivia sein, der tapferste aller Ritter, und mich mit noblen Ansinnen auf gefahrvolle Missionen begeben, edle Taten vollbringen, Unrecht wiedergutmachen …“

„Das ist lächerlich“, unterbrach Peregrine sie.

„Nein, ist es nicht“, sagte sie.

„Natürlich ist es das“, beschied Peregrine, wenngleich geduldig, da sie ein Mädchen und logisches Denken ihr somit fremd war. „Erstens sind König Artus und seine Tafelrunde nichts weiter als ein Mythos, für den es nicht mehr historische Beweise gibt, als die Ägypter für ihre Sphinxen und ibisköpfigen Götter erbringen konnten.“

„Ritter ein Mythos!“ Sie riss ihre großen blauen Augen noch weiter auf. „Und was ist mit den Kreuzzügen?“

„Ich habe nicht behauptet, dass es keine Ritter gab“, stellte Peregrine klar. „Es gab sie und gibt sie noch. Aber ritterliche Wundertaten und heldenhaften Kämpfe mit Ungeheuern sind nichts weiter als Mythen. In der Historia von Hochwürden Beda wird Artus nicht einmal erwähnt.“

Und so fuhr er fort, zitierte historische Quellen, die jenen Krieger bezeugten, aus dem die Artus-Legende sich speisen mochte. Peregrine erklärte ihr, wie daraus im Laufe der Jahrhunderte eine romantische Rittergeschichte gesponnen worden war, der ganz nach Belieben noch Wunder und Fabelwesen und religiöse Bedeutung beigefügt wurden. Schließlich war die Kirche damals sehr mächtig gewesen und dichtete allem eine religiöse Bedeutung an.

Dann tat er seine eigenen Ansichten bezüglich der Religion kund – eben jene Ansichten, die dazu geführt hatten, dass er reihenweise der Schulen verwiesen worden war. Aus Rücksicht auf ihr kleineres und weniger breit gebildetes, da weibliches Gehirn, beschränkte er sich jedoch auf die vereinfachte Kurzfassung.

Als er kurz innehielt, um Luft zu holen, sagte sie verächtlich: „Das ist deine Meinung – wissen tust du es nicht. Es ist möglich, dass es den Heiligen Gral gab. Gut möglich auch, dass es Camelot gab.“

„Ich weiß, dass es keine Drachen gab“, beharrte er. „Also kannst du auch keine erlegen. Und selbst wenn es welche gäbe, könntest du sie nicht erlegen.“

„Aber es gab Ritter!“, rief sie. „Und ich kann auch Ritter werden!“

„Nein, kannst du nicht“, sagte er, nun noch geduldiger, weil sie so bedauernswert verblendet war. „Du bist ein Mädchen. Mädchen können keine Ritter werden.“

Da riss sie ihm sein Skizzenbuch aus den Händen und schlug es ihm um die Ohren.

Das Verhängnis wäre abzuwenden gewesen, hätte Bathsheba Wingate ihrer Tochter ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewidmet.

Doch ihre Aufmerksamkeit war abgelenkt.

Verzweifelt versuchte sie, ihren Blick nicht zu dem blasierten Aristokraten schweifen zu lassen … zu seinen langen Beinen, deren wohldefinierte Muskeln von dem wollenen Hosenstoff so ansehnlich umrissen wurden … den Stiefeln, deren dunkler Glanz jenem seiner Augen entsprach … den ellenbreiten Schultern, lässig an den Fensterrahmen gelehnt … dem hochmütig gehobenen Kinn und der anmaßenden Nase … den dunklen, gefährlich gelangweilt blickenden Augen.

Bathsheba kam sich wie eine betörte sechzehnjährige Miss vor, obwohl sie doch eine nüchterne Matrone war, die doppelt so viele Jahre zählte. Fast könnte man meinen, sie hätte nie zuvor einen gut aussehenden Aristokraten zu Gesicht bekommen, wohingegen sie derer doch einige gekannt und gar einen geheiratet hatte. Sie vergaß sich, doch es kümmerte sie wenig, zu vergessen, wer sie war.

Eine ganze Weile hatte sie einfach nur dagestanden und versucht, sich auf die alten Ägypter statt auf ihn zu konzentrieren. Sie war sich nicht bewusst gewesen, wie derweil die Minuten verstrichen, in denen Olivia längst eine der schrecklicheren Szenen aus der Apokalypse hätte nachspielen können.

Während sie wie gebannt war und ihr das Herz so schnell schlug, dass ihr kaum noch Zeit und Raum zum Atmen blieb, hatte Bathsheba ganz vergessen, dass sie überhaupt eine Tochter hatte.

Deshalb waren ihr auch die Warnsignale entgangen – bis es zu spät war.

Der Krach, ein empörter Aufschrei, und die vertraute Stimme, die schrie: „Du alter Doofkopf!“ ließen sie ahnen, dass es zu spät war und brachen zugleich den Bann. Sie eilte dem Tumult entgegen und entwendete Olivia das Skizzenbuch, bevor diese es noch quer durch den Saal schleuderte – und ein unersetzliches Kunstwerk zertrümmerte.

„Olivia Wingate“, sagte Bathsheba, bemüht, ihre Stimme nicht zu erheben, in der Hoffnung, so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich zu erregen. „Ich bin schockiert, zutiefst schockiert.“ Das war eine schändliche Lüge. Bathsheba wäre nur dann schockiert gewesen, wäre es Olivia gelungen, eine halbe Stunde unter zivilisierten Menschen zuzubringen, ohne unangenehm aufzufallen.

Sie wandte sich dem flachsblonden Jungen zu, dem jüngsten Opfer ihrer Tochter. Er lag nahe seinem umgestürzten Sitzschemel auf dem Boden und rappelte sich langsam auf. Argwöhnisch musterte er sie, der Blick seiner grauen Augen wachsam.

„Ich habe ihm erzählt, dass ich Ritter werden will, wenn ich groß bin, und er hat behauptet, dass Mädchen keine Ritter werden könnten“, teilte Olivia ihrer Mutter mit vor Wut bebender Stimme mit.

„Lisle, es erstaunt mich, wie du eine Regel so leichtfertig missachten konntest, die für das menschliche Überleben geradezu grundlegend ist“, ertönte eine ausnehmend tiefe Stimme rechterhand von Bathsheba. Der Klang schoss ihr den Rücken hinab und dann wieder hinauf, um sich auf Höhe ihres Nackens einzunisten und empfindlich zu flattern. „Gewiss habe ich dir mehr als nur einmal gesagt“, fuhr die Stimme fort, „dass ein Gentleman niemals einer Dame widersprechen sollte.“

Bathsheba drehte sich nach der Stimme um.

Ah ja, natürlich.

Von allen Jungen auf der weiten Welt hatte Olivia sich ausgerechnet mit dem anlegen müssen, der zu ihm gehörte.

Sie war eine jener Frauen, die beim bloßen Überqueren einer Straße Unfälle herbeiführen können.

Eine jener Frauen, denen Warnschilder vorangehen sollten.

Aus der Ferne betrachtet, war sie atemberaubend.

Nun stand sie in Reichweite.

Und nun …

Einst, während eines unbedachten Jungenstreiches, war Benedict vom Dach gestürzt und hatte kurzzeitig das Bewusstsein verloren.

Nun stürzte er in Augen wie tiefblaues Meer und schien abermals das Bewusstsein zu verlieren. Die Welt schwand dahin, sein Verstand ebenso, und es blieb nur eine Vision von perlweißer Haut und Lippen so rot wie reife Pflaumen, von endloser See, in der er zu ertrinken drohte … und von einem rosigen Schimmer wie die Morgenröte, die auf fein geschwungenen Wangenknochen erglühte.

Ein Erröten. Sie errötete.

Sein Verstand kehrte stolpernd zurück.

Benedict verbeugte sich. „Bitte verzeihen Sie, Madam“, sagte er. „Dieses junge Geschöpf ist bedauerlicherweise noch nicht gänzlich zivilisiert. Steh schon auf, junger Mann, und entschuldige dich bei den Damen dafür, sie derart erschreckt zu haben.“

Peregrine rappelte sich vollständig auf, doch seine Miene war ungnädig. „Aber …“

„Nichts dergleichen wird er tun“, beschied die Schöne. „Ich habe Olivia wiederholt erklärt, dass Handgreiflichkeiten keine angemessene Antwort auf Unstimmigkeiten sind, es sei denn, das eigene Leben ist in Gefahr.“ Sie drehte sich zu dem Mädchen um, einem sommersprossigen Rotschopf, der nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit seiner Mama hatte – wenn sie denn die Mama war –, abgesehen von den Augen. „War dein Leben in Gefahr, Olivia?“

„Nein, Mama“, erwiderte das Mädchen und ließ seine blauen Augen blitzen, „aber er hat gesagt …“

„Hat dieser junge Gentleman dich in irgendeiner Weise bedroht?“, fragte ihre Mutter weiter.

„Nein, Mama“, sagte das Mädchen, „aber …“

„War es nur eine Meinungsverschiedenheit?“, wollte ihre Mutter wissen.

„Ja, Mama, aber …“

„Du hast die Beherrschung verloren. Was habe ich dir diesbezüglich gesagt?“

„Dass ich bis zwanzig zählen soll“, sagte das Mädchen. „Und habe ich sie dann noch immer nicht wiedererlangt, soll ich noch mal bis zwanzig zählen.“

„Hast du das getan?“

Ein Seufzer. „Nein, Mama.“

„Entschuldige dich bitte, Olivia.“

Das Mädchen knirschte mit den Zähnen. Dann holte es tief Luft.

An Peregrine gerichtet, legte es los: „Sir, ich bitte demütigst um Entschuldigung. Es war ein schreckliches, unaussprechliches und heimtückisches Vergehen, das ich begangen habe. Ich hoffe, der verhängnisvolle Sturz vom Schemel hat Ihnen keinerlei bleibenden Schaden zugefügt. Ich schäme mich zutiefst, nicht nur eine unschuldige Person angegriffen und möglicherweise verletzt, sondern auch meiner Mutter Schande bereitet zu haben. Doch sollten Sie wissen, dass dies allein meinem unkontrollierbaren Temperament zuzuschreiben ist – einer Heimsuchung, die mich seit meiner Geburt verfolgt.“ Das Mädchen sank auf die Knie und griff nach seiner Hand. „Hätten Sie wohl die Güte und Großherzigkeit, lieber Herr, mir bitte zu vergeben?“

Peregrine, der dieser Rede mit zunehmender Befremdung gelauscht hatte, war – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – sprachlos.

Die Mutter verdrehte ihre unverschämt blauen Augen. „Steh auf, Olivia.“

Sie hielt Peregrines Hand umklammert, den Kopf gesenkt.

Peregrine warf Benedict einen panischen Blick zu.

„Vielleicht verstehst du nun, wie töricht es ist, einer Dame zu widersprechen“, meinte Benedict. „Suche nicht bei mir um Hilfe. Ich hoffe, es wird dir eine Lehre sein.“

Da Sprachlosigkeit unvereinbar mit Peregrines Wesen war, erholte er sich rasch. „Ach, steh schon auf“, wies er das Mädchen unwirsch an. „Es war doch bloß ein Skizzenbuch.“ Das Mädchen rührte sich nicht. In gemäßigterem Ton fügte er hinzu: „Mein Onkel hat recht. Auch ich sollte mich entschuldigen, denn ich weiß, dass ich allem zustimmen soll, was Mädchen und Frauen und Leute, die älter sind als ich, sagen. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht gibt es ja gar keinen richtigen Grund dafür, zumindest hat mir noch niemand diese Regel logisch erklären können. Auf jeden Fall hast du mich kaum geschlagen. Ich bin nur gestürzt, weil ich das Gleichgewicht verloren habe, als ich deinem Schlag ausweichen wollte, was ich eigentlich gar nicht hätte tun müssen, weil ein Mädchen sowieso nicht viel Schaden anrichten kann.“

Olivias Kopf schoss empor, und ihre Augen versprühten tödliche Funken.

Natürlich merkte der Junge nichts davon und fuhr unbeirrt fort: „Dafür braucht es nämlich Übung, musst du wissen, und Mädchen können ja nie üben. Wenn du regelmäßig üben würdest, bekämst du wenigstens mehr Kraft im Arm. Was auch erklärt, warum Lehrer so unverschämt gut im Schlagen sind.“

Die Miene des Mädchens wurde sanfter. Anscheinend auf andere Gedanken gebracht, stand es auf. „Papa hat mir von den schrecklichen Lehrern in England erzählt“, sagte sie. „Schlagen sie einen wirklich so oft?“

„Oh ja, andauernd“, sagte Peregrine.

Sie wollte grausige Einzelheiten hören, die er ihr gern erzählte.

Mittlerweile hatte Benedict sich wieder gefasst. Zumindest glaubte er das. Während die Kinder Frieden schlossen, gestattete er sich, seine Aufmerksamkeit der atemberaubenden Mama zuzuwenden.

„Ihre Entschuldigung war wirklich nicht nötig“, sagte er. „Wenngleich sie sehr … ähm, bewegend war.“

„Olivia ist ungeheuerlich“, erwiderte die Dame. „Ich habe schon mehrmals versucht, sie den Zigeunern zu verkaufen, doch die haben dankend abgelehnt.“

Die Antwort verblüffte ihn. Schönheit war so selten mit Witz und Geist gepaart. Jeder andere Mann wäre vor Entsetzen außer sich gewesen. Benedict zögerte nur unmerklich, bevor er erwiderte: „Dann dürfte wohl auch wenig Aussicht bestehen, dass sie ihn nehmen würden.“ Er deutete mit dem Kinn auf Peregrine. „Nicht, dass es mir zustünde, mich seiner zu entledigen. Er ist nur mein Neffe. Athertons einziger Sohn. Ich bin Rathbourne.“

Etwas veränderte sich. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Wahrscheinlich war er zu anmaßend gewesen. Sie mochte sündhaft schön sein und Humor haben, doch das musste noch keineswegs heißen, dass sie nicht auf gewisse Umgangsformen Wert legte.

„Vielleicht ist ja zufällig ein gemeinsamer Bekannter anwesend, der uns, wie es sich gehört, einander vorstellen könnte“, meinte er und sah sich in der Galerie um. Derzeit befanden sich nur drei weitere Personen im Saal, von denen er keine kannte oder zu kennen wünschte. Sowie sein Blick auf sie fiel, sahen sie beiseite.

Dann kehrte ein winziger Funken seines Verstandes zurück, und er fragte sich, welchen Unterschied eine förmliche Vorstellung überhaupt machte. Sie war eine verheiratete Frau, und hinsichtlich verheirateter Frauen hatte er seine Prinzipien. Würde er die Bekanntschaft vertiefen, so verstieße er damit gegen diese Prinzipien.

„Ich bezweifle sehr, dass wir gemeinsame Bekannte haben“, sagte sie. „Sie und ich bewegen uns in völlig unterschiedlichen Sphären, Mylord.“

„Und doch sind wir beide hier“, ließ er seine Zunge die Oberhand über seine Prinzipien hinsichtlich verheirateter Frauen gewinnen.

„Ebenso wie Olivia“, sagte sie. „Aus ihrer Miene kann ich schließen, dass es noch neuneinhalb Minuten dauern wird, bevor sie eine ihrer Ideen bekommt, womit uns genau elf Minuten von einer Katastrophe trennen. Ich fühle mich verpflichtet, sie von hier zu entfernen, um das drohende Unheil abzuwenden.“

Und damit wandte sie sich ab.

Die Botschaft war unmissverständlich. Hätte sie ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, wäre sie nicht unmissverständlicher gewesen. „Woraus ich schließe, dass ich abgewiesen werde“, stellte er fest. „Eine treffliche Erwiderung meiner Impertinenz.“

„Das hat nichts mit Impertinenz zu tun“, beschied sie, ohne sich nach ihm umzudrehen, „sondern mit Selbsterhaltung.“

Sie schnappte sich ihre Tochter und ging.

Fast wäre er ihr aus dem Saal gefolgt.

Absolut undenkbar.

Doch wahr.

Mit klopfendem Herzen hatte Benedict schon die ersten Schritte getan, als auf einmal Lady Ordway aus einem Seitengang gestoben kam und in einem hektischen Geflatter von Bändern, Rüschen und Federn auf ihn zurauschte, welche ihr angesichts ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft das Aussehen einer aufgebrachten Glucke gaben.

„Sagen Sie mir, dass ich keine Wie-heißen-sie-doch-gleich habe“, rief sie. „Das, was man in der Wüste sieht … nein, keine Oasen, Rathbourne, sondern wenn man eine Oase sieht, die gar nicht da ist!“

Er richtete seinen ausdrucklosen Blick auf ihr dumm vergnügtes, hübsches Gesicht. „Ich glaube, der Begriff, nach dem Sie suchen, lautet Fata Morgana.“

Sie nickte heftig, und die Bänder, Rüschen und Federn ihrer Haube tanzten fröhlich um ihren Kopf.

Er kannte sie seit Ewigkeiten. Vor acht Jahren hätte er beinahe sie statt Athertons Schwester Ada geheiratet. Benedict bezweifelte, dass die Dinge dann eine glücklichere Wendung genommen hätten. Beide Frauen waren gleichermaßen hübsch, gleichermaßen aus guter Familie, gleichermaßen begütert und gleichermaßen klug. Beide waren mit ersteren Eigenschaften weit reichlicher gesegnet als mit letzterer.

Fairerweise musste gesagt werden, dass nur wenige Frauen das geistige Rüstzeug hatten, einem ausreichend intellektuelle Anregung zu bieten. Ohnehin war es Benedict, der seiner Frau nicht gerecht geworden war – und nicht andersherum –, dessen war er sich wohl bewusst.

„Ich dachte, es wäre eine Fata Morgana“, sagte Lady Ordway. „Oder ein Traum. Bei all diesen seltsamen Geschöpfen wähnt man sich ja fast schon in einem Traum.“ Sie deutete auf die Ausstellungsobjekte. „Aber das war tatsächlich Bathsheba DeLucey. Nun ja, Bathsheba DeLucey war sie, bevor sie geheiratet hat, was sie noch vor mir getan hat. Nicht, dass die Wingates sie jemals anerkannt hätten. Nein, für die existierte sie gar nicht.“

„Wie unerfreulich“, sagte er, während er sich die nicht ganz unbekannten Namen einprägte. „Gewiss eine Familienfehde aufgrund einer längst verjährten Belanglosigkeit.“

Er war sich ganz sicher, einst mit einem Wingate zur Schule gegangen zu sein. War das nicht der Familienname des Earl of Fosbury? Was die DeLuceys anbelangte, so konnte Benedict sich nicht erinnern, je persönlich einem begegnet zu sein, doch wusste er, dass sein Vater mit dem Familienoberhaupt, dem Earl of Mandeville, bekannt war. Lord Hargate kannte alle, die es sich zu kennen lohnte, und wusste alles, was man über sie wissen musste.

„Es war keineswegs eine Belanglosigkeit“, ereiferte sich Lady Ordway. „Und bitte sagen Sie mir nicht, dass es unchristlich sei, den Kindern die Sünden ihrer Väter zur Last zu legen. Denn in diesem Fall gilt: Wer die Kinder aufnimmt, bekommt die Sippschaft gleich mit dazu. Und die ist wahrlich ungeheuerlich, wie Sie sehr wohl wissen.“

„Ich bin der Dame nie zuvor begegnet“, erwiderte Benedict. „Ich weiß nichts über sie oder ihre Sippschaft. Zwischen den Kindern gab es eine kleine Meinungsverschiedenheit, bei der wir einschreiten mussten.“ Er schaute kurz zu Peregrine hinüber, der sich abermals seiner Zeichnung zugewandt hatte und von den jüngsten Ereignissen völlig unberührt schien. Wie unverwüstlich die Jugend doch war.

Benedict hingegen war noch immer ein wenig außer Atem.

Bathsheba. Sie hieß Bathsheba.

Wie passend.

Lady Ordway betrachtete gleichfalls seinen Neffen. Derweil fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: „Sie entstammt dem verwilderten Zweig der DeLuceys.“

„Das kommt doch in den besten Familien vor, dass jemand aus der Art schlägt“, meinte Benedict. „Bei uns Carsingtons ist es mein Bruder Rupert.“

„Ach, dieser Schelm“, sagte sie mit diesem gewissen Lächeln und in jenem nachsichtigen Ton, den die meisten Frauen anschlugen, wenn sie von Rupert sprachen. „Die Ungeheuerlichen DeLuceys sind da von ganz anderem Kaliber. Berüchtigt und verrufen. Stellen Sie sich nur mal Lord Fosburys Reaktion vor, als ihm Jack, sein Zweitältester, mitteilte, dass er eine von denen zu heiraten gedachte! Das wäre so, als würden Sie Lord Hargate sagen, dass Sie ein Zigeunermädchen ehelichen wollen. Denn genau genommen war sie das, ganz gleich, wie sehr man versucht hat, eine Dame aus ihr zu machen.“

Wer immer versucht hatte, eine Dame aus Bathsheba Wingate zu machen, war äußerst fähig gewesen. Benedict hatte an ihrer Rede und ihrem Betragen nichts Gewöhnliches bemerkt, und er hatte ein gutes Gehör für die feinen Zwischentöne, die selbst die bestdressierten Hochstapler und Emporkömmlinge entlarvten.

Er war davon ausgegangen, zu seinesgleichen zu sprechen. Zu jemandem, der aus denselben Kreisen kam wie er. Zu einer Dame.

„So haben sie den armen Jack bestimmt auch in die Ehefalle gelockt“, fuhr Lady Ordway fort. „Aber die Heirat hat der Familie nicht den erwünschten Reichtum gebracht. Nachdem Jack sie geheiratet hatte, hat Lord Fosbury ihm nicht einen Shilling mehr gezahlt. Jack und seine Braut sind in Dublin gelandet. Dort habe ich sie auch das letzte Mal gesehen, kurz bevor er starb. Das Kind sieht aus wie er.“

An dieser Stelle angekommen, musste sie erst mal tief durchatmen und sich Luft zufächeln. Nachdem selbst das nicht die nötige Abhilfe verschaffte, bemächtigte sie sich der nächsten Bank. Als sie ihn einlud, sich zu ihr zu setzen, kam Benedict ihrer Bitte ohne zu zögern nach.

Sie war dumm und aufgeputzt und sagte selten etwas, das zu erfahren sich lohnte – und dem man dennoch lauschen musste, gehörte sie doch zu der Vielzahl derer, die glaubten „Unterhaltung“ und „Monolog“ wären ein und dasselbe. Andererseits war sie eine alte Bekannte, gehörte seinen Kreisen an und war mit einem seiner politischen Mitstreiter verheiratet.

Wichtiger noch – sie hatte ihn davor bewahrt, auf verwerflichste Weise gegen Anstand und Vernunft zu verstoßen.

Fast wäre er Bathsheba Wingate aus der Egyptian Hall gefolgt.

Und dann …

Und dann wusste er nicht so genau, was er getan hätte, so betört war er gewesen.

Hätte er sich dazu herabgelassen, sie so lange herauszufordern, bis sie ihm ihren Namen verriet und wo sie wohnte?

Wäre er gar so tief gesunken, ihr heimlich zu folgen?

Vor einer Stunde noch hätte er sich derlei schändlichen Tuns nicht für fähig gehalten. So etwas taten nur vernarrte Schuljungen. In seiner Jugend hatte auch er die üblichen Sinnesverwirrungen durchlebt, gewiss, und hatte sich in der üblich unsinnigen Weise benommen, aber derlei Dummheiten war er längst entwachsen.

Das hatte er zumindest geglaubt.

Nun fragte er sich, wie viele unverbrüchliche Regeln er wohl vorhin verletzt hatte. Dass sie gar nicht verheiratet, sondern Witwe war, machte keinen Unterschied. Für eine kurze Weile war er nicht ganz er selbst gewesen, so schien es. Er hatte sich benommen, als hätte er den Verstand verloren. Als wäre er verzaubert. Oder verhext.

Unbedachtes Verhalten ist einzig Dichtern, Künstlern und anderen überspannten Menschen vorbehalten, die ihre Leidenschaften nicht zu zügeln wissen.

Und so saß er geduldig neben Lady Ordway und lauschte, derweil sie zum nächsten Thema überging, welches ganz und gar nicht interessant war, und dann zum nächsten, welches gar noch uninteressanter war, und hielt sich an, dankbar zu sein, weil sie den Zauber gebrochen und ihn davor bewahrt hatte, eine schockierende Torheit zu begehen.

2. KAPITEL

Kaum hatten sie die Egyptian Hall verlassen, knöpfte Bathsheba sich ihre Tochter vor. Kinder, so hatte sie festgestellt, waren wie Hunde. Ließ man zwischen dem Vergehen und der zugehörigen Bestrafung oder Strafpredigt zu viel Zeit verstreichen, konnte man die Sache gleich ganz bleiben lassen, denn die kleinen Übeltäter hätten den Anlass derweil längst vergessen.

„Das war sogar für deine Verhältnisse ungeheuerlich“, sagte sie zu Olivia, als sie die stark frequentierte Straße überquerten. „Erstens hast du einen Fremden angesprochen, obwohl dir unzählige Male gesagt worden ist, dass eine Dame dies nicht tut, es sei denn, ihr Leben ist in Gefahr oder sie benötigt Hilfe.“

„Damen dürfen nie etwas Interessantes tun – es sei denn, ihnen wird nach dem Leben getrachtet“, schmollte Olivia. „Aber du hast gesagt, wir dürften Menschen helfen, die in Not sind. Der Junge hat so angestrengt die Stirn gerunzelt, dass ich dachte, er wäre er in ernstlichen Schwierigkeiten. Ich wollte ihm helfen und ein wohltätiges Werk vollbringen. Hätte er bewusstlos im Graben gelegen, würdest du bestimmt nicht von mir erwartet haben, dass ich warte, bis man uns einander vorstellt.“

„Er lag aber nicht im Graben“, stellte Bathsheba klar. „Des Weiteren finde ich es nicht sehr wohltätig, ihn mit seinem Skizzenbuch zu schlagen.“

„Ich fand, dass er verzweifelt aussah“, sagte Olivia. „Er hatte die Stirn gerunzelt, auf seiner Lippe herumgebissen und ganz kläglich den Kopf geschüttelt. Er malt wie ein Elefant. Oder wie jemand, der alt und tatterig ist. Dabei war er in Eton und Harrow – ist das nicht unglaublich, Mama? In Rugby war er auch. Und in Westminster! Das sind sündhaft teure Schulen, und man muss ein Junge und ein Schnösel sein, um da überhaupt hingehen zu dürfen. Und trotzdem kann er nicht mal richtig zeichnen. Ist das nicht schockierend?“

„Man lehrt dort andere Dinge als auf Mädchenschulen“, erklärte ihr Bathsheba. „Außer Griechisch und Latein lernen die Jungen wenig. Aber hier geht es nicht um seine Schulbildung, sondern um dein ungehöriges Verhalten. Wie oft habe ich dir schon gesagt …“

Mitten im Satz hielt sie inne, weil ein schwarzer Phaeton mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke gebogen und geradewegs auf sie zugerast kam. Fußgänger und Straßenverkäufer brachten sich eilig in Sicherheit. Bathsheba zog ihre Tochter auf den Gehsteig und sah das Vehikel vorbeipreschen. Am liebsten hätte sie etwas nach dem flegelhaften Fahrer geworfen – einen sturztrunkenen Vertreter der besseren Kreise, ein hemmungslos kicherndes Flittchen neben sich.

„Hast du den gerade gesehen, mit seinem Liebchen?“, fragte Olivia. „Das war ein Schnösel, oder? Sie sind immer sofort zu erkennen. Wie sie sich schon anziehen, wie sie laufen, wie sie fahren. Niemand stört sich daran, was sie tun.“

„Eine Dame weiß nichts von Liebchen und verwendet niemals das Wort Schnösel“, stieß Bathsheba zwischen den Zähnen hervor. Sie zwang sich, still und leise bis zwanzig zu zählen, weil sie noch immer dem Phaeton hinterherrennen, den Fahrer vom Bock zerren und ihm den trunkenen Schädel gegen das Wagenrad schlagen wollte.

„Es bedeutet doch nur, dass er Geld hat und von Stand ist“, verteidigte sich Olivia. „Es ist kein schlimmes Wort.“

„Es ist Jargon“, sagte Bathsheba. „Eine Dame würde ihn einen Gentleman nennen. Diesen Begriff verwendet man sowohl für Männer, die zum Landadel gehören, als auch für solche, die dem Hochadel und dem Oberhaus angehören.“

„Ich weiß“, sagte Olivia. „Papa meinte mal, dass ein Gentleman jemand sei, der sich seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdient.“

Jack Wingate hatte sich seinen Lebensunterhalt auch nie selbst verdient – selbst dann nicht, als es entweder arbeiten oder verhungern hieß. Bevor er Bathsheba kennengelernt hatte, waren stets andere für seine Rechnungen aufgekommen, hatten ihm leidige Pflichten abgenommen und ihm alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Für den Rest seines kurzen Lebens hatte dann sie diese Aufgabe übernommen.

Doch davon abgesehen, war er ihr in jeder Hinsicht alles gewesen, was sie sich von einem Mann nur wünschen konnte, und er hatte sich zudem als wunderbarer Vater erwiesen. Olivia hatte ihn vergöttert, und – was fast noch wichtiger war – sie hatte auf ihn gehört.

„Dein Vater würde jetzt sehr bekümmert das Gesicht verziehen und ‚Also wirklich, Olivia‘ sagen, wenn du ihm gegenüber von Schnöseln sprechen würdest“, sagte sie. „Es ist ein Wort, das man in gepflegter Konversation nicht verwendet.“

Während sie sich zum wiederholten Male wünschte, Jack hätte ihr den Trick verraten, wie man sich bei ihrer renitenten Tochter Gehör verschaffte, fuhr Bathsheba fort, Olivia zu erklären, wie gewisse Worte verstanden wurden. Dieses Wort nähme Leute gegen einen ein, da es eine niedere Herkunft verriet. Sie erklärte – zum hundertsten Male wie ihr schien –, dass derlei Wertungen ärgerlich wären, man sich jedoch damit abfinden müsse, da die Missachtung solcher Regeln sehr schmerzliche Konsequenzen haben könne.

Sie schloss ihre Lektion mit: „Bitte streiche es aus deinem Wortschatz.“

„Aber diese Gentlemen können tun, was ihnen gefällt und werden nicht dafür ausgeschimpft!“, empörte sich Olivia. „Sogar die Frauen – die Damen. Sie dürfen sich betrinken und das Geld ihrer Männer verspielen und mit Männern ins Bett gehen, die nicht ihre Männer sind, und …“

„Olivia, hast du etwa wieder die Skandalblätter gelesen?“

„Ich habe schon seit Wochen keins mehr gelesen – nicht, seit du mir gesagt hast, ich soll damit aufhören“, erwiderte das Mädchen artig. „Aber Riggles, der Pfandleiher hat mir von Lady Dorving erzählt. Sie musste schon wieder ihren Schmuck verpfänden, um ihre Spielschulden begleichen zu können. Und es weiß doch wirklich jeder, dass Lord John French der Vater von Lady Craiths beiden jüngsten Kindern ist.“

Bathsheba wusste kaum, wo sie mit einer angemessenen Erwiderung beginnen sollte. Riggles war keine wünschenswerte Bekanntschaft, ganz zu schweigen davon, dass er indiskret war. Bedauerlicherweise hatte Olivia praktisch von Geburt an mit solchen Leuten auf vertrautem Fuße gestanden. Es war Jack gewesen, der sich um „Geschäftliches“ gekümmert hatte, weil er im Umgang mit Pfandhändlern und Geldverleihern erfahrener war. Und stets hatte er Olivia mitgenommen, da selbst das härteste Herz sich von ihren großen, unschuldig dreinblickenden blauen Augen erweichen ließ.

Nachdem er krank geworden war und Bathsheba genügend andere Sorgen gehabt hatte, hatte die damals neunjährige Olivia die Feilscherei übernommen und das, was ihnen an Schmuck und Silber, an Nippes und Kleidern geblieben war, zu den Pfandleihern getragen. Sie erwies sich sogar als noch gewiefter als Jack, vereinten sich in ihr doch nicht nur der Charme ihres Vaters und die Beharrlichkeit ihrer Mutter, sondern leider auch das Talent der Ungeheuerlichen DeLuceys für Betrügereien aller Art.

Bathsheba und Jack hatten den Kontinent verlassen und waren nach Irland gezogen, um Olivia dem verderblichen Einfluss von Bathshebas Familie zu entziehen.

Nur leider fühlte Olivia sich dennoch zu allerlei zwielichtigen Gestalten, Gaunern und Vagabunden hingezogen – kurzum: zu Leuten wie ihre Verwandten mütterlicherseits. Von ihrer Lehrerin und den Schulfreundinnen abgesehen, waren die Pfandleiher noch die respektabelsten ihrer Londoner Bekannten.

Ihrer Tochter das auszutreiben, was sie auf der Straße lernte, entwickelte sich für Bathsheba zu einer recht zeitraubenden Beschäftigung. Sie würden unbedingt bald in eine bessere Gegend ziehen müssen.

Dazu müssten sich ihre Einkünfte lediglich um ein paar Shilling pro Monat erhöhen.

Die Frage war nur, woher das Geld kommen sollte.

Entweder bräuchte Bathsheba mehr Aufträge oder mehr Zeichenschüler.

Doch weder Schüler noch Aufträge waren für eine Frau leicht zu bekommen. Näharbeit gab es im Überfluss, aber die wurde vergleichsweise schlecht bezahlt, und die Arbeitsbedingungen waren miserabel. Bathsheba wollte sich für ein derart geringes Auskommen nicht Gesundheit und Augenlicht ruinieren. Und für jedwede andere Tätigkeit war sie wenig qualifiziert – zumindest für jedwede andere respektable Tätigkeit.

Wenn sie nicht respektabel war, würde ihre Tochter es auch nicht sein. Wenn Olivia nicht respektabel war, würde sie keine gute Partie machen.

Denk später daran, ermahnte sich Bathsheba. Später, wenn ihre Tochter im Bett lag, würde sie sich in aller Ruhe über ihre Zukunft den Kopf zerbrechen können. Dann käme sie zumindest nicht auf dumme Gedanken.

An ihn beispielsweise.

Von allen Männern der Welt musste er ausgerechnet der Erbe des Earl of Hargate sein.

Nicht nur ein gelangweilter, blasierter Adeliger, sondern auch noch ein berühmter.

Lord Perfect wurde er genannt, weil Rathbourne sich noch nie einen Fehltritt geleistet hatte.

Hätte er sich nicht zu erkennen gegeben, würde sie wohl noch ein wenig verweilt haben. Nur schwer war den dunklen Augen – denen vor allem – zu widerstehen, wenngleich sie nicht genau hätte sagen können, weshalb.

Sie wusste nur, dass diese Augen sie beinah in ihrem Entschluss hätten schwach werden lassen. Fast wäre sie umgekehrt.

Aber wozu?

Ihn zu kennen, konnte zu nichts Gutem führen. Zumindest nicht für sie.

Er war ganz anders als ihr verstorbener Mann. Jack Wingate war der jüngere Sohn eines Earls gewesen, frei von Pflichtgefühl und jeglicher Zuneigung gegenüber seiner Familie. Letzteres hatte er mit Bathsheba gemein, wenngleich die Gründe andere waren.

Lord Rathbourne war von gänzlich anderem Schlag. Obwohl auch er einer der besten und bedeutendsten Familien Englands angehörte, war die seine dafür bekannt, fest zusammenzuhalten. Zudem ließ alles, was sie über ihn gehört und gelesen hatte, nur einen einzigen Schluss zu: Er war die Verkörperung eines Ideals, er war alles, was Aristokraten sein sollten, doch nur selten waren. Seine Werte waren vorbildlich, sein Pflichtgefühl vortrefflich, seine Vorzüge zu zahlreich, um sie allesamt aufzuzählen. In den Skandalblättern wurde er nie erwähnt. Wenn sein Name in gedruckter Form auftauchte – was indes regelmäßig der Fall war –, dann, weil er etwas sehr Ehrenwertes oder Kluges oder Mutiges gesagt oder getan hatte.

Er war perfekt.

Und dieses Musterbeispiel adeliger Tugend hatte sich keineswegs als der Langweiler entpuppt, den sie sich vorgestellt hatte.

Einem solchen Mann – und dies galt für nahezu alle verantwortungsvollen Männer von Stand – konnte sie nie mehr als eine Mätresse sein. Kurzum: Sie würde ihn sich aus dem Kopf schlagen müssen.

Mittlerweile hatten sie die ersten Ausläufer von Holborn erreicht. Bald würden sie zu Hause sein. Bathsheba musste etwas zu essen kaufen, wenngleich sie kaum noch Geld hatte. Sie überlegte, ob es wohl für ein Abendessen reichen würde, dessen Reste morgen zum Frühstück verwendet werden konnten. Diese Überlegungen sowie die Erinnerung an die dunklen Augen und die tiefe Stimme, die langen Beine und die breiten Schultern, und der Schmerz, den diese Erinnerung ihr bereitete, ließen sie schärfer als gewöhnlich sprechen.

„Ich wünschte, du würdest nicht immer vergessen, dass du dich, anders als Lady Dies oder Lord Das, nicht in einer solch privilegierten Position befindest“, sagte sie zu ihrer Tochter. „Wenn du von der respektablen Gesellschaft akzeptiert werden willst, musst du dich an ihre Regeln halten. Du bist langsam zu groß, um dich wie ein Wildfang aufzuführen. In ein paar Jahren bist du alt genug, um zu heiraten, und deine Zukunft hängt von deinem künftigen Mann ab. Welcher anständige Mann, der eine Stellung zu wahren hat, würde sein Schicksal und das seiner Kinder wohl in die Hände eines unwissenden und vorlauten Mädchens legen?“

Olivias Miene verdüsterte sich.

Sogleich bedauerte Bathsheba ihre Worte. Ihre Tochter war mutig und voller Energie, abenteuerlustig und fantasievoll. Es erzürnte einen geradezu, ihren unabhängigen Geist bändigen zu müssen.

Doch blieb ihr eine andere Wahl?

Mit einer ordentlichen Schulbildung, guten Manieren und ein wenig Glück würde Olivia einen passenden Mann finden. Keinen Adeligen, nein, das gewiss nicht. Obwohl Bathsheba es nicht bereute, den Mann geheiratet zu haben, den sie liebte, wollte sie Olivia den Kummer, der mit einer solchen Mesalliance einherging, gern ersparen.

Bathshebas Hoffnungen waren bescheiden. Sie wünschte sich, dass Olivia geliebt wurde, gut behandelt und dass sie sicher versorgt war. Ein Anwalt, ein Arzt oder ein anderweitig berufstätiger Mann wären perfekt. Auch ein respektabler Kaufmann – beispielsweise ein Tuch-, Buch- oder Papierhändler – wäre durchaus annehmbar.

Was die Vermögensverhältnisse anging, so genügte es vollauf, wenn ihrer Tochter dank der Heirat ihre eigenen Sorgen erspart blieben, und sie nie jene zermürbenden Gedankenspiele betreiben musste, wie ein kleines, unregelmäßiges Einkommen sich weit über seine Grenzen hinaus ausreizen ließe.

Wenn alles gut ging, würde Olivia sich wegen solcher Dinge nie den Kopf zerbrechen müssen.

Doch nichts würde gut gehen, wenn sie nicht bald in eine bessere Gegend zogen.

Wie kaum anders zu erwarten, verlor Lady Ordway keine Zeit, die Kunde von Bathshebas Wingates plötzlichem Auftauchen in Piccadilly zu verbreiten.

Als Benedict am frühen Abend in seinen Club ging, war das Thema bereits in aller Munde.

Dennoch war er schlecht vorbereitet, als es etwas später am Abend auch in Hargate House zur Sprache kam.

Er und Peregrine hatten dort mit Benedicts Eltern, seinem Bruder Rupert und dessen Frau Daphne zu Abend gegessen.

Als die Familie sich nach Tisch in der Bibliothek einfand, hörte Benedict zu seiner Überraschung Peregrine Lord Hargate bitten, sich seine Zeichnungen aus der Egyptian Hall anzusehen und zu beurteilen, ob sie für einen künftigen Altertumsforscher hinreichend waren.

Benedict schlenderte umher, nahm sich scheinbar beiläufig die neueste Ausgabe des Quarterly Review und begann darin zu blättern.

Lord Hargate verschwendete nur selten Takt an die Seinen. Und da er – wie auch der Rest der Carsingtons – Peregrine zur Familie zählte, verschwendete er auch keinen Takt an den Jungen.

„Diese Zeichnungen sind erbärmlich“, befand Seine Lordschaft. „Sogar Rupert kann besser zeichnen, und Rupert ist wahrlich ein Dummkopf.“

Rupert lachte.

„Er tut nur so, als wäre er einer“, meinte Daphne. „Das ist ein Spiel. Doch obwohl er wirklich jeden damit zu täuschen vermag, hätte ich nicht gedacht, dass auch Sie sich von ihm täuschen lassen, Mylord.“

„Er gibt den Dummkopf so gut, dass es nicht nur gespielt sein kann“, sagte Lord Hargate. „Dennoch kann er zeichnen, wie es sich für einen Gentleman gehört. Selbst in Lisles Alter hat er schon Ordentliches zu Papier gebracht.“ Er sah zu Benedict hinüber. „Was hast du dir dabei gedacht, Rathbourne, es so weit kommen zu lassen? Der Junge braucht einen anständigen Zeichenlehrer.“

„Das hat sie auch gesagt“, meinte Peregrine. „Sie fand meine Zeichnungen richtig schlecht. Aber weil sie ein Mädchen ist, war ich mir nicht sicher, ob sie recht hat.“

„Sie?“, horchte Lady Hargate auf. Ihre dunklen Brauen schnellten empor, als sie ihren unergründlichen Blick auf Benedict richtete.

Rupert sah ihn mit derselben fragenden Miene an, doch sein Blick war belustigt.

Er und Benedict kamen äußerlich stark nach ihrer Mutter und sahen – aus der Ferne betrachtet – auch einander äußerst ähnlich. Die übrigen drei Söhne – Geoffrey, Alistair und Darius – hatten das goldbraune Haar und die bernsteinfarbenen Augen ihres Vaters geerbt.

„Ein kleines Mädchen“, wehrte Benedict ab, derweil sein Herz heftig pochte. „In der Egyptian Hall. Sie und Peregrine hatten eine Meinungsverschiedenheit.“ Das dürfte niemanden verwundern, hatte Peregrine doch immerzu und mit jedem Meinungsverschiedenheiten.

„Ihre Haare haben dieselbe Farbe wie die von Tante Daphne, sie heißt Olivia, und ihre Mutter ist Künstlerin“, gab Peregrine Auskunft. „Sie war komisch, aber ihre Mutter machte einen ganz vernünftigen Eindruck.“

„Ah, die Mutter war auch da“, sagte Lady Hargate, ihren Blick noch immer auf Benedict gerichtet.

„Dir ist nicht zufällig aufgefallen, Benedict, ob die Mama hübsch war?“, bemerkte Rupert unschuldig.

Benedict schaute von seinem Quarterly Review auf, seine Miene so ausdruckslos, als wäre er in Gedanken ganz in die Lektüre vertieft. „Hübsch?“, fragte er. „Das wäre untertrieben. Ich würde sagen, sie war schön.“ Sein Blick wandte sich wieder dem bedruckten Papier zu. „Lady Ordway kennt sie. Meinte, ihr Name sei Winshaw. Oder Winston? Vielleicht auch Willoughby.“

„Das Mädchen hat gesagt, es wäre Wingate“, kam es von Peregrine.

Der Name schlug in die Bibliothek ein wie ein Meteorit.

In die bedeutungsvolle Stille hinein meine Lord Hargate: „Wingate? Ein rothaariges Mädchen? Das kann nur Jack Wingates Tochter sein.“

„Sie müsste jetzt elf oder zwölf Jahre alt sein“, überlegte Lady Hargate laut.

„Ich wäre eigentlich mehr an der Mama interessiert“, sagte Rupert.

„Warum nur überrascht mich das nicht?“, sinnierte Daphne.

Rupert sah sie mit Unschuldsmiene an. „Aber Liebes … Bathsheba Wingate ist eine Berühmtheit! Sie ist wie eine dieser verderblichen Frauen, von denen uns Homer erzählt … du weißt schon, diese singenden Frauen, die arme Seefahrer anlocken und auf die Klippen lotsen.“

„Sirenen“, half Peregrine aus. „Aber das sind doch nur Sagengestalten, so wie Meerjungfrauen. Angeblich locken sie Männer durch ihren Gesang in den Tod, was wirklich albern ist. Musik kann doch nichts anlocken! Außer Schlaf vielleicht. Außerdem, wenn Mrs. Wingate eine Mörderin ist …“

„Ist sie nicht“, unterbrach Lord Hargate. „So unglaublich es auch scheinen mag, aber Rupert hat sich soeben einer Metapher bedient. Einer sehr trefflichen zudem.“

„Es ist nicht nur eine Sage, sondern auch eine sehr tragische Liebesgeschichte“, fügte Rupert bedeutungsvoll hinzu.

Peregrine verzog das Gesicht.

„Du darfst gerne ins Billiardzimmer gehen“, sagte Benedict zu ihm.

Im Nu war der Junge verschwunden. Wie Rupert sehr wohl wusste, gab es in Peregrines Augen nichts Scheußlicheres und Verdrießlicheres als Liebesgeschichten, insbesondere tragische.

Sowie der Junge außer Hörweite war, erzählte Rupert seiner Frau, wie die schöne Bathsheba DeLucey den zweitgeborenen, doch liebsten Sohn des Earl of Fosbury verhext und sein Leben ruiniert hatte. Es war genau dieselbe Geschichte, die Benedict heute schon ein Dutzend Mal zu Ohren gekommen war.

Jack Wingate, so war man sich einig, war „vor Liebe von Sinnen“ gewesen. Verhext eben, ganz im Bann der schönen Bathsheba DeLucey. Die Liebe war sein Verderben gewesen. Sie hatte ihn seine Familie gekostet, seinen Ruf, sein Vermögen – alles.

„Bathsheba DeLucey war die Sirene, die Wingate ins Verderben gelockt hat“, schloss Rupert. „Genau wie in der griechischen Sage.“

„Genauso klingt es auch – sagenhaft“, meinte Daphne verärgert. „Vergiss nicht, dass auch weibliche Gelehrte in den Augen der Gesellschaft Ungeheuer sind. Die Vorstellungen der Gesellschaft können bisweilen sehr engstirnig und beschränkt sein.“

Daphne musste es wissen. Obwohl sie in eine der einflussreichsten Familien eingeheiratet hatte, tat die Mehrheit der männlichen Gelehrten ihre Theorien zur Deutung der ägyptischen Hieroglyphen als unsinnigen Weiberkram ab.

„Nicht so jedoch in diesem Fall“, wandte Lord Hargate ein. „Wenn ich mich recht erinnere, fingen die Probleme bereits zu Zeiten meines Großvaters an, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Grob gerechnet brachten die DeLuceys in jeder Generation einen tapferen Seehelden hervor, und Edmund DeLucey, Zweitgeborener und überaus befähigter Marineoffizier, versprach abermals einer zu werden. Doch irgendwie schaffte er es dennoch, in Ungnade zu fallen und aus den Diensten Seiner Majestät entlassen zu werden. Er ließ das Mädchen sitzen, mit dem er verlobt war, und machte fortan als Pirat Karriere.“

„Sie belieben zu scherzen, Vater“, meinte Benedict trocken. Von Jack Wingates tragischer Liebe hatte er ad nauseam gehört. Neu war ihm die abenteuerliche Familiengeschichte der DeLuceys.

Sein Vater beliebte indes nicht zu scherzen, was die Sache keineswegs erfreulicher machte.

Wollte man Lord Hargate Glauben schenken, erfreute Edmund sich – anders als die meisten Piraten – eines langen Lebens, in dessen Verlauf er heiratete und zahlreiche Nachkommen zeugte, die ihm allesamt nachschlugen. Ebenso deren Nachfahren, welche wiederum ein Talent dafür hatten, Ehepartner von guter Abstammung und loser Moral anzulocken.

„Diesem Zweig der DeLuceys entstammen ausschließlich Schwindler, Spieler und Betrüger“, sagte der Earl. „Absolut nicht vertrauenswürdig und berüchtigt für ihre Skandale. Von Generation zu Generation setzt sich das so fort. Auch vor Bigamie und Scheidung schrecken sie nicht zurück. Mittlerweile leben sie zumeist außer Landes – um ihren Gläubigern zu entgehen und jene auszunehmen, die dumm genug sind, sich mit ihnen abzugeben. Eine ganz ungeheuerliche Familie.“

Und fast hätte Benedict einer von ihnen nachgestellt.

Fast.

Obwohl er ihr nicht gefolgt war, konnte er ihr nicht entkommen, da alle über sie redeten.

Sie war wahrlich eine Sirene. Eine Femme fatale.

Aber sie hatte ihn nicht angelockt, sondern zurückgewiesen.

Oder etwa nicht?

Das hat nichts mit Impertinenz zu tun, sondern mit Selbsterhaltung.

War das eine Zurückweisung oder ein Lockruf?

Eigentlich auch egal. Er würde es nie erfahren, weil er nämlich gar nicht versuchen würde, es herauszufinden.

Vor seiner Heirat war er seinen Amouren stets höchst diskret nachgegangen. Während seiner Ehe war er tadellos treu gewesen. Nach Adas Tod hatte er eine Anstandsfrist verstreichen lassen, bevor er sich eine Geliebte genommen hatte, und auch diese Affäre war nie publik geworden.

Bathsheba Wingate indes, so schien es, war eine wandelnde Legende.

Seines Vaters Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Nun, Benedict, was gedenkst du wegen Lord Lisle zu tun?“

Obwohl Benedict sich mit leichter Besorgnis fragte, wie viel der Unterhaltung ihm wohl soeben entgangen war, erwiderte er ruhig: „Die Zukunft des Jungen liegt nicht in meinen Händen.“ Womit er den Quarterly Review zurück an seinen Platz legte.

„Unsinn“, entgegnete Lord Hargate. „Irgendjemand muss sich doch um ihn kümmern.“

Und das muss natürlich ich sein, dachte Benedict. Wie immer.

„Du weißt, dass Atherton mit der Angelegenheit überfordert ist“, stimmte seine Mutter ein. „Peregrine respektiert dich nicht nur, er mag dich. Du hast ihm gegenüber eine Verpflichtung. Wenn du nicht einschreitest, wird das Kind geradewegs zum Teufel gehen.“

Mein Leben ist eine endlose Folge von Verpflichtungen, dachte Benedict – und schalt sich sogleich dafür, so etwas zu denken. Er mochte Peregrine und wusste besser als jeder andere, wie viel Schaden Atherton und seine Gattin anrichteten.

Benedict wusste, was Peregrine brauchte, worauf er ansprach. Logik. Besonnenheit. Und einfache, vernünftige Regeln.

Auch Benedict hatte ein Faible für diese Dinge, insbesondere für Regeln.

Ohne Regeln war das Leben nicht zu begreifen. Ohne Regeln gewannen Launen und Leidenschaften die Oberhand, und das Leben geriet außer Kontrolle.

Er versprach dahingehend einzugreifen, dass er zumindest einen Zeichenlehrer für den Jungen finden wollte. Und, so die Zeit es zuließ, vielleicht auch noch einen Hauslehrer.

Als das geklärt war, wurde nach Peregrine geschickt, damit er sich wieder zur Familie geselle.

Der Rest des Abends verlief einvernehmlich, wenn man davon absah, dass Daphne sich mit ihrem Schwiegervater über die skandalöse Behandlung von Signor Belzoni durch das Britische Museum stritt. Es wurde eine recht hitzige Debatte, die indes niemand zu schlichten versuchte. Lady Hargate schien amüsiert, und Ruperts Blick ruhte stolz auf seiner Gattin. Sogar Peregrine lauschte still und reglos, lag das Thema ihm doch sehr am Herzen.

Auf dem Heimweg, in der Kutsche, fragte Benedict den Jungen, warum er denn nicht ihn wegen der Zeichnungen um seine Meinung gebeten hatte.

„Weil ich fürchtete, Sie würden taktvoll sein“, erwiderte Peregrine. „Lord Hargate schreckt vor der Wahrheit nicht zurück. Und er hat gesagt, ich bräuchte einen Zeichenlehrer.“

„Ich werde dir einen suchen“, versprach Benedict.

„Die Mutter des rothaarigen Mädchens ist Zeichenlehrerin“, sagte Peregrine.

„Was du nicht sagst.“

Vor Benedicts innerem Auge erschien die Versuchung. Sie lächelte ihr Sirenenlächeln und winkte mit lockendem Finger.

Unzählige Male schon hatte er der Versuchung die kalte Schulter gezeigt. Das würde er auch jetzt tun, sagte er sich.

Am darauf folgenden Nachmittag betrachtete Lord Rathbourne eine Karte, die im Fenster eines Grafikhändlers in Holborn ausgehängt worden war. Seine Miene war reglos, sein Herz schlug schnell und kräftig.

Wegen eines Stück Papiers.

Aber das war ja lächerlich. Es bestand absolut kein Anlass, derart in Wallung zu geraten.

Auf der Karte stand lediglich ihr Name – zumindest der erste Buchstabe ihres Vornamens sowie der Nachname ihre verstorbenen Mannes. Nicht einmal gedruckt, sondern handgeschrieben. Von ganz wunderschöner Hand geschrieben.

Unterrichtsstunden in Aquarell und Zeichenkunst.

Erfahrener, auf dem Kontinent geschulter Lehrer.

Arbeitsproben liegen aus.

Weitere Auskünfte bitte drinnen erfragen.

B. Wingate

Er richtete seinen Blick auf Peregrine.

„Hier ist es, meinte das sommersprossige Mädchen“, sagte sein Neffe. „Eine der Arbeiten ihrer Mutter soll auch im Fenster hängen und ich solle selbst beurteilen, ob ihre Mutter begabt genug wäre, um mich zu unterrichten – nicht, dass ich das beurteilen könnte, wo ich doch ihrer Ansicht nach gar keine Ahnung vom Zeichnen habe.“ Er runzelte die Stirn. „Das hatte ich schon vermutet, bevor sie es mir gesagt hat, und ich war auch überhaupt nicht überrascht, als Lord Hargate meinte, ich würde erbärmlich zeichnen.“

Während der Junge inmitten der im Schaufenster versammelten künstlerischen Schandtaten nach Mrs. Wingates Werk suchte, wünschte Benedict, dass sein Vater zumindest manchmal mit seinen Worten an sich hielte.

Hätte er nur etwas weniger vernichtend von Peregrines Bemühungen gesprochen, würde der Junge nun nicht so sehr darauf versessen sein, einen Zeichenlehrer zu bekommen. Ihm jucke es in den Fingern … er könne es kaum noch erwarten … sie dürften keine Zeit verlieren … sein schlechter Stil würde mit der Zeit nur noch schwerer zu korrigieren sein … und die Dame suche doch Schüler … und hatte sie nicht einen netten und verständigen Eindruck gemacht?

Benedict hätte einfach erwidern sollen, dass Bathsheba Wingate nicht infrage käme.

Stattdessen hatte er nachgegeben. Seiner eigenen Neugier.

Töricht und verwerflich, derart nachzugeben.

Wohl wahr, Atherton beteiligte sich nicht nennenswert an der Erziehung seines Sohnes – oder an dessen Leben überhaupt. Er wünschte zwar, dass der Junge eine standesgemäße Schule besuchen möge, überließ das Wirken dieses Wunders jedoch seinem Sekretär.

Derzeit weilte Atherton samt Gattin auf seinem Landsitz in Schottland und beabsichtigte nicht, vor dem kommenden Jahr nach London zurückzukehren.

Kurzum: Er verhielt sich kaum anders als andere Väter von Stand.

Das Problem war indes, dass Peregrine anders war als herkömmliche Adelssprösslinge. Er tat sich schwer mit der Welt, in die er geboren worden war und in die er ebenso wenig hineinpasste wie ein Falke in den Käfig eines Kanarienvogels. Sein Ziel im Leben bestand nicht ausschließlich darin, in die Fußstapfen seines Vaters, dessen Vaters und einer langen Ahnenreihe von Dalmays zu treten. Er hatte Ambitionen.

Obwohl es Benedict nie in den Sinn gekommen war, anders zu sein und von dem ihm vorgegebenen Weg abzuweichen, konnte er diesen Wunsch doch bei anderen respektieren und die Beharrlichkeit bewundern, mit der sie ihre Ziele verfolgten.

Das allein vermochte allerdings nicht befriedigend zu erklären, warum er jetzt hier war, noch dazu in einer der trostloseren Ecken von Holborn.

Er wollte einen Zeichenlehrer für Peregrine finden.

Aber Bathsheba Wingate kam wie gesagt keineswegs infrage, denn nicht einmal Atherton würde sich gleichmütig damit einverstanden erklären, seinen Sohn von einer der Ungeheuerlichen DeLuceys unterrichten zu lassen – und schon gar nicht von dieser, Sirene, die sie war.

„Da ist es!“, rief Peregrine und zeigte auf ein Aquarell von Hampstead Heath.

Als Benedict es betrachtete, überkam ihn abermals ein Gefühl der Beklemmung. Ihm war gerade so, als drücke eine Faust sein Herz zusammen.

Das Bild war alles, was ein Aquarell sein sollte: Nicht nur Form, Linie und Farbe waren getreu der Natur eingefangen, sondern auch die Stimmung. Es war, als hätte die Künstlerin einen zufälligen Moment für immer festgehalten.

Es war schön, geradezu berückend, und er wollte es haben.

Wollte es unbedingt.

Viel zu sehr.

Nicht, dass sein Verlangen auch nur das Geringste zu bedeuten hätte. Von Bedeutung war allein, dass besagte Künstlerin Peregrine nicht unterrichten konnte. Es ging nicht an, formbare, beeindruckbare Kinder von berühmt-berüchtigten Frauen unterrichten zu lassen.

Zudem hatte Lord Hargate von einem Zeichenlehrer gesprochen, nicht von einer Zeichenlehrerin.

„Und, taugt das was?“, fragte Peregrine bangend.

Sag, dass es ganz nett ist. Dilettantisch. Mittelmäßig. Sag alles, nur nicht die Wahrheit, und du kannst von hier verschwinden und sie vergessen.

„Es ist brillant“, sagte Benedict.

Er hielt inne, um die Verbindung zwischen Verstand und Zunge wiederherzustellen.

„Zu gut, möchte ich meinen“, fuhr er fort. „Ich bezweifle, dass sie ihre Zeit darauf verschwenden will, Kinder zu unterrichten. Wahrscheinlich sucht sie fortgeschrittenere Schüler. Das Mädchen hat es sicher gut gemeint, es war sogar sehr schmeichelhaft, die Dienste seiner Mutter anzubieten, aber …“

In diesem Moment ging die Tür des Ladens auf, eine Frau eilte heraus und die Treppe hinunter, sah kurz in seine Richtung … und stolperte.

Instinktiv sprang Benedict herbei, um ihren Sturz aufzuhalten und fing sie auf, bevor sie auf den Gehsteig stürzen konnte.

Fing sie in seinen Armen auf.

Und sah hinab.

Ihre Haube hatte sich gelöst und hing neckisch herab.

Er hatte einen ungehinderten Blick auf ihren Kopf, auf dichte Locken, die im nachmittäglichen Licht blauschwarz schimmerten.

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