Ein Traummann zum Fest der Liebe

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Hannah weiß eigentlich genau, dass ihr guter Freund Russell sie nur geküsst hat, weil er ihrem betrügerischen Ex und dessen neuer Verlobten eins auswischen will. Doch Russells heißer Winterwunderkuss fühlt sich wirklich nicht wie eine süße Lüge an, sondern macht Hannah atemlos …


  • Erscheinungstag 23.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536325
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Hannah Carpenter schimpfte verdrossen vor sich hin, während sie die Stehleiter unter die defekte Lichterkette zerrte. Mindestens vierzig Lämpchen über der Schmuckvitrine blinkten nicht mehr. Hannah hatte keine große Lust, nach der Ursache zu forschen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie sämtliches Dekorationsmaterial abgenommen, in eine Kiste gestopft und ganz schnell vergessen, dass es Weihnachten überhaupt gab.

Doch ihren Gefühlen nachzugehen, konnte sie sich leider nicht leisten, denn die Adventszeit wirkte sich beträchtlich auf den Jahresumsatz ihrer Boutique aus. In der Zeit von Thanksgiving bis Heiligabend schnellten die Verkaufszahlen beinahe doppelt so hoch wie im ersten Jahresquartal. Und da sie Rechnungen und Angestellte zu bezahlen hatte, ließ sie also die Lichter brennen und die Weihnachtsmusik vor sich hin dudeln, um die auf Festtagsstimmung wertlegende Kundschaft bei Laune zu halten. Es gelang ihr, den Anschein zu wahren.

Sie zog ein Lämpchen aus der Fassung. Nichts passierte. Also steckte sie es wieder hinein und probierte das nächste aus.

Früher einmal hatte sie die Weihnachtszeit über alles geliebt und sogar ihre Hochzeit bewusst auf den 22. Dezember gelegt. Doch dann, eine Woche vor dem großen Tag, hatte sie ihren Ex-Verlobten Gerald mit ihrer Schwester Dinah im Bett erwischt.

Ungeduldig zerrte Hannah am nächsten Lämpchen und verdrängte die unglückselige Erinnerung.

Nach jener schmerzhaften Geschichte war sie von Virginia nach Sweet Briar in North Carolina gezogen, um dort eine Boutique mit eigenen Werkstücken zu eröffnen. Das Geschäft aufzubauen, hatte einiges an Glück und noch mehr persönlichen Einsatz erfordert, doch inzwischen lief es erfolgreich. Als wichtiger empfand Hannah, zufriedener mit ihrem Leben zu sein und verlogener Verwandtschaft darin keinerlei Platz mehr einzuräumen.

Nach fünfundzwanzig Versuchen fand sie endlich das defekte Birnchen, wechselte es aus und brachte die kleine Leiter zurück in die Abstellkammer. Dann kehrte sie in den Verkaufsraum zurück und schaltete ihre Playlist ein – wenn sie schon gezwungen war, wochenlang Weihnachtslieder zu hören, dann wenigstens die Auswahl, die sie einigermaßen erträglich fand.

Nach einem Blick zur Uhr schloss sie die Ladentür auf. Während sie auf die erste Kundschaft wartete, vergewisserte sie sich, dass alles in Ordnung war – sämtliche Kleidungsstücke hingen perfekt an den entsprechenden Ständern, auf dem glänzenden Eichenholzboden war kein Staubkörnchen zu sehen, und die goldgerahmten Spiegel waren makellos geputzt. Im Schaufenster standen nicht die üblichen Puppen, sondern drei Elfen legten hübsch gefaltete Blusen unter einen geschmückten Weihnachtsbaum.

Es dauerte nicht lange, bis die Glocke über der Eingangstür läutete, gefolgt von dem entzückten Ausruf: „Oh, mein Gott! Seht euch das an! Dieser Laden ist einfach himmlisch!“

Hannah erstarrte beim Klang der Stimme, drehte sich dann langsam zu ihrer Mutter um. Was will die denn hier? Und seit wann ist sie in der Lage, mich zu loben?

Eleanor Carpenter hatte selten – wenn überhaupt – ein gutes Wort für Hannah übrig, da sie einander nie nahe gestanden hatten. Dazu unterschieden sie sich einfach zu sehr. Folglich war Dinah, weil sie der Mutter nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich ähnelte, von jeher Eleanors Liebling gewesen. Beide hatten den sozialen Aufstieg gemeistert und glänzten mit ihrer Modelfigur.

„Was wollt ihr hier?!“, fragte Hannah schroff, als sie Dinah mit typisch selbstgefälliger Miene eintreten sah, im Schlepptau befand sich Gerald und blickte immerhin unbehaglich drein.

„Ich will mir deine Boutique ansehen.“ Eleanor spazierte herum und bewunderte die neueste Kollektion. „Der Laden ist wunderschön eingerichtet. Die Fotos in den Illustrierten werden dem überhaupt nicht gerecht.“

Hannah rieb sich die Stirn. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum. „Warum?“

„Warum was?“

„Warum bist du ausgerechnet jetzt den ganzen Weg nach Sweet Briar gekommen, um dir mein Geschäft anzusehen, das ich schon seit drei Jahren betreibe?“

„Weil du meine Tochter bist.“

„Und?“

„Und es ist an der Zeit, dass Dinah und du die Feindseligkeiten aus der Welt schafft und anfangt, euch wie Schwestern zu benehmen.“

Der Vorschlag war total lächerlich. Außerdem interessierte es Eleanor in Wirklichkeit kein bisschen, ob ihre Töchter miteinander auskamen. Ihr ging es nur darum, die Fassade einer intakten Familie aufrechtzuerhalten.

„Und ich halte es für eine perfekte Geste und das ideale Symbol für diesen Neuanfang, wenn du das Brautkleid für deine Schwester entwirfst.“

„Nein.“

„Was soll das heißen?“

„Ihr seid umsonst hergekommen.“ Hannah wandte sich an Dinah. „Ich entwerfe gar keine Hochzeitskleider. Falls dem nicht so wäre, würde ich es für dich ganz bestimmt nicht tun.“

„Oh, du lügst! Ich habe das Brautkleid gesehen, das du für Arden Wexford gemacht hast. Es war in allen Zeitschriften und Promishows im Fernsehen zu sehen. Die Leute haben monatelang über nichts anderes geredet.“

Sie wollten also ihre familiäre Beziehung – so angeknackst die Familienehre auch sein mochte – dafür ausnutzen, um wie gewohnt unermüdlich nach Ruhm und Reichtum zu streben. Eleanor war durch mehrere lukrative Ehen die soziale Leiter emporgeklettert und richtete nun, in fortgeschrittenem Alter und mit einer ganzen Serie von Ex-Ehemännern, ihre Bemühungen anscheinend auf Dinah.

„Außerdem haben Filmstars Kreationen von dir auf dem roten Teppich getragen!“, fuhr Dinah fort. „Wenn du für total Fremde Kleider fabrizierst, ist es doch nur fair, eines auch für deine Schwester zu machen.“

Eleanor nickte zustimmend.

Hannah verschränkte die Arme vor der Brust. „Erstens sind diese Leute keine Fremden, sondern recht gute Bekannte. Zweitens teilen du und ich uns zwar dieselben Erbanlagen, aber wir sind keine Schwestern im eigentlichen Sinn. Bei richtigen Schwestern vögelt nicht die eine den Verlobten der anderen.“

„Warum musst du so fies sein? Gerald und ich haben beide versucht zu widerstehen. Deinetwegen haben wir nicht schon viel früher geheiratet, aus Rücksicht auf deine Gefühle. Aber wir lieben uns nun einmal.“

Rücksicht auf Hannahs Gefühle begründete keineswegs, den Bund der Ehe nicht schon vor drei Jahren eingegangen zu sein, vielmehr war Dinah noch verheiratet gewesen. Wegen der Weigerung ihres Ex-Mannes, ihr die Hälfte seines Vermögens abzutreten, hatte sich der Scheidungsprozess beträchtlich in die Länge gezogen. Du meine Güte, wenn Dinah wirklich Gerald lieben würde, dann hätte sie einfach auf die Abfindung verzichtet. Doch sie hat das Lebensmotto unserer Mutter bestens verinnerlicht: Nimm immer schön mit, was du kriegen kannst.

„Ich halte euch nicht davon ab. Veranstaltet die größte Hochzeit, die der Staat Virginia je gesehen hat, ach, die ganz Amerika je erlebt hat. Aber lasst mich damit zufrieden!“

Gerald trat vor. Hannah hatte gehofft, den Typen nie wiederzusehen. Doch da stand er nun direkt vor ihr, mit seinen schütteren Haaren und kalten berechnenden Augen. Sie fragte sich vergeblich, was sie einmal an ihm gefunden hatte.

„Hannah, wir beide passen einfach nicht zusammen“, stellte er fest. „Ich weiß, dass du genauso empfindest.“

„Da hast du recht.“

„Mir ist klar, dass du verletzt und enttäuscht bist. Doch lass es bitte nicht an Dinah aus.“

„Du bist unglaublich! Verschwindet, alle miteinander!“

„Nicht, bevor du einwilligst, mein Kleid zu designen“, beharrte Dinah.

„Okay, ich kann jederzeit den Polizeichef rufen. Mit dem bin ich auch befreundet.“

Eleanor presste sich eine manikürte Hand auf die Brust und rief entrüstet: „Das würdest du nicht wagen!“

„Oh doch, das würde ich“, bluffte Hannah. In Wirklichkeit sollte niemand in der Stadt und schon gar nicht ihr Freundeskreis von ihrer verkorksten Familie erfahren. Sie hatte keiner Menschenseele von ihren Angehörigen oder Geralds Vertrauensbruch erzählt und beabsichtigte, dies auch in Zukunft nicht zu tun.

„Das ist nicht nötig“, versicherte Eleanor hastig. „Bedenke bitte, was für die Familie am besten ist. Und auch für dich.“

Dinah warnte: „Es könnte deinem Ruf als erfolgreiche Stardesignerin ernsthaft schaden, wenn durchsickert, wie kleinlich du dich gegenüber deiner einzigen Schwester verhältst.“

„Wie bitte? Soll das eine Drohung sein? Eine interessante Strategie für jemanden, der herkommt, um einen Gefallen zu erbitten“, erwiderte Hannah.

„Ich weise nur auf das Offensichtliche hin. Du spielst zu gern das Opfer – die arme betrogene Hannah. In Wahrheit hat Gerald dich sausen lassen, weil er nicht dich, sondern mich wollte.“ Dinah brüstete sich, als verkörpere sie einen Hauptgewinn. „Du warst immer neidisch auf meine Schönheit. Ich dachte, du hättest diesen Komplex inzwischen überwunden. Wenn du einen Mann finden könntest, wärst du vielleicht nicht mehr so verbittert, aber anscheinend hast du noch keinen getroffen, der verzweifelt genug ist.“

Sprachlos rang Hannah nach Luft. Das geht selbst für Dinah zu weit, das ist definitiv unter der Gürtellinie.

Ein beklommenes Schweigen trat ein, das von einem lauten Räuspern gebrochen wurde.

Hannah stöhnte im Stillen. Genau das hatte sie zu vermeiden gesucht – einen Zeugen ihrer persönlichen Demütigung und einen Einblick in ihre katastrophalen Familienverhältnisse. Widerstrebend drehte sie sich zur Ladentür um.

Russell Danielson, der Bruder meines besten Freundes. Sie hatte Russell im letzten Sommer kennengelernt, als er nach Sweet Briar gekommen war, um seine Geschwister Brandon und Joni Danielson zu besuchen. Hannah und Russell hatten sich auf Anhieb gut verstanden und einen sehr netten Abend zusammen verbracht.

Beim Abschied hatte er versprochen, sich bei ihr zu melden, es aber nicht getan. Von ihm ignoriert zu werden, hatte sie schwer enttäuscht, obwohl sich abgesehen von einer angeregten Unterhaltung nichts Persönliches zwischen ihnen ergeben hatte. Sie war dennoch davon ausgegangen, dass sie auf einer Wellenlänge lagen. Offensichtlich ein Irrtum.

Russell blickte sich im Raum um, schien die Situation kurz einzuschätzen und lächelte Hannah dann an. „Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“

Zu spät wofür? „Ach so.“

Er trat dicht zu ihr. Instinktiv schnappte sie nach Luft und fing seinen verführerischen Duft auf – eine Mischung aus waldigem Aftershave und seinem natürlichen Körpergeruch, die ihre Knie weich werden ließ. Bevor sie auch nur ein Wort herausbrachte, legte er ihr die Arme um die Taille und zog sie zu einem Kuss an sich. Seine warmen Lippen verweilten für einige Sekunden mit genau dem richtigen Druck auf ihren, bevor er den Kopf hob. Einen Arm behielt er fest um ihre Taille gelegt, was gut war, weil ihr noch immer die Knie schlotterten.

„Kümmere dich schnell um deine Kundschaft“, schlug er vor, „und lass uns irgendwo hingehen, um das Versäumte nachzuholen.“

„Ich kann hier nicht weg. Meine Mitarbeiterin hat sich krankgemeldet, und zu dieser Jahreszeit ist vormittags viel los“, entgegnete sie und wunderte sich, wie es ihr gelang, derart klare Gedanken zu fassen und ohne zu stottern über ihre prickelnden Lippen zu bringen.

„Okay. Dann helfe ich dir.“

„Wer sind Sie?!“, fragte Gerald schroff, als hätte er ein Recht darauf, dies zu erfahren.

Russell drehte sich zu ihm um und richtete sich langsam zu voller Größe auf. Er überragte sein Gegenüber um gute zehn Zentimeter, doch es war seine makellos aufrechte, als Berufssoldat perfektionierte Körperhaltung, die ihn besonders imposant wirken ließ. Unter dem schwarzen Hemd und der verwaschenen Jeans zeichneten sich kräftige Muskeln ab. Nachdem er Gerald abschätzig von Kopf bis Fuß gemustert hatte, fragte er betont sachlich: „Wer möchte das wissen?“

Gerald wich zwei Schritte zurück. „Ich bin Gerald Hawkins, Hannahs Freund und der Verlobte ihrer Schwester.“

„Ach, wir sind jetzt Freunde?!“, hakte Hannah nach. „Das wüsste ich aber.“

Dinah trat vor und reichte Russell mit keckem Blick die Hand. „Ich bin Dinah.“

Hannah drehte sich der Magen um. Obwohl sie gar nicht mit Russell zusammen war, wollte sie nicht zusehen, wie ihre Schwester einen weiteren Mann wie einen einfältigen Trottel um den Finger zu wickeln verstand. Vor allem deshalb nicht, weil mein Körper noch immer von dem Kuss dieses Kerls prickelt.

Er schüttelte Dinahs Hand und ließ sie sehr schnell wieder los. „Ich bin Russell Danielson. Hannah und ich sind liiert.“

Sind wir das? Das war ihr neu. Offensichtlich klafften ihre Ansichten in diesem Punkt weit auseinander. Da er ihr jedoch zur Seite stand und so attraktiv war, dass ihre Schwester grün vor Neid wurde, wollte sie sich nicht beklagen.

„Danielson?!“ Ein gieriges Funken trat in Eleanors Augen. „Sind Sie mit der Joni Danielson verwandt, die Alexander Devlin III. vom Kosmetikimperium Devlins geheiratet hat? Und mit Brandon Danielson, der mit Arden Wexford von den Wexford-Hotels verheiratet ist?“

„Eigentlich verweise ich so nicht auf die beiden, aber es stimmt. Joni ist meine Schwester und Brandon ist mein Bruder.“

„Hannah, warum hast du uns nicht gesagt, dass du mit diesem netten jungen Mann zusammen bist?“, wollte Eleanor in zuckersüßem Ton wissen. „Wir müssen uns unbedingt näher kennenlernen. Vielleicht können wir heute Abend zusammen dinieren?“

Ohne Zögern entgegnete er: „Wir haben schon etwas anderes vor.“

„Dann vielleicht morgen? Ich akzeptiere kein Nein. Wir sind für die nächsten zehn Tage im Sunrise B&B abgestiegen. Sie können dort eine Nachricht für uns hinterlassen.“

„Wir werden sehen. Stornieren Sie allerdings auf keinen Fall bereits getroffene Pläne!“

Hannah hätte ihn am liebsten dafür geküsst, dass er die Situation so souverän handhabte. Allerdings hätte sie jenen atemberaubenden Kuss so oder so wiederholen wollen – auch ohne seinen Beistand gegen ihre Familie. Die Berührung seines Mundes war das Beste, was ihren Lippen seit Langem widerfahren war.

Und jetzt habe ich die Faxen dicke. „Es tut mir sehr leid, dieses Wiedersehen beenden zu müssen“, behauptete sie und hoffte, für diese unverschämte Lüge nicht von einem Blitz getroffen zu werden, „aber ich muss wieder an die Arbeit.“ Widerstrebend löste sie sich von Russells beschützendem Arm und scheuchte ihre Familie zur Ladentür hinaus. „Genießt euren Besuch in der Stadt. Und dir, Dinah, viel Glück bei der Suche nach einem Brautkleid“, wünschte sie sarkastisch und drehte das Türschild kurzerhand auf geschlossen.

Das Trio gab sich vorerst geschlagen und wandte sich ab. Doch sicherlich schmiedeten die beiden Frauen bereits einen neuen Plan, um ihren sozialen Aufstieg voranzutreiben. Wahrscheinlich spielen sie gerade mit dem Gedanken, sich Russell Danielson zu krallen.

Gerald schien nicht zu merken, dass er schon bald ausgetauscht zu werden drohte. Nicht dass Hannah auch nur das geringste Mitleid mit ihm empfand, denn er verdiente es nicht anders. Früher einmal hatte er sich charmant und humorvoll gegeben und wie ein guter Mensch auf sie gewirkt. Sie war sich seiner Liebe total sicher gewesen. Welch eklatanter Irrtum!

Genug von der Vergangenheit und den furchtbaren Erinnerungen! Ich befasse mich lieber mit dem Mann, der jetzt gerade so lässig an meinem Ladentisch lehnt. Sie atmete tief durch und drehte sich zu ihm um. „Was sollte das denn?“

Sprachlos vor Verblüffung riss Russell die Augen auf.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn zu Unrecht anfauchte und ihren Frust an ihm ausließ. Es war ja nicht seine Schuld, dass er in eine für sie peinliche Situation geraten war.

Er zuckte die breiten Schultern. „Ich dachte, ich hätte einer Freundin geholfen. Anscheinend habe ich mich geirrt.“

„Wie bist du auf die Idee gekommen, dass ich deine Hilfe brauche?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht war es der betroffene Ausdruck auf deinem Gesicht oder die Panik in deinen Augen. Du kannst es dir aussuchen.“

Hannah presste sich die Fingerspitzen an die Schläfen, um einen beginnenden Kopfschmerz zu vertreiben. „Wie viel von dem Gespräch hast du mitgekriegt?“

„Genug, um zu wissen, dass du ohne den Typen besser dran bist und dass deine Mutter und Schwester nicht ganz richtig ticken. Da du aus einer derart verkorksten Familie kommst, wundert es mich sehr, dass du so normal bist.“

Normal – gleichbedeutend mit durchschnittlich, nichts Besonderes. Sie wusste, dass Russell die Worte als Kompliment meinte, doch sie fühlten sich anders an. „Du meinst also, dass ich bedauernswert bin und einen fingierten Freund brauche.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Nicht direkt, aber dein Verhalten deutet darauf hin. Und Taten sagen mehr als Worte.“ Der Kuss sprach eindeutig zu ihr, sosehr sie die Botschaft auch zu ignorieren versuchte. Zu schade, dass er mich bloß aus Mitleid geküsst hat.

„Ich wollte dich einfach gegen die Beleidigungen deiner Familie beschützen“, erklärte Russell. „Verzeih mir, dass ich mich eingemischt habe.“

Sie packte ihn am Arm, als er an ihr vorbei zur Tür gehen wollte. „Warte einen Moment.“

„Warum?“

„Ich muss mich entschuldigen. Ehrlich gesagt hat es sich gut angefühlt, sie mit einem Mann konfrontiert zu sehen, der mich liebt – selbst wenn es nur vorgetäuscht war. Im Gegensatz zu denen definiere ich mich nicht über meinen Beziehungsstatus. Ich betrachte mich als wertvolle Person, ob ich nun liiert bin oder nicht.“

„Natürlich bist du das. Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt habe, dass ich anders darüber denke.“

„Ich bin einfach empfindlich in diesem Punkt, weil meine Mutter mich so behandelt, als wäre ich weniger wert als Dinah.“

„Ich verstehe dich. Wenn du willst, sage ich ihnen die Wahrheit. Es dürfte nicht schwer sein, sie zu treffen, da sie in derselben Pension wie ich abgestiegen sind.“

„Warum bist du nicht bei Joni oder Brandon untergekommen?“

„Ich bin früher als geplant eingetroffen und will ihnen nicht zur Last fallen.“

Hannah hatte das Gefühl, dass mehr dahintersteckte, dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Sie war zu sehr mit den Folgen seines möglichen Geständnisses gegenüber ihrer Mutter und Schwester beschäftigt. Auch wenn sie sich nicht an den Werten ihrer Angehörigen orientierte, so wollte sie in deren Augen dennoch nicht als Lachnummer dastehen. „Da die Lüge nun mal ausgesprochen ist, besteht eigentlich kein Grund, sie zurückzuziehen. Du wolltest mich vor einer Demütigung bewahren, und eine Richtigstellung würde genau dazu führen.“

Russell nickte. „Ob du’s glaubst oder nicht, ich wollte dir wirklich nur helfen. Normalerweise bin ich nicht so impulsiv. Zu handeln, ohne vorher nachzudenken, kann in meiner Branche tödliche Folgen haben.“

„Ich weiß. Zum Glück sind die Konsequenzen hier nicht so ernst.“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie fragte: „Was hältst du davon, weiter meinen fingierten Freund zu geben?“

Russell musterte Hannah forschend. Sie schien den Atem anzuhalten. Ihr hübsches Gesicht beherrschte seine Träume schon seit fünf Monaten. Er hatte nur wenige Stunden mit ihr verbracht, aber jede Sekunde genossen und ernsthaft beabsichtigt, sie gleich nach seiner Rückkehr zum Stützpunkt zu kontaktieren. Doch dann war alles anders gekommen.

Bei einem Einsatz im Nahen Osten war seine Einheit unter Beschuss geraten. Obwohl niemand ums Leben gekommen war, hatten mehrere Soldaten schwerwiegende Verwundungen davongetragen. Im Vergleich dazu war der Schaden an seinem Bein relativ geringfügig, aber dennoch ernst zu nehmen.

Er rieb sich das Knie. Die Verletzung war zwar nach einer langwierigen Operation und Physiotherapie weitgehend verheilt, aber sein Knie war stark geschwächt. Die letzte ärztliche Untersuchung hatte ergeben, dass das Gelenk den körperlichen Anforderungen eines Soldaten schlicht nicht mehr gewachsen war. Somit war seine zwanzigjährige Laufbahn in der in der United States Army so gut wie beendet. Ihm fehlten nur noch die offiziellen Entlassungspapiere.

In den vergangenen Wochen hatte er sich ausgiebig mit der Tatsache auseinandergesetzt, sich von seinem bisherigen geliebten Leben verabschieden zu müssen. Mittlerweile war er es leid, über seinen Gesundheitszustand zu reden, aber jeder im Stützpunkt wusste von seiner Verletzung und hielt gut gemeinte Ratschläge für seine Zukunft parat.

Russell gestand sich durchaus ein, nicht die Spur einer Ahnung zu haben, wie es weitergehen sollte. Doch eines wusste er ganz genau: Es war ganz allein seine Entscheidung, und je mehr darüber geredet wurde, desto weniger war er in der Lage, seine innere Stimme wahrzunehmen. Um seines Seelenfriedens willen war er daher vorzeitig nach Sweet Briar gekommen. Er hatte seine Angehörigen nicht davon unterrichtet, weil er deren Ratschläge nicht auch noch ertragen wollte – oder noch schlimmer: deren Mitleid. Um seine Ruhe zu haben, war er in der Pension Sunrise B&B abgestiegen.

„Vergiss, dass ich gefragt habe“, murmelte Hannah.

Abrupt wurde ihm bewusst, noch immer nicht auf ihren Vorschlag reagiert zu haben. „Ich spiele sehr gern weiter deinen Freund“, entschied er spontan, denn er hielt es für eine willkommene Ablenkung von seiner aufkeimenden Zukunftsangst. „Wie lange brauchst du meine Dienste?“

„Meine Mutter hat gesagt, dass sie zehn Tage in der Stadt bleiben wollen. Ich habe keine Ahnung, ob das die Wahrheit ist oder ob sie bloß droht.“

„Wieso eine Drohung?“

„Weißt du, ich stehe ihr und meiner Schwester nicht besonders nahe. Das kommt dir vielleicht seltsam vor, da eure Familie ziemlich eng miteinander ist. Ich wäre froh, meine nie wiederzusehen. Ich glaube also nicht, dass sie so lange bleiben werden. Sie versuchen bloß, mich einzuschüchtern. Sobald sie merken, dass ich nicht nachgebe, werden sie verschwinden. Zumindest hoffe ich das.“

„In zehn Tagen ist der 23. Dezember.“

„Stimmt. Das ist natürlich ein Problem. Du hast sicherlich geplant, die Adventszeit mit deiner Familie zu verbringen.“

„Nein, habe ich nicht.“

„Das wundert mich. Und wieso hat Joni gar nicht erwähnt, dass du hier bist?“

„Sie weiß es noch nicht. Ich bin erst vor einer Stunde eingetroffen.“ Sobald er in der Pension abgestiegen war, hatte ihn der Drang überwältigt, Hannah wiederzusehen. „Du bist die erste Person, bei der ich auftauche.“

„Wirklich?“, fragte sie überrascht.

Russell nickte.

„Was meinst du, was deine Leute zu der ganzen Sache sagen?“

„Was sollen sie schon sagen? Wir lassen sie in dem Glauben, dass wir neuerdings liiert sind.“

„Eine Art Urlaubsaffäre?“

Er hörte einen seltsamen Unterton in ihrer Stimme, den er sich damit erklärte, dass sie mit seiner Schwester Joni und seiner Schwägerin Arden befreundet war. Wahrscheinlich gefiel es ihr nicht, die beiden hinters Licht zu führen. Allerdings war eine vorgetäuschte Liaison mit Hannah auch für ihn von Vorteil. Dann drängen meine Leute mich nicht, ständig Zeit mit ihnen zu verbringen. „Genau.“

Autor