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Der Familiensitz muss verkauft werden! Helen ist tief traurig. Doch sie hat Glück im Unglück: Ausgerechnet der vermögende Sir Jason Hunter, mit dem sie einst zarte Bande geknüpft hat, bietet den höchsten Preis für Westlea House. Denkt er wie sie noch an die verstohlenen Küsse, die sie ausgetauscht haben? Kümmert er sich deshalb von nun an so ritterlich um ihr Wohlergehen? Aber Helen will keine Almosen! Stattdessen fasst sie einen gewagten Entschluss: Als zärtliche Gegenleistung bietet sie Jason, nach dem sie sich heimlich sehnt, an, seine Geliebte zu werden …


  • Erscheinungstag 08.06.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767198
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL
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„Wie kannst du es wagen, deine Schwestern so abscheulich zu behandeln!“

„Mäßige dich, Helen, dein Ton gefällt mir nicht. Du weißt, dass mich das Gesetz nicht verpflichtet, dir und Charlotte Obdach zu gewähren oder euch einen einzigen Penny zu geben.“

„Das Gesetz vielleicht nicht, aber der Anstand gebietet es! Und nicht nur, uns Obdach zu gewähren, sondern auch die uns gebührenden Annehmlichkeiten. Du kannst nicht vorgeben wollen, das nicht zu wissen.“

George Kingston schien von der feurigen Entrüstung seiner Schwester nicht sonderlich beeindruckt. Tatsächlich lehnte er sich nur in seinem Sessel zurück und fuhr fort, seine Zähne mit einem kleinen silbernen Zahnstocher zu bearbeiten.

Helen Marlowe, geborene Kingston, blieb nichts anderes übrig, als ihren Bruder in hilfloser Wut zu betrachten. Ihre hellbraunen Augen blitzten. Eine Strähne ihres dunklen Haares hatte sich aus der ordentlichen Frisur gelöst, und Helen strich sie ungeduldig aus dem Gesicht, das, normalerweise so blass wie Porzellan, nun vor Empörung gerötet war. „Ich weiß, dass du nicht wirklich wünschst, gemein zu uns zu sein, George, weil ich sicher bin, du erinnerst dich genauso gut wie ich an das Versprechen, das du Papa gegeben hast. Wir bitten dich nicht um dein Geld. Wir wollen nur den monatlichen Unterhalt, der uns zusteht. Papa hat außerdem verlangt, dass Westlea House so lange wie nötig Charlottes und mein Zuhause bleiben soll.“ Sie hielt inne und atmete tief ein. „Unsere Eltern wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass du die Absicht hast, den Familiensitz zu verkaufen und deinen Schwestern das Dach über dem Kopf zu nehmen.“

Helen verschränkte bedrückt die Hände, als sie erkannte, dass ihr Versuch, an den Anstand ihres Bruders zu appellieren, ihn eher verärgerte als umstimmte. Mit einem Rascheln ihrer lavendelfarbenen Röcke drehte sie sich um und wandte sich an ihre Schwägerin. „Hast du nichts zu alldem zu bemerken, Iris? Ist dir der Gedanke angenehm, dass dein Gatte uns aus unserem Heim zu werfen versucht?“

Iris trat an den goldgerahmten Spiegel über dem Kamin und betrachtete ihr niedliches Püppchengesicht und das flachsblonde Haar, während sie ihre schnippische Antwort gab. „Es wird sich ein anderes Haus für euch finden. George hat bereits eins im Auge. Ich verstehe nicht, warum du und Charlotte so weiterzumachen wünscht. Du bist doch ansehnlich genug, um einen Ehemann zu finden, der dich versorgen würde.“ Sie sagte es mit einem leichten Stirnrunzeln, als hege sie Zweifel daran, ob ihr Kompliment wirklich zutraf. Offenbar unzufrieden mit dem Blumenarrangement an der Krempe ihres neuen Hutes, begann sie daran herumzuzupfen. „Und Charlotte ist eine wahre Schönheit. Ich bin sicher, das Mädchen könnte sich einen Gatten mit guten Aussichten angeln. Vielleicht würde ein begüterter Kaufmann oder dergleichen sich für sie interessieren.“

„Charlotte hat bereits einen Verehrer. Sie und Philip lieben sich und möchten ihre Verlobung bekannt geben, wie du sehr wohl weißt.“

„Wie reizend. Aber er besitzt kein Geld und hat auch keine Aussichten darauf, wie du sehr wohl weißt“, konterte Iris kühl.

George Kingston sprang aus seinem Sessel auf, als er sah, dass sich die Zornesröte auf den Wangen seiner Schwester vertiefte. Er war sich wohl bewusst, dass Helen zwar einen zerbrechlichen Eindruck machte, indes zu einer wahren Kratzbürste werden konnte, wenn sie glaubte, ihre Schwester oder sich verteidigen zu müssen. Hastig stellte er sich zwischen sie und seine Gattin und steckte scheinbar gelassen die Hände in die Hosentaschen. „Es ist ja nicht so, als würdet ihr auf die Straße gesetzt, Helen“, betonte er schmeichelnd. „Ich habe etwas anderes für euch gefunden, ein Haus im Rowan Walk, und sogar schon einen halbjährigen Pachtvertrag dafür unterschrieben. Sechs Monate sollten selbst euch reichen, um die nötigen Arrangements für eure Zukunft zu treffen.“

Helens Augen weiteten sich ungläubig. „Rowan Walk?“, fragte sie bestürzt. Dann wiederholte sie den Namen der Straße in einem eher drohenden Ton.

„Nun … ja“, stammelte George, da ihm klar war, warum seine Schwester so entsetzt reagierte.

Der Rowan Walk lag in einem Teil der Stadt, in dem vornehme Damen kaum ihr Domizil wählen würden, und natürlich war es George bekannt, dass dort viele Frauen wohnten, die von wohlhabenden Männern des ton in vergleichsweise bescheidenen Umständen ausgehalten wurden. Diese Gentlemen wünschten sich ihre Mätresse in bequemer Nähe, wollten indes nicht so weit gehen, dafür die unerschwinglichen Preise von Mayfair zu zahlen. Die gepflegten Häuser im unmittelbar benachbarten Bezirk waren von angemessener Größe und Qualität und, aufgrund der Tatsache, dass in vielen von ihnen Halbweltdamen lebten, äußerst günstig.

„Wenn du auch nur einen Augenblick glaubst, Charlotte und ich würden in eine solche Gegend ziehen, muss dein Verstand verwirrt sein“, sagte Helen und fügte mit einem Blick auf Iris hinzu: „Aber vielleicht wäre ja jemand anderes, den du kennst, an einem Wohnsitz dort interessiert.“

George presste verärgert die Lippen zusammen und sah seine Gattin vorwurfsvoll an. Iris besaß den Anstand, zu erröten und sich verstärkt mit ihrem Aussehen zu beschäftigen.

Sie war nicht besonders diskret bei ihrer Jagd nach wohlhabenden Liebhabern. Helen fragte sich oft, ob ihre Schwägerin es nicht sogar genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, selbst wenn es aufgrund ihrer Untreue war. George allerdings genoss es ganz und gar nicht, und Helen konnte nicht verstehen, warum er es trotzdem duldete, dass seine Frau ihm regelmäßig Hörner aufsetzte.

„Lieber Himmel, Helen, du bist verwitwet und sechsundzwanzig Jahre alt. Es wird höchste Zeit, dass du dir einen anderen Burschen suchst, der für dich Sorge trägt, und aufhörst, mir eine Last zu sein!“, rief George in dem Versuch, von seiner Verlegenheit abzulenken. Der Gedanke an die jüngste Eroberung seiner Frau und das Wissen, dass sogar seine Schwestern Kenntnis davon besaßen, war mehr als demütigend, und er ballte hilflos die Hände zu Fäusten. Iris mochte es leugnen, aber er wusste, dass sie mit einem Mann tändelte, den er verabscheute und der seit Jahren sein Feind war.

Seine Schwestern gingen kaum zu einer Gesellschaft. Wenn selbst Helen von Iris’ neuestem Flirt gehört hatte, dann gab es niemanden im ton, der nicht Bescheid wusste. Gereizt drehte George sich um und ließ sich in seinen Sessel fallen. „Ihr könnt im Rowan Walk wohnen oder im Armenhaus, mir ist es einerlei.“ Er sah seine Schwester mit finsterer Miene an. „Es geschieht dir nur recht. Warum musstest du auch einen Bettler heiraten, als du noch unter den besten Partien hättest wählen können.“

„Ich habe mir bereits gedacht, dass du die Sprache auf dieses Thema bringen würdest. Es war zweifellos unerhört von mir, einen Mann zu heiraten, den ich liebte, statt mich für einen zu entscheiden, der alt genug war, mein Großvater zu sein.“

„Scoville ist kaum zwei Jahre später gestorben. Was hätte es dich schon gekostet, so kurze Zeit die Frau eines kranken Mannes zu sein – eines sehr reichen kranken Mannes. Hättest du dem alten Narren den Erben geschenkt, den er sich wünschte, wäre deine Zukunft mit neunzehn Jahren gesichert gewesen.“

„Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. Und ich bedaure nicht, dass ich Harry gewählt habe. Er war ein Gentleman, der es nicht nötig hatte, sich durch Geld zu empfehlen. Von dir, lieber Bruder, verlange ich, dass du meiner Schwester und mir endlich die Summe auszahlst, die für uns gedacht war. Wenn wir dir eine Last sind, so nur, weil du uns vorenthältst, was rechtmäßig uns gehört.“

George wich ihrem Blick aus und nahm Zuflucht zu einem herrischen Ton. „Wenn du Charlotte weiterhin darin ermutigst, Philip Goode Hoffnungen zu machen, wird sie genauso enden wie du. Gefühle sind schön und gut, aber sie bezahlen keine Rechnungen. Der Mann hat ihr nichts zu bieten.“

„Er hat sehr wohl etwas zu bieten, das Allerwichtigste – seine Liebe und Ergebenheit. Außerdem ist er ein angenehmer Mensch, höflich und sehr charmant.“

„Wie schade, dass sich ein solcher Ausbund an Tugend keine Ehefrau leisten kann“, erklärte Iris mit einem boshaften Lächeln und warf den Hut, an dem sie herumgezupft hatte, ungeduldig beiseite. Dann teilte sie ihrem Gatten und ihrer Schwägerin mit, dass sie zu einem Einkaufsbummel verabredet sei und sich auf den Weg machen müsse.

George starrte mürrisch auf die Tür, die Iris hinter sich zuschlug, und seufzte so bedrückt, dass Helens Wut ein wenig verrauchte. Wie unverschämt von ihm, mich allen Ernstes wegen einer unklugen Heirat zu tadeln, wenn sich seine eigene Ehe als ein solches Possenspiel erweist, dachte Helen. Ich war wenigstens glücklich während der kurzen Zeit, die ich und Harry miteinander verbrachten.

Sie betrachtete das Profil ihres Bruders. Er war ein attraktiver Mann, sein Haar hatte den gleichen rotbraunen Ton wie Charlottes. Obwohl er Mitte dreißig war, wies sein Gesicht keine Falten auf, aber sein jugendliches Aussehen wurde von einem bitteren Zug um seinen Mund verdorben.

Wen konnte es auch wundern, dass er unglücklich war? Er hatte eine Frau geheiratet, der es offenbar Freude bereitete, ihn lächerlich zu machen. Trotzdem empfand Helen eher Groll als Mitgefühl für ihn. George schien seiner Frau auf irgendeine Weise hörig zu sein, denn das schamlose Geschöpf hatte keine Mühe, ihn um den kleinen Finger zu wickeln.

Andererseits musste sie ihrem Bruder in einem Punkt recht geben. Harry war zwar freundlich und liebenswert gewesen, aber als er starb, hatte er seiner Witwe wenig mehr als ihren Ehering und den ausstehenden Armeesold hinterlassen.

„Marlowe ist seit sieben Jahren tot.“ Georges harter Tonfall riss Helen aus ihren Gedanken. „Du hattest genug Zeit zum Trauern. Jetzt musst du anfangen, vernünftig zu sein.“ Der Zahnstocher steckte wieder zwischen seinen Zähnen, doch plötzlich wies er damit auf Helen. „Iris hat recht, du siehst passabel aus. Vergangene Saison waren Brünette der letzte Schrei. Als du mit achtzehn in die Gesellschaft eingeführt wurdest, haben etliche Gentlemen um deine Hand angehalten.“

„Was für ein großartiges Gedächtnis du doch besitzt, George“, erwiderte Helen trocken. „Das ist acht Jahre her, und die meisten meiner Verehrer sind inzwischen verheiratet. Und wenn du Papas Wünsche ehrst und das Vertrauen, das er in dich setzte, muss ich mich erst gar nicht auf die Jagd nach einem Gatten machen. Ich werde dich nicht von deinen Pflichten uns gegenüber entbinden. Gib uns unser Geld, dann brauchst du mein Gezänk nicht länger zu ertragen.“

George errötete und warf den silbernen Zahnstocher auf den Tisch. „Ich habe zurzeit einige unvorhergesehene Ausgaben, und darüber hinaus bin ich dem Gesetz nach nicht …“

„Oh nein, das haben wir schon erwähnt, George.“ Helen seufzte und fuhr dann fort, so ruhig sie konnte: „Ich würde es ja verstehen, wenn ich glaubte, dass du wirklich in Schwierigkeiten bist. Aber ich weiß, dass deine Frau das Geld, das Charlotte und ich für das Notwendige brauchen, für die neueste Pariser Mode verschwendet.“ Ihr Blick ging vielsagend zu dem vergessenen Hut.

George sprang auf. „Genug!“, brüllte er und begann erregt auf und ab zu laufen. „Du weißt nichts über mein Leben oder meine Finanzen, und ich verbiete dir, so über Iris zu reden!“

„Was möchtest du stattdessen von mir hören, George?“, fragte Helen leise. „Dass es nicht ihre aufwändigen Roben sind, die du dir nicht leisten kannst, sondern ihre Vorliebe für das Kartenspiel? Oder war es vielleicht ihr neuer Landauer, der Charlottes Mitgift geschluckt hat?“

George wirbelte zu seiner Schwester herum und sah sie grimmig an. „Ich denke, du solltest gehen, bevor ich etwas sage oder tue, das ich anschließend bedauern müsste.“

Helen erkannte die innere Zerrissenheit ihres Bruders und sah ein, dass es keinen Zweck hatte, ihn weiter zu reizen. Erhobenen Hauptes schritt sie zur Tür. „Du kannst mich jetzt ruhig fortschicken, wenn du willst. Aber wenn du uns nicht in den nächsten Tagen Geld zukommen lässt, bin ich wieder da. Wir haben keinen Kredit mehr bei den Händlern und kaum noch Lebensmittel und Heizmaterial übrig. Der Frühling lässt auf sich warten, und es herrscht eine empfindliche Kälte.“

„Wenn ihr beide entschlossen seid, euch wie Blutegel an mir festzusaugen, dann nehmt gefälligst ein paar Einsparungen vor!“

Helen unterdrückte eine scharfe Antwort. „Charlotte und ich haben schon seit Langem kein Marzipan mehr auf unserem Speiseplan.“ Sie sah George wütend die Lippen zusammenpressen, weil sie auf die Vorliebe seiner Frau für Konfekt anspielte. „Und Hammelfleisch ist ein Luxus, den wir uns nur einmal in der Woche erlauben“, fuhr sie fort. „Was für Einsparungen verlangst du von uns, George? Bereits jetzt schränken wir uns ein, wo wir nur können. Sollen wir uns nur noch von Kartoffelsuppe ernähren und im Dunkeln und ohne Kaminfeuer leben?“

„Ein kleineres Haus würde weniger kosten, was Wärme und Licht angeht. Wenn ihr euren Speiseplan verbessern wollt, müsst ihr woandershin ziehen.“ George machte eine ungeduldige Handbewegung. „Es scheint euch wichtiger zu sein, in einer feinen Gegend zu wohnen, als ein behaglicheres Leben zu führen.“

„Das ist nicht wahr!“, rief Helen aufgebracht. „Westlea House ist unser Zuhause. Du weißt, dass es liebe Erinnerungen an unsere Eltern birgt. Wie kannst du so grausam sein, zu behaupten, wir versuchten, den Schein zu wahren?“

George sagte nichts, sondern drehte Helen den Rücken zu. Sie machte sich allerdings keine Hoffnungen. Er wandte das Gesicht nicht von ihr ab, weil er sich seiner Worte schämte, sondern weil er nach einer Ausrede suchte, die rechtfertigen würde, warum Charlotte und sie ihr Erbteil nicht bekommen konnten.

Helen spürte, wie jede Kraft sie verließ. Sie war müde und hungrig und wollte nach Hause. George grübelte noch darüber nach, wie er sie loswerden könnte, ohne ihr etwas zu versprechen, da verließ sie schon leise den Raum.

„Werden wir unser Geld bekommen?“

Helen war gerade dabei, den Hut abzunehmen, als ihre jüngere Schwester auf sie zutrat. Helen zögerte kurz und schüttelte dann matt den Kopf.

Charlotte kaute an ihrer Unterlippe. „Er will uns überhaupt nichts geben?“

Sie sagte es mit so zitternder, leiser Stimme, dass Helens Wut von Neuem erwachte. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln. „Ich glaube … ich hoffe, er überlegt gerade, wie viel er entbehren kann“, antwortete sie schließlich ruhig. „Ich bin sicher, dass er selbst in Schwierigkeiten ist. Iris war wieder von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Und ihr Kleid sah sehr französisch und sehr kostspielig aus.“

„Aber es ist unser Geld!“, rief Charlotte und stampfte mit dem zierlichen Fuß auf. „Ich kann mir noch nicht einmal Handschuhe leisten, und sie kauft sich ständig die teuersten Kleider! Wie wagt sie es, sich auf unsere Kosten so aufzuputzen!“

„Sie wagt es, weil unser Bruder es ihr erlaubt“, antwortete Helen trocken.

„George würde niemals unser Zuhause veräußern, um ihre Schneiderin zu bezahlen. Es kann doch unmöglich unser Westlea House sein, das in der ‚Gazette‘ zum Verkauf steht … oder?“

Helen hätte ihr gern eine beruhigende Antwort gegeben, konnte jedoch nur mit den Schultern zucken und Charlotte in den Salon vorausgehen.

Die kleine Flamme im Kamin zog sie an wie ein Magnet. Sie blieb vor dem schwachen Feuerchen stehen und hielt geistesabwesend die Hände der Wärme entgegen, während sie sich im Raum umsah. Sie verstand sehr wohl, warum ihr Bruder Westlea House verkaufen wollte. Es war zwar eher spartanisch möbliert und hätte neue Tapeten und einen frischen Anstrich vertragen, aber es war ein reizendes Anwesen und am Rande von Mayfair in einer der besten Gegenden der Stadt gelegen. Ihre Nachbarn gehörten ausnahmslos zur vornehmen Gesellschaft.

Als ihr verwitweter Vater noch am Leben gewesen war, hatte auch ihre Familie im besten Ruf gestanden, denn Colonel Kingston wurde von allen geschätzt und respektiert, die ihn kannten. Er zählte Gentlemen jeden Ranges zu seinen Freunden, von Mitgliedern des Hochadels bis zu niedrigen Armeeoffizieren. Durch ihren Vater hatte Helen auch Harry Marlowe kennengelernt. Falls Colonel Kingston enttäuscht gewesen war, dass seine ältere Tochter den Antrag eines mittellosen Armeearztes annahm, so hatte er es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Die Ehe war mit seinem Segen geschlossen worden, und als Harry ein Jahr später gefallen war, hatte der Colonel aufrichtig um seinen Schwiegersohn getrauert.

Aber ihr Papa weilte nicht mehr unter ihnen. Er war nur sechs Monate nach Harrys Tod den Folgen einer Influenza erlegen. Zu Beginn hatte ihr Bruder sich peinlich genau an die Wünsche seines Vaters gehalten, was die Zukunft seiner Schwestern anging. Dann hatte er Iris Granville geheiratet, und alles war anders geworden.

Helen seufzte und rieb sich die Hände warm, so gut sie konnte. In Gedanken verloren trat sie ans Fenster und warf einen Blick nach draußen. Der Bäckerjunge kam mit einem verlockend aussehenden Päckchen in der Hand den Bürgersteig entlanggeeilt. Helens Magen knurrte, als sie sich vorstellte, welche wohlschmeckende Köstlichkeit sich darin befinden mochte. Sie sah den Jungen die Straße überqueren und die Treppe hinunterhüpfen, die zur Küchentür des gegenüberliegenden Hauses führte.

Es dürfte den anderen Bewohnern der Straße nicht entgangen sein, dass kaum noch Händler mit ihren Waren nach Westlea House kommen, ging es ihr durch den Kopf. Zweifellos waren ihre ärmlichen Verhältnisse allen bekannt und einigen der Nachbarn mehr als unangenehm. Helen hob unwillkürlich das Kinn und spürte, wie ihr Stolz ihr Kraft verlieh. Diese Menschen mochten sich genau wie George wünschen, dass sie sich in eine bescheidenere Behausung verkrochen, aber ihre jüngere Schwester und sie würden in dem Haus bleiben, in dem sie aufgewachsen waren.

In einem hatte Iris recht: Charlotte war eine Schönheit. Wenn sie Gelegenheit bekäme, sich in den richtigen Kreisen zu bewegen, könnte sie gewiss eine Partie machen, die sehr viel mehr zu bieten haben würde als der arme Philip Goode.

Als hätte das Mädchen ihre Gedanken gelesen, flüsterte es:“Wenn doch Philip bessere Aussichten besäße oder sich Hoffnung auf ein Erbe machen könnte. Werde ich gezwungen sein, einen reichen Gatten zu finden?“

„Natürlich nicht“, versicherte Helen rasch.

„Wenn wir von hier fortmüssen, wo werden wir dann hingehen?“

„Unser fürsorglicher Bruder denkt daran, uns in den Rowan Walk abzuschieben.“

Charlottes zarte Wangen röteten sich. „Aber das ist doch da, wo … gewisse Frauen wohnen … oder?“

„In der Tat.“ Helen lachte. „Ich deutete an, dass Iris von der Adresse besseren Gebrauch machen könnte als wir.“

Charlotte riss entsetzt die Augen auf. „Nein, das hast du nicht gewagt!“

„Und ob“, erwiderte Helen grimmig. „Und nach dem Blick zu urteilen, den die beiden daraufhin tauschten, ist an den Gerüchten wohl leider mehr dran, als unserem Bruder lieb sein kann.“

„Dieses Mal ist sie hinter Sir Jason Hunter her?“

„Emily Beaumont meinte, dass Iris einen ziemlichen Narren aus sich machte, als sie ihm im Vergnügungspark hinterherlief.“ Helen lächelte spöttisch. „Offenbar hatte er größeres Interesse an einer Dame von etwas zweifelhaftem Ruf. Mrs. Tucker ist allerdings wirklich reizend. Ich glaube, ich habe sie ein- oder zweimal in einem Stoffladen gesehen.“

Charlotte sah sie empört an. „Der arme George muss sich so gedemütigt fühlen.“

Helen lag es auf der Zunge, ihrer Schwester zu sagen, dass der „arme“ George ein Dummkopf war, der selbst die Schuld trug am Verhalten seiner Gattin, aber dann zuckte sie nur die Achseln. Sie hatten genug mit ihren eigenen Sorgen zu tun. Ihr Bruder brachte ihnen wenig Mitgefühl entgegen, also konnte er auch allein mit seinen Problemen fertig werden. Und wenn ihr monatlicher Unterhalt bis zum Ende dieser Woche nicht angekommen war, würde Helen seinen Problemen noch ein weiteres hinzufügen.

2. KAPITEL
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„Nun schenk der Dame schon ein Lächeln, sonst werden wir sie nie los.“

Sir Jason Hunter warf dem Gentleman, der diese maliziöse Bitte an ihn gerichtet hatte, einen vernichtenden Blick zu und mischte dann wieder geistesabwesend die Karten in seiner Hand.

„Vielleicht sollte ich sie bitten, sich zu uns zu gesellen. Solange Mrs. Kingston mit den Wimpern klimpert, um deine Aufmerksamkeit zu erregen, wird sie sich nicht auf das Spiel konzentrieren können, und ich hätte die Chance, sie um eine beträchtliche Summe zu erleichtern.“

Ein weiterer missbilligender Blick war die Antwort auf diesen spöttischen Vorschlag. Sir Jason hatte für die Sticheleien seines jüngeren Bruders nicht viel übrig. Erstens fand er weder Iris Kingston noch ihr unverhohlenes Interesse an ihm besonders einnehmend, zweitens wurde seine neue Mätresse zunehmend launischer, weil sie sich einbildete, eine Rivalin zu haben.

Mark Hunter lümmelte sich lässig in seinem Sessel und unterzog Iris einer unverschämten Musterung. „Sie ist ja recht hübsch und so verzweifelt darauf bedacht, dir zu gefallen, dass du ein Narr wärst, wenn du dich nicht entgegenkommender zeigtest.“

Jason ließ die Karten auf den grünen Tisch fallen und schob seinen Sessel zurück, die Lider halb geschlossen vor Langeweile. „Ich brauche etwas zu trinken“, erklärte er dann und erhob sich. „Hast du gesehen, ob Diana schon eingetroffen ist?“

Geschickt sammelte Mark die Karten mit einer Hand ein und wies mit einer Kopfbewegung zu der Tür, die vom Spielzimmer in den Gang führte. „Sie stürmte vor ein paar Minuten dort hinaus. Ich nehme an, sie entdeckte deine Bewunderin, lange bevor du es getan hast.“

Jason steckte die Hände in die Taschen und stieß gereizt den Atem aus. Trotzdem begab er sich in die Richtung, die seine schmollende Geliebte genommen hatte. Während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, in der sich auch Mrs. Kingston befand, wurde ihm vage bewusst, dass die Damen ihre Fächer etwas hektischer zum Einsatz brachten und das Geflüster dringlicher zu werden schien. Obwohl er eher abgeneigt war, diese Leute auch nur zu bemerken, zwang ihn seine Erziehung, mehreren von ihnen knapp zuzunicken, während er an ihnen vorbeischlenderte.

Er war eben im Begriff, den Raum zu verlassen, da entdeckte er George Kingston, der an der Wand lehnte und ihn verdrossen beobachtete. Er und Kingston waren einander bekanntermaßen feindlich gesinnt, dennoch lenkte Jason seine Schritte in Georges Richtung. Es gab da ein Geschäft, das ihn interessierte, und nach einer flüchtigen Begrüßung kam er unverzüglich zum Thema: „Wie ich höre, suchen Sie einen Käufer für Westlea House.“

George richtete sich auf und reckte sich, um den Größenunterschied zwischen sich und seinem Rivalen auszugleichen, so gut er konnte. Aber sosehr er die Brust auch vorstreckte und die Fersen vom Boden hob, Jason war ihm in jeder Hinsicht überlegen. „Ich bin auf der Suche nach dem richtigen Käufer für Westlea House.“

„Dem richtigen Käufer oder dem richtigen Preis?“, erkundigte Jason sich amüsiert.

„Was geht das Sie an?“, stieß George wütend hervor.

„Ich kaufe Grundbesitz zum richtigen Preis, wie Sie wissen.“

George wusste es tatsächlich, und dieser Umstand machte ihn noch verdrossener. Der Mann, den er hasste und den seine Frau in ihr Bett zu locken versuchte, besaß die besten Liegenschaften in den wichtigsten Städten Englands. Es hieß sogar, dass er nun auch Land im Ausland erworben hatte. „Kein Preis, den Sie nennen würden, könnte der richtige sein.“ Der Bluff war nicht besonders wirkungsvoll. Sollte Hunter ihm ein Angebot machen, würde er ihm das Haus auf der Stelle verkaufen, und beide wussten es.

Jason reagierte nur mit einem spöttischen Lächeln auf die Bemerkung. Es war kein Geheimnis, dass er und George einst befreundet gewesen waren, aber inzwischen kaum noch ein Wort miteinander wechselten. Zweifellos erregte ihr kurzes Gespräch nun größte Aufmerksamkeit.

Jason hatte George früher einmal verabscheut, doch das Vorkommnis, das dazu geführt hatte, war inzwischen, nach beinahe zehn Jahren, nicht mehr von Bedeutung. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er jetzt eher Mitleid für den Mann, denn es war gewiss kein Vergnügen, mit einer Frau verheiratet zu sein, die sich wie eine gewöhnliche Dirne benahm. Wenn etwas zwischen einer möglichen Versöhnung stand, dann nicht die Feindschaft aus alten Tagen, sondern Iris Kingston und ihr lästiger Ehrgeiz, Jasons Geliebte zu werden. Er kam auf das Geschäft zurück, das ihn interessierte. „Wie ich mich erinnere, wohnen Ihre Schwestern noch in Westlea House.“

„Ich habe schon anderweitig etwas für sie arrangiert“, lautete die rasche Antwort.

Jason nickte, und einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, George auf die Schulter zu klopfen und ihm zu versichern, dass Iris nur ihre Zeit verschwendete, wenn sie glaubte, ihn erobern zu können. Andererseits musste er damit rechnen, dass ein so leicht erregbarer Mann wie George seine Bemerkung als Unverschämtheit auslegte. Plötzlich entdeckte Jason die Frau, die er wirklich begehrte, auf der Türschwelle. Diana sah sich suchend um, und als der Blick ihrer blauen Augen auf ihn fiel, nahm sie unwillkürlich eine würdevolle Pose an und drehte anscheinend desinteressiert ihren Kopf in eine andere Richtung. Jason lächelte nachsichtig über ihren Versuch, ihm Gleichgültigkeit vorzuspielen.

„Ich denke, wir werden uns auf eine Summe einigen können“, sagte er an George gewandt und schlenderte weiter.

George sah ihm nach, kochend vor Zorn über die arrogante Zuversicht des Mannes. Denn Jason hatte recht: Selbstverständlich würde er ihm das Haus verkaufen.

„Wollen wir uns eine angenehmere Zerstreuung suchen?“

Diana erschauerte, als sie den festen Druck von Jasons Hand auf ihrem Arm spürte. In ihrem hauchzarten rosafarbenen Musselinkleid wirbelte sie zu ihm herum und blickte ihm kokett in die schiefergrauen Augen. Dann zog sie einen Schmollmund und sah sich scheinbar angeregt um. „Ich fürchte, du enttäuschst eine gewisse Dame, wenn du so bald gehst. Ihr Gatte wäre allerdings entzückt darüber. Mr. Kingston schäumt richtiggehend vor Wut.“

Der vorwurfsvolle Ton in ihrer Stimme störte Jason. Um den plötzlichen Wunsch zu unterdrücken, einfach die Achseln zu zucken und sich zu verabschieden, ließ er den Blick auf dem ruhen, was ihn an ihr so in den Bann zog.

Diana Tucker besaß eine Gestalt von vorzüglichen Proportionen. Für eine Frau war sie ungewöhnlich hochgewachsen, was Jason nur entgegenkam, da er selbst gute eins fünfundachtzig groß war. Trotz ihrer üppigen Rundungen verfügte sie über eine Anmut, die den meisten Frauen ihrer Statur fehlte. Außerdem hatte das Schicksal sie mit einem hübschen Gesicht beschenkt und glänzendem Haar von der Farbe reifen Weizens.

Sein erwachendes Verlangen verdrängte erfolgreich die gereizte Stimmung, und er besänftigte Dianas gekränkte Gefühle, indem er sinnlich herausfordernd mit dem Daumen über ihre Haut strich. „Komm, wir können uns mit besseren Spielen unterhalten als denen, die hier geboten werden.“

Diana setzte eine nachdenkliche Miene auf, als könne sie sich nicht entschließen, aber als sie sein ungeduldiges Stirnrunzeln bemerkte, senkte sie den Blick und äußerte ein geflüstertes „Ja“.

Wenige Minuten später verließ Mrs. Tucker am Arm ihres eleganten Geliebten den Saal. Mit herausfordernd wiegenden Hüften sorgte sie dafür, dass Iris Kingston dieser Moment ihres Triumphs nicht entging.

„Danke, Betty.“ Mit einem Lächeln nahm Helen den Brief von dem Hausmädchen entgegen. Sobald sich die Tür hinter der Bediensteten geschlossen hatte, las sie den Namen des Absenders auf der Rückseite des Kuverts. „Er ist von George“, verkündete sie und nahm noch einen Bissen von ihrem Toast, bevor sie das Siegel brach. Während sie die Zeilen ihres Bruders überflog, spülte sie das trockene Brot mit einem Schluck Tee hinunter und fasste den Inhalt des Schreibens dann für Charlotte zusammen.

„Er will, dass ich ihn aufsuche, damit wir über finanzielle Dinge sprechen können.“ Helen lächelte ihrer Schwester zu, die ihr gegenüber am Frühstückstisch saß. „Siehst du. Ich wusste doch, dass er zur Vernunft kommen würde. Nun bedauert er, dass er unser Vermögen an diese selbstsüchtige Xanthippe verschleudert hat, die sich seine Gattin nennt.“

Charlottes Miene hellte sich nicht auf. „Ich finde es sehr unverfroren von ihm, dich zu sich zu beordern. Er hat eine Kutsche und sollte herkommen. Warum musst du über eine Meile zu Fuß gehen?“

Helen überlegte einen Augenblick, zuckte dann aber die Achseln. „Er will offenbar, dass ich mich für unser Geld anstrenge. Es macht mir nichts aus, und bei diesem milden Wetter werde ich den Spaziergang genießen.“

Helen reichte Georges Diener ihren Schirm und schob sich dann vorsichtig die Kapuze ihres Umhangs in den Nacken. Als sie das Arbeitszimmer betrat, in dem ihr Bruder am Kaminsims lehnte, war sie entschieden ungehalten. „Wirklich, George! Hätte es dich so ermüdet, nach Westlea House zu kommen? Du musst doch bemerkt haben, dass ein Regenschauer bevorstand.“ Sie schüttelte ihre feuchten Röcke aus und hörte, dass einer ihrer Schuhe ein glucksendes Geräusch machte, als sie auf das warme Kaminfeuer zutrat.

George beäugte stirnrunzelnd die kleine Pfütze, die sich unter dem Rocksaum seiner Schwester bildete. „Warum, um Himmels willen, hast du dir bei diesem Wetter keine Droschke gerufen?“

Helen strich sich das feuchte dunkle Haar aus dem Gesicht, während sie ihren Bruder mit einem finsteren Blick bedachte. „Und wer sollte das Fahrgeld bezahlen?“ Sie lächelte geringschätzig, als sie Georges Miene sah.

„Oh, du hattest kein Geld. Ich … daran habe ich nicht gedacht“, sagte er kleinlaut.

„Nein, das tust du nie“, erwiderte Helen leise.

„Du wirst bald wieder trocken sein“, versuchte er sie abzulenken. „Ein bisschen Regen hat noch niemandem geschadet.“

„Von einem bisschen Regen kann keine Rede sein, das war ein Wolkenbruch. Wenn ich mich verkühle, hast du Schuld.“ Helen zog den Umhang aus und hängte ihn zum Trocknen über eine Stuhllehne. Dann wandte sie sich erwartungsvoll an ihren Bruder.

George wich ihrem Blick aus und trat zum Klingelzug. „Lass uns eine Tasse Tee zu uns nehmen. Das wird dir guttun.“

„Unser Geld ist das, was mir wirklich guttun würde, George. Du möchtest mir doch einen Wechsel übergeben, nicht wahr?“

„Nun … nicht ganz …“ George wies auf einen Sessel neben dem Kamin. „Aber ich wollte dir einen … Vorschlag machen, der unsere Probleme lösen könnte.“

Helens Miene drückte unverhohlenes Misstrauen aus. „Was für einen Vorschlag?“, verlangte sie zu wissen. „Ich habe dir gesagt, dass wir nicht noch mehr einsparen können.“

„Nein, das ist es nicht. Ich wäre übrigens auch nach Westlea House gekommen, aber ich wollte nicht, dass Charlotte hört, was ich mit dir berede.“

„Warum nicht? Sie ist neunzehn, George. Sie ist eine verliebte Frau, kein Kind.“

George nickte mit Nachdruck. „Eben diese ‚verliebte‘ Frau ist unser Problem. Es ist lächerlich für ein Mädchen von ihrer Schönheit, einen Mann heiraten zu wollen, der ihr nichts bieten kann, wenn sie doch so viel haben könnte.“

„Du hast recht, es ist besser, dass Charlotte nicht hört, was du sagst!“ Helen maß ihren Bruder mit einem strengen Blick. „Sie möchte Philips Frau werden.“

„Ich habe über Philip Goode nachgedacht und wie er vielleicht seine Aussichten verbessern könnte.“

„Und?“, drängte Helen hoffnungsvoll.

„Er ist ein Cousin von Sir Jason Hunter, wusstest du das?“

Helen schüttelte den Kopf. „Nein. Aber was hat das mit unserem Problem zu tun, wie du es nanntest?“

„Es ist eine sehr weitläufige Verwandtschaft. Sie sind Vettern vierten oder fünften Grades mütterlicherseits, glaube ich.“

„George, warum sollte uns das interessieren?“

„Jason Hunter ist ein reicher, mächtiger Mann.“

„Ich hoffe, du schlägst nicht vor, dass Philip zu seinem entfernten Cousin geht und ihn um Almosen anbettelt. Er wird sich weigern, etwas Derartiges zu tun. Wenn du jedoch Charlotte ihre Mitgift auszahlst, und sei es eine geringere Summe als die ursprüngliche …“

George unterbrach seine Schwester mit einem ungeduldigen Schnauben. „Jede Summe für eine Mitgift Charlottes kann nur aus dem Verkauf des Hauses kommen.“

Helen nickte langsam. „Wirst du einen Anwalt beauftragen, das schriftlich festzusetzen? Wenn ich gezwungen bin, mein Zuhause zu opfern, möchte ich wenigstens wissen, dass ich damit Charlottes Zukunft sichere.“

„Einen Anwalt?“, rief George voller Zorn. „Ist dir mein Wort nicht gut genug?“

„Nein, in der Tat, das ist es nicht“, erwiderte Helen gelassen. „Wenn man deinen Zusagen trauen könnte, würden wir jetzt nicht dieses Gespräch führen.“

„Es ist Charlottes Pflicht, einen Gatten zu finden, der für sie sorgen kann. Wenn sie sich in die richtige Gesellschaft begäbe, würden die Verehrer sie umschwirren wie Motten das Licht.“

„Du weißt genau, dass sie eine angemessene Garderobe braucht, wenn sie sich in den Kreisen bewegen soll, die du meinst.“

„Ich würde ja für eine passende Ausstattung aufkommen … aber ich schulde bereits jeder verflixten Schneiderin in der Stadt ein Vermögen.“ George presste sekundenlang verbittert die Lippen zusammen. „Und kein einziges von den verdammten Kleidern ist gekauft worden, um mir zu gefallen. Iris versucht, Hunter mit ihrem neuen Putz zu beeindrucken.“

Helen erhob sich von ihrem Sessel und trat zu George, um mitfühlend seine Hand zu drücken. „Du solltest ihrer Habsucht Grenzen setzen. Wir alle leiden ihretwegen.“

Ungehalten machte George sich von ihr los. „Ich brauche weder dein Mitleid noch deinen Rat. Wir müssen einen Weg finden, um meine Schulden zu begleichen, sonst ist der Verkauf von Westlea House die einzige Lösung. Jemand hat sein Interesse angemeldet, also kann ich nicht zu lange mit der Antwort warten.“ George strich sich durchs Haar und fuhr grimmig fort: „Ich bin sehr in Versuchung, Hunter die Schneiderrechnungen von Iris zu überreichen.“

Helen sah ihn entsetzt an, musste dann aber lachen. „Das wäre ich auch, wenn ich glaubte, dass er sie bezahlen würde. Andererseits habe ich gehört, dass sein Interesse an Iris eher gering ist.“

„Nun, dann bist du falsch informiert! Er flirtete neulich bei einer Soiree schamlos mit ihr. Jeder kann sehen, dass sie ein Paar sein müssen.“ George errötete vor Verlegenheit. Ihm war genauso wie allen anderen Gästen an jenem Abend aufgefallen, dass sein ehemaliger Freund Iris kaum wahrgenommen hatte. Und obwohl es vollkommen widersinnig war, fand er es seltsam demütigend, mit ansehen zu müssen, wie Jason Hunter einer Person von äußerst zweifelhaftem Ruf den Vorzug vor seiner Frau gab.

„Vielleicht solltest du ihn deswegen fordern und die Schneiderrechnungen gleich mitnehmen!“, rief Helen ungeduldig.

„Den Gefallen tue ich ihm nicht! Ich bin sicher, dass er mir nur eins auswischen will. Warum sprichst du nicht mal mit dem arroganten Bas…“ George klappte den Mund zu, bevor er das Wort ganz ausgesprochen hatte.

„Ich?“ Helen lachte ungläubig.

George winkte ab, stolzierte zum Fenster und sah finster hinaus.

Helen wusste, dass ihr Bruder und Jason Hunter sich vor vielen Jahren zerstritten hatten. Sie war damals fünfzehn gewesen und hatte die Einzelheiten niemals erfahren. Aber ihr waren Gerüchte zu Ohren gekommen, die besagten, dass es um eine Frau gegangen war. Zu jener Zeit hatte sie bedauert, dass Jason nicht mehr zu Besuch kam, denn sie war ein wenig in ihn verliebt gewesen. Doch all das hatte inzwischen keine Bedeutung mehr. Mehr als zehn Jahre waren seitdem vergangen und sehr viel mehr stand auf dem Spiel als zwei erwachsene Männer, die wegen einer weit zurückliegenden Kränkung schmollten.

„Das Ganze ist absolut lächerlich.“ Helen seufzte. „Und es ist verwerflich, dass du deine Pflicht uns gegenüber nicht erfüllst.“

„Es ist genauso verwerflich, dass du deine Pflicht nicht erfüllt hast!“, brüllte George außer sich. „Glaubst du, ich hätte unserem Vater versprochen, dich zu unterstützen, wenn mir klar gewesen wäre, dass du sieben Jahre später immer noch eine Last sein würdest? Vater hatte den Eindruck, dass du nach einer angemessenen Trauerzeit wieder heiraten würdest. Und ich auch.“

Autor

Mary Brendan
Mary Brendan wurde in Norden Londons als drittes Kind von sechs Kindern geboren. Ihr Vater hatte eine Klempnerfirma, und ihre Mutter, die sie zum Lesen und lernen anregte, arbeitete als Schulsekretärin.
Mary Brendan heiratete mit 19 Jahren und arbeitete in einer internationalen Ölfirma als Büroangestellte und später dann als Sekretärin in...
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