Ein verlockend beherrschter Earl

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Diese unmögliche Person schafft es immer wieder, ihn aus der Fassung zu bringen - und gegen seinen Willen zu betören! Olivia Carsington ist die beste Freundin des Earl of Lisle - und die temperamentvollste, schönste Frau, die er kennt. Auf seiner Burg in Schottland gerät er mehr als einmal in Versuchung angesichts ihrer ungemeinen Reize. Und bald sind böse Geister und ein versteckter Schatz sein kleinstes Problem ... Ist ihr bester Freund aus Kindertagen nicht verlockend beherrscht? Heimlich sehnt Olivia sich schon lange nach Lisles Liebe. Doch was sie auch tut, er weist sie zurück. Bis sie versucht mit brennenden Küssen seine Sinne zu erhitzen ...


  • Erscheinungstag 12.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737726
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

London, 5. Oktober 1822

Mylord,

Sie müssen diesen Brief SOFORT nach der Lektüre vernichten. Sollte er in Falsche Hände geraten, werde ich abermals AUFS LAND verbannt, auf eines der Domizile meiner Carsington-Stiefonkel, wo man mich ganz gewiss in ISOLATION halten wird. Hin und Wieder finde ich das Landleben erträglich, aber EINGESPERRT zu werden und jeglichen gesellschaftlichen Umgang verboten zu bekommen (aus Furcht, ich könne Verderbliche Bekanntschaften schließen oder Unschuldige auf Abwege führen) ist unerträglich und dürfte mich zu VERZWEIFLUNGSTATEN bewegen.

Ich stehe stetig unter Beobachtung. Die einzige Möglichkeit, Ihnen einen richtigen, Unbereinigten und Unzensierten Brief zu schicken, ist, dieses Schreiben an einem Geheimen Ort zu verfassen und es von Gewissen Personen – die namenlos bleiben müssen, da dieses Unterfangen höchst gefahrvoll ist – den Diplomatischen Depeschen beigeben zu lassen.

Nur um Sie daran zu erinnern, dass es GENAU EIN JAHR her ist, dass wir zu unserer Höchst Interessanten Reise nach Bristol aufgebrochen sind, würde ich dieses Gefährliche Unterfangen natürlich niemals auf mich nehmen. Auch würde ich meine Freiheit niemals dafür aufs Spiel setzen, Ihnen die Üblichen Belanglosigkeiten mitzuteilen, die einem Jungen Gentleman mitzuteilen einer Jungen Dame erlaubt ist – selbst wenn der Junge Gentleman praktisch ihr Bruder sein könnte oder jetzt zumindest so etwas wie ein Cousin. Nein, ich sehe mich zu derlei Heimlichkeit genötigt, weil es meine PFLICHT ist, Ihnen mitzuteilen, dass Weitere Veränderungen in Ihrem Leben anstehen. Wir Kinder sollen zwar von Derlei Dingen keine Kenntnis haben, aber ich habe eben Augen im Kopf, und Tatsache ist, dass Ihre Mama WIEDER guter Hoffnung ist.

Ja, ich weiß, es ist schockierend – zumal in ihrem Alter und weil es kaum ein Jahr her ist, dass Ihr Erster Bruder geboren wurde. Der Kleine David wird Ihnen übrigens immer ähnlicher, zumindest äußerlich. Am Anfang sind Babys ja richtige kleine Chamäleons, aber mittlerweile scheint sein Aussehen sich verfestigt zu haben. Sein Haar ist fast so blond wie Ihres, und seine Augen haben sich zu einem ebenso ungewöhnlichen Grauton wie die Ihren durchgerungen. Aber ich schweife ab.

Die plötzliche FRUCHTBARKEIT Ihrer Mutter – nach dreizehn fruchtlosen Jahren – war mir schon immer ein Rätsel. Aber Urgroßmama Hargate meint, dass die Ausgedehnten Aufenthalte Ihrer Eltern in ihrem Schottischen Liebesnest, wie sie es nennt, alles erklären. Urgroßmama meint, Haggis und Whiskey wirkten WUNDER. Zumindest hätte diese Kombination immer eine wundersame Wirkung auf Urgroßpapa gehabt. Ich weiß genau, was sie mit ‚wundersam‘ meint, weil ich ihre Geheime Sammlung mit Kupferstich ...

Hier muss ich enden, wenn ich dieses Schreiben noch sicher auf den Weg bringen will. Dieses Unterfangen bedarf nämlich, dass ich mich Unbemerkt aus dem Haus eines Gewissen Verwandten entferne und eine Droschke ausfindig mache. Glücklicherweise habe ich Verbündete. Wenn man mich erwischt, droht mir ARREST AUF DEM LANDE – doch wie Sie wissen, hatte mein eigenes Glück und Wohlergehen für mich schon immer Keinerlei Belang, wenn es gilt, eine Noble Tat zu vollbringen.

Ihre Olivia Wingate-Carsington

Theben, Ägypten

10. November 1822

Liebe Olivia,

Ich habe deinen Brief vor einigen Tagen erhalten und hätte dir eher geantwortet, würden nicht meine Studien und meine Arbeit all meine Zeit beanspruchen. Heute jedoch ist Onkel Rupert losgezogen, um ein paar gerissene Franzosen von unserer Ausgrabungsstätte zu vertreiben – zum dritten Mal schon. Diese faulen Hunde warten, bis unsere Arbeiter die Drecksarbeit gemacht haben – wochenlanges Sandschaufeln –, dann zaubern sie ein gefälschtes Schreiben irgendeines Kashef hervor und wollen die alleinigen Grabungsrechte beanspruchen.

Ich kann mittlerweile fast genauso gut zuschlagen wie Onkel Rupert und wäre gern mitgegangen, bloß hat mich Tante Daphne an der Reling unserer Dahabije (so heißen die Schiffe hier auf dem Nil) angebunden und mir aufgetragen, meiner Familie zu schreiben. Aber wenn ich meinen Eltern schreibe, erinnere ich sie nur an meine Existenz und werde den irrationalen Wunsch in ihnen wecken, mich bei sich zu Hause haben zu wollen, wo ich mir so lange ihre theatralischen Ausbrüche mit ansehen muss, bis sie wieder vergessen haben, was sie eigentlich von mir wollten, und mich in ein weiteres schreckliches Internat stecken.

Da du als Lord Rathbournes Stieftochter nun praktisch zur Familie gehörst, dürfte logischerweise nichts dagegen einzuwenden sein, dass ich stattdessen dir schreibe. Von deinen Neuigkeiten bin ich hin- und hergerissen. Einerseits betrübt es mich sehr, dass ein weiteres unschuldiges Kind dem elterlichen Sturmwind ausgesetzt wird. Andererseits freue ich mich auf sehr eigennützige Weise darüber, endlich Geschwister zu haben, und freue mich, dass David so gut wächst und gedeiht.

Ich wüsste nicht, warum man dich dafür bestrafen sollte, dass du mich von der Schwangerschaft meiner Mutter in Kenntnis gesetzt hast, doch habe ich auch nie den Sinn der zahlreichen Einschränkungen verstanden, die man Frauen auferlegt. Hier in Ägypten sind Frauen übrigens noch schlimmer dran, falls dir das ein Trost ist. Auf jeden Fall hoffe ich, dass du nicht in Verbannung geschickt wirst, nur weil du mich über die Umstände meiner Mutter aufgeklärt hast. Dein Temperament verträgt sich nicht mit Regeln, geschweige denn mit Gefangenschaft. Wovon ich mich während des von dir erwähnten Abenteuers überzeugen konnte.

Natürlich erinnere ich mich noch lebhaft an den Tag, an dem ich plötzlich und unerwartet – zwei Worte, die ich stets mit dir verbinden werde – London in deiner Gesellschaft verlassen habe.

Jeder Augenblick unserer Reise nach Bristol hat sich meinem Gedächtnis so tief eingegraben wie die griechischen und ägyptischen Inschriften in den Rosettastein – und dürfte von ebensolcher Dauer sein. Wenn jemand in ein paar Jahrhunderten meinen Leichnam ausgräbt und mein Gehirn seziert, wird er es dort in unverkennbaren Lettern stehen sehen: Olivia. Plötzlich. Unerwartet.

Du weißt, dass ich Gefühle meinen Eltern überlasse. Mein Denken soll von Tatsachen geleitet sein. Tatsache ist, dass mein Leben sich nach unserer Reise auf bemerkenswerte Weise verändert hat. Wäre ich nicht mit dir nach Bristol gefahren, hätte man mich auf eine schreckliche Schule in Schottland geschickt, in der ein so spartanisches Regiment herrscht, dass selbst die Spartaner vor Schreck erblasst wären. Ich hätte mich mit derselben Engstirnigkeit herumärgern müssen, wie sie an anderen Schulen herrscht, nur unter sadistisch verschärften Bedingungen wie der unverständlichen schottischen Mundart und dem grässlichen Wetter. Und Dudelsäcken.

Zum Dank lege ich dir ein kleines Andenken bei. Laut Tante Daphne transkribiert man die Hieroglyphe für Skarabäuskäfer als „kheper“ – wobei das „kh“ wie das „ch“ im deutschen „ach“ gesprochen wird. Jede Hieroglyphe hat meist mehrere Bedeutungen und Verwendungen. Der Skarabäus steht für die Wiedergeburt. Meine Reise nach Ägypten sehe ich als eine Art Wiedergeburt.

Es ist noch viel aufregender, als ich zu hoffen gewagt hätte. Im Laufe der Jahrhunderte hat der Wüstensand ganze Welten unter sich begraben, die wir erst ansatzweise zu entdecken begonnen haben. Auch die Menschen faszinieren mich, und meine Tage sind geistig und körperlich so anregend, wie sie es zu Hause niemals waren. Ich weiß noch nicht, wann wir nach England zurückkehren. Aber nicht zu bald, hoffe ich.

Hier muss ich enden. Onkel Rupert ist eben zurückgekommen – unversehrt, wie wir mit Freuden feststellen –, und ich will mir unbedingt anhören, was er von seiner Begegnung mit den gallischen Gaunern zu berichten hat.

Dein Lisle

P.S.: Ich wünschte, du würdest mich nicht immer Mylord nennen. Wenngleich mir nicht entgeht, dass du es mit einem gewissen spöttischen Unterton verwendest, scheint mir doch, dass du etwas zu ausgiebig vor mir am Knicksen bist, oder vielmehr – in Anbetracht deiner Verwirrung hinsichtlich dessen, was sich für ein Mädchen schickt und was nicht – am Verbeugen.

L.

PPS: Was für Kupferstich?

* * *

Vier Jahre später

London, 12. Februar 1826

Mein lieber L,

Glückwünsche zu deinem ACHTZEHNTEN GEBURTSTAG!

Ich muss mich eilen, denn ich soll wieder ins Exil geschickt werden, diesmal zu Onkel Darius nach Cheshire. Das soll mir eine Lehre sein, eine Kleine PETZE wie Sophy Hubble nie wieder mit in eine Spielhölle zu nehmen.

Wie sehr ich wünschte, dein letzter Besuch zu Hause wäre länger gewesen! Dann hätten wir diesen Bedeutsamen Tag GEMEINSAM begehen können. Aber in Ägypten geht es dir natürlich viel besser, ich weiß.

Und wärest du länger geblieben, hätte es zudem sein können, dass man dir die Rückkehr nach Ägypten gar ganz VERWEHRT hätte.

Bald nach deiner Abreise kam es mit deinen Eltern nämlich zu einer KRISE. Wie du weißt, habe ich Erwachsene stets vor der Wahrheit zu schützen versucht. Weshalb ich Lord und Lady Atherton auch zu verstehen gab, dass die Pest in Ägypten keineswegs die GRAUENVOLLE & TODBRINGENDE SEUCHE ist, wie sie bei uns im Mittelalter grassierte, sondern lediglich eine kleine Unpässlichkeit, die den Reisenden häufig, doch harmlos ereilt. Aber schon wenige Wochen nach deiner Abreise hat irgend so ein Wichtigtuer ihnen die Wahrheit erzählt! Sie wurden natürlich ganz furchtbar HYSTERISCH, gingen sogar so weit zu fordern, dass dein Schiff zurückbeordert werde! Ich habe Ihnen gesagt, dass es dich umbringen würde, müsstest du zurückkommen, aber sie meinten, ich solle nicht so theatralisch sein und alles übertreiben. Ich! Ist das denn zu fassen? Das haben die gerade Aber ich muss enden. Der Junge wartet.

Keine Zeit, dir alles ausführlich zu erzählen. Nur so viel, dass Stiefpapa die Sache geregelt hat und du Bis auf Weiteres in Sicherheit bist.

Lebewohl, mein Freund. Ich frage mich, ob ich dich jemals wiedersehen werde und … Ach, verflixt. Muss los.

Deine Olivia Carsington

PS: Ja, ich habe mich von dem „Wingate“ getrennt, und wenn du wüsstest, was mein Onkel väterlicherseits über Mama gesagt hat, würde dich das auch nicht wundern. Wäre Papa noch am Leben, würde er sie allesamt verstoßen, denn du weißt … Ach, zum Teufel mit diesem Jungen! Er will nicht länger warten.

O.

In einem Dorf zehn Meilen von Edinburgh

Mai 1826

Seit zwei Jahren nun war Gorewood Castle schon unbewohnt.

Der alte Mr Dalmay hatte, von zunehmend schwächlicher Konstitution, das zugige Gemäuer schon vor Jahren verlassen, um eine behaglichere Bleibe neueren Datums in Edinburgh zu beziehen. Sein Verwalter hatte indes noch keinen neuen Pächter finden können, und der Hausmeister, der vergangenes Frühjahr einen Unfall gehabt hatte, war noch nicht an die Arbeit zurückgekehrt. Weshalb die dringend notwendigen Reparaturen, die seit gefühlten Ewigkeiten andauerten, etwas ins Stocken geraten waren.

Weshalb wiederum Jock und Roy Rankin an diesem Frühlingsabend die Burg ganz für sich allein hatten.

Wie üblich waren sie auf Beutezug. Nachdem sie schmerzlich hatten erfahren müssen, dass die gewaltigen Mauersteine der Turmzinnen den Fall aus dreißig Meter Höhe nicht unbeschadet überstanden, hatten sie sich auf die unteren Geschosse verlegt, wo schadhafte Bausubstanz reichlich leichte Beute bot. Die Außentreppe sah schon recht lückenhaft aus. Aber es war noch genügend Material da, welches ihnen gut vergolten würde.

Während sie einen weiteren Treppenquader sorgfältig von Mörtel und verwittertem Gestein freilegten, fiel der Schein ihrer Laterne auf einen kreisrunden Gegenstand, der weder nach Mörtel noch nach verwittertem Gestein aussah.

Jock hob ihn auf und stierte ihn an. „Da, schau mal“, sagte er.

Eigentlich sagte er etwas ganz anderes, denn er und Roy sprachen die schottische Version des Englischen, die dem durchschnittlichen Engländer in etwa so verständlich ist wie Sanskrit oder Albanisch.

Hätten sie verständliches Englisch gesprochen, hätte Folgendes so geklungen: „Was hast du da?“

„Keine Ahnung. ’nen Messingknopf?“

„Gib mal her.“

Nachdem er den gröbsten Dreck abgekratzt hatte, meinte Roy: „Ist vielleicht ’ne Art Medaille.“ Er starrte auf den seltsamen Fund.

„Echt? ’ne alte Medaille?“, frohlockte Jock. „Könnte gutes Geld bringen.“

„Vielleicht.“ Roy rubbelte kräftig und starrte angestrengt. Mühsam begann er zu buchstabieren: „R … E … X. Dann irgendein komisches Zeichen. Dann C … A … R … O … L … V … S.“

Jock, dessen Lesekenntnis sich auf das Erkennen eines Schenkenschildes beschränkte, fragte: „Und, was soll das sein?“

Roy sah ihn an. „’ne alte Münze“, sagte er. „Geld.“

Mit frischer Kraft gruben sie weiter.

1. KAPITEL

London, 3. Oktober 1831

Peregrine Dalmay, Earl of Lisle, sah zwischen seinen Eltern hin und her. „Schottland? Ganz gewiss nicht.“

Der Marquess und die Marchioness of Atherton wechselten Blicke. Lisle versuchte gar nicht erst sie zu ergründen. Seine Eltern lebten in ihrer eigenen Welt.

„Aber wir haben fest mit dir gerechnet“, sagte seine Mutter. „All unsere Hoffnungen ruhen auf dir.“

„Warum?“, erwiderte er. „In meinem letzten Brief habe ich klar und deutlich geschrieben, dass ich nur kurz in London bleiben würde, ehe ich nach Ägypten zurückkehre.“

Natürlich hatten sie bis jetzt damit gewartet – kurz bevor man nach Hargate House aufbrechen wollte –, um ihm von der Krise auf einem der schottischen Besitztümer der Dalmays zu berichten.

Der Earl und die Countess of Hargate gaben einen Ball anlässlich des fünfundneunzigsten Geburtstags von Eugenia, Dowager Countess of Hargate und Matriarchin der Familie Carsington. Lisle war extra deswegen aus Ägypten gekommen – und das nicht nur, weil es seine letzte Gelegenheit sein mochte, die durchtriebene alte Dame noch einmal lebend zu sehen.

Obwohl er mit seinen fast vierundzwanzig Jahren nun erwachsen war und nicht länger unter der Obhut Rupert und Daphne Carsingtons stand, betrachtete Lisle die Carsingtons noch immer als seine Familie. Genau genommen waren sie vielleicht seine einzige Familie. Seine wahre Familie. Nicht im Traum fiele es ihm deshalb ein, die Feierlichkeiten zu versäumen.

Er freute sich schon darauf, sie alle wiederzusehen, insbesondere Olivia. Seit fünf Jahren, seit seinem letzten Besuch zu Hause, hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und bei seiner Ankunft in London vor zwei Wochen war sie in Derbyshire gewesen. Erst gestern war sie zurückgekehrt.

Anfang September hatte sie sich wegen einer gelösten Verlobung auf den Landsitz ihrer Eltern zurückgezogen. Es war die dritte, vierte oder zehnte Verlobung, die sie gelöst hatte – obwohl sie ihm von allen in ihren Briefen berichtet hatte, hatte er irgendwann den Überblick verloren –, doch stellte diese alle vorherigen aufgrund ihrer Kürze in den Schatten. Keine zwei Stunden hatten zwischen ihrer Annahme von Lord Gradfields Ring und der Rücksendung selbigens gelegen, begleitet von einer ihrer an Unterstreichungen und Großbuchstaben reichen Episteln. Die Zurückweisung hatte Seine Lordschaft so erzürnt, dass er einen unschuldigen Dritten zum Duell forderte, bei dem beide Männer einander gegenseitig zu Schaden brachten, wenngleich nicht in fataler Weise.

Kurzum, das Übliche. Olivia sorgte immer für Aufregung.

Seiner Eltern wegen war Lisle gewiss nicht nach Hause gekommen. Lächerlich waren sie, alle beide. Zwar hatten sie Kinder, aber Eltern konnte man sie kaum nennen. Sie hatten aneinander genug. Und an ihren endlosen ehelichen Dramen.

So wie jetzt. Im Salon eine große Szene zu machen wegen einer Angelegenheit, die normale Menschen zu passender Zeit vernünftig miteinander besprochen hätten – nicht kurz bevor man zu einem Ball aufbrechen wollte. Das sah ihnen ähnlich.

Gorewood Castle, so schien es, hatte sich während der letzten drei- oder vierhundert Jahre in einem Prozess stetigen Zerfalls befunden, der von halbherzigen Instandsetzungen nur notdürftig aufgehalten worden war. Aus unerfindlichem Grund hatten seine Eltern nun beschlossen, ihm wieder zu seiner alten Pracht zu verhelfen. Und er solle die Arbeiten vor Ort beaufsichtigen, denn es gebe ein Problem mit … Gespenstern?

„Du musst gehen“, sagte seine Mutter eindringlich. „Jemand muss dort sein. Jemand muss etwas tun.“

„Dieser Jemand sollte euer Verwalter sein“, fand Lisle. „Es kann doch nicht sein, dass Mains in ganz Midlothian keine Arbeiter findet. Ich dachte, die Schotten seien so arm, dass sie händeringend nach Arbeit suchten.“

Er trat an den Kamin, um sich die Hände zu wärmen.

In den beiden Wochen seit seiner Heimkehr hatte er sich noch nicht wieder an das englische Klima gewöhnt. Ein englischer Herbst fühlte sich für ihn wie tiefster Winter an. Schottland wäre unerträglich. Selbst im Sommer war es grässlich: grau, stürmisch, verregnet. Wenn es nicht gar hagelte und schneite.

Er war Unbill gewohnt und keineswegs zimperlich. Genau genommen waren die Bedingungen in Ägypten viel unwirtlicher. Aber Ägypten bot ihm geheimnisvolle Welten, die es zu entdecken galt. In Schottland gab es nichts zu entdecken, keine jahrhundertealten Geheimnisse zu ergründen.

„Mains hat alles versucht – sogar Bestechung“, sagte Vater. „Jetzt hilft nur noch die Präsenz eines männlichen Familienmitglieds. Das macht Eindruck. Du weißt ja, wie clanversessen die Schotten sind. Sie wollen, dass der Gutsherr persönlich sich der Sache annimmt. Doch ich kann nicht fort, solange deine Mutter so fragiler Verfassung ist.“

Mit anderen Worten: Sie war tatsächlich wieder schwanger. Olivia hatte recht gehabt.

„Es scheint doch, als müsstest du mich verlassen, Liebster“, klagte Mutter und fasste sich mit matter Hand an die Stirn. „Peregrine interessiert nichts außer Griechisch … und Latein … und Kryptisch!“

„Koptisch“, sagte Lisle. „Die Sprache der alten …“

„Immer nur Ägypten“, übertönte ihn Mutter mit der unheilvollen Andeutung eines Schluchzens. „Immer geht es nur um deine Pyramiden und Mumien und Schriftrollen, nie um uns. Deine Brüder kennen dich kaum!“

„Sie kennen mich gut genug“, fand Lisle. „Ich bin doch der, von dem sie all die drolligen Dinge aus fernen Landen bekommen.“

Der geheimnisvolle, verwegene große Bruder, der in einem unzivilisierten und gefährlichen Land lauter aufregende Abenteuer erlebte. Und er schickte ihnen genau die Geschenke, die kleine Jungenherzen erfreuten: Mumien von Katzen und Vögeln, Schlangenhäute, Krokodilszähne und wunderschöne präparierte Skorpione. Auch schrieb er den Jungen regelmäßig. Von wegen, sie würden ihn kaum kennen!

Doch wollte die leise Stimme seines Gewissens nicht verstummen, die ihm sagte, dass er seine Brüder im Stich gelassen habe. Nur was wäre gewonnen, hielt er dagegen, wenn er bei ihnen bliebe? Er könnte allenfalls ihr Leid – namentlich die Gegenwart seiner Eltern – mit ihnen teilen. Welch ein Dilemma.

Allein Lord Rathbourne – in der Gesellschaft gemeinhin als Lord Perfect bekannt – war es je gelungen, seine Eltern zu handhaben. Er hatte Lisle vor ihnen gerettet. Aber jetzt hatte Rathbourne selbst Familie.

Im Grunde seines Herzens wusste Lisle, dass er etwas für seine Brüder tun musste. Doch diese Schlossgeschichte war schlichtweg Unsinn. Wie lange müsste er deswegen seine Rückkehr nach Ägypten aufschieben? Und wofür?

„Ich wüsste nicht, was es meinen Brüdern bringen sollte, wenn ich fröstelnd und schaudernd in einem alten Gemäuer herumsitze“, sagte er. „Nichts erscheint mir unsinniger, als vierhundert Meilen zu reisen, um ein paar abergläubische Arbeiter vor Kobolden zu beschützen. Nicht dass ich verstünde, wovor sie eigentlich Angst haben. Hat nicht jedes schottische Schloss sein Gespenst? Es gibt dort überall Geister. Auf Bäumen. In Flüssen. In Höhlen. Schotten lieben Geister.“

„Es sind nicht nur Gespenster“, raunte Vater. „Es gab grauenhafte Unfälle und des Nachts Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.“

„Es heißt, ein alter Fluch sei zu neuem Leben erweckt worden, als dein Cousin Frederick Dalmay versehentlich auf das Grab von Malcolm MacFetridges Ururgroßmutter getreten ist“, sagte Mutter schaudernd. „Kurz darauf ging es auch mit Fredericks Gesundheit bergab. Und drei Jahre später war er tot!

Lisle wünschte – nicht das erste Mal –, es wäre jemand da, den er verschwörerisch fragen könnte: „Sag mal, glaubst du diesen Unsinn?“

Seinen Eltern mochte Vernunft so fremd sein wie Lisle die Existenz von Einhörnern, aber um selbst bei Verstand zu bleiben, war es unerlässlich, das Gespräch um ein paar Fakten zu bereichern.

„Frederick Dalmay war vierundneunzig“, sagte er. „Er starb im Schlaf. In seinem Haus in Edinburgh, gute zehn Meilen von dem verfluchten Spukschloss entfernt.“

„Darum geht es doch gar nicht“, ereiferte sich Vater. „Es geht darum, dass Gorewood Castle sich im Besitz der Dalmays befindet und in Schutt und Asche fällt!“

Was dich bislang herzlich wenig gekümmert hat, dachte Lisle. Cousin Frederick hatte die Burg schon vor Jahren verlassen – und seine Eltern hatten sie seitdem herunterkommen lassen.

Warum also war es auf einmal so wichtig?

Warum wohl? Es war ein Mittel zum Zweck. Sie wollten ihn in England festhalten. Nicht, weil sie ihn hier bräuchten oder seine Nähe wünschten. Nein, nur weil sie fanden, dass er hier zu sein habe. Weil es sich so gehöre. Weil sie ihm Ägypten nicht gönnten.

„Ach, was kümmert es ihn?“, rief seine Mutter aus. „Wann hätte Peregrine sich je um uns gekümmert?“ Sie sprang aus ihrem Sessel an eines der Fenster, als wolle sie sich in ihrer Verzweiflung hinausstürzen.

Lisle sah es gelassen. Seine Mutter würde sich niemals aus dem Fenster stürzen oder sich den Schädel am Kaminsims zertrümmern. Sie tat nur immer so, als wolle sie es tun.

Statt mit Vernunft waren seine Eltern mit Theatralik begabt.

„Welch schändlichen Verbrechens haben wir uns nur schuldig gemacht, Jasper, um mit einem so herzlosen Kind gestraft zu sein?“, jammerte sie.

„Oh Lisle, oh Lisle.“ Lord Atherton hob die Hand an die Stirn und nahm seine liebste King-Lear-Pose ein. „Auf wen soll ein Mann bauen, wenn nicht auf seinen ältesten Sohn und Erben?“

Noch ehe er zu seinem üblichen Monolog über kaltherzige Ungeheuer und undankbare Kinder anheben konnte, übernahm Mutter den Part: „So wird uns unsere Nachsicht vergolten!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Das ist unser Lohn dafür, dich in die Obhut Rupert Carsingtons gegeben haben, dem verantwortungslosesten Mann in ganz England.“

„Dich kümmern nur die Carsingtons“, sagte Vater. „Wie oft hast du uns in all den Jahren aus Ägypten geschrieben? Ich kann die Briefe an einer Hand abzählen.“

„Warum sollte er uns schreiben, wo er doch niemals an uns denkt?“, sagte Mutter.

„Ich bitte ihn um einen Gefallen und ernte nur Spott!“ Vater stürmte an den Kamin und hieb mit der Faust auf den Sims. „Mein Gott, wie soll ich es nur ertragen? Nichts als Ärger und Sorgen! Du wirst mich noch ins Grab bringen, Lisle.“

„Oh, Liebster, sag das nicht!“, kreischte Mutter. „Ich könnte nicht ohne dich sein. Keinen Tag würde ich ohne dich ertragen. Ich würde dir ins Grab folgen, und unsere armen Jungen wären Waisen!“ Sie schwankte vom Fenster auf einen Stuhl und begann haltlos zu schluchzen.

Mit erzürnter Hand zeigte Vater auf seine aufgelöste Gemahlin. „Sieh nur, was du deiner Mutter angetan hast!“

„Das macht sie doch immer“, sagte Lisle.

Vater ließ die Hand sinken und wandte sich schnaubend ab. Mit großer Geste zückte er sein Taschentuch und drückte es in Mutters Hand – gerade noch rechtzeitig, denn das ihre troff bereits von Tränen. Mutter war ganz exzellent im Weinen.

„Um der Jungen willen können wir nur beten und hoffen, dass dieser unselige Tag niemals kommen wird“, sagte Vater und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. Auch ihm standen Tränen in den Augen. „Lisle würde es natürlich nicht kümmern. Er wäre längst auf und davon, würde bei den Barbaren im Sand graben und seine Brüder ihrem freudlosen Schicksal überlassen. Bei Fremden ließe er sie leben, bei Leuten, die ihr Wohlergehen nicht kümmerte.“

Seine Brüder lebten doch jetzt schon inmitten von Fremden, die ihr Wohlergehen nicht kümmerte, dachte Lisle. Würden sie Waisen, kämen sie zu einer der zahlreichen Schwestern seines Vaters. Obwohl Lord Atherton vor einigen Jahren eine verloren hatte – namentlich Lord Rathbournes erste Frau –, blieben ihm doch noch sechs weitere, die sich allesamt bester Gesundheit erfreuten und ein paar Köpfe mehr oder minder in ihrer zahlreichen Kinderschar kaum bemerken dürften. Ohnehin kümmerten sie sich nicht selbst um ihre Kinder. Der Nachwuchs wurde von Bedienten, Hauslehrern und Gouvernanten aufgezogen. Eltern taten wenig mehr, als diesen Frieden dann und wann zu stören und einem mit albernen Ideen auf die Nerven zu gehen, die reine Zeitverschwendung waren. So wie jetzt.

Aber nicht mit ihm. Er würde sich nicht manipulieren lassen. Wenn er sich in den irrationalen Strudel ihrer Gefühle ziehen ließe, käme er niemals mehr daraus hervor.

Um festen Boden unter den Füßen zu behalten, hielt man sich am besten an Fakten.

„Die Jungen haben genügend Verwandte, die sich um sie kümmern könnten, und mehr als genug Geld für ein auskömmliches Leben haben sie auch. Sie werden schon nicht im Waisenhaus landen“, sagte er. „Und ich werde nicht nach Schottland gehen.“

„Wie kannst du nur so kalt und herzlos sein?“, rief seine Mutter. „Das Erbe deiner Ahnen der Auslöschung anheimzugeben!“ Sie ließ sich zurücksinken. Das Taschentuch fiel ihr aus den erschlaffenden Fingern, als sie sich zur Ohnmacht anschickte.

Der Butler trat ein. Wie stets gab er vor, die zur Schau gestellten emotionalen Extravaganzen nicht zu bemerken.

Die Kutsche, ließ er wissen, stehe nun bereit.

Das Drama war mit dem Aufbruch nicht beendet, sondern dauerte während der ganzen Fahrt nach Hargate House an. Und dank der späten Abfahrt und des dichten Verkehrs waren sie unter den letzten Gästen, die sich zu den Feierlichkeiten einfanden.

Vor und nach der Begrüßung ihrer Gastgeber und aller versammelten Carsingtons nahmen Lisles Eltern ihre Vorhaltungen wieder auf und ließen auch nicht davon ab, während sie sich durch die Menge ihren Weg zur Jubilarin bahnten.

Die Dowager Countess of Hargate, das Geburtstagskind, schien unverändert guter Dinge. Aus Olivias Briefen wusste Lisle, dass die alte Dame noch immer ausgiebig tratschte, trank und mit ihren – bei den Carsingtons als die Harpyien bekannten – Freundinnen Whist zu spielen pflegte. Nebenbei fand sie zudem noch reichlich Zeit und Energie, ihre Familie zu drangsalieren.

Teuer gewandet nach der neuesten Mode, in der Hand ein Glas, saß sie zur Feier des Tages auf einer Art Thron, um den die Harpyien sich scharten wie Hofdamen um eine Königin. Oder, je nach Betrachtungsweise, wie Motten um das Licht.

„Du siehst etwas blass um die Nase aus, Penelope“, ließ sie Mutter wissen. „Manch eine blüht auf, wenn sie schwanger geht, manch eine nicht. Wie bedauerlich, dass du nicht aufblühst – von deiner Nase abgesehen. Die ist rosig genug, ebenso deine Augen. Wäre ich in deinem Alter, wüsste ich Besseres mit mir anzufangen, als die ganze Zeit zu heulen. Und Kinder würde ich auch keine mehr in die Welt setzen. Hättest du mich gefragt, hätte ich dir geraten, das Kinderkriegen in einem Rutsch hinter dich zu bringen, anstatt jahrelang zu pausieren und erst wieder damit anzufangen, wo deine Schönheit verwelkt und dein Körper verbraucht ist. Aber du hast mich ja nicht gefragt.“

Nachdem sie Mutter die Sprache verschlagen und ihr Gesicht doch noch zum Blühen gebracht hatte, wandte Ihre Ladyschaft sich Lisle zu. „Ah, unser Weltenbummler ist zurückgekehrt, braun gebrannt wie eine Haselnuss. Es muss schockierend für dich sein, so viele vollständig bekleidete junge Damen zu sehen, aber keine Sorge: Das lässt sich ändern.“

Ihre Freundinnen lachten laut.

„Allerdings“, meinte Lady Cooper, mit Anfang siebzig eine der Jüngeren. „Wollen wir darauf wetten, Eugenia, dass alle jungen Damen sich insgeheim fragen, ob er wohl überall so braun gebrannt ist wie im Gesicht?“

Mutter stöhnte leise.

Die Dowager Countess beugte sich zu ihm vor. „Deine Mutter war schon immer ein verklemmtes kleines Ding“, raunte sie vernehmlich. „Hör gar nicht auf sie. Es ist mein Geburtstag, und ich will, dass ihr jungen Leute euch vergnügt. Hier wimmelt es von hübschen Mädchen, die nur darauf brennen, unseren großen Abenteurer kennenzulernen. Also los, Lisle. Lauf schon. Und wenn du Olivia dabei erwischst, sich gerade wieder zu verloben, sag ihr, sie soll sich nicht lächerlich machen.“

Sie winkte ihn fort und widmete sich wieder seinen Eltern. Frei von Gewissensbissen überließ Lisle sie ihrem Schicksal und stürzte sich ins Getümmel.

Die Dowager Countess hatte nicht zu viel versprochen: Im Saal wimmelte es von reizenden jungen Damen, gegen deren Verlockungen Lisle keineswegs gefeit war – vollständig bekleidet oder nicht. Gegen ein Tänzchen hatte er auch nichts einzuwenden. An Partnerinnen herrschte kein Mangel, und er amüsierte sich bestens.

Doch alldieweil ließ er seinen Blick über die Menge schweifen, hielt nach einem feuerroten Haarschopf Ausschau.

Wenn Olivia nicht tanzte, so spielte sie gewiss Karten – und nahm hemmungslos jeden aus, der dumm genug war, sich auf eine Partie mit ihr einzulassen. Oder sie saß, wie von der Dowager Countess befürchtet, in einem stillen, schummrigen Winkel und verlobte sich wieder einmal. Olivias zahlreich gebrochene Verlobungen, die ein Mädchen von geringerem Vermögen und geringerem Stand längst ruinert hätten, würden indes keinen Verehrer abschrecken. Es dürfte sie auch nicht stören, dass Olivia keine Schönheit war. Olivia Carsington war nämlich ein ziemlich guter Fang.

Jack Wingate, ihr verstorbener Vater, war der nichtsnutzige jüngere Sohn des kürzlich verschiedenen Earl of Fosbury gewesen, welcher ihr ein Vermögen hinterlassen hatte. Auch Viscount Rathbourne, ihr Stiefvater und Lisles Onkel, nagte nicht gerade am Hungertuch. Und war zudem der Erbe des Earl of Hargate, der in Geld nur so schwamm.

Während und zwischen den Tänzen war häufig von ihr die Rede: von dem gewagten Kleid, das sie zum Krönungszeremoniell des Königspaares getragen hatte, ihrem Kutschenrennen mit Lady Davenport, dass sie Lord Bentwhistle zum Duell gefordert hatte, nachdem er einen Lakaien mit der Peitsche gezüchtigt hatte, und so weiter und so fort.

Seit vier Jahren war sie in die Gesellschaft eingeführt, noch immer nicht verheiratet und noch immer Londoner Stadtgespräch.

Was ihn nicht im Geringsten überraschte.

Ihre Mutter Bathsheba war dem verwilderten Zweig der DeLuceys entsprossen: einer Sippe berüchtigter Schwindler, Betrüger und Bigamisten. Vor der Heirat Bathsheba Wingates mit Lord Rathbourne hatte Olivia deutliche Neigung erkennen lassen, in die Fußstapfen ihrer Ahnen zu treten. Danach hatte eine aristokratische Erziehung dieses Erbe erfolgreich kaschieren können, doch Olivias Wesen hatte sie allem Anschein nach wenig anzuhaben vermocht.

Lisle musste an eine Stelle aus einem der Briefe denken, den sie ihm kurz nach der Geburt seines ersten Bruders nach Ägypten geschickt hatte.

Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich endlich Junggeselle werde. Es würde mir gefallen, ein unstetes Leben zu führen.

Wenn man den Gerüchten glaubte, war ihr das gelungen.

Gerade wollte er sich nach ihr auf die Suche machen, als er bemerkte, wie Männer sich in einer Ecke des Saals drängten und um die beste Position rangen. Vermutlich wetteiferten sie um die Gunst der gerade amtierenden Schönheit des Abends.

Er ging hinüber.

Das Gedränge war so dicht, dass er zunächst wenig mehr sah als eine absurd hoch aufgetürmte Haarpracht, die über den beflissenen Köpfen der Verehrer emporragte. Zwei Paradiesvögel schienen mit den Schnäbeln im gelockten Haar zu picken, das übrigens rot war. Sehr rot.

Nur ein Mädchen auf der ganzen weiten Welt hatte solches Haar.

Eigentlich keine Überraschung, Olivia inmitten männlicher Aufmerksamkeit zu finden. Sie war von Stand und brachte eine stattliche Mitgift mit. Das dürfte mehr als genug dafür entschädigen, dass sie …

In diesem Augenblick teilte sich die Menge und gab ihm den Blick frei. Sie sah in seine Richtung. Wie gebannt blieb er stehen.

Das hatte er ganz vergessen.

Diese großen blauen Augen.

Einen Moment stand er so da, verloren in einem Blau, das so unergründlich war wie der ägyptische Nachthimmel.

Er blinzelte kurz, dann besah er sich den Rest, angefangen bei den albernen Vögeln, die auf den kunstvoll verschlungenen Locken wippten, bis zu den Schuhspitzen, die unter den Rüschen und Besätzen ihres blassgrünen Kleides hervorblitzten.

Dann ließ er seinen Blick wieder aufwärts wandern, und sein Verstand verlangsamte sich bis zum Schneckentempo.

Zwischen Haarpracht und Schuhen taten sich ein anmutig gebogener Hals auf, sanft abfallende Schultern und ein alabasterblasses, sehr präsentables Dekolleté … und so ging es gerade weiter … hinab zur Taille, die man locker mit einem Arm umfangen konnte und von der sich sehr gefällig gerundete Hüften ausschwangen …

Nein, das konnte nicht sein. Olivia hatte viele Vorzüge. Schönheit zählte nicht dazu. Wohl sah sie interessant aus, markant – ja, das wohl: diese verheerend blauen Augen, das feuerrote Haar. Beides war unverwechselbar, einzigartig. Und doch, es war ihr Gesicht unter dieser albernen Haarpracht … und konnte es doch nicht sein.

Er starrte sie an, ließ seinen Blick hinauf- und hinabschweifen, hinab und hinauf. Auf einmal schien es ihm unerträglich heiß und stickig im Saal, das Herz schlug ihm ganz sonderbar, und sein Kopf schwirrte von Gedanken, die er mit dem eben Gesehenen in Einklang zu bringen versuchte.

Vage war er sich bewusst, dass er etwas sagen sollte, nur wusste er nicht, was. Seine Manieren hatten schon immer ein wenig zu wünschen übrig gelassen. Er fühlte sich in einer anderen Welt heimisch, war ein anderes Klima gewohnt, andere Menschen. Wenngleich er gelernt hatte, sich in dieser zu bewegen, fiel es ihm doch nicht immer leicht. Er hatte es nie verstanden, zu sagen, was er nicht meinte, und nun wusste er nicht mal mehr, was er zu sagen meinte.

Augenblicklich ging alles, was man jemals zu seiner Zivilisierung unternommen hatte, verschütt. Wachte oder träumte er? Er hatte eine Vision, die ihn alle Regeln und Gepflogenheiten vergessen, alle leeren Phrasen und schicklichen Manieren noch unwesentlicher als sonst erscheinen ließ, sie in Stücke riss und in alle Winde zerstreute.

„Lord Lisle“, sagte sie und neigte so anmutig den Kopf, dass der Vögel Gefieder flatterte. „Wir haben gewettet, ob Sie wohl zu Urgroßmamas Geburtstag kämen oder nicht.“

Beim Klang ihrer Stimme, so vertraut, begann die Vernunft langsam wieder aus dem Nebel der Verwirrung hervorzukriechen.

Das war Olivia, sagte die Vernunft. Und hier waren die Fakten: ihre Stimme, ihre Augen, ihr Haar, ihr Gesicht. Ja, ihr Gesicht war anders, weil es weicher und weiblicher geworden war, aber es war ihr Gesicht, auch wenn die Wangen nun runder waren, die Lippen voller …

Er nahm wahr, dass um ihn her getuschelt wurde, dass einer der Männer fragte, wer er sei, und ein anderer etwas erwiderte. Aber all das schien unwesentlich, einer anderen Welt anzugehören. Er hatte nur Augen und Gedanken für Olivia.

Dann sah er ein Lachen in ihren Augen funkeln und um ihre Mundwinkel zucken.

Mit einem dumpfen Bum!, das gewiss bis in die hintersten Ecken des Saals zu hören sein musste, landete er wieder auf dem Boden der Tatsachen.

„Um nichts in der Welt hätte ich mir das entgehen lassen“, sagte er.

„Wie schön, dass du hier bist“, sagte sie. „Und das nicht nur, weil ich die Wette gewonnen habe.“ Sie bedachte ihn mit ausführlich prüfendem Blick, der warm über seine Haut strich und ihm alles Blut geradewegs in die Lenden schießen ließ.

Mein Gott, sie war gefährlicher denn je.

Wem dieser Blick wohl galt? fragte er sich. Wollte sie nur ihre Macht beweisen oder versuchte sie, all ihre Verehrer zugleich zu provozieren, indem sie vorgab, nur an ihm interessiert zu sein?

So oder so, vortreffliche Arbeit.

Dennoch: Genug war genug.

Sie war kein kleines Mädchen mehr – wenn sie das denn je gewesen war – und er kein kleiner Junge. Er wusste, wie das Spiel lief. Langsam ließ er seinen Blick zu ihren Brüsten schweifen. „Du bist erwachsen geworden“, stellte er fest.

„Ich wusste, dass du dich über meine Frisur lustig machen würdest“, sagte sie lachend.

Natürlich wusste sie genau, dass er nicht ihre Frisur gemeint hatte. Naiv war Olivia nie gewesen.

Doch er nahm den Wink auf und betrachtete pflichtschuldigst ihre Haarpracht. Obwohl sie die meisten Männer damit überragte, war er groß genug, den Vögeln ins Auge zu sehen. Ihm war schon aufgefallen, dass viele Frauen nun solch fantastische Haargebilde trugen. Während die Männermode in den letzten Jahrzehnten immer schmuckloser geworden war, schien die Garderobe der Frauen immer absonderlicher zu werden.

„Auf deinem Kopf sind zwei Vögel gelandet“, bemerkte er. „Und dort gestorben.“

„Welche Seligkeit, im Himmel gelandet zu sein“, ließ eine Männerstimme sich nahebei vernehmen.

„Sieht mir eher nach Totenstarre aus“, sagte Lisle.

Olivia bedachte ihn mit einem flüchtigen Lächeln. Etwas Seltsames tat sich in seiner Brust. Und weiter unten tat sich auch etwas, gar nicht seltsam und sehr vertraut.

Er scheuchte beide Regungen in selige Vergessenheit.

Sie konnte ja nichts dafür, sagte er sich. So war sie eben, eine Ungeheuerliche DeLucey durch und durch. Er durfte das nicht persönlich nehmen. Sie war seine beste Freundin und seine Verbündete, praktisch seine Schwester. Er rief sich in Erinnerung, wie sie gewesen war, als er sie kennengelernt hatte: eine magere Zwölfjährige, die ihm sein Skizzenbuch um die Ohren geschlagen hatte. Ein streitlustiges, gefährlich faszinierendes Mädchen.

„Ich habe mich für dich herausgeputzt“, sagte sie. „Zu Ehren deiner großen Entdeckungen in Ägypten. Die Seide meines Kleides habe ich passend zum Grün des Nils in deinen Aquarellen gewählt. Leider mussten wir uns mit Paradiesvögeln begnügen, da keine Ibisse aufzutreiben waren.“

Vertraulich senkte sie die Stimme und beugte sich zu ihm vor, bot ihm einen genaueren Blick auf alabasternes Fleisch, exakt so gerundet, dass es sich perfekt in seine Hand schmiegen würde. So aus der Nähe betrachtet, kam er nicht umhin den feinen feuchten Film zu bemerken, der sich in der Hitze des Ballsaals auf ihre Haut gelegt hatte. Auch einen feinen, fraulichen Geruch nahm er wahr, eine gefährliche Mischung aus erhitzter Leiblichkeit und leichteren, blumigen Duftnoten.

Warum hatte sie ihn nicht warnen können?

Immer schön an die magere Zwölfjährige denken, ermahnte er sich.

„Eigentlich wollte ich mich wie eine der Frauen auf den Grabmalereien kleiden, von denen du mir Kopien geschickt hattest“, fuhr sie fort. „Aber das war verboten.“

Andeutung und Betonung von verboten drohten ihm das Hirn zu erweichen.

Fakten, ermahnte er sich. Halte dich an die Fakten, sonst …

Wo waren eigentlich ihre Sommersprossen geblieben?

Vielleicht zeigte sich das warme Kerzenlicht gnädig. Oder sie hatte sich das Dekolleté gepudert. Oder hatte sie ihre Haut mit Zitronensaft gebleicht?

Nicht an ihre Brüste denken. Nur nicht den Verstand verlieren. Was hatte sie gerade gesagt? Irgendwas von Grabmalereien.

Er füllte seine Gedanken mit flachbrüstigen Gestalten auf Steinreliefs.

„Genau genommen sind die Frauen auf den Wandmalereien gar nicht bekleidet“, sagte er. „Zu Lebzeiten trugen sie nicht mehr als ein eng um den Leib gewickeltes Leinentuch.“

Was der Fantasie so wenig Spielraum ließ, dass sogar er, der sich streng an die Fakten halten und die Fantasie seinen Eltern überlassen wollte, wenig Mühe hatte, sich Olivias neuen kurvenreichen Körper in einem eng gewickelten Leinentuch vorzustellen.

„Nach ihrem Tod“, fuhr er fort, „wickelte man sie diesem Prinzip folgend von Kopf bis Fuß in etliche Lagen Linnen ein. Weder das eine noch das andere scheint mir für einen Londoner Ball geeignete Garderobe.“

„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, stellte sie fest. „Alles musst du wörtlich nehmen.“

„Auf Lisle ist Verlass, wenn es gilt, eine Chance zu verspielen“, ließ sich einer der Männer vernehmen und lachte spöttisch. „Statt der Dame Komplimente zu machen und um ihre Gunst zu buhlen – wie wohl kein Mann, der auch nur Augen im Kopf hat, umhinkommt –, lässt er sich zu sterbenslangweiligen Ergüssen über heidnische Gebräuche hinreißen.“

Ja, weil das sicheres Terrain ist.

„Ich kann Miss Carsington versichern, meine Aufmerksamkeit nicht einen Augenblick schweifen lassen zu haben“, erwiderte Lisle. „Ganz im Gegenteil: Ich bin geradezu gebannt.“

Am liebsten würde er dem Unhold an die Gurgel gehen, der ihr dieses Gesicht und diesen Körper beschert hatte – als ob sie noch weiterer Waffen bedurft hätte! Das konnte nur des Teufels sein. Vielleicht hatte sie sich in den fünf Jahren, während derer Lisle sie nicht gesehen hatte, auf einen teuflischen Pakt eingelassen. Leicht dürfte der Teufel es mit ihr nicht gehabt haben.

In den Tiefen seines Verstandes regte sich eine leise Stimme, eben jene Stimme, die ihn auch vor Schlangen, Skorpionen und Halsabschneidern warnte, die in dunklen Gassen lauerten. Pass auf, sagte die Stimme.

Aber das hätte er sich auch selber sagen können, denn er kannte Olivia schließlich.

Sie war gefährlich. Schön oder nicht, mit oder ohne Dekolleté – sie war von fataler Faszination. Mit Leichtigkeit lockte sie an sich vernunftbegabte Männer in die Falle, obwohl die meisten längst hatten mit ansehen können, wie sie den Seelenfrieden anderer ebenso vernunftbegabter Männer zerstört hatte.

Er wusste davon. In ihren Briefen hatte sie ihm ausführlichst von ihren unzähligen „romantischen Enttäuschungen“ berichtet. Unter anderem. Dazu kam, was man sich im Ballsaal von ihr erzählte. Er wusste, wie sie war.

Dass es ihm dennoch vorübergehend den Verstand vernebelte, lag einzig daran, dass er ein Mann war. Es war eine ganz natürliche, rein körperliche Reaktion, die sich wie von selbst einstellte, sowie man auf eine schöne Frau traf. Er hatte solche Reaktionen andauernd. Verstörend war die Sache nur, weil er dergestalt auf Olivia reagierte.

Die seine beste Freundin und seine Verbündete war, praktisch seine Schwester.

So hatte er sie immer gesehen.

Und so würde er sie weiter sehen, sagte er sich.

Das erste Wiedersehen war ein kleiner Schock gewesen, mehr nicht. Sein Leben war eine ganze Serie von Schocks, und für gewöhnlich fand er das sehr belebend.

„Ehe meine Aufmerksamkeit sich doch noch verflüchtigt“, sagte er, „wäre die Dame wohl so gütig, mir den nächsten Tanz zu gewähren?“

„Der gehört mir“, sagte einer der Männer, der ihr die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen war. „Miss Carsington hat ihn mir versprochen.“

Olivia ließ ihren Fächer zuschnappen. „Sie kommen schon noch an die Reihe, Lord Belder“, sagte sie. „Ich habe Lord Lisle seit Ewigkeiten nicht gesehen, und gewiss wird er bald wieder auf und davon sein. Er ist ein Meister im Verschwinden. Wenn ich nicht jetzt mit ihm tanze, wann dann? Er könnte Schiffbruch erleiden und ertrinken oder von einem Krokodil gefressen oder von einer Schlange oder einem Skorpion gebissen oder von der Pest dahingerafft werden. Sie müssen wissen, Lord Belder, dass er nur dann glücklich ist, wenn er Leib und Leben aufs Spiel setzen kann, um unser Wissen antiker Kulturen zu mehren. Mit Ihnen kann ich immer noch tanzen.“

Belder bedachte Lisle mit mörderischem Blick, Olivia mit einem Lächeln, und gab sich geschlagen.

Als Lisle mit ihr davonging, begann er zu begreifen, was sie so gefährlich machte und weshalb so viele Männer sich ihretwegen um Leib und Leben brachten.

Sie wollten sie haben und konnten nicht anders. Sie wusste das und scherte sich einen Teufel darum.

2. KAPITEL

Die behandschuhte Hand, die Olivia so beherzt ergriffen hatte, war warm, kräftig und viel zupackender, als Olivia sie in Erinnerung hatte. Als seine Hand sich um die ihre schloss, wurde ihr selbst ganz warm, was sie erschreckte – und das war keineswegs der erste Schock dieses Abends.

Hatte sie Lisles Hand je zuvor ergriffen? Nicht dass sie wüsste. Es war ganz instinktiv geschehen, war ganz selbstverständlich gewesen, mit ihm zu gehen, obwohl er kaum noch dem Jungen von einst ähnelte.

Zum einen war er ganz beträchtlich gewachsen, und das nicht nur rein körperlich, wenngleich die Veränderung seiner äußeren Erscheinung beachtlich genug war.

Als er eben zu ihr herübergekommen war, hatte er ihr glatt die Sicht auf den Rest des Saals verstellt. Größer als sie war er schon immer gewesen, aber nun war er nicht mehr schlaksig und ungelenk. Er war erwachsen geworden und strahlte eine Männlichkeit aus, die ihr schwindeln ließ.

Womit sie nicht allein zu sein schien. Zu den Verehrern, die sich beflissen um sie geschart hatten, hatten sich auch einige wenige ihrer Freundinnen gesellt, und ihr war nicht entgangen, wie sie Lisle angesehen hatten. Auch jetzt drehte man sich allenthalben nach ihnen um – und zur Abwechslung waren es nicht nur Männer, die schauten, und die Blicke galten nicht nur ihr.

Auch sie hatte eben kaum den Blick von ihm wenden können – und das, obwohl sie ihn so gut kannte. Vermutlich zog er so viel Aufmerksamkeit auf sich, weil er einfach anders war als andere Männer.

Verstohlen betrachtete sie ihn, begutachtete ihn mit dem berechnenden Blick der Ungeheuerlichen DeLuceys.

Dank der ägyptischen Sonne schimmerte seine Haut bronzen und sein blondes Haar hellgolden, doch das war längst nicht die einzige Veränderung, die sie an ihm wahrnahm.

Der schwarze Frack schmiegte sich um seine breiten Schultern, und die schmalen Hosen betonten seine langen, muskulösen Beine. Sein Linnen schimmerte makellos weiß, seine Schuhe waren glänzend schwarz. Obwohl er praktisch genau dasselbe trug wie andere Männer auch, wirkte es bei ihm doch anders. Irgendwie schien er weniger bekleidet zu sein als sie, was daran liegen mochte, dass kein anderer Gentleman es schaffte, so selbstverständlich alle Aufmerksamkeit auf den kraftvollen Körper zu lenken, der sich unter der eleganten Garderobe verbarg.

Sie sah, dass andere Frauen mitten im Gespräch innehielten, um ihn anzuschauen, oder seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchten.

Doch sie sahen nur das Äußere. Was, wie sie zugeben musste, schon aufregend genug war.

Sie hingegen wusste, dass er auch auf andere, weniger offensichtliche Weise anders war. Zum einen hatte er nicht die für einen Gentleman übliche Erziehung genossen. Daphne Carsington hatte ihn auf ihren ägyptischen Exkursionen gelehrt, was er auf keiner Schule und an keiner Universität hätte lernen können. Rupert Carsington hatte ihm Überlebenskünste beigebracht, deren die meisten Gentlemen kaum bedurften: wie man beispielsweise ein gut geschärftes Messer handhabte oder einen missliebigen Menschen aus dem Fenster stürzte.

All das wusste sie, denn er hatte ihr davon in seinen Briefen berichtet. Auf seine Stimme hingegen war sie nicht vorbereitet gewesen. Auf diesen betörenden unenglischen Einschlag, der sich in seinen aristokratischen Tonfall geschlichen hatte, und wie dieser Klang Bilder von Wüstensand und Beduinenzelten heraufbeschwor. Und von halbnackten Frauen, die sich auf türkischen Teppichen räkelten.

Auch hielt er sich anders als früher, was daran liegen mochte, dass er seit fast zehn Jahren in einer rauen, gefährlichen Welt lebte, wo er hatte lernen müssen, sich so leise und geschmeidig wie eine Katze oder eine Kobra zu bewegen.

Seine goldbraune Haut und das hellgoldene Haar ließen an einen Tiger denken, doch damit wurde man seiner Andersartigkeit nicht gerecht. Er bewegte sich eher wie … Wasser. Wenn er sich seinen Weg durch die Menge bahnte, ließ er sie in leisen Wellen erbeben. Frauen seufzten in stiller Verzückung und Männer begannen Mordgedanken zu hegen.

Was ihm gewiss nicht entgehen dürfte, hatte er doch gelernt, seine Sinne für jede noch so kleine Regung in seiner Umgebung zu schärfen. Aber er ließ sich nichts anmerken.

Sie hingegen, die ihn schon viel, viel länger kannte, merkte sehr wohl, dass er längst nicht so kühl und gelassen war, wie er sich den Anschein gab. Hinter der vernünftigen, beinah pedantischen Fassade verbarg sich ein leidenschaftliches, geradezu halsstarriges Wesen, das, so vermutete sie, sich wenig verändert hatte. Auch war er keineswegs so beherrscht, wie man vermuten könnte, und der grimmige Zug um seinen Mund ließ sie vermuten, dass seine Geduld kürzlich erst empfindlich strapaziert worden war.

Sie drückte seine Hand. Als er sie ansah, blitzten seine grauen Augen silbrig im Kerzenschein.

„Hier entlang“, sagte sie.

Sie führte ihn an einer mit Serviertabletts bewehrten Dienerschar vorbei, ließ seine Hand los, um sich im Vorbeigehen zwei Gläser Champagner zu nehmen, verließ schnurstracks den Ballsaal, überquerte den Korridor und verschwand in einem Vorzimmer. Nach kurzem Zögern folgte er ihr.

„Mach die Tür zu“, sagte sie.

„Olivia“, sagte er.

„Ach, ich bitte dich“, sagte sie. „Als ob ich noch einen Ruf zu verlieren hätte.“

Er schloss die Tür. „Du hast tatsächlich noch einen zu verlieren, wenngleich es mich wundert, dass du dich nicht schon vor Jahren ruiniert hast.“

„Es gibt wenig, das Vermögen und Rang nicht beheben könnten“, sagte sie. „Hier, nimm dir eins und lass mich dich erst mal richtig begrüßen.“ Als er ihr eines der Gläser abnahm, streiften seine behandschuhten Fingerspitzen die ihren.

Die Berührung brannte wie glühende Funken unter ihrem Handschuh, unter ihrer Haut. Auch ihr Herz sprühte Funken und begann heftig zu pochen.

Sie trat einen halben Schritt zurück und stieß mit ihm an.

„Willkommen zu Hause, mein Freund“, sagte sie. „Ich wüsste nicht, wann ich mich jemals mehr gefreut hätte, jemanden zu sehen.“

Am liebsten hätte sie ihm vor Freude die Arme um den Hals geschlungen. Was sie, aller Unschicklichkeit zum Trotz, wohl auch getan hätte, wäre da nicht dieser sonderbare Ausdruck in seinen silbrigen Augen gewesen, der ihr schon vorhin, als sie ihn so unverhofft erblickt hatte, den Atem hatte stocken lassen.

Er war ihr Freund, das wohl, und wahrscheinlich kannte nur Urgroßmama sie besser als er. Aber er war eben nicht mehr der Junge von einst, sondern ein Mann.

„Ich war zu Tode gelangweilt“, fuhr sie fort, „aber der Ausdruck in deinem Gesicht, als du meinen Busen entdeckt hast, war göttlich. Fast hätte ich lauthals lachen müssen.“

Sein Blick senkte sich auf Besagtes, und ihr wurde ganz warm, wo er sie betrachtete. Dann begann die Wärme sich auszubreiten und wurde immer heftiger. Ehe sie es sich versah, würde ihr wieder der Schweiß ausbrechen, so wie vorhin, als er sie so angesehen hatte. Es war ihr Warnung genug: Mit diesem Feuer sollte sie besser nicht spielen.

Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, als betrachtete er nicht ihre Brüste, sondern irgendwelche Hieroglyphen. „Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hattest du die noch nicht“, meinte er. „Ich war völlig aus dem Konzept gebracht. Wo hast du die her?“

„Wo ich sie her habe?“ Mein Gott, das sah ihm ähnlich. Sich über ihre Brüste Gedanken zu machen, als wären sie ein archäologischer Fund, den es zu bestimmen galt. „Sie sind einfach gewachsen. Alles an mir ist gewachsen. Langsam, aber stetig. Ist das nicht komisch? In allen anderen Belangen war ich wohl eher meiner Zeit voraus.“ Sie trank einen Schluck. „Vergiss meinen Busen, Lisle.“

„Das sagst du so leicht. Du bist kein Mann. Ich muss mich erst daran gewöhnen.“

Und sie musste sich erst daran gewöhnen, was in ihr geschah, wenn er sie so ansah. Sie lachte. „Dann lass dich nicht stören. Urgroßmama meint, die Zeit, wo kein Mann mehr einen Blick dafür übrig habe, komme noch früh genug, und ich solle mich so lange wie möglich daran erfreuen.“

„Sie hat sich kein bisschen verändert.“

„Doch, sie ist gebrechlicher und nicht mehr so flink wie früher. Aber sie lässt sich nicht unterkriegen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn sie mal nicht mehr da ist.“

Urgroßmama war ihre Vertraute, die Einzige, die all ihre Geheimnisse kannte. Mama und Stiefpapa konnte sie unmöglich alles erzählen. Sie hatten alles Erdenkliche für sie getan. Die Wahrheit würde sie nur beunruhigen, weshalb Olivia sie vor der Wahrheit beschützen musste.

„Ich weiß nicht, was ich heute Abend ohne sie getan hätte“, sagte Lisle. „Sie hat meine Eltern in Beschlag genommen und mich entkommen lassen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zerzauste es auf eine Weise, die Frauen um den Verstand zu bringen vermochte. „Ich sollte mich längst nicht mehr über sie aufregen, aber ich scheine die Kunst, sie zu ignorieren, noch immer nicht zu beherrschen.“

„Was kannst du denn diesmal nicht ignorieren?“, wollte sie wissen.

„Den üblichen Wahnsinn“, meinte er achselzuckend. „Ich will dich nicht mit den Details langweilen.“

Seine Eltern, so wusste sie, waren das Kreuz, das er zu tragen hatte. Sie kreisten ausschließlich um sich selbst. Andere Menschen, einschließlich ihrer leidgeprüften Kinder, besetzten lediglich Nebenrollen im großen Drama ihres Lebens.

Urgroßmama verstand es als Einzige, sie in ihre Schranken zu verweisen, indem sie kein Blatt vor den Mund nahm und tat, was ihr beliebte. Andere waren entweder nur perplex oder zu höflich oder befanden es nicht der Mühe wert. Selbst Stiefpapa wusste die Athertons zwar zu handhaben, stieß aber schnell an seine Grenzen, was seine Geduld so sehr strapazierte, dass er nur noch im äußersten Notfall intervenierte.

„Du musst mir alles erzählen“, sagte sie. „Ich bin ganz versessen auf Lord und Lady Athertons Wahnsinn. Im Vergleich zu ihnen komme ich mir so herrlich normal und vernünftig und durch und durch langweilig vor.“

Da musste er lächeln, ein leichtes Anheben des Mundwinkels nur, doch …

Ihr Herz tat einen Sprung.

Sie wich zurück und warf sich zwanglos in einen Sessel am Kamin. „Komm, wärm dich auf“, sagte sie. „Im Ballsaal war es heiß wie im Hades, aber dir kam es bestimmt wie ein Eishaus vor.“ Sie deutete auf den Sessel gegenüber. „Erzähl mir, was deine Eltern nun schon wieder von dir wollen.“

Er trat an den Kamin, setzte sich jedoch nicht. Eine Weile schaute er nur ins Feuer, dann sah er sie an, aber nur kurz, ehe er den Blick wieder auf die Flammen senkte, als habe er nie Faszinierenderes gesehen.

„Es geht um eine zerfallene Burgruine, die sich leider Gottes in unserem Besitz befindet, etwa zehn Meilen von Edinburgh entfernt“, begann er.

„Wie seltsam“, fand Olivia, nachdem Lisle ihr die Szene mit seinen Eltern kurz und knapp geschildert hatte. Die Extravaganzen hatte er drastisch gekürzt, da er wusste, dass sie sich das theatralische Beiwerk sehr gut selbst ausmalen konnte, hatte sie doch während der letzten neun Jahre mehr Zeit mit Mutter und Vater zugebracht als er.

„Wenn es nur seltsam wäre“, sagte er. „Bei ihnen ist das ganz normal.“

„Ich meinte auch die Gespenster“, sagte sie. „Wie seltsam, dass die Arbeiter sich von ein paar Gespenstern in die Flucht schlagen lassen. Denk nur mal daran, wie viele im Tower von London herumspuken. Beispielsweise der Henker, der seit Jahren schon die Countess of Salisbury um den Richtklotz scheucht.“

„Oder Anne Boleyn, mit ihrem Kopf unter dem Arm.“

„Und die jungen Prinzen“, meinte sie. „Was ich sagen will: Geister gibt es überall, und niemand scheint sich an ihnen zu stören. Wie seltsam also, dass sie ausgerechnet Schotten das Fürchten lehren sollten. Ich dachte, die Schotten lassen sich besonders gern bespuken.“

„Das meinte ich auch zu meinen Eltern, aber Vernunft war ja noch nie ihre Stärke“, sagte er. „Und eigentlich geht es ja gar nicht um die Burg oder diese Geistergeschichte. Sie wollen einfach, dass ich zu Hause bleibe.“

„Aber das würde dich um den Verstand bringen“, stellte Olivia fest.

Sie hatte ihn immer verstanden, vom ersten Tag an, da er ihr von seinem Entschluss erzählt hatte, als Entdecker nach Ägypten gehen zu wollen. Sein Nobles Ansinnen hatte sie es genannt.

„Ich würde mich gar nicht so sehr darüber aufregen“, sagte er, „wenn ich hier wirklich gebraucht würde. Meine Brüder brauchen mich zwar – sie brauchen irgendjemanden, der sich um sie kümmert –, aber ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Vermutlich würden meine Eltern es nicht mal bemerken, wenn ich sie mit nach Ägypten nähme. Aber sie sind noch zu jung. Das Klima bekommt Kindern nicht so gut.“

Sie legte den Kopf zurück und sah ihn an. Wenn diese großen blauen Augen zu ihm aufblickten, geschah etwas in ihm – etwas Kompliziertes, das nicht nur seine Fortpflanzungsorgane erfasste. In seiner Brust begann es zu hüpfen, und er verspürte einen leisen Schmerz, wie viele kleine Stiche, was ihn ziemlich beunruhigte.

Er wandte den Blick ab und starrte wieder ins Feuer.

„Was wirst du tun?“, fragte sie.

„Ich weiß es noch nicht“, sagte er. „Die elterliche Krise hatte ihren Höhepunkt heute Abend erreicht, kurz bevor wir aufbrechen wollten. Ich hatte noch keine Gelegenheit mir zu überlegen, was ich tun soll. Nicht dass ich wegen dieser dummen Geschichte in Schottland auch nur irgendwas zu tun beabsichtige. Um meine Brüder sollte ich mir Gedanken machen. Ich werde es zu gegebener Zeit entscheiden.“

„Du hast recht“, sagte sie. „Wegen der Burg brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Reine Zeitverschwendung. Wenn du …“

Sie verstummte, denn die Tür flog auf und Lady Rathbourne stürmte herein. Mit ihrem schwarzen Haar und den tiefblauen Augen – wenngleich nicht gar so blau wie die ihrer Tochter – war auch sie eine große Schönheit.

Die Lisle jedoch mit Gleichmut und Zuneigung betrachten konnte, ohne das verstörende Gefühle ihn bestürmten.

„Um Himmels willen, Olivia, Belder hat überall nach dir gesucht“, sagte sie. „Du hättest mit ihm tanzen sollen. Lisle, ich hätte Sie für schlauer gehalten, als sich von Olivia zu einem Tête-à-Tête verführen zu lassen.“

„Mama, wir haben uns seit fünf Jahren nicht gesehen!“

„Wenn es ihm nichts ausmacht, sich durch Heerscharen vernarrter Gentlemen zu kämpfen, kann er dich morgen besuchen“, beschied Ihre Ladyschaft. „Jetzt verlangt es andere junge Damen nach seiner Gesellschaft. Du hast Lisle nicht gepachtet, Olivia, und deine lange Abwesenheit lässt Belder langsam unruhig werden. Kommen Sie, Lisle, gewiss wollen Sie den Abend nicht im Clinch mit einem von Olivias Verehrern beenden. Ach“, seufzte sie, „es ist so lächerlich, dass mir die Worte fehlen.“

Nachdem sie das Vorzimmer verlassen hatten, trennten Lisles und Olivias Wege sich. Sie kehrte zu Lord Belder und ihren anderen Verehrern zurück, und er widmete sich den anderen jungen Damen, die durchaus charmant waren, sich aber so sehr von Olivia unterschieden, als gehörten sie einer anderen Spezies an.

Erst später, als er mit einer von ihnen tanzte, kam ihm wieder in den Sinn, was ihm just in dem Augenblick aufgefallen war, ehe Lady Rathbourne ihre Unterhaltung unterbrochen hatte: dieses Funkeln in Olivias blauen Augen, ehe ihr Ausdruck ganz in sich gekehrt wurde, was er schon vor Jahren zu deuten gelernt hatte.

Nachdenken. Olivia hatte nachgedacht.

Und wenn Olivia nachdachte, das würde ihre Mutter einem bereitwillig versichern, drohte Gefahr.

Somerset House, London

Mittwoch, 5. Oktober

Es handelte sich um eine nicht offizielle Sitzung der Gesellschaft für Altertumskunde. Zum einen, weil man sich für gewöhnlich donnerstags zu treffen pflegte. Zum anderen, weil diese Treffen nie vor November stattfanden.

Aber der Earl of Lisle fand sich eben nicht alle Tage in London ein, und im November wäre er gewiss längst wieder fort. Jeder Gelehrte, der sich für ägyptische Altertümer interessierte, wollte sich jedoch nicht entgehen lassen, was er zu berichten hatte, und so war die Veranstaltung, wenngleich kurzfristig einberufen, gut besucht.

Bei seinem letzten Aufenthalt in London hatte Lisle, obwohl gerade einmal achtzehn Jahre alt, einen wegweisenden Vortrag über die Namen der Pharaone gehalten. Genau genommen war es Daphne Carsington, die sich die Entzifferung der Hieroglyphen zur Aufgabe gemacht hatte. Das war allgemein bekannt. Allgemein bekannt war auch, dass sie ein Genie war. Nur leider war sie eine Frau. Weshalb ein Mann sie vertreten und an ihrer statt Theorien und Entdeckungen präsentieren musste. Ansonsten wären diese gnadenlos zerpflückt und verlacht worden vom lärmenden Publikum, das Frauen fürchtete und verabscheute, die sich Intelligenz anmaßten, geschweige denn mehr davon besaßen als sie.

Ihr Bruder, der diese Aufgabe für gewöhnlich übernahm, war außer Landes. Ihr Gatte, Rupert Carsington, wenngleich längst nicht so dumm wie er von vielen gehalten wurde, würde einen wissenschaftlichen Vortrag niemals mit ernsthafter Miene durchhalten – wenn er nicht gar währenddessen einschliefe.

Da Lisle und Daphne seit Jahren zusammenarbeiteten und er ihren Fähigkeiten höchsten Respekt zollte, fand er sich gern bereit, ihre jüngsten Erkenntnisse mit dem gebührenden Ernst vorzutragen.

Aber eine Person im Publikum schien das Ganze dennoch für einen Scherz zu halten.

Lord Belder saß neben Olivia in der ersten Reihe und machte sich über jedes von Lisles Worten lustig.

Falls er Olivia damit beeindrucken wollte, würde er sich auf eine Überraschung gefasst machen müssen.

Autor

Loretta Chase
Loretta Chase wuchs in Neu-England auf und machte zunächst was Sprache und Schreiben angeht nicht nur freudvolle Erfahrungen, denn in der Schule wurde sie in Rechtsschreibung und Grammatik richtiggehend gedrillt. Trotzdem – oder gerade deshalb? - studierte sie nach der Schule Literatur an der berühmten Clark University. Sie schrieb damals...
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