Ein wahrer Meister der Verführung

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Nie wieder wollte die schöne Witwe Anna ihr Schicksal in die Hände eines Mannes legen. Leider ist Robert Alden nicht irgendein Mann. Der Schauspieler am Theater ihres Vaters ist so verwegen attraktiv, dass ihm alle Frauenherzen zufliegen. Auch ihr Herz klopft wild, als sie nach einem Fechtkampf seine Wunden versorgt - und ihm gegen alle Vernunft in den Garten folgt. Ein zärtlicher Kuss im Mondschein, und schon entflammt ein verbotenes Verlangen in ihr. Noch ahnt Anna nicht, wie gefährlich ihre Gefühle sind. Denn Robert ist ein Spion der englischen Königin - und seine geheime Mission bedroht alles, was ihr lieb ist …


  • Erscheinungstag 07.04.2015
  • Bandnummer 313
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763961
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1589

Bei Gott, schon wieder ein Streit. Und Anna glaubte, den Grund dafür zu wissen.

Sie legte das Kostüm zur Seite, das sie ausbessern musste, und spähte über das Geländer der oberen Galerie, um einen Blick auf die Bühne werfen zu können. Die morgendlichen Proben der Theatertruppe Lord Henshaw’s Men hatten noch nicht begonnen, und nur ein paar Schauspieler saßen dort unten und rezitierten ihre Texte, während die alte Madge die schmutzigen Binsen von gestern vom Boden fegte. Alles sah nach einem ganz normalen Morgen im White Heron Theatre aus. Vielleicht hatte sie sich das Gezeter ja doch nur eingebildet.

Nein, der Lärm ertönte schon wieder, diesmal etwas näher. Er kam aus der Gasse vor dem Theater. Das heisere Brüllen eines Mannes, der Schrei einer Frau, dann spöttisches Gelächter.

Die Männer auf der Bühne hatten es ebenfalls gehört und brachen mitten im Satz ab, drehten sich um und schauten in Richtung der verriegelten Tür.

„Wie es scheint, ist Master Alden zurückgekehrt“, rief Anna den anderen mit fester, ruhiger Stimme zu. Das war aber auch das einzige Ruhige und Gefasste an ihr. Allein schon wie ihre Hände zitterten, während sie sich danach sehnte, Robert Alden am Kragen zu packen und ihn mit aller Kraft zu schütteln – und ihn dann an sich zu ziehen und ihn zu küssen …

„Dummkopf“, flüsterte sie, ohne so recht zu wissen, ob sie ihn oder sich selbst meinte. Sie hatte hart daran gearbeitet, selbst über ihr Leben zu bestimmen, und sie würde das nicht für einen unverschämt gut aussehenden Schauspieler aufs Spiel setzen, der nur Ärger bedeutete und sonst nichts.

„Sollen wir ihn reinlassen?“, fragte Ethan Camp, der Komödiant der Truppe, der nichts gegen eine ordentliche Prügelei einzuwenden hatte.

„Das müssen wir wohl“, erwiderte Anna. „Er schuldet uns noch ein neues Stück, und das werden wir niemals bekommen, wenn er mit zwei gebrochenen Armen dasteht.“

Sie drehte sich um und lief zu der engen Wendeltreppe, dann raffte sie ihre Röcke, um auf den schmalen Holzstufen nach unten zu eilen. Im leeren Theater hallten ihre Schritte von allen Seiten wider. Je näher sie kam, desto lauter hörte sich der Streit an, als würden die Beteiligten den Besuchern des Theaters etwas darbieten.

Doch Anna wusste nur zu gut, wenn da draußen Blut floss, dann war es keine rote Farbe, die aus einer unter dem Kostüm verborgenen Schweineblase gepresst wurde.

Der alte Elias, der Pförtner des Theaters, war bereits dabei, die Tür aufzuschließen. Die Schauspieler zückten ihre Dolche, und sogar Madge stand da und stützte sich auf ihren Besen, um dem Geschehen interessiert zuzusehen.

Als wäre das Leben in einem Theater nicht schon unberechenbar genug, dachte Anna kopfschüttelnd. Bei Robert Alden konnte man sich darauf verlassen, dass er alles immer noch etwas aufregender machte.

Und genau deshalb war sie ja so ein Dummkopf. Sie hatte ihr Leben endlich in Ordnung gebracht, nachdem ihre unglückliche Ehe ein Ende genommen hatte und sie als Witwe zurückgeblieben war. Sie half ihrem Vater bei seinen vielen Tätigkeiten, vor allem im White Heron Theatre, und sie konnte sich nichts Besseres vorstellen als die unterschiedlichen Herausforderungen, die ihre Arbeit mit sich brachte. Die Tatsache, dass sie gebraucht wurde, war für sie etwas Neues und Erfreuliches. Sie konnte ihre Arbeit tun und sich dabei hinter den Kulissen versteckt halten. Für die Gefahren, die eine Romanze mit sich brachte, hatte sie in ihrem Leben keine Verwendung mehr. Erst recht nicht, wenn es dabei auch noch um einen Schauspieler ging, der dazu noch ein Poet war.

Doch sie musste Rob Alden nur ansehen, und schon fühlte sie sich wie ein dummes kleines Mädchen, das vor Verlegenheit einen roten Kopf bekam und nur noch albern kichern konnte. Dann war sie wie die Heerscharen von Damen, die nur ins Theater strömten, um ihn anzuschmachten und ihm Blumen auf die Bühne zu werfen. Und um in den Logen ihre Röcke für ihn zu heben, wenn sie glaubten, dass niemand sonst etwas davon mitbekam.

Allerdings war er auch ein verführerischer Teufel, der die Magie der Poesie beherrschte und mit azurblauen Augen und einem strammen Hintern unwiderstehliche körperliche Vorzüge aufwies. Anna wollte sich von ihm nicht in Versuchung geführt fühlen. Sie weigerte sich, eine von seinen vielen mühelosen Eroberungen zu werden. Ihre Aufgabe bestand nur darin, ihm neue Stücke zu entlocken, neue wundersame Geschichten, mit denen man die Massen anziehen und hohe Gewinne machen konnte. Ein Stück von Robert Alden war immer ein Erfolg, der tagelang vor ausverkauftem Haus gespielt werden konnte.

Aber das würde es alles nicht mehr geben, wenn er bei einer Schlägerei den Tod fand, was Anna tagtäglich befürchtete. Immerhin eilte ihm sogar im an Tumulten reichen Viertel Southwark der Ruf voraus, ein aufbrausendes Temperament zu besitzen.

Kaum ging die zweiflügelige Tür auf, stürmte Anna auch schon nach draußen, in einer Hand eine furchterregende Waffe in Form ihrer Stoffschere, auch wenn sie sich in diesem Moment wünschte, sie hätte den langen Dolch bei sich, den sie immer dann bei sich trug, wenn sie für ihren Vater die Mieten eintrieb. Immerhin war die Schauspielertruppe jetzt dicht hinter ihr.

In Southwark herrschte zumindest in den Morgenstunden meist weitgehend Ruhe. Dieses Viertel, das so dubiose Zeitvertreibe wie Bärengruben, Bordelle und Spielhöllen zu bieten hatte – also all die zwielichtigen Vergnügungsorte, die man innerhalb der Stadtmauern nicht haben wollte und die man deshalb in die Vororte verbannt hatte –, brauchte morgens lange, ehe es nach dem nächtlichen Treiben aus dem Schlaf erwachte.

Hier und da standen Fensterläden offen, Menschen mit schläfrigen Gesichtern schauten nach unten, um der Ursache des Lärms auf den Grund zu gehen.

Anna sah als Erste die Frau, eine vollbusige Frau in einem Kleid, das wohl einmal die Farbe von Narzissen gehabt hatte, jetzt aber nur noch schmutziggelb aussah. Ihre aschblonden Haare hingen ihr strähnig über die Schultern. Sie weinte, ihre Tränen ließen die dick aufgetragene Schminke in ihrem Gesicht verlaufen.

Vor der Frau – ohne jeden Zweifel eine Hure – stand ein Mann, der wild mit einem Schwert fuchtelte. Er war ein Bär von einem Mann, mit gerötetem Gesicht und schwarzem Vollbart. Er machte einen unübersehbar unzufriedenen Eindruck und schien jeden Moment in die Luft gehen zu wollen. Anna verkrampfte sich, als ihr klar wurde, dass dieser Mann betrunken sein musste, was ihn nur noch unberechenbarer machte.

Im Gegensatz zu einem Theaterstück wusste hier niemand, wie das Ganze ausgehen würde. War Rob diesmal zu weit gegangen?

Sie drehte sich zu Rob um, den diese Szene gar nicht zu berühren schien. Vermutlich hatte er auch zu viel Ale getrunken, jedoch war ihm davon nichts anzumerken. Seine blauen Augen leuchteten wie ein Sommerhimmel, sein Grinsen hatte etwas Spöttisches, so, als sei es nichts weiter als ein großes Vergnügen, wenn man von einem Schwert durchbohrt wurde.

Im Gegensatz zu seinem Widersacher war Rob schlank und geschmeidig, und er strahlte die kraftvolle Eleganz eines Schauspielers aus. Sein offenes weißes Hemd gab den Blick frei auf einen Teil seiner muskulösen Brust – und auf Blut, das auf seiner Haut verschmiert war! In einer Hand hielt er ein Rapier.

Anna wusste, er war ein guter Kämpfer, der ausgezeichnet mit dem Stoßdegen umzugehen wusste. Sie hatte das zu viele Male mitansehen müssen, auf der Bühne ebenso wie in den Gassen des Viertels. Seine spöttische Ader und sein überschäumendes Temperament stießen bei streitsüchtigen Zeitgenossen mühelos auf offene Ohren und entsprechende Reaktionen. Diesmal war die Lage besonders bedrohlich. Eine solche Anspannung lag in der Luft, als müsste jeden Moment ein Blitz vom Himmel zucken.

„Mistress Barrett!“, rief Rob und beschrieb vor ihr eine kunstvolle Verbeugung. „Wie ich sehe, seid Ihr gekommen, um Zeuge unserer Unterhaltung zu werden.“

„Was ist denn diesmal der Grund?“, fragte sie und sah verhalten zwischen Rob und dem wütenden Hünen hin und her.

„Er ist ein verdammter Betrüger!“, brüllte der bärengroße Mann. „Er schuldet mir Geld für mein Vögelchen!“

Daraufhin schluchzte die Frau noch lauter. „So war’s nicht, das hab ich dir doch gesagt! Nicht alle Männer sind solche Schläger wie du! Ich hab nicht gearbeitet, als er bei mir war.“

„Aye“, stimmte Rob ihr gut gelaunt zu. „Der ein oder andere von uns weiß, wie sich ein Gentleman zu betragen und eine Dame angemessen zu umwerben hat.“

Gentleman? Anna presste die Lippen zusammen, um sich ein Lachen zu verkneifen. Robert Alden war vieles – schlagfertig, schlau und viel zu gut aussehend. Aber ein Gentleman war er ganz sicher nicht.

Dies war ein Streit wie viele andere vor ihm auch, bei dem es um die Bezahlung einer Dirne ging. Und doch konnte Anna spüren, dass da mehr im Spiel war. Sie ahnte, dass hinter dieser alltäglichen Meinungsverschiedenheit noch irgendetwas ganz anderes schwelte.

Sie setzte zu einer Entgegnung an, doch in diesem Moment erreichte die Anspannung ihren Höhepunkt, und das Chaos brach los. Mit schallendem Kampfgebrüll ging der Hüne auf Rob los, und schon zuckten die Klingen schneller durch die Luft, als Anna es sich hätte vorstellen können.

Plötzlich stürmten die Männer des Hünen, die sich bislang in einer Seitengasse versteckt gehalten hatten, brüllend näher. Aus dem Streit drohte ein blutiger Kampf zu werden. Erschrocken drückte Anna sich gegen die Wand in ihrem Rücken.

Doch sie hatte Rob unterschätzt, denn die Eskapaden der langen Nacht hatten ihm nichts von seiner Kraft und Schnelligkeit genommen. So geschmeidig wie ein Tiger wich er seinem Angreifer aus und bekam dessen Arm zu fassen und schleuderte ihn nach vorn, sodass er der Länge nach auf dem Boden landete. Ein lautes Knacken war zu hören, woraufhin die Gefolgsleute des Riesen wie erstarrt stehen blieben, während er vor Schmerzen aufheulte.

Rob deutete mit seiner Klinge auf die Gruppe. „Wer möchte der Nächste sein?“

Natürlich wollte niemand auf dieses Angebot eingehen, stattdessen rannten sie zu ihrem Anführer, halfen ihm auf und zogen sich geschlossen zurück, von der schluchzenden Hure gefolgt. Der Gewaltausbruch war so plötzlich beendet, wie er begonnen hatte.

„Ich hoffe, Ihr seid jetzt zufrieden“, fauchte Anna.

Rob stützte sich dicht neben ihrem Kopf an der Mauer ab. „Das bin ich allerdings. Die sind weggelaufen wie feige Ratten. Hat Euch das denn gar nicht amüsiert, Mistress Barrett?“

„Nein, keineswegs. Ich fand …“ Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass es sein Blut war, das auf seiner Brust und seinem Hemd klebte. „Ihr seid verletzt!“

Sie wollte den Schnitt berühren, doch Rob wich vor ihr zurück. „Das ist nur ein Kratzer.“

„Auch ein Kratzer kann einen Menschen unter die Erde bringen, wenn er nicht gründlich behandelt wird“, wandte sie ein. „Ich bin die Tochter von Tom Alwick, wie Ihr Euch sicher noch erinnern könnt. Wunden sind für mich nichts Ungewohntes. Lasst mich bitte einen Blick darauf werfen.“

Er sah an ihr vorbei zu den gaffenden Schauspielern. „Nicht hier“, gab er leise zurück.

„Was? Fürchtet Ihr Euch davor, dass Euer guter Ruf Schaden nehmen könnte? Meinetwegen, dann gehen wir eben in die Garderobe.“

„Mit Vergnügen werde ich mich für Euch meiner Kleidung entledigen, Mistress Barrett. Ihr müsst mich nur darum bitten …“ Plötzlich begann er zu schwanken, sein gebräuntes Gesicht wurde bleich.

Hastig legte Anna einen Arm um seine Taille, damit sie ihn stützen konnte. Größte Besorgnis erfasste sie, denn Robert Alden war nie bleich im Gesicht. Was mochte in der Nacht vorgefallen sein?

„Rob, was habt Ihr?“, keuchte sie erschrocken.

„Niemand darf davon erfahren“, antwortete er heiser.

Wovon durfte niemand etwas erfahren? „Ich werde es niemanden wissen lassen“, flüsterte sie. „Jetzt kommt mit nach drinnen, dann wird alles wieder gut werden.“

Wenn sie das bloß selbst hätte glauben können.

2. KAPITEL

Anna führte Rob durch das Labyrinth aus Gängen, die sich hinter der Bühne des White Heron erstreckten. Dort herrschte unheimliche Stille, in der Robs angestrengtes Atmen umso lauter wirkte. Der Geruch nach Staub, Schminke und Blut schnürte Anna die Kehle zu. Rob fühlte sich unnatürlich warm an, so, als hätte er hohes Fieber.

Auch wenn sie sich keine Sorgen machen wollte, konnte sie einfach nicht anders. Ihr ganzes Leben hatte sie mit hitzköpfigen Männern zugebracht, zunächst mit ihrem Vater, dann mit ihrem Ehemann und schließlich wieder mit ihrem Vater. Schlägereien und Streitigkeiten, Duelle sowie brutale Morde waren in den Straßen von Southwark und Bankside so sehr an der Tagesordnung, dass Anna längst gelernt hatte, mit solchen Männern umzugehen.

Doch Rob Alden, der auch gelegentlich aufbrausende Rob Alden, war ihr immer wie jemand vorgekommen, der über solchen Dingen stand, jemand, der mit einem Lachen auf den Lippen und einem geschickten Schwerthieb eine Auseinandersetzung für sich zu entscheiden wusste. Aus diesem Grund kannte und fürchtete man ihn. Man sagte ihm nach, dass sich hinter seinem Lächeln etwas Gefährliches verbarg, weshalb sie ihm aus dem Weg gingen, wann immer sie konnten. Anna hatte das oft genug beobachtet und sich jedes Mal darüber gewundert. Rob schritt, wie von einem beschützenden Zauber umgeben, durchs Leben – ganz im Gegensatz zu ihr selbst.

War dieser Zauber jetzt auf einmal verflogen?

Sie verdrängte ihre kalte, klamme Angst und führte Rob weiter bis in die verlassene Garderobe hinter der Bühne. Truhen voll mit Kostümen und Requisiten reihten sich an den Wänden, in einer düsteren Ecke stand die Attrappe einer Kanone. Anna schob einen Haufen stumpfer Rapiere zur Seite, damit sich Rob auf eine der ramponierten alten Truhen setzen konnte.

Während er schwerfällig Platz nahm, beobachtete er Anna skeptisch. Ihm war nichts von seinem üblichen sorglosen Lachen anzumerken, und er versuchte auch gar nicht erst mit ihr zu schäkern. Mit einem Mal wirkte er älter. Sein ansprechendes Gesicht mit den wie gemeißelten Zügen strahlte Härte aus. Wieso war ihr nie zuvor diese Kälte aufgefallen, die von ihm ausging?

Diese Erkenntnis ließ sie umso argwöhnischer werden und bestärkte sie in ihrem Entschluss, sich von seinem guten Aussehen nicht blenden zu lassen und stattdessen dafür zu sorgen, dass sie ihren so hart erkämpften inneren Frieden nicht aufs Spiel setzte.

„Was ist passiert?“, fragte sie und wandte sich ab, um ihren Korb aus einem der Regale zu holen. Da sich in einem Theater immer irgendjemand irgendwo verletzte, hatte sie einen Vorrat an Verbänden und Salben angelegt, um für alle Fälle gewappnet zu sein.

„Ihr habt es ja selbst gesehen“, sagte Rob, dessen Stimme genauso schroff klang, wie er selbst wirkte. Von seinem üblichen lässigen Humor war ihm nichts anzumerken.

„Ein Streit um eine Hure?“, fragte sie.

„Aye. So was kommt leider immer wieder vor.“

„Das ist wohl wahr.“ Ihrem Vater gehörten mehrere Bordelle, daher wusste sie, was sich dort hinter den Kulissen abspielte und dass Schauspieler mit zu den schlimmsten Gästen gehörten, da sie für den meisten Ärger sorgten. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass das noch längst nicht alles war, was sich abgespielt hatte.

Sie beobachtete Rob, wie er sein Hemd über den Kopf zog. Als der Stoff über seine Schulter strich, zuckte er leicht zusammen, und dann sah sie auch den Grund dafür: ein langer Schnitt, der von der oberen Brusthälfte bis zum Schulteransatz reichte und der nur knapp sein Herz verfehlt hatte. An einigen Stellen trat noch immer Blut aus.

Die zahlreichen anderen Narben auf seiner Brust nahmen Rob etwas von seiner auf den ersten Blick perfekten Schönheit und erinnerten Anna an die täglichen Gefahren, die das Leben mit sich brachte.

Mit einem feuchten Lappen tupfte sie behutsam und gründlich die Schnittwunde ab, dabei wahrte sie eine ausdruckslose Miene.

„Ein Streit über die Bezahlung?“, hakte sie nach, während sie vorsichtig das getrocknete Blut wegwischte, damit sie sich ein genaueres Bild von der Schwere der Verletzung machen konnte.

Rob atmete etwas angestrengter, aber er zuckte nicht vor ihren Berührungen zurück. Stattdessen verfolgte er scheinbar gelassen jede ihrer Handlungen.

Anna sah ihm ins Gesicht und verstand, warum die Frauen aus den Bordellen sich seinetwegen prügelten. Er war genau die Sorte Mann, die sie in ihrem Leben nicht brauchte. Aber mit seinem schönen Gesicht und dem schlanken, starken Körper stellte er eine Versuchung und eine Gefahr dar.

Sie konzentrierte sich wieder ganz darauf, die Wunde zu säubern.

„Aye“, antwortete er nach einer langen Pause. „Ihr Zuhälter hat anschließend versucht, von mir mehr Geld zu verlangen als zuvor vereinbart. Ich bin mir sicher, Euer geschätzter Vater würde das in einem von seinen Häusern nie machen.“

Waren seine Worte ironisch gemeint? Beinahe hätte sie gelacht, denn ihrem Vater, diesem alten Gauner, traute sie jede Geschäftspraktik zu. Dennoch hätte nicht mal er versucht, Robert Alden übers Ohr zu hauen.

Und auch sonst wagte es niemand in ganz Southwark. Zu viele von ihnen hatten bereits mit Robs Dolch oder seinem Rapier Bekanntschaft gemacht, und seit er nach einem Duell auf Leben und Tod für einige Zeit im Bridewell-Gefängnis gesessen hatte, war er noch kaltherziger geworden. Das alles hatte sich abgespielt, noch bevor er sich der Theatertrupppe Lord Henshaw’s Men angeschlossen hatte – und bevor er sich zu einem der beliebtesten Schauspieler des Ensembles und zum begnadeten Stückeschreiber entwickelt hatte. Anna kannte keine Einzelheiten über den Vorfall, aber sie hatte genug Klatsch und Tratsch darüber gehört.

„Und war das sein Werk? Das des Zuhälters, meine ich“, erkundigte sie sich, während sie eine klebrige Salbe auf seine Haut strich. „Ich würde nämlich jede Wette eingehen, dass die Frau nicht zu einer Klinge gegriffen hat.“

Seine vertraute Gelassenheit schimmerte durch, als er entgegnete: „Nein, sie hätte es nicht übers Herz gebracht, mein gutes Aussehen zu ruinieren. Aber es war auch nicht ihr schweinsgesichtiger Zuhälter, dem ich das hier verdanke.“

„Nicht? Dann waren es gleich zwei Schlägereien in einer Nacht? Das ist sogar für Eure Verhältnisse bemerkenswert.“

„Es ging um eine ältere Streitigkeit. Nichts, worüber Ihr Euch Gedanken machen müsstet, hübsche Anna.“

„Nun, dann will ich hoffen, dass Ihr diese Streitigkeit endlich beilegen konntet. Sonst wird sich eines Tages noch irgendjemand finden, dem es nichts ausmacht, Euer Aussehen zu ruinieren.“

„Ich bin gerührt, dass Ihr Euch solche Sorgen um mich macht.“

Anna musste lachen, während sie nach einem aufgerollten Verband griff und ihn fest um Robs Schulter und Oberkörper wickelte. „Ich mache mir mehr Sorgen um das Geschäft meiner Familie. Wenn Robert Alden nicht mehr im White Heron auf der Bühne stehen würde, hätte das geringere Einnahmen zur Folge, und mein Vater hat hohe Ausgaben.“

Plötzlich packte er ihr Handgelenk mit festem Griff. Trotz seiner Verletzung hatten ihn seine Kräfte nicht verlassen, und so zog er sie mühelos an sich, bis sie seinen Atem an ihrem Hals spürte und die verführerische Wärme seines Körpers.

„Mit diesen Worten verletzt Ihr mich, Anna“, sagte er, und dieses Mal war aus seiner tiefen, samtigen Stimme kein Lachen herauszuhören. „Denkt Ihr tatsächlich so von mir?“

Sie war sich nicht sicher, was sie von ihm denken sollte. Schon bei ihrer ersten Begegnung gleich nach dem segensreichen Ende ihrer umso unseligeren Ehe und nach ihrer Rückkehr ins Haus ihres Vaters war sie aus diesem Mann nicht schlau geworden. Er war unberechenbar, gut aussehend, temperamentvoll … kurz: Er war gefährlich.

Sie versuchte ihre Hand wegzuziehen, um auf sicheren Abstand zu ihm zu gehen. Für einen Augenblick wurde sein Griff noch fester, und sie dachte schon, er wollte sie nicht loslassen. Ohne zu merken, was sie da eigentlich tat, kam sie ihm sogar noch ein Stück näher.

Er gab ihr einen schnellen, festen Kuss aufs Handgelenk. „Natürlich denkt Ihr das“, murmelte er und ließ sie schließlich doch los.

Anna stolperte ein paar Schritte nach hinten. Sie fühlte sich wie benommen, und das gefiel ihr gar nicht. In ihrer Ehe hatte sie keinerlei Kontrolle über ihr Leben gehabt, und sie wollte nicht von einem Robert Alden, von einem Mann mit hübschem Gesicht und ungestümer Art erneut in eine solche Lage gebracht werden.

Sie würde nicht zulassen, dass ihr so etwas noch einmal widerfuhr.

Hastig nahm sie sein zerknittertes Hemd von der Truhe und warf es ihm zu. Trotz seiner Verletzung fing er es mühelos auf.

„Wir alle brauchen Euch hier, Robert“, sagte sie. „Aber Euer unbekümmertes Verhalten bringt uns alle in Gefahr.“

Als er darüber lachte, glaubte Anna einen verbitterten Unterton herauszuhören. War ihm bewusst, was er ihnen allen antat? Interessierte es ihn überhaupt?

Er zog das Hemd an und nickte. „Ich habe Euch wieder enttäuscht, hübsche Anna. Aber verzweifelt nicht. In zwei Wochen werde ich Euch ein neues Stück liefern. Ich bin davon überzeugt, dass sogar ich so lange gesund und unversehrt bleiben kann.“

Anna war sich da nicht so sicher. In Southwark lauerten Gefahren an jeder Ecke. Ihre Zweifel mussten ihr anzusehen sein, denn er lachte erneut.

„Vielleicht möchtet Ihr mich ja lieber in Eurer Dachstube einschließen“, schlug er belustigt vor. „Ich könnte jede fertige Seite unter der Tür hindurchschieben, und Ihr belohnt mich für jede vollendete Szene mit Brot und Ale – und allem, was Ihr sonst noch als Belohnung für mich erübrigen wollt.“

Dachte er dabei etwa an Küsse, wie er sie sich bei seinen Huren holte? Aufgebracht warf sie ihm eine Handvoll Verbände an den Kopf. „Führt mich nicht in Versuchung, Robert Alden! Sonst könnte es passieren, dass ich genau das mit Euch mache!“ Sie wirbelte herum und stürmte aus dem Raum, sein Gelächter folgte ihr nach draußen.

„Ich freue mich bereits darauf, Euer Gefangener zu sein, Anna!“, rief er ihr nach. „Ich wüsste auch schon, womit wir uns die Zeit vertreiben könnten …“

Sie warf die Tür hinter sich zu, um ihn nicht länger hören zu müssen, und kehrte ins Theater zurück. Dort hatten sich die Schauspieler versammelt und lungerten auf der Bühne herum.

„Habt ihr eigentlich gar nichts zu tun?“, fuhr Anna sie an. Im Moment war sie Schauspieler und deren Gehabe gründlich satt. „Wir haben heute Nachmittag eine Vorstellung, und es gibt noch immer genug zu erledigen!“

Sofort widmeten sie sich wieder ihren Proben, während Anna sich nach oben auf die Galerie begab, um weiter zu nähen, damit sie sich möglichst bald den vielen anderen Aufgaben widmen konnte, die noch erledigt werden mussten. Doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum in der Lage war, die Nähnadel festzuhalten.

3. KAPITEL

Kaum hatte Anna den Raum verlassen und die Tür hinter sich ins Schloss geworfen, ließ sich Rob auf der Truhe nach hinten sinken. Seine Schulter fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen. Die Salbe brannte. Allerdings würde sie die Heilung beschleunigen. Er spürte die Erschöpfung nach der langen Nacht, die er irgendwie hinter sich gebracht hatte.

Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und strich die Haare aus der Stirn. Eigentlich hatte es eine ganz simple Aufgabe sein sollen – und vor allem eine, die nicht viel Zeit kostete. Er sollte zu dieser Feier gehen, abwarten, bis alle mehr getrunken hatten, als sie eigentlich vertrugen, und dann nach den Dokumenten suchen. Im Vergleich zu dem, was er üblicherweise für Krone und Vaterland leistete, war das noch einfacher als einmal um das White Heron Theatre zu spazieren.

Indes war es diesmal nicht so einfach abgelaufen. Zwar war er auf die Dokumente gestoßen – aber man hatte ihn mit einem Dolch attackiert.

„Wird wohl Zeit für mich, in den Ruhestand zu gehen“, sagte er leise und lächelte sarkastisch. Niemand wurde von Staatssekretär Walsingham in den Ruhestand geschickt, es sei denn, man lag in einer Holzkiste und befand sich auf dem Weg zum nächsten Friedhof. Aber bei Gott, er war das Ganze allmählich leid.

Vorsichtig berührte er seine Schulter und ertastete den ordentlich gewickelten Verband auf seiner Haut, den Anna Barrett angelegt hatte. Er erinnerte sich an ihre zarten Finger, als sie seine Wunde gesäubert hatte, an das verhaltene Funkeln in ihren edelsteingrünen Augen. An ihren schlanken, geschmeidigen Körper, als sie sich gegen ihn gelehnt hatte. So dicht, dass er ihr einen Arm um die Taille hätte legen und sie an sich ziehen können, um sie zu küssen …

Sie war wunderschön. Dieses glänzende rotbraune Haar, die blasse Haut, diese vollen, verlockenden Lippen, die ihre kratzbürstige Art, auf Abstand zu ihm zu bleiben, wie einen Widerspruch in sich selbst erscheinen ließ. Schon seit Langem bewunderte Rob weibliche Schönheit, und als er Anna vor Monaten zum ersten Mal begegnet war, da hatte er sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. Unter ihrem kühlen Äußeren brannte die Leidenschaft, die nach ihm verlangte.

Aber sie wirkte unnahbar. Jeder in Southwark sagte, dass sie kein Verlangen nach Männern verspürte, auch nicht nach Frauen. Sie stand über allem, kühl und strahlend wie der Nordstern. Jeder Mann, der bei ihr sein Glück versuchte, wurde von ihr lachend abgewiesen und weggeschickt.

Also versuchte Rob es gar nicht erst. Schließlich gab es genug willige Frauen, mit denen er sich die Zeit vertreiben konnte, anstatt diese Zeit damit zu vertrödeln, auf Anna Barrett zu warten. Dennoch gefiel es ihm, sie aufzuziehen und mit ihr zu schäkern, nur um zu sehen, wie ihre Wangen diesen rosigen Schein annahmen und wie ihr Temperament in Wallung geriet. Noch besser gefiel es ihm, sie zu berühren, wenn sich eine Gelegenheit ergab.

Mehr als das wagte er jedoch nicht. Anna Barrett war so unerreichbar wie der Mond über Southwark, und er würde sie nicht in seine Welt hineinziehen. So herzlos und abgebrüht war er nicht … noch nicht.

Dennoch gab es Augenblicke, die er normalerweise sogar vor sich selbst verborgen hielt, Augenblicke, in denen er sich fragte, wie es wohl wäre, von ihr bewundert zu werden. Oder ihre zarten Lippen zu küssen und zu spüren, wie ihr Körper auf ihn reagierte.

Angesichts dessen, wie sie sich vorhin fluchtartig zurückgezogen hatte, war heute keiner von diesen Tagen. Außerdem musste er dafür sorgen, dass sie weiterhin glaubte, er wäre den Lohn für eine Hure schuldig geblieben – genauso wie sie es bei den vielen Malen davor auch geglaubt hatte. Sie musste ihn so sehen, wie er sich der Welt zeigte: als sorgloser Raufbold.

„Euer unbekümmertes Verhalten bringt uns alle in Gefahr“, hatte sie zu ihm gesagt und damit in einer Weise etwas Wahres ausgesprochen. Das White Heron Theatre kam für ihn einem Zuhause gleich, und die Theatertruppe Lord Henshaw’s Men war seit langer Zeit die einzige Familie, die er hatte. Er musste sie alle beschützen.

Er schnürte sein Hemd zu und ignorierte die Schmerzen. Der Leinenstoff hatte den Duft von Annas Rosenwasserparfüm angenommen, und er atmete ihn einmal tief ein, um noch einen Moment länger an sie erinnert zu werden. Obwohl er sich zu Tode erschöpft fühlte, durfte er sich jetzt nicht ausruhen und sich in die Erinnerung an Anna Barrett flüchten. Er musste diese Dokumente abliefern.

Jemand klopfte hastig an der Tür, und Rob verdrängte auch noch den letzten Rest von Schmerzen, um wieder in die Tarnung des gedankenlosen Spielers zu schlüpfen. Diese beiden Rollen waren ihm längst so in Fleisch und Blut übergegangen, als würde er auf der Bühne stehen und eine papierene Maske gegen eine andere austauschen. Konnte es so weit kommen, dass es ihm irgendwann zu leicht fiel? Dass er sein wahres Ich dabei aus den Augen verlor?

„Rob, bist du da?“, rief ein Mann. „Man sagte mir, dass du dich in der Garderobe versteckt hältst.“

Das war sein Freund und zeitweiliger Mitverschwörer Lord Edward Hartley. „Komm rein, Edward“, sagte er. „Ein besonders gutes Versteck kann es ja nicht sein, das ich mir hier ausgesucht habe.“

Edward kam herein und schloss die Tür hinter sich. Er war der höfischen Mode entsprechend gekleidet – ein schwarzes Samtwams, abgesetzt mit karmesinroter Seide, purpurfarbene Pluderhosen, dazu trug er einen mit Goldfäden bestickten kurzen Mantel und ein federbesetztes Barrett. Er wirkte wie ein schillernder Pfau.

Jedoch wusste Robert, dass unter diesem mit Edelsteinen verzierten Samt Stahl lauerte. Edward hatte ihm etliche Male das Leben gerettet, und er hatte das Gleiche wiederholt für ihn getan. Beide dienten sie derselben Sache, sodass Robert in Edwards Gegenwart seine sonst ständige Wachsamkeit wenigstens für kurze Zeit aufgeben konnte.

Edward hielt ihm einen Krug hin. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass es heute Morgen eine Schlägerei gegeben hat. Ich dachte mir, du könntest das hier vielleicht gebrauchen.“

„Die Dinge sprechen sich schnell rum“, erwiderte Rob, nahm den Krug entgegen und zog den Korken heraus. Der köstliche Geruch von Met schlug ihm entgegen, und er nahm einen tiefen Schluck. „Ich dachte, du wärst mit deiner hübschen Lady Elizabeth aufs Land gefahren.“

Als der Name seiner Liebsten fiel, grinste Edward wie ein liebeskranker Narr. „Noch nicht. Unsere Abreise verzögert sich um ein paar Tage, was natürlich für den Fall gut ist, dass du nach einer Prügelei zusammengeflickt werden müsstest.“

Mit dem Handrücken wischte Rob über seinen Mund. „Diesmal ist kein Zusammenflicken nötig. Mistress Barrett hat das schon ganz gut hinbekommen.“

„Ach, hat sie das?“ Edward zog eine Braue hoch und nahm Rob den Krug aus der Hand, weil er selbst auch einen Schluck trinken wollte. „Und weiß die reizende Mistress Barrett etwas über den wahren Grund für diesen Streit?“

Rob dachte an Annas Gesichtsausdruck, als sie ihm sagte, wie sich sein Verhalten auf sie alle auswirkte. „Sie weiß nur, dass ich mich wegen des Lohns für eine Hure gestritten habe. So wie das auch jeder andere weiß.“

Edward nickte. „Und die Papiere?“

„Die habe ich.“

„Soll ich dich begleiten, wenn du sie in der Seething Lane ablieferst? Wenn wir zu zweit unterwegs sind, gibt es auf dem Weg dorthin vielleicht nicht noch mehr Ärger.“

„Vielleicht morgen.“ Rob drückte den Korken zurück in den Flaschenhals, wobei er dem dringenden Verlangen widerstehen musste, den Krug auf den Steinboden zu schleudern, damit er in tausend Stücke zerbrach. Es war seine verdammte aufbrausende Art gewesen, die ihm das Ganze hier überhaupt erst eingebrockt hatte. Er hatte sich geschworen, sich nie wieder von seinem Temperament überrumpeln zu lassen, und doch war es zu diesem verdammten Kampf gekommen – und dazu, dass er Anna fast die Wahrheit über sich gesagt hätte. „Erst muss ich noch etwas anderes erledigen.“

4. KAPITEL

Anna war in die Bücher vertieft, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lagen, und versuchte sich auf die ordentlich notierten Zahlen zu konzentrieren, die zusammen die Tageseinnahmen des Theaters ergaben. Normalerweise liebte sie es, die Buchhaltung zu machen, denn am Ende lief immer alles auf die richtige Summe hinaus. Anders als das Leben waren diese Zahlen nachvollziehbar und verständlich.

Heute Abend jedoch verschwommen die Ziffern vor ihren Augen, und stattdessen sah sie immer wieder Robert Alden, seine blutverschmierte Schulter und die Wunde auf seiner Brust. Und sie sah seinen düsteren Blick, der den Eindruck erweckte, dass er tief in seinem Inneren schreckliche Geheimnisse mit sich herumtrug, die er niemandem anvertrauen durfte. So plötzlich, wie er ihr diesen Blick in seine Seele gestattet hatte, so plötzlich hatte er ihr ihn auch wieder genommen.

„Zum Teufel mit allem“, schimpfte sie und warf aufgebracht den Federkiel hin. Tintenkleckse verteilten sich dabei auf dem Blatt, das vor ihr lag. Natürlich hatte Robert Geheimnisse vor ihr. Jeder Mensch auf der Welt verheimlichte etwas vor den anderen. Das Leben war hart und jeder musste zusehen, wie er über die Runden kam. Das erlebte sie jeden Tag aufs Neue. Jeder machte sich auf diese oder jene Weise die Finger schmutzig. Sie trug selbst genügend Geheimnisse mit sich herum, und es gab genug Dinge, die sie bereute und bedauerte – da musste sie sich nicht auch mit den Problemen anderer Leute belasten.

Und dennoch hatte sein Blick sie völlig gegen ihren Willen berührt. Rob Alden war ein gut aussehender, fröhlicher Teufel, der eine Vorliebe für spöttisches Lachen hatte und der mit seinem Rapier bestens umzugehen wusste. Heute dagegen war er ihr irgendwie niedergeschlagen vorgekommen, so, als hätte er zu viel über eine Sache herausgefunden. Oder als hätte sich ein Freund zu viel als Feind entpuppt.

„Sei doch nicht so ein Dummkopf“, sagte Anna laut zu sich selbst. Im Augenblick war sie keinen Deut besser als diese in Tränen aufgelöste Hure in dem billigen gelben Kleid, die auf offener Straße um Rob geweint hatte. Dabei hatte sie keine Zeit für derartigen Unsinn und solche verklärten Gefühlsduseleien – schon gar nicht bei einem Halunken wie ihm, der tiefe Empfindungen gar nicht verdiente, weil er sowieso nur darüber lachen würde. Schauspieler waren gut darin, auf der Bühne Liebe vorzutäuschen, aber im wahren Leben aufrichtig zu lieben, dazu waren sie nicht in der Lage.

Sorgfältig kratzte sie die Tintenspritzer von dem Blatt, dann versuchte sie sich wieder auf die Zahlenkolonnen zu konzentrieren. Schillinge und Pfund – darüber musste sie sich jetzt Gedanken machen, denn diese Dinge verstand sie.

Plötzlich flog die Haustür auf, und ihr Vater kam in den Flur gestolpert. Durch die offene Tür konnte sie einen Blick auf das White Heron Theatre auf der anderen Seite des Gartens werfen, das jetzt bei Anbruch der Dämmerung still und verlassen dalag. Die Nachmittagsvorstellung war längst beendet, die Besucher waren in ihre Häuser am gegenüberliegenden Flussufer zurückgekehrt, oder aber sie gingen zweifelhaften Vergnügungen in den nahe gelegenen Tavernen und Freudenhäusern nach.

Wie es schien, war ihr Vater auch irgendwo dort unterwegs gewesen. Tom Alwicks rostbraunes Wollwams war verrutscht, der Hut saß schief auf seinem zerzausten grauen Haar, und obwohl er sich etliche Fuß von ihr entfernt befand, konnte sie seine Branntwein-Fahne riechen.

Anna klappte das Kontenbuch zu, ihre kostbare Stunde der Ruhe war vorüber. Jetzt blieb keine Zeit mehr, ein paar Gedichte zu lesen, da nun die allabendliche Routine begann. Wenigstens war ihr Vater im betrunkenen Zustand wesentlich umgänglicher als ihr verstorbener Ehemann. Bei ihm konnte sie davon ausgehen, dass er alsbald laut schnarchend vor dem Kaminfeuer einschlafen würde. Manchmal weinte er um ihre Mutter, die früh verstorben war und die er einfach nicht vergessen konnte.

Ihr betrunkener Ehemann hatte sie geohrfeigt, bevor er darauf bestand, dass sie ihren ehelichen Pflichten nachkam. Oh ja, das Leben hier zusammen mit ihrem Vater war wirklich viel angenehmer.

„Anna, mein Schatz!“, rief Tom, als er über die Türschwelle zur Wohnstube stolperte.

Sie sprang von ihrem Stuhl auf und bekam ihren Vater an den Schultern zu packen. Er lehnte sich schwerfällig gegen sie, während sie ihn zu dem Lehnstuhl vor dem Kamin brachte.

„Arbeitest du schon wieder?“, fragte er, als er sich auf das Kissen sinken ließ.

Anna legte die Beine ihres Vaters auf den Hocker vor dem Sessel. „Ich bin mit den Einnahmen der heutigen Aufführung beschäftigt. Sie fallen ein bisschen niedriger aus, obwohl Lord Edward Hartley seine übliche Loge genommen hat.“

„‚Das Dilemma des Dienstmädchens‘ ist ein altes Stück“, sagte er. „Wir werden wieder gute Einnahmen verbuchen, wenn Robs neues Drama anläuft. Das kannst du mir glauben.“

Falls sein neues Stück anläuft“, murmelte sie und zog ihrem Vater die Stiefel aus. Sie waren feucht und verdreckt vom Morast der Straßen des Viertels, weshalb sie sie neben den Kamin stellte, damit sie dort trocknen konnten.

„Was meinst du damit, meine Liebe? Rob hat noch nie zu spät abgeliefert. Und seine Stücke bringen uns immer viel Geld ein.“

Natürlich brachten sie viel Geld ein, denn die Frauen kamen in Scharen, um den Autor zu erleben, wie er auf der Bühne stand und eine seiner eigenen Figuren zum Leben erweckte. Diese Frauen bezahlten regelmäßig das höhere Eintrittsgeld, damit sie einen Platz auf einer der Galerien bekamen, außerdem zahlten sie die Leihgebühr für ein bequemes Kissen, und sie kauften Getränke.

Anna konnte sie gut verstehen, denn seine Stücke waren außergewöhnlich, auch wenn der Mann selbst sie in den Wahnsinn zu treiben vermochte. Seine wundervollen Geschichten handelten von der Macht und den Gefahren des Königtums, von Verrat, Liebe und Rache. Sie waren so anrührend und poetisch geschrieben, dass am Ende dem Publikum jedes Mal die Tränen in den Augen standen.

Selbst Anna, die jede Woche etliche Aufführungen zu sehen bekam, musste zugeben, dass Robert Aldens Worte und die von ihm erschaffenen Welten sie zu Tränen rührten. Seine Theaterstücke waren allen Ärger wert, den er ihr und anderen bereitete.

Jedenfalls war das für gewöhnlich der Fall.

Sie setzte sich ihrem Vater gegenüber an den Tisch. „Sein letztes Drama benötigte lange, ehe es vom Zensor abgesegnet wurde. Es vergingen Wochen, bis wir endlich die Erlaubnis bekamen, es aufzuführen. Er wird zu kühn, was seine Ideen für die Handlung angeht.“

Tom wischte ihre Einwände mit einer so ausholenden Handbewegung beiseite, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre. „Das Publikum liebt es, wenn ein Stück ein wenig über die Stränge schlägt.“

„Die Leute lieben das, der Zensor jedoch nicht. Wir können es uns nicht leisten, gutes Geld für ein Drama zu bezahlen, das wir gar nicht aufführen dürfen!“

„Alles wird gut ausgehen, Anna. Da bin ich mir ganz sicher. Du arbeitest in letzter Zeit zu viel, deswegen machst du dir auch zu viele Sorgen.“

„Mir gefällt meine Arbeit.“ Ihre zahlreichen Aufgaben sorgten dafür, dass sie immer beschäftigt war.

Mit zusammengekniffenen Augen sah ihr Vater sie an. „Du bist viel zu jung und zu hübsch, um dich immer nur mit der Buchhaltung zu befassen. Du solltest darüber nachdenken, dich wieder für Männer zu interessieren.“

Anna lachte verbittert auf. „Ein Ehemann hat mir gereicht, Vater.“

„Charles Barrett war ein gemeiner Schläger, und es war dumm von mir, ihm zu erlauben, dich zu heiraten“, erwiderte Thomas. „Aber nicht alle Männer sind so wie er.“

Nein, manche von ihnen waren so wie Robert Alden: besser aussehend und intelligenter, als es für sie selbst und für jede Frau gut sein konnte. „Ich bin mit meinem Leben so zufrieden, wie es jetzt ist. Führen wir denn etwa kein komfortables Leben?“

„Mein Leben ist auf jeden Fall komfortabler geworden, seit du wieder bei mir eingezogen bist. Das Haus befindet sich in einem tadellos gepflegten Zustand, und meine Gewinne aus meinen Unternehmungen haben sich verdoppelt.“

„Ja, weil ich dich dazu anhalte, die Gewinne anzulegen, anstatt sie ausschließlich für Wein und Ale auszugeben.“

„Ganz genau, meine Liebe. Dennoch sollte ich nicht darauf beharren, dass du hier bei mir bleibst. Ich will nicht nur an mich denken.“

„Ich habe dir doch gesagt, ich fühle mich hier wohl, Vater. Das kannst du mir glauben. Wie wäre es jetzt mit Abendessen? Ich kann Madge zur Taverne schicken, damit sie für uns Wildeintopf holt. Und wir haben auch noch frisches Brot …“

„Ach, das hätte ich ja fast vergessen!“, fiel Tom ihr ins Wort. „Ich habe einige Leute zum Abendessen eingeladen. Sie werden jeden Moment hier eintreffen.“

Anna seufzte. Wie sollte es auch anders sein? Nur selten konnten sie einmal einen ruhigen Abend verbringen, weil ihr Vater ständig Gäste zum Essen einlud oder ein paar Bekannte mitbrachte, mit denen er bis in die frühen Morgenstunden Karten spielte.

„Dann werde ich Madge sagen, sie soll eine große Portion Eintopf mitbringen, und am besten auch noch ein paar Pasteten.“ Sie läutete nach der Dienstmagd. Wenigstens erwarteten die Gäste ihres Vaters nie, dass irgendwelche erlesenen Köstlichkeiten auf den Tisch kamen. „Wer kommt denn eigentlich?“

„Natürlich ein paar von den Schauspielern. Spencer, Cartley, Camp, und vielleicht bringen sie noch den einen oder anderen Freund mit. Wir müssen über das neue Stück und die Besetzung reden.“ Dann ließ Tom eine Pause folgen, was nie etwas Gutes verhieß. „Und Robert auch noch. Ich habe ihn gefragt, als ich ihm im Three Bells begegnet bin.“

„Robert war im Three Bells?“ Anna hatte gedacht, er würde nach den Erlebnissen der letzten Nacht einen Bogen um alle Schänken machen und heimgehen, um sich auszuschlafen. Aber sie hätte wissen müssen, dass er sich keine Ruhe gönnte. Gleichgültig, was geschah, er musste einfach immer weitermachen, so, als wäre er eine seiner eigenen Bühnenfiguren. Dabei war sie ihm heute so nahe gewesen, dass sie für einen winzigen Moment Verwundbarkeit in seinen Augen hatte sehen können. Sie wusste, in Wahrheit war er ein warmherziger Mensch.

„Ich hab davon gehört, dass es heute Morgen ein wenig Ärger gab“, sagte ihr Vater. „Aber im Three Bells saß er in seiner üblichen Ecke und hat geschrieben. Es muss also alles in Ordnung sein. Wenn er hier ist, können wir ihn ja nach dem neuen Stück fragen.“

Anna starrte in die Flammen des Kaminfeuers. Robert Alden sollte heute Abend herkommen, doch sie wollte ihn so bald nicht wiedersehen. Wie sollte sie ihm gegenübersitzen und darüber schweigen, dass sie noch am Morgen seine Wunde behandelt hatte?

Und wie sollte sie sich davon abhalten, wieder seine Nähe zu suchen?

„Vater …“, begann sie, wurde aber durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Ich gehe schon“, rief Tom und versuchte, sich aus dem Lehnstuhl zu erheben.

„Nein, ich öffne“, widersprach sie ihm energisch. „Dann kann ich Madge auch gleich in die Taverne schicken.“

Auf dem Weg zur Tür machte sie sich innerlich darauf gefasst, jeden Moment Rob vor sich stehen zu sehen. Sie wollte unbedingt eine ausdruckslose Miene präsentieren. Doch der Besucher war der Schauspieler Henry Ennis, der auch zu Lord Henshaw’s Men gehörte.

Während er sich verbeugte und sie anlächelte, musste sie gegen ein völlig unerwünschtes Gefühl der Enttäuschung ankämpfen. „Master Ennis. Euch haben wir schon seit einigen Tagen nicht mehr im White Heron gesehen.“

Was die gut aussehenden Männer in der Truppe anging, kam Henry Ennis gleich hinter Robert, aber während Letzterer etwas von einem verführerischen Teufel hatte, bot Henry mit seinen blonden Haaren ein engelsgleiches Erscheinungsbild. Er war immer bester Laune, offen und umgänglich, man konnte ihm keine düsteren Geheimnisse anmerken, die er vor anderen verbergen musste.

Seine Gesellschaft vermochte Anna stets zu genießen, er brachte sie zum Lachen und ließ sie alle ihre Pflichten und Sorgen vergessen. In seiner Gegenwart verspürte sie anders als bei Rob nie Unsicherheit oder Verwirrung.

Gegen ihren Willen schaute sie dann aber über seine Schulter hinaus, konnte jedoch niemanden entdecken.

„Meine schöne Anna“, sagte Henry, fasste sie am Arm und führte sie in Richtung des Speisezimmers. „Es hat mich zutiefst geschmerzt, nicht in Eurer Nähe zu sein, doch da ich im letzten Stück nicht mitgespielt habe, hielt ich es für das Beste, aufs Land zu reisen und meine Familie zu besuchen, die ich in der letzten Zeit leider arg vernachlässigt habe.“

„Familie?“ Anna war überrascht. Das ungezwungene Künstlerleben in London ließ sie oft vergessen, dass die Schauspieler auch noch irgendwo Familie hatten. Galt das auch für Rob? Hatte er eine Frau und Kinder, die von ihm die blauen Augen geerbt hatten? Lebten sie irgendwo in einem kleinen gemütlichen Dorf?

„Meine Mutter und meine Schwester in Kent“, antwortete Henry. „Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen.“

„Dann hoffe ich, sie sind beide wohlauf.“

„Oh ja, bei bester Gesundheit, wenn auch ein wenig gelangweilt. Sie wollen immer Geschichten über das Leben in London hören.“

Anna lächelte ihn amüsiert an. „Nur Geschichten? Oder würde Eure Mutter nicht gern auf ein paar wohlgeratene Enkelkinder aufpassen wollen?“

Er lachte ein wenig wehmütig, sein Gesicht lief rot an. „Das mag sein. Es würde mir gefallen, wenn sie …“ Plötzlich unterbrach er sich und schüttelte den Kopf, wobei er den Blick von ihr abwandte.

„Wenn sie was, Henry? Kommt, Henry, wir kennen uns schon so lange, da werdet Ihr doch mit mir reden können.“

„Es würde mir gefallen, wenn sie Euch kennenlernen könnte, Anna. Sie würde Euch sicher sehr mögen“, erklärte er verlegen.

Anna war so verdutzt über sein Geständnis, dass sie in der Tür zum Speisezimmer stehen blieb. Er wollte sie seiner Mutter vorstellen? Aber sie waren doch nur befreundet. Zugegeben, er war ein netter Mann, und er sah wirklich gut aus, doch wenn sie Henry Ennis anschaute, dann sah sie nicht ihn vor sich, sondern wieder Robert mit seinen leuchtend blauen Augen, mit denen er ihr spöttisch bis tief in ihre Seele blickte, während sie seine Schulter verband. Ihre Finger ertasteten auch nicht Henrys Arm, sondern Robs nackte, warme Haut.

Sie rang sich zu einem Lächeln durch und dirigierte Henry weiter ins Speisezimmer. „Ich gehöre nicht zu den Damen, die von Müttern gern gesehen werden, Henry. Und ich werde wohl auch nie London verlassen. Ich lebe hier schon so lange, dass mir die Landluft viel zu sauber und zu wohlriechend vorkommen würde.“

Henry schien ihre Andeutung zu verstehen und lachte auf eine Weise, als hätte er nie im Ernst sein Ansinnen ausgesprochen. Aber vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet.

„Tja, und meine Mutter wird nie London besuchen“, sagte er. „Sie ist davon überzeugt, dass hinter jeder Ecke ein Schurke lauert, der Nichtsahnenden Böses will. Vermutlich werdet Ihr sie also nie kennenlernen.“

„Und womöglich hat Eure Mutter völlig recht damit, sich von London fernzuhalten“, entgegnete Anna leise. Sie lebte hier tatsächlich im Mittelpunkt einer gefährlichen Welt, dennoch wollte sie nicht von hier weggehen. Diese Stadt war ihr Zuhause, hier gehörte sie hin. Ein Leben auf dem Land war einfach nichts für sie.

Wieder wurde angeklopft, und Anna ließ Henry bei ihrem Vater zurück, der sich ins Speisezimmer begeben hatte. Sie eilte zur Tür, um aufzumachen. Eine Handvoll Schauspieler drängte ins Haus, begrüßte sie überschwänglich und zog dann weiter ins Speisezimmer. Ihr drängte sich der Verdacht auf, dass ihr Vater nur nicht ein paar Leute, sondern die ganze Truppe zu sich nach Hause eingeladen hatte, die weder bei den Speisen noch beim Wein wussten, wann es genug war.

Sofort schickte sie Magde und den Diener Ben los, damit sie aus der Taverne Speisen und Krüge mit Wein herbeischafften.

Der Abend verging wie im Flug. Anna achtete darauf, dass jeder mit Brot, Eintopf und Pasteten versorgt war. Irgendwann kam dann für sie der Moment, sich mit ihrem Weinkelch auf den Lehnstuhl am Kamin in der Wohnstube sinken zu lassen. Sie legte die Beine auf den Hocker und hörte aus dem Nebenzimmer Gelächter und laute Unterhaltungen. Ihr Vater würde bis zum Tagesanbruch zechen, bis ein paar Schauspieler ihn schließlich ins Bett trugen.

Aus dem Nähkorb holte Anna einen neuen Gedichtband, den sie erst heute an einem der Verkaufsstände vor St. Paul’s erstanden hatte. Der von einem Unbekannten verfasste Zyklus aus Sonetten handelte von der tief empfundenen Liebe eines Hirten zu einer für ihn unerreichbaren Göttin, die er einmal beim Baden beobachtet hatte. Der Titel lautete Demetrius und Diana, und derzeit waren die Gedichte das Tagesgespräch, was sie nach ihrer bisherigen Lektüre nur zu gut verstehen konnte. Die Gefühle waren so mitreißend und zugleich so traurig, da eine solche Liebe unmöglich war. Das Leben war einfach nur einsam und kalt, und davor konnte einen nicht mal die Leidenschaft bewahren.

Sie verlor sich in dieser Welt des innigen Verlangens, des Verzehrens nach einem anderen Menschen. Über den armen Hirten und seine vergebliche Liebe geriet das ausgelassene Lärmen der Gäste ihres Vaters völlig in Vergessenheit, bis auf einmal eine tiefe, samtige Stimme ertönte, die sie aus ihrer Träumerei holte.

„Sieh einer an, Mistress Barrett. Ihr seid ja eine heimliche Romantikerin.“

Das Buch fiel ihr aus der Hand, als sie sich hastig umdrehte und Robert entdeckte, der gegen den Türrahmen gelehnt dastand und ihr beim Lesen zugesehen haben musste. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen, aber er blickte sie ernst an.

Wie lange hatte er sie schon beobachtet?

„Ihr habt mich erschreckt“, sagte sie und wünschte, ihre Stimme hätte nicht so zittrig geklungen.

„Es tut mir leid, das war nicht meine Absicht.“

Autor

Amanda Mc Cabe
<p>Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden. Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award. Mit...
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