Ein Weihnachten zum Glücklichsein

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Wie jedes Jahr will Beth mit ihrem Mann und den Kindern ein entspanntes Weihnachtsfest bei ihren Eltern verbringen. Aber diesmal geht alles drunter und drüber: Ihr Bruder Ged steht mit einer neuen und schwangeren Freundin vor der Tür. Beths Schwester Lou ist wieder einmal Single, und auch bei Beth selbst läuft so einiges schief. Zu guter Letzt machen auch ihre Eltern eine überraschende Mitteilung, und plötzlich droht das Band, das die Familie zusammenhält, zu reißen …

"Ein großartiges, herzerwärmendes Lesevergnügen - perfekt für Weihnachten" Portobello Book Blog


  • Erscheinungstag 09.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767730
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Beth

Ich weiß wirklich nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Mein Leben ist wunderbar. Nein, wirklich, das ist so. Ich habe unglaublich viel Glück. Ich bin weitestgehend gesund, habe einen liebevollen Ehemann und zwei Kinder, die man zwar vielleicht nicht mehr als niedlich bezeichnen kann, die mich aber doch mit schöner Regelmäßigkeit zum Lachen bringen. Natürlich bereiten sie mir auch den üblichen Ärger, den man mit Teenagern nun mal hat, aber meine Familie liebt mich, und auch beruflich läuft es hervorragend. Ich bin eine erfolgreiche Kinderbuchautorin und – illustratorin. Warum also bin ich nicht zufrieden? Ich weiß, meine Schwester Lou könnte das nie verstehen, aber manchmal habe ich das Gefühl, das Leben läuft einfach an mir vorbei. Soll das wirklich alles gewesen sein, was es mir zu bieten hat? Ich komme mir so undankbar vor, und doch kann ich gegen diese Empfindungen nicht an. Wenn mein Leben so verdammt toll ist, warum habe ich dann das Gefühl, dass irgendetwas fehlt?

Prolog

August

Beth

Es ist hochsommerlich warm an diesem Nachmittag im August. Ich sitze in meiner Küche, die Verandatüren stehen weit offen, um den leisen Windhauch einzufangen, der draußen geht, und ich starre auf eine E-Mail, die ich heute Morgen von meiner Lektorin Karen bekommen habe. Seit Stunden lese ich sie immer wieder, während ich zeitgleich versuche, die perfekte Zeichnung für mein neues Bilderbuch anzufertigen. Meine Inspiration lässt mich im Stich, ein Entwurf nach dem anderen landet zerknüllt auf dem Fußboden.

Das kleinste Engelchen
Kurzzusammenfassung

Von Beth King

Dies ist die Geschichte eines Engelchens, das die Aufgabe hat, das Jesuskind zu finden. Das Engelchen zieht mit einer Gruppe anderer Engel los, verliert den Anschluss und verirrt sich. Es weiß nur, dass in Bethlehem ein besonderes Baby geboren wird und dass es einem magischen Stern folgen muss, der im Osten aufgegangen ist, um das Baby zu finden.

Auf seiner Reise trifft es einen jungen Hirten, einen Pagen, ein Kamel, einen Esel und zum Schluss ein paar Schafe, die es schließlich dorthin führen, wo der kleine Jesus geboren wurde. Es erreicht ihn vor allen anderen Engeln und singt ihm das allererste Weihnachtslied.

Beth, ich finde diese Geschichte einfach wundervoll. Und die Entwürfe, die du dazu gemacht hast, sind wirklich fantastisch. Ich bin überzeugt, dass beides auf großes Interesse stoßen wird, und es tut mir so leid, dass ich dich bei diesem Buch nicht weiter begleiten kann, aber du weißt ja, mein eigener kleiner Advent steht kurz bevor. Es war wirklich schön, mit dir zusammenzuarbeiten, und ich bin sicher, du bist bei Vanessa in guten Händen.

Ich wünsche dir viel Erfolg mit deinem kleinen Engel. Du hast das so sehr verdient.

Alles Liebe

Karen x

Es ist toll, dass Karen meine neue Idee gefällt, aber weniger toll ist, dass sie ausgerechnet in der größten Krise meines Schaffens in Mutterschaftsurlaub geht. Gerade als ich nach einem weiteren Entwurf greife und zu dem Schluss komme, dass er genau wie alle anderen nichts taugt, ruft meine Mutter an.

„Also, wie sehen eure Pläne für Weihnachten aus?“

Typisch Mum, sie kommt direkt zur Sache.

Ich könnte schwören, dass sie diese Frage jedes Jahr früher stellt. Nur für den Fall, dass Daniel und ich so einen hinterhältigen Plan schmieden könnten, wie dem Weihnachtsfest im Kreis der Familie Holroyd zu entfliehen und eine Woche Urlaub im Ausland zu buchen. Als ob wir das jemals tun würden. Als ob wir das jemals könnten.

„Mum, wir haben August!“, wehre ich ab. Dabei knülle ich den Entwurf zusammen und werfe ihn auf den Fußboden zu all den anderen verworfenen Zeichnungen. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Normalerweise fällt es mir nicht so schwer, meine Ideen zu Papier zu bringen.

„Und schon bald ist September, und du wirst viel zu viel um die Ohren haben, um mit mir zu reden.“ Meine Mum ist wirklich eine Meisterin der passiven Aggression. Nicht genug damit, dass ich jeden zweiten Tag mit ihr telefoniere, normalerweise besuche ich sie auch mindestens einmal pro Woche. Schließlich bin ich die Pflichtbewusste in der Familie. Das ist mein Job, während mein lieber Bruder Ged sich mit sechsunddreißig noch monatelange Auszeiten nimmt und meine Schwester Lou mit achtunddreißig von einer katastrophalen Liebesbeziehung in die nächste taumelt. Ich bin diejenige, die alles richtig macht: Ich habe eine Familie gegründet und bin in die Nähe meiner Eltern gezogen.

Sie wohnen noch in dem gemütlichen Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin, in der Kleinstadt Abinger Lea in Surrey. Unser Haus ist nur etwa eine Meile von ihrem entfernt. Früher haben wir näher bei London gewohnt, in dem Haus, das Daniel von seiner Mutter geerbt hat, aber als die Kinder kamen, konnte ich ein bisschen Hilfe gebrauchen, und hierherzuziehen schien sich als Lösung aufzudrängen. Es ist schön, in ländlicher Umgebung zu leben und gleichzeitig eine gute Nahverkehrsanbindung an London zu haben. Bei meiner Arbeit kommt mir das sehr zugute. Daniel hat bisher an einer Gesamtschule in der Londoner Innenstadt gearbeitet, wird aber demnächst eine neue Stelle in dem etwas größeren Nachbarort Wottonleigh antreten, der nur drei Meilen von uns entfernt liegt. Das wird uns das Leben sehr erleichtern.

Eigentlich lebe ich ganz gern in der Nähe meiner Eltern, aber manchmal wünschte ich mir doch, nicht das „wohlgeratene“ Kind zu sein. Dieses Gefühl überfällt mich in letzter Zeit immer öfter. Mum und Dad kommen noch bestens zurecht, aber trotzdem werde ich ständig für kleinere Gefallen in Anspruch genommen, fahre beispielsweise meine Mutter nach Wottonleigh, wenn Dad Golf spielt oder endlich den Kunstkurs besucht, zu dem ich ihn überredet habe. Er hatte schon immer eine kreative Seite, hat sie aber nie ausgelebt. Außerdem scheine ich stets Bereitschaftsdienst zu haben, wenn ihr Computer Probleme macht. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich so genervt bin, zumal die beiden sich so wunderbar um die Kinder gekümmert haben, als diese noch klein waren, aber manchmal drückt mir die Tatsache, dass ich es nie ganz geschafft habe, mich von meinem Elternhaus zu lösen, schier die Luft ab.

Etwas verspätet bemerke ich, dass Mum immer noch redet.

„Jedenfalls, wie ich zu sagen pflege: Wer es versäumt, sich vorzubereiten …“

„Bereitet sich darauf vor zu scheitern. Ich weiß, Mum. Aber wir tun doch sowieso jedes Jahr das Gleiche: Wir kommen zu euch. Ich weiß nicht, warum du meinst, danach fragen zu müssen.“

Ab und zu habe ich versucht, unsere Weihnachtsplanung zu modifizieren, und vorgeschlagen, Mum zu entlasten und alle zu uns einzuladen. Es ist ja nicht so, dass wir nicht genug Platz hätten. Doch jedes Mal hat sie das abgelehnt, und inzwischen habe ich den Versuch aufgegeben, obwohl die Kinder von Jahr zu Jahr weniger Lust darauf haben, Weihnachten bei ihren Großeltern zu feiern. Sam wird nächstes Jahr achtzehn, und Megan ist fünfzehn. Sie sind keine Kleinkinder mehr, und mir scheint, Mum vergisst das manchmal. Sie begreift nicht so recht, dass sie andere Pläne und Wünsche haben könnten, vor allem in der Weihnachtszeit. Die Sache ist einfach die: Mum liebt es, das Weihnachtsfest auszurichten, daher kommt es, dass ich, obwohl ich inzwischen selbst eine Familie habe, keine Chance bekomme, es selbst einmal zu tun. Ein einziges Mal nur war mir gestattet, auch nur in die Nähe des Truthahns zu kommen, und zwar in dem Jahr, in dem Mum eine Totaloperation über sich ergehen lassen musste. Und selbst da führte sie das Kommando vom Wohnzimmer aus. Ein Alptraum.

„Ich wollte nur sichergehen, Liebes“, sagt Mum. „Nur für den Fall, dass ihr vielleicht andere Pläne habt.“

Den Drang, abfällig zu schnauben, unterdrücke ich. Andere Pläne? Ich werde mich hüten.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mum, wir werden kommen“, sage ich und lege auf.

„Wer war das?“ Daniel kommt aus dem Garten herein, wo er den Rasen gemäht hat. Schweiß läuft ihm übers Gesicht, und er hat sein T-Shirt ausgezogen. Ich gönne mir eine Minute, um den Anblick zu genießen. Mein Mann hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Adrian Lester, er ist recht schlank und sexy für seine zweiundvierzig. Natürlich streiten wir uns auch mal wie alle Ehepaare, und während des Semesters, wenn er viel zu tun hat, wünschte ich mir manchmal, er hätte mehr Zeit für mich. Das Tolle ist jedoch, dass ich ihn trotz aller Höhen und Tiefen des Ehelebens immer noch faszinierend finde, und das ist in meinem Alter ein wahres Glück. Ich kenne so viele Frauen, die sich ständig über ihre Ehemänner beklagen. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten verstehen Daniel und ich uns sehr gut, und gerade jetzt wünschte ich mir, wir wären allein zu Hause. Wie dumm, dass beide Kinder da sind!

„Mum“, beantworte ich seine Frage. „Zieh dir besser dein T-Shirt wieder an, bevor die Kinder dich sehen. Sie wären entsetzt.“

Daniel schaut nach oben, wo ihre Zimmer liegen.

„Ich bezweifle, dass sie es eilig haben, nach unten zu kommen“, meint er ironisch, und ich muss lachen. Es sind Sommerferien. Sie sind Teenager. Wahrscheinlich müsste man eine Bombe zünden, um sie vor Mittag aus den Betten zu kriegen. Er kommt zu mir und gibt mir einen Kuss. Verlangen macht sich bemerkbar, und ich bedaure noch mehr, dass die Kinder nicht irgendwo verabredet sind.

„Bäh, du bist völlig verschwitzt“, scherze ich und stoße ihn weg.

„So, wie du mich am liebsten magst“, neckt er. „Was wollte deine Mum?“

Ich verdrehe die Augen. „Nachfragen wegen Weihnachten. Mal im Ernst, wir haben gerade mal August.“

„Ach, komm schon, das gefällt dir doch“, erwidert Daniel. „Die Feiertage im Kreis der Familie Holroyd sind geradezu legendär. Weihnachten wäre nicht Weihnachten, wenn wir es nicht bei deinen Eltern feierten.“

Das stimmt. Da war das Jahr, in dem Dad aus Versehen seinen Bart in Brand gesetzt hat, als er sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte. Dann das Jahr, in dem Mum vergessen hatte, den Truthahn auszunehmen, bevor sie ihn in den Ofen schob. Nicht zu vergessen das Jahr, in dem Lou und Ged einen gewaltigen Streit vom Zaun brachen und Lou schließlich tränenüberströmt in der Küche landete, wo ich und Mum sie trösten mussten. Halt, stopp. All das passiert fast jedes Jahr. Vielleicht hat Daniel recht. Ich schätze, Weihnachten wäre wirklich nicht dasselbe, wenn wir es nicht bei meinen Eltern feierten.

Der erste Weihnachtstag läuft in unserer Familie immer nach dem gleichen Muster ab. Mum und Dad kommen um halb elf von der Kirche zurück – in manchen Jahren lasse ich mich breitschlagen mitzukommen –, und ab elf gibt es die ersten Drinks. Dad besteht darauf, den Sekt schon so früh zu öffnen. Mum ist üblicherweise schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen und rackert sich mit dem Truthahn ab, damit wir pünktlich um eins in aller Ruhe essen können, bevor im Fernsehen die Ansprache der Königin übertragen wird. Danach sorgt Dad dafür, dass wir alle die Nationalhymne singen. Je nachdem, wie betrunken wir dann sind (Mum trinkt nicht mit und gibt ihrer Missbilligung deutlich Ausdruck), wird das eine saukomische oder eine qualvoll-peinliche Angelegenheit. Danach geht das allgemeine Gerangel um die Geschenke los, und schließlich brechen wir erschöpft vor dem Fernseher zusammen, bis Mum Truthahnsandwiches und Weihnachtskuchen serviert. Inzwischen haben Dad, Daniel und mein Bruder Ged gemeinsam eine Flasche Portwein geleert, und dann besteht Dad darauf, dass es Zeit sei für die Weihnachts-Scharade. Diesen Teil der Feier hasse ich wie die Pest. Alle anderen können sich dafür begeistern, aber ich habe Scharade schon als kleines Kind gehasst, und daran hat sich nie etwas geändert. Dad ist immer mit ganzem Herzen dabei. Meines Erachtens liegt das daran, dass sein Job bei einer Versicherung seine kreative Seite permanent unterdrückt; deshalb lebt er sie zu Hause so richtig aus. Ich hingegen verabscheue es, vor anderen Leuten etwas aufzuführen. Für mich ist es jedes Mal eine schwere Prüfung, wenn wir Scharade spielen. Vielleicht bin ich deshalb Künstlerin geworden. Ich lebe meine Kreativität lieber hinter einer Staffelei aus. Dass ich inzwischen längst erwachsen bin, hilft mir auch nicht, mehr Spaß daran zu haben. Ich sehne mich nach einem Weihnachtsfest ohne Scharade, aber vorerst stehen die Aussichten darauf ausgesprochen schlecht.

„Es wäre doch schön, einmal zu Hause zu feiern, findest du nicht auch?“, frage ich halbherzig, aber ich weiß, dass Daniel mich nicht verstehen wird. Seine Familie ist so anders als meine. Er stand seiner Mum sehr nahe. Sie starb, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mit seinem Vater kommt er nicht gut aus, sie haben kaum Kontakt zueinander, und er redet nur sehr selten über ihn. Immerhin weiß ich, dass sein Vater ein ziemlicher Nichtsnutz war, als Daniel noch Kind war. Die Situation macht mich traurig, denn Daniel kann so viel Liebe geben, und als Einzelkind hat er keine eigene Familie mehr, seit er seine Mutter verloren hat. Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass Weihnachten bei ihnen zu Hause immer eine ziemlich stille Angelegenheit war. Deshalb gefällt es ihm auch so sehr, an unseren Familienfesten teilhaben zu können.

„Nicht doch. Dann hätten wir ja die ganze Arbeit damit. Komm schon, Beth, es wird schön werden.“ Er kommt zu mir und umarmt mich. „Du wirst es genießen. Versprochen.“

Lou

Es ist ein Sonntagmorgen im August, und ich liege mit Jo im Bett, als Mum anruft.

„Hi“, melde ich mich, plötzlich von einem schlechten Gewissen gepackt. Sie weiß nicht Bescheid über mich. Auch nicht über Jo. Und wie immer, wenn ich in Jos Gegenwart mit ihr telefoniere, fühle ich mich, als hinge ein großes rotes Schild mit der Aufschrift „Deine Tochter ist eine Lesbe!“ über meinem Kopf, und Mum könne es irgendwie sehen. Natürlich ist das lächerlich. Irgendwann werde ich es ihr sagen. Irgendwann. Wenn ich sicher bin, dass sie nicht ausrastet und mich aus dem Haus wirft. Sie und Dad sind so altmodisch, dass ich keine Ahnung habe, wie sie es aufnehmen werden. Also werde ich es ihnen nicht allzu bald erzählen.

„Wer ist dran?“, fragt Jo und kitzelt mich an den Fußsohlen.

„Mum“, gebe ich ihr lautlos zu verstehen und bemühe mich, nicht zu kichern. Ich steige aus dem Bett, weil ich nicht abgelenkt werden möchte. Weil ich nicht das Gefühl haben möchte, mich benehmen zu müssen. Oh Gott, wenn es doch bloß anders wäre! Ich wünsche mir so sehr, meinen Eltern und meiner Familie sagen zu können, wer ich wirklich bin. Bisher habe ich es nicht einmal meiner Schwester Beth erzählt. Ich möchte es, und sie gibt mir immer wieder zu verstehen, dass Jo und ich sie besuchen sollen, aber ich habe sie glauben lassen, „Joe“ sei ein Mann, und jetzt weiß ich nicht, wie ich aus der Nummer wieder herauskommen soll.

Natürlich versteht Jo das nicht. Ihre Eltern gehen total entspannt damit um, dass sie homosexuell ist. Bei meinen Eltern kann ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Deshalb musste ich auch erst Ende zwanzig werden, bevor ich mir selbst wirklich eingestehen konnte, auf Frauen zu stehen und nicht auf Männer. In der Schule war Lesbe so etwas wie ein Schimpfwort, und ich hielt mich für seltsam, weil ich mich zu Mädchen hingezogen fühlte. Also ließ ich mich weiter auf scheußlichen Sex und zum Scheitern verurteilte Beziehungen mit Männern ein, bis mir eines Tages klar wurde, dass es so nicht weitergehen konnte.

Dennoch habe ich es meiner Familie nie gesagt und weiß auch nicht, wie ich das anstellen soll. Es ist echt armselig, sich als Achtunddreißigjährige den eigenen Eltern gegenüber noch nicht geoutet zu haben, und mir ist klar, dass Jo das nicht versteht, doch ich weiß einfach nicht, wie ich es anstellen soll.

Ich konzentriere mich auf das, was Mum sagt. Oh. Weihnachten. Natürlich. In meiner Familie muss im August über Weihnachten gesprochen werden. Das ist wirklich irre.

„Ja, natürlich komme ich zu Weihnachten, Mum. Wohin sollte ich denn sonst gehen?“

„Und du hast niemanden, den du mitbringen möchtest?“, versucht sie mich aus der Reserve zu locken. Großer Gott – ahnt sie etwas? Verfügt sie als Mutter etwa über hellseherische Fähigkeiten?

„Nein, niemanden. Aber keine Sorge – ich werde da sein.“

„Prima. Und wie steht’s bei der Arbeit? Sieht es inzwischen besser aus?“

Ich seufze. „Nicht wirklich. Wir hängen immer noch in der Luft und warten auf Informationen.“

Ich arbeite in der Kreditüberwachung, und die Firma, in der ich gerade erst angefangen habe, hat finanzielle Schwierigkeiten. Man hat uns gesagt, es könnte zu Entlassungen kommen, aber – Überraschung – bisher sei noch nichts entschieden. Die Warterei macht überhaupt keinen Spaß.

„Na schön, halte mich auf dem Laufenden“, sagt Mum. Ich verspreche es ihr.

Ich lege auf und schlüpfe wieder zu Jo ins Bett. Der süßen Jo, mit der ich ein herrliches Frühjahr und einen ebenso wunderbaren Sommer verbracht habe. Ich nehme sie in die Arme und versuche, nicht an meine Arbeit zu denken. Die Brücke überquere ich, falls ich irgendwann davor stehe. Im Augenblick ist Jo das Einzige, was zählt. Wir haben eine tolle Woche Urlaub in Griechenland gemacht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass jemand wie sie sich für mich interessiert, und muss mich immer wieder kneifen, weil ich so ein Glückspilz bin.

„Was wollte deine Mum?“, fragt sie.

„Sie wollte nur wissen, was ich Weihnachten vorhabe.“

„Weihnachten? Jetzt schon?“

„Ich weiß. Verrückt, oder?“

„Und, was hast du Weihnachten vor?“, fragt sie. „Wenn du willst, könnten wir gemeinsam etwas unternehmen.“

Hoppla. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin völlig verrückt nach Jo, aber irgendwie gelingt es mir anscheinend nicht, das Gefühl abzuschütteln, dass sie zu gut für mich ist. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich in der Vergangenheit so oft enttäuscht worden bin. Ich will mich nicht Hals über Kopf in diese Sache stürzen, wenn alles noch den Bach runtergehen kann.

„Vielleicht“, sage ich. „Mich um das Familien-Weihnachten zu drücken, ist äußerst schwierig für mich.“

„Ach, komm schon, Lou Lou. Wir werden Spaß haben.“ Sie wirkt ein wenig enttäuscht, was mich insgeheim begeistert. So gern ich mich auch richtig binden würde, ich habe viel zu viel Angst, die bisher erfolgreichste Beziehung meines Lebens zu gefährden. Also weiche ich aus.

„Bis Weihnachten ist es doch noch eine Ewigkeit hin. Lass uns nicht jetzt darüber nachdenken.“

Also tun wir es nicht, und ich verdränge die Angelegenheit. Wenn ich tatsächlich das Glück habe, Weihnachten noch mit Jo zusammen zu sein, kann ich mir immer noch Gedanken darüber machen.

Daniel

„Viel Glück.“ Beth gab Daniel einen Kuss, als er an seinem ersten Arbeitstag an der neuen Schule um acht Uhr morgens das Haus verließ. Für ihn hing eine Menge von diesem neuen Job ab.

„Ich fürchte, das brauche ich auch.“ Er verzog das Gesicht.

„Oh, ihr Kleingläubigen“, meinte Beth. „Am Ende dieses Arbeitstages werden sie dir aus der Hand fressen.“

Sosehr ihn ihr Vertrauen in ihn auch berührte, Daniel war sich nicht sicher, ob es gerechtfertigt war. Sein Wechsel von der großen innerstädtischen Gesamtschule, die er fünf Jahre lang geleitet hatte, zur der viel kleineren Lehranstalt im grünen Wottonleigh war ein großer Sprung. In vielerlei Hinsicht sollte die Arbeit hier leichter sein: Die Lehrerfolge waren besser, für die meisten Schüler war Englisch die Muttersprache, und ihre Eltern engagierten sich dem Vernehmen nach sehr sowohl für die Schule als auch für die Bildung ihrer Kinder. Das alles hatte für viele seiner bisherigen Schüler ganz und gar nicht gegolten. Daniel hatte gern in London gearbeitet, aber der Stress des Pendelns und der Druck im Job waren allmählich unerträglich geworden. Er und Beth hatten in den letzten paar Jahren viel zu wenig Zeit füreinander gehabt, und es behagte ihm nicht, dass er manchmal mehr über anderer Leute Kinder nachdachte als über seine eigenen. Deshalb schien es fast zu schön, um wahr zu sein, als sich ihm die Chance bot, in der Nähe seines Wohnortes zu arbeiten.

Aber … es war eine Sache, in der Londoner Innenstadt die seltene Ausnahme zu sein: ein schwarzer Schuldirektor. Hier draußen auf dem Lande war es eine ganz andere. Daniel war es gewöhnt, einer der wenigen Farbigen in Abinger Lea zu sein, aber würden die Eltern seiner neuen Schüler ihn auch akzeptieren? Würden seine Kollegen es tun? Das Direktorium der Schule hatte ihn vorgewarnt, dass sein Stellvertreter, Jim Ferguson, sich sehr gute Chancen auf Daniels Job ausgerechnet hatte. Er musste also mit Missgunst rechnen, vor allem wenn den anderen seine Art, die Schule zu leiten, nicht gefiel, und das schien nach ein paar kurzen Besprechungen mit seinen künftigen Kollegen ziemlich sicher. Soweit er das jetzt schon beurteilen konnte, war Jim Ferguson ein Schleimer, der sich die Arbeit gern leicht machte. Er war ein fähiger Verwaltungsmensch, aber ein Lehrer ohne Charisma. Die Leute respektierten ihn, mochten ihn aber nicht. Genau deshalb hatte er den Job auch nicht bekommen.

„Diese Schule braucht frisches Blut“, hatte Sarah Bellows, die Vorsitzende des Direktoriums, zu ihm gesagt. „Sie schlägt sich gut, könnte aber noch besser sein. Sie braucht eine starke Leitung und einen inspirierenden Lehrer in leitender Funktion. Wir glauben, dass Sie genau das bieten können.“

Das und die Chance, dass die Schule im nächsten Bericht der Schulaufsichtsbehörde Ofsted statt mit Gut mit Herausragend beurteilt werden würde. Die Prüfung stand irgendwann im Frühjahr an. Daniel gab sich keinen Illusionen hin, dass – inspirierender Schuldirektor oder nicht – im Grunde nur eines zählte: Sie wollten bessere Ergebnisse. Falls er die nicht liefern konnte, würden sie vermutlich zu Plan B umschwenken, und Jim Ferguson würde die Stelle bekommen. Daniel musste also einen Weg finden, um ihn mit ins Boot zu holen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass das alles andere als leicht werden würde, und dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass Jim zu spät zur Sitzung des Lehrerkollegiums erschien. Sie sollte dem Kennenlernen dienen, und Jim sollte sie leiten. Dass er es nicht für nötig hielt, pünktlich zu erscheinen, verhieß nichts Gutes. Es schien keinen Eindruck auf ihn zu machen, als Daniel ein paar seiner Ideen vorstellte, wie die Arbeitsmoral verbessert werden könnte: zum Beispiel indem sie ihre Freiheit als höhere Schule nutzten, um in angemessene Gehaltsstrukturen zu investieren und damit jüngeren Lehrern zu zeigen, dass es Chancen gab, durch harte Arbeit voranzukommen. Jim verdrehte nur die Augen, als Daniel davon sprach, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Er war entsetzt gewesen, als er bei einem Besuch der Schule im Sommer gesehen hatte, wie wenig die Lehrer sich bemühten, die Schulregeln durchzusetzen. Seine neue Rolle wollte er nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Schüler Stolz auf sich selbst und ihre Schule entwickelten, und zwar indem er ihnen mehr Verantwortung für Sauberkeit und Ordnung übertrug.

„Bei allem Respekt, Herr Direktor“, sagte Jim und schaffte es, diesen Titel wie eine Beleidigung klingen zu lassen, während er ihm ins Gesicht lächelte. „Ich glaube, Sie werden feststellen, dass das Klima an dieser Schule sehr gut ist und die Schüler bereits stolz auf ihre Schule sind. Ich fürchte, dass es da nicht viel zu verbessern gibt.“

„Es kann trotzdem nicht schaden, auch diesen Aspekt unter die Lupe zu nehmen, nicht wahr, Jim?“, sagte Daniel. „Und lassen wir doch bitte die Formalitäten. Nennen Sie mich einfach Daniel.“

Wenn es etwas gab, was Daniel verabscheute, dann unnötige Unterordnung in Hierarchien. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Jim das anders sah.

„Natürlich, Daniel“, erwiderte Jim grinsend und mit hörbarem Sarkasmus in der Stimme.

Da er sich nicht schon an seinem ersten Arbeitstag auf eine unerquickliche Diskussion einlassen wollte, machte Daniel einfach weiter, und als die Besprechung zu Ende ging, hatte er das Gefühl, sich nicht schlecht geschlagen zu haben. Offensichtlich standen ein oder zwei der Lehrer hinter Jim Ferguson, aber nach der Besprechung trat Carrie Woodall, die leitende Mathematiklehrerin, zu ihm. „Willkommen an Bord, und achten Sie nicht weiter auf Jim – er macht sich gern wichtig“, murmelte sie ihm zu. Daniel lächelte höflich, ging aber nicht auf ihre Bemerkung ein. Dennoch war es gut zu wissen, dass er Unterstützer hatte. Fest entschlossen, sich von Jims negativer Einstellung nicht die Laune verderben zu lassen, verbrachte er den Rest des Arbeitstages damit, sich einen Überblick über die Aufgaben zu verschaffen, die sein Job mit sich bringen würde. Es wurde ein sehr geschäftiger und anstrengender Tag, aber zum Feierabend fühlte er sich beschwingt. Die Kinder waren nett und höflich, die Lehrer überwiegend freundlich, und selbst wenn er Überstunden machte, wohnte er doch nur zwanzig Minuten von der Schule entfernt. Er hatte also mehr Zeit für Beth. Mehr Zeit für die Kinder. Trotz aller Schwierigkeiten, die vor ihm liegen mochten, war es eine gute Entscheidung gewesen.

Der erste Weihnachtstag

Beth

„Frohe Weihnachten!“

„Uff.“ Ganz vorsichtig öffne ich die Augen – hämmernde Kopfschmerzen zeugen von zu viel Wein und zu wenig Schlaf. Ich sehe Daniel, der mit einem Tablett, auf dem sich zwei Gläser Sekt sowie Rührei mit Lachs befinden, das Schlafzimmer betritt. „Müssen wir wirklich schon aufstehen?“

„Ich fürchte ja. Aber nach der letzten Nacht dachte ich mir, du hast ein Frühstück im Bett verdient.“

Obwohl ich gut und gern noch ein paar Stunden im Bett hätte verbringen können, rührt mich seine Aufmerksamkeit. Ich hatte gehofft, an diesem ersten Weihnachtstag schon früh munter und auf den Beinen zu sein, aber da Sam sich ausgerechnet gestern Abend hemmungslos hat volllaufen lassen, habe ich kaum geschlafen. Seit Neuestem geht er sehr viel häufiger aus, und ich habe Mühe, mich daran zu gewöhnen, nächtelang wach zu liegen und mir Gedanken darüber zu machen, wo er stecken könnte. Daniel meint, ich solle mir nicht so viele Sorgen machen, das sei für einen Teenager völlig normal. Leichter gesagt als getan. Und letzte Nacht war Sam trotz seines Versprechens, spätestens um Mitternacht wieder zu Hause zu sein, erst um drei Uhr morgens durch die Tür gewankt. Sein iPhone hatte er in einem Nachtclub verloren, und kaum zu Hause, musste er sich immer wieder übergeben. Da ich vor lauter Sorge nicht schlafen konnte, ging ich nach unten und fand ihn im Bad vor der Kloschüssel liegen, die Arme fest um den Beckenrand geschlungen. Es gelang mir nicht, ihn nach oben in sein Zimmer zu schaffen, also blieb ich schließlich auf, um immer wieder nach ihm zu sehen. Erst vor wenigen Stunden war ich ins Bett zurückgekrochen.

„Und das ist für dich“, sagt Daniel und überreicht mir mit großer Geste ein Geschenk.

„Sieht nicht wirklich wie ein Hundewelpe aus“, meine ich, gespielte Enttäuschung in der Stimme. Schon ewig wünsche ich mir einen Hund. Ich stelle es mir romantisch vor, lange Spaziergänge im Grünen zu machen, aber Daniel kann sich nicht mit dieser Vorstellung anfreunden. Mittlerweile ist die Ankündigung, er werde mir zu Weihnachten einen Welpen schenken, zu einem Witz zwischen uns geworden. Ich weiß, dass das nie geschehen wird.

„Nächstes Jahr“, meint er grinsend und küsst mich. „Außerdem glaube ich, dass die hier dir besser gefallen werden.“

Und er hat recht. Aufmerksam, wie er ist, hat er mir einen Satz Farben, Papier und ein paar schöne neue Buntstifte gekauft. Er weiß, dass ich mit dem Buch, an dem ich schon das ganze Jahr arbeite, nicht recht vorankomme.

„Ich dachte, sie könnten vielleicht deiner Kreativität auf die Sprünge helfen“, sagt er, als ich mich zu ihm hinüberbeuge, um ihn zu küssen.

„Danke, sie sind großartig – genau wie du.“

Ein paar Minuten bleiben wir so sitzen, eng umschlungen. Dann fragt Daniel: „Frühstück?“, und ich stürze mich auf das Rührei. Im Bett ist es warm und gemütlich. Ich seufze. Wenn wir doch dieses Jahr einfach mal zu Hause bleiben könnten. Aber das geht natürlich nicht. Also versuche ich nach dem Frühstück, Megan und Sam zum Aufstehen zu bewegen, aber beide machen keine Anstalten, sich zu rühren. Sie liegen immer noch im Bett, als Daniel und ich bereits geduscht und angezogen sind. Wir schauen einander schief lächelnd an und erinnern uns an die Zeiten, wo sie jetzt schon seit Stunden auf und wir mit den Nerven am Ende waren. Wie sehr sich das Leben doch verändert hat.

Schließlich gelingt es uns, sie mit sanfter Gewalt aus den Betten zu kriegen, und uns bleibt gerade genug Zeit, ein paar Geschenke auszupacken, bevor wir sie dazu drängen müssen, sich fertig zu machen, damit wir rechtzeitig zu meinen Eltern kommen. Entspannend ist das alles nicht. Eines Tages werde ich es schaffen, Weihnachten so zu feiern, wie ich es mir vorstelle. Eines Tages …

Endlich sitzen wir mit etlichen Taschen voller Geschenke im Auto. Megan jammert, sie wäre so gern im Bett geblieben, und Sam hockt in mürrischem Schweigen auf seinem Platz. Seine Augen sind gerötet und blutunterlaufen. Wer weiß, was er letzte Nacht in sich hineingekippt hat. Ich bin ziemlich sauer auf ihn, aber heute ist Weihnachten, also muss ich wild entschlossen fröhlich sein. Als ich im Autoradio einen Sender mit Weihnachtsliedern einschalte, stöhnt Sam, dass er davon Kopfschmerzen bekomme. Heldenhaft unterdrücke ich den Drang, ihn anzuschnauzen, daran sei er ja wohl selbst schuld – das scheint mir einer weihnachtlich frohen Stimmung nicht förderlich zu sein.

Zum Glück ist die Fahrt kurz, und während Daniel den Wagen abstellt, wanken wir anderen schwer beladen mit Geschenken ins Haus.

„Wir sind da-a!“, rufe ich, als ich die Haustür aufstoße. „Frohe Weihnachten!“

„Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten!“ Dad hüpft in die Diele, die wie üblich mit grässlichen Papiergirlanden geschmückt ist, die wir vermutlich im Kindergarten gebastelt haben. Er trägt wie immer sein Weihnachtsmannkostüm. Das lässt er sich nicht nehmen, obwohl es inzwischen schon sehr fadenscheinig geworden ist. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik, und ich beginne mich ein wenig zu entspannen. Mum wird wie immer in der Küche sein, Gemüse putzen und die Lieder mitsingen. Ich atme tief durch. Schließlich ist Weihnachten; ich muss meine durch Schlafmangel bedingte schlechte Laune ablegen.

Dad schwenkt eine Flasche Prosecco. Sein Gesicht ist ziemlich gerötet. Ungewöhnlich, dass er schon angefangen hat zu trinken, bevor wir da sind, aber das macht nichts.

„Hast du dieses scheußliche Kostüm immer noch nicht weggeworfen, Dad?“, frage ich lachend. Auch ein alljährlich wiederkehrender Familienwitz.

„Niemals!“, erklärt er. „Möchte jemand Prosecco?“

Ich nehme ein Glas, aber Daniel lehnt ab. Er hat sich dieses Jahr großzügig bereit erklärt zu fahren. Sam sieht aus, als ob schon der Gedanke allein Brechreiz in ihm auslöst, aber Megan erlaube ich ein kleines Glas.

„Wo ist Mum?“

Bilde ich mir das nur ein, oder weicht Dad tatsächlich meinem Blick aus?

„Küche“, sagt er.

Dad geht ganz in seiner Rolle als Gastgeber auf und führt Daniel und die Kinder ins Wohnzimmer. Ehrlich gesagt, muss ich lachen, dass er und Daniel sich inzwischen so gut verstehen. Wenn ich nur an Dads Entsetzen denke, als ich ihnen Daniel vorgestellt habe. Meine Eltern sind zwar nicht gerade Rassisten, aber ich schätze, wann immer sie sich ihren lang ersehnten Schwiegersohn vorstellten, sahen sie sicher keinen Schwarzen vor sich. Vor allem Dad hatte zunächst ausgesprochen arrogant reagiert. Ich erinnere mich noch daran, wie er Daniel einem endlosen Verhör zu seinen beruflichen Aussichten unterzogen hat. Ich hätte es Daniel nicht verübelt, wenn er meinen Eltern keine zweite Chance gegeben hätte, zumal seine eigene Mum trotz der kurzen Zeit, die ich sie kannte, sich als sehr viel weniger intolerant erwiesen hatte. Aber nach ihrem Tod vergaß Mum all ihre Vorurteile und erklärte: „Der arme Junge braucht eine Mutter.“ Ab dem Moment nahm sie ihn unter ihre Fittiche, und Dad tat es ihr rasch gleich. Inzwischen sind sie beste Freunde, und wer sie zusammen sieht, käme nie auf die Idee, dass es jemals Probleme gegeben haben könnte. Daniel ist von Natur aus schnell vergebungsbereit. Er sieht nur das Beste in ihnen, und dafür liebe ich ihn umso mehr.

Ich trolle mich in die Küche, um zu schauen, ob Mum vielleicht meine Hilfe braucht. Das tue ich immer, obwohl ich weiß, dass sie mich nur wegscheuchen wird, aber diesmal hat sie zu meiner Überraschung noch nicht einmal richtig angefangen, das Gemüse vorzubereiten. Sie wirkt ein wenig blass und erschöpft, und schon habe ich Schuldgefühle. Da ich intensiv mit meinem Buch beschäftigt war, habe ich sie im letzten Monat kaum besucht. Ganz plötzlich überfällt mich die Sorge, sie könnte krank sein.

„Alles in Ordnung, Mum?“

„Natürlich. Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?“, antwortet sie und greift nach einer Möhre, um sie klein zu schneiden. „Wenn du schon hier rumstehst, kannst du dich auch nützlich machen.“ Damit reicht sie mir ein Messer.

Irgendetwas stimmt hier nicht, und ich komme nicht dahinter, was, aber noch einmal nachzuhaken, ist sinnlos. Es ist zwar nicht so, dass ich mich mit meiner Mum nicht verstehe. Wir verstehen uns gut, und ich liebe sie sehr, aber wir haben keine so vertraute und innige Mutter-Tochter-Beziehung, wie viele meiner Freundinnen sie genießen. Meine Mum steht nicht auf Vertraulichkeit, Innigkeit und Nähe. Sie würde es überhaupt nicht verstehen, wenn ich plötzlich über meine Sorgen mit ihr sprechen wollen würde. Praktischen Rat zu geben, darin ist sie richtig gut, aber wenn es um Hilfe bei Gefühlsangelegenheiten geht, könnte man ebenso gut den Mond anheulen.

Gemeinsam putzen und schneiden wir Gemüse, im Hintergrund laufen Weihnachtslieder, und Mum startet wie jedes Jahre ihre Klage darüber, dass Ged und Lou es nie schaffen, pünktlich zu kommen. Das ist übrigens der Hauptgrund dafür, dass Daniel und ich immer zusehen, frühzeitig da zu sein, nur um ihr nicht das Gefühl zu geben, von niemandem geliebt zu werden. Obwohl mich das wurmt. Warum zum Teufel muss immer ich die Vernünftige von uns Geschwistern sein?

„Du weißt doch, dass sie einen weiteren Weg haben“, versuche ich mich in Diplomatie. „Außerdem ist Ged erst gestern aus Australien zurückgekommen. Wahrscheinlich leidet er noch unter einem heftigen Jetlag.“

Ged hatte ein Jahr Auszeit genommen, um „zu sich selbst zu finden“. Wenn ich auf die Idee käme, so etwas zu tun, würden Mum und Dad das für lächerlich halten, aber Goldjunge Ged, das Nesthäkchen der Familie, tut immer nur das, was er will, und kommt auch immer damit durch. Ich liebe meinen jüngeren Bruder sehr, aber manchmal habe ich es doch satt, dass er so ganz anders behandelt wird als ich, nur weil er ein Junge ist.

„Er bringt Rachel mit“, fährt Mum fort. „Habe ich dir das schon erzählt?“

„Nur so an die hundert Mal“, gebe ich lachend zurück. Rachel ist Geds neue Freundin. Mal sehen, ob sie länger aktuell bleibt als ihre Vorgängerinnen. „Aber versuch nicht wieder, die beiden zu verheiraten. Ged gibt sofort Fersengeld, wenn er glaubt, du hättest schon den Hochzeitstermin im Kalender vermerkt. Du hast Lou schon genug genervt wegen Joe. Du solltest beiden ein bisschen mehr Freiraum geben.“

Es klingelt an der Tür.

„Das werden sie sein“, sagt Mum, und ihre Miene hellt sich auf.

Dad ist als Erster an der Tür, und wir gesellen uns hinzu, um Hallo zu sagen.

Es ist tatsächlich Ged mit einem sehr hübschen blonden Mädchen im Schlepptau.

„Oh“, sagt Mum, und ihr fällt der Unterkiefer herab.

Tatsächlich: Oh. Geds hübsches blondes Mädchen ist offensichtlich schwanger.

Lou

Ich bin spät dran. Wie immer. Weihnachten hat mit einer sehr unschönen Überraschung begonnen. Ich hatte mich so darauf gefreut: mein erstes Weihnachten in einer richtigen Paarbeziehung. Jo und ich hatten uns darauf geeinigt, den ersten Feiertag jede bei ihrer Familie zu verbringen, denn ich hatte es immer noch nicht geschafft, meiner Familie meine Beziehung zu beichten. Aber wir hatten geplant, gemeinsam in meiner Wohnung in Kentish Town zu frühstücken und den zweiten Feiertag zu unserem Weihnachtstag zu machen. Ich habe Strümpfe für sie gefüllt und mich in Sachen Weihnachtsdeko ordentlich ins Zeug gelegt. Mein Weihnachtsbaum glitzert so schön wie nur irgend denkbar, sehr zur Belustigung meiner Mitbewohnerin Kate, die vor drei Tagen über die Feiertage zu ihrer Familie abgereist ist. Stundenlang habe ich Weihnachtsgebäck, Glühwein und Eierpunsch vorbereitet, ja sogar Mistelzweige über die Tür gehängt.

Alles war perfekt geplant. Ich wünschte mir so sehr, dass alles perfekt wird. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht so laufen würde: Lou Holroyd und ihr spektakulär erbärmliches Liebesleben tragen wieder einmal den Triumph davon. Statt einen schönen Abend gemütlich daheim mit einer Flasche Sekt und Kuschelstunden auf dem Sofa zu verleben, hat Jo die Bombe platzen lassen – auf der Schwelle zum Wohnzimmer, direkt unter dem scheiß Mistelzweig, und ohne auch nur wahrzunehmen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe.

„Es liegt nicht an dir, es liegt an mir, Babe.“ Das hat sie tatsächlich gesagt. Und ich weiß, dass es nicht stimmt, denn ihr anfängliches „Ich bin ein freier Geist und kann dir nicht geben, was du willst“ wandelte sich sehr schnell in: „Du bist so klettig und musst erst einmal lernen, mit dir selbst klarzukommen.“ Womit sie, angesichts dessen, dass ich jämmerlich heulend in der Ecke hockte, nicht allzu weit danebenlag.

Vermutlich hätte ich es kommen sehen müssen. Vor Weihnachten sind wir beide sehr eingespannt gewesen, und ich habe ihr ein paar Mal wegen Überstunden absagen müssen – ist es etwa meine Schuld, dass nach einer Weile, in der mein Job sicher schien, wieder alles auf der Kippe steht? Auch hatte ich das Gefühl, dass sie in letzter Zeit zurückhaltender war, aber ich habe das auf unser beider ziemlich hektisches Leben geschoben. Sie ist Helferin in einer gut gehenden Arztpraxis, und ich arbeite hart, um nach Möglichkeit nicht entlassen zu werden. Wir nehmen beide unsere Arbeit ernst; unter anderem diese Einstellung hat mich zu ihr hingezogen. Und natürlich auch die Tatsache, dass sie einfach hinreißend ist und ich mich unglaublich glücklich schätzte, von einer so tollen Frau wie Jo erwählt worden zu sein. Jetzt aber …

„Es ist definitiv vorbei.“ Das war ihr letzter Satz als Antwort auf mein jämmerliches Flehen, doch erst einmal nur eine Auszeit zu nehmen, um im neuen Jahr noch mal darüber nachzudenken und vielleicht einen Neuanfang zu wagen. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und sie eilte zu ihren Freunden, ihrem anderen Leben, jenem Leben, zu dem sie mir kaum Zutritt gewährt hatte, und ließ mich frierend und einsam am Weihnachtsbaum zurück, der ohne sie kitschig und übertrieben herausgeputzt wirkte. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaube ich, dass sie sich immer ein wenig meiner geschämt hat. Manchmal hat sie sich von mir zurückgezogen, wenn ich meine Zuneigung zu ihr zu deutlich in der Öffentlichkeit zeigte. Und manchmal hat sie mich vor ihren Freunden abgekanzelt, wenn sie meinte, ich sei zu laut. Irgendwann hat sie aufgehört, Weihnachten zu erwähnen. Da hätte ich hellhörig werden müssen. Ich hätte es kommen sehen müssen. Andererseits – ich sehe es verdammt noch mal nie kommen.

Meine Erinnerungen an gestern Nacht sind verschwommen: Ich habe mich betrunken, die ganze Zeit geheult und dann zu allem Überfluss meinen Wecker nicht gehört. Jetzt fahre ich wie eine Irre – mit gebrochenem Herzen und einem ausgewachsenen Kater –, um rechtzeitig vor ein Uhr mittags bei meinen Eltern anzukommen und ihnen damit zu beweisen, dass ich nicht ihr missratenes Kind bin. Die arme alte kinderlose, alleinstehende Lou kommt ganz allein zum Weihnachtsfest – wieder einmal.

Die Fahrt von London nach Surrey ist unglaublich deprimierend. Die Straßen sind überwiegend leer – offensichtlich sitzt jeder bereits bei seiner Familie –, und der Anblick der mit Lichterketten geschmückten Weihnachtsbäume und Gärten all der anderen sorgt dafür, dass ich mich noch elender fühle als ohnehin schon. Es kommt mir so vor, als würde jeder feiern und gut drauf sein, während meine Welt gerade zusammengebrochen ist.

Während ich noch durch London fahre, vibriert andauernd mein Smartphone. Also werfe ich einen Blick darauf, als ich an einer Ampel halten muss. Drei Nachrichten von Beth.

Oh mein Gott!!! Geds Freundin ist schwanger, lautet die erste.

Gefolgt wird sie von: Mum sitzt weinend in der Küche und Dad ignoriert einfach alles.

Die letzte ist in Großbuchstaben geschrieben: SCHAFF SOFORT DEINEN HINTERN HIERHER. ICH KRIEGE DAS ALLEIN NICHT HIN!

Großartig. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein weiteres Baby in der Familie, und es ist nicht von mir. Ich weiß, bis ich bei meinen Eltern angekommen bin, hat Mum sich mit der Überraschung angefreundet und betrachtet sie als frohe Botschaft. In ihren Augen kann Ged nichts Falsches tun; mit ihm ist sie nachsichtig ohne Ende. Und obwohl sie nicht gerade begeistert von der Aussicht auf ein unehelich geborenes Enkelkind sein dürfte, bezweifle ich keine Sekunde, dass sie binnen kürzester Zeit anfangen wird, Babyjäckchen zu stricken. Nachdem sie jahrelang ihrem Kummer darüber Ausdruck verliehen hat, nur zwei Enkelkinder zu haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich lange darüber ärgern wird. Na toll. Erst seit Kurzem hat sie das Lamento aufgegeben; jetzt hat sie wieder einen neuen Grund, mich zu bedrängen, wann ich ihr denn endlich auch ein Enkelkind zu schenken gedenke.

Die Ampel springt auf Grün, aber mein Fuß auf dem Gaspedal rührt sich nicht; ich bin tief in meiner eigenen Welt versunken. Eigentlich hatte ich heute sowieso nicht zum Familienfest fahren wollen. Viel lieber hätte ich mich in meinem Elend im Bett zusammengerollt und mir die Decke über den Kopf gezogen. Aber wenn ich mich vor dem Weihnachtsfest drückte, würde man mir das ewig unter die Nase reiben. Und jetzt? Ich habe mir immer Kinder gewünscht, Ged hingegen nie, und Beth sagt immer, Häuslichkeit und Familienleben seien auch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei – eine verdammt undankbare Behauptung in meinen Augen. Sie hat solch ein Glück mit ihren Kindern. Es ist einfach nicht fair. Warum muss ausgerechnet ich diejenige sein, die allein dasteht? Durchaus möglich, dass ich nie ein Baby haben werde.

Tränen laufen mir über die Wangen, und plötzlich hänge ich schluchzend über meinem Lenkrad, und der Motor ist aus. Das ist grauenvoll. So kann ich nicht bei meinen Eltern aufkreuzen.

Es klopft an der Scheibe der Fahrertür. Als ich aufblicke, sehe ich einen Polizisten.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragt er, als ich die Scheibe herunterlasse. „Sieht leider so aus, als würden Sie ein bisschen den Verkehr aufhalten.“

Ich schaue nach hinten. Oh, Mist, irgendwie habe ich es geschafft, für die einzigen zehn Autos, die heute durch London fahren, einen Ministau zu verursachen, der die Aufmerksamkeit des einzigen Polizisten auf sich gezogen hat, der heute im Dienst zu sein scheint.

„Entschuldigen Sie, Officer“, murmele ich schniefend und lasse den Wagen wieder an.

„Kopf hoch“, sagt er, „heute ist Weihnachten.“

Ich wische mir die Tränen von den Wangen.

„Ja, genau das ist das Problem“, antworte ich und fahre davon.

Weihnachten. Zeit für Freude und Fröhlichkeit. Zeit für Gemeinschaft mit Freunden und Familie. Zeit für den einen ganz besonderen Menschen im Leben und die Zweisamkeit mit ihm. Mir war noch nie so wenig nach Feiern zumute wie heute.

Daniel

Daniel saß auf dem Sofa und unterhielt sich höflich mit Geds neuer Freundin Rachel. Sie war der Familie vorgestellt und ins Wohnzimmer geleitet worden, während seine Schwiegermutter Mary ihren Sohn Ged in die Küche beordert hatte, um ein nicht gerade subtiles ernstes Gespräch mit ihm zu führen. Beth war ebenfalls hineingezogen worden, aber ihr Vater, Fred, schien entschlossen, über dem Drama zu stehen. Er saß neben dem Weihnachtsbaum und kippte Prosecco in sich hinein, als gäbe es morgen keinen mehr. Irgendwie war er in sehr seltsamer Stimmung. Daniel hätte erwartet, dass er in irgendeiner Weise auf die Aussicht auf ein weiteres Enkelkind reagierte, aber er schien gar nichts davon mitbekommen zu haben.

Die Kinder dagegen fanden das Ganze höchst amüsant. Sie gaben sich Mühe, sich zu beherrschen, aber Daniel entging dennoch nicht, dass sie sich eifrig witzige Kommentare zuraunten, denn sie brachen immer wieder scheinbar grundlos in heftiges Gekicher aus. Er warf ihnen warnende Blicke zu, aber glücklicherweise schien Rachel nichts zu bemerken.

Sie war sehr schön und mindestens zehn Jahre jünger als Ged. Daniel hoffte inständig, dass ihr klar war, worauf sie sich einließ. Ged hatte nicht gerade eine gute Erfolgsbilanz bei Frauen. Hinter ihm lag eine lange Spur gebrochener Herzen, und Daniel hatte längst den Überblick darüber verloren, wie viele Stunden Beth im Laufe der Jahre damit verbracht hatte, Geds verflossene Freundinnen zu trösten.

„Wo habt ihr beiden euch denn kennengelernt?“, fragte er höflich, um Rachel die Befangenheit zu nehmen. Das arme Mädchen wirkte verständlicherweise ein bisschen verstört. Vermutlich hatte Ged sie nicht vorgewarnt, dass seine Eltern möglicherweise von der unverhofften Aussicht darauf, praktisch sofort Großeltern zu werden, nicht begeistert sein könnten.

„Oh.“ Ein strahlendes Lächeln glitt über ihre Züge. „Das war bei der Vollmondfeier in Thailand. Nichts als jämmerliche Loser um mich herum, und dann war da Ged und erwies sich als vollkommener Gentleman.“

Darauf würde ich wetten, dachte Daniel, aber er lächelte. „Das klingt großartig.“

Rachel erzählte, was für eine tolle Zeit sie zusammen gehabt hätten, erst in Thailand, dann in Singapur und anschließend auf Bali, bevor sie schließlich ihre Eltern in Australien besuchten. „Auf Bali bin ich schwanger geworden“, gestand sie. „Das war so romantisch.“

„Nun denn, herzlichen Glückwunsch“, erwiderte Daniel. „Ich wette, deine Eltern freuen sich?“

„Oh, sie sind begeistert. Mum ist ein bisschen sauer auf mich, weil ich mein Baby hier zur Welt bringen werde, aber ich möchte nun mal sein, wo Ged ist, und er wollte nach Hause. Er freut sich so auf das Baby, dass er jedem davon erzählen will.“

Tatsächlich? Daniel fragte sich, ob Ged diesbezüglich seine Meinung geändert hatte. Aber so, wie er Ged kannte, hatte der das Ganze ohnehin nicht wirklich durchdacht.

Es ging auf ein Uhr zu, und zum ersten Mal sah es nicht danach aus, als würde der Truthahn rechtzeitig fertig werden. Daniel konnte hören, dass die Stimmen in der Küche lauter wurden, und er überlegte, ob er hinübergehen und versuchen sollte, die Wogen zu glätten. Gerade wollte er aufstehen, als es an der Haustür klingelte und Lou ins Haus stürzte: atemlos, zu spät und verdächtig danach aussehend, als hätte sie geweint. Oh nein, arme Lou, was war jetzt wieder geschehen? Daniel mochte seine Schwägerin, aber sie geriet anscheinend immer an die falschen Männer, wenn es um ihr Liebesleben ging. Als sie beim letzten Mal Beth und Daniel besucht hatte, war sie so glücklich gewesen, und sie hatten beide gehofft, dass die Sache diesmal gut für sie laufen würde. Etliche Male hatten sie darum gebeten, Joe endlich kennenlernen zu dürfen, aber Lou hatte sie immer wieder hingehalten. Jetzt sah es ganz so aus, als hätte sich abermals einer aus dem Staub gemacht – keine Chance mehr, ihn kennenzulernen.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, stieß sie hervor. „Der Verkehr war die Hölle.“

„Du kommst zu spät?“ Fred schaute auf, anscheinend schon etwas berauscht. Er stand auf, um seine Tochter zu begrüßen, und schwankte. Fast wäre er zurück in seinen Sessel gefallen. Daniel runzelte die Stirn. Es war normal, dass Fred am ersten Weihnachtstag gern einen hob, aber richtig betrunken hatte er ihn noch nie erlebt.

In der Küche erklang ein Schrei, dann fiel etwas krachend zu Boden.

Daniel und Lou sprangen sofort auf und rannten in die Küche, um nachzusehen, was los war, dicht gefolgt von den Kindern. Ihnen bot sich ein seltsamer Anblick: Mary hatte offenbar einen hysterischen Anfall, der Truthahn lag auf dem Boden, Ged und Beth wirkten wie vor den Kopf geschlagen.

„Alles kein Problem, Mary“, sagte Daniel, trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Komm schon, wir heben ihn einfach wieder auf. Ein bisschen Dreck bringt uns nicht um.“

„Der Scheißtruthahn interessiert mich nicht“, rief Mary, deren Tränen so abrupt versiegten, wie sie gekommen waren. Daniel war schockiert. Noch nie hatte er seine Schwiegermutter lautstark fluchen hören. Sie drehte sich zu ihnen um, im selben Moment, in dem ein sehr verwirrter Fred die Küche betrat.

„Alles in Ordnung hier drin?“

„Kann dir doch egal sein“, stieß Mary mit überraschender Verbitterung hervor.

„Mary, nicht heute“, warnte Fred.

„Und warum zum Teufel nicht? Nur, weil Weihnachten ist?“

„Ja, weil Weihnachten ist“, sagte Fred. Auch er wurde jetzt lauter, und Zornesröte kroch ihm den Hals hinauf. „Du weißt schon, Zeit für die Familie und so.“

„Kann mir freundlicherweise mal jemand erklären, was hier los ist?“, fragte Lou.

„Ich sage dir gern, was los ist“, erklärte Mary. Einen Moment herrschte Stille, und Daniel hielt unwillkürlich den Atem an. Noch nie hatte er seine Schwiegermutter so erlebt. Was um alles in der Welt ging hier vor? Mary ließ den Blick durch die Küche wandern, die Hände in die Hüften gestemmt. „Euer Vater ist ein Lügner und Betrüger und hat eine Affäre mit Lilian Mountjoy. Und ich habe die Nase gestrichen voll.“

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die gesamte Familie Holroyd war vor Schreck erstarrt. Genau in diesem Moment betrat Rachel die Küche. „Kann ich irgendwie helfen?“, fragte sie unschuldig.

ERSTER TEIL

Die Reise beginnt …

Januar bis März

Das kleinste Engelchen

Das Engelchen war sehr aufgeregt. Die gesamten himmlischen Heerscharen bereiteten sich auf das große Ereignis vor.

Das große Ereignis“, sagte Gabriel.

Es hatte schon ziemliche Aufregung gegeben wegen eines anderen Babys, das ein paar Monate zuvor geboren worden war, aber Gabriel sagte, dieses Baby sei noch sehr viel wichtiger. Dieses Baby werde die Welt retten.

Die himmlischen Heerscharen sollten losziehen und den Leuten davon erzählen, und zum ersten Mal würde auch das Engelchen mitkommen dürfen.

„Ist es heute so weit?“, fragte das Engelchen seine Mutter.

„Heute nicht“, sagte seine Mutter.

„Ist es heute so weit?“, fragte das Engelchen am nächsten Tag.

„Heute nicht“, sagte seine Mutter. „Aber bald.“

Die Tage kamen und gingen, und der richtige Tag kam und kam nicht, bis schließlich das Engelchen fragte: „Ist es heute so weit?“

Und seine Mutter sagte: „Ja, heute ist es so weit.“

„Hurra!“, schrie das Engelchen. Und es machte sich bereit, auf die Reise zu gehen.

Vanessa Marlow: Welches andere Baby?

Beth King: Ähm, Johannes der Täufer.

Vanessa Marlow: Was sind die himmlischen Heerscharen?

Beth King: Die Engel.

Vanessa Marlow: Was hält das Engelchen davon ab, auf die Reise zu gehen? Wie kommt es vom Weg ab? Wen besucht es unterwegs?

Beth King: Vanessa, daran arbeite ich gerade.

Vanessa Marlow: Kann es nicht um die Welt reisen und verschiedene Leute besuchen?

Beth King: Warum sollte es das tun?

1. Kapitel

Beth

Das Engelchen machte sich auf den Weg, und schon bald hatte es sich völlig verlaufen …

Ich sitze da und starre in die Luft. An dem Entwurf für diese beiden Doppelseiten arbeite ich nun schon seit Monaten. Ich habe meinem Verlag etwas Neues für die Buchmesse in Bologna im April versprochen. Sie wollen sie nutzen, um das Werk ausländischen Verlagsagenten anzubieten, aber nun rückt die Messe näher und näher, und ich komme einfach nicht voran. Noch nie habe ich so einen kreativen Hänger gehabt. Vor Lichtjahren, als meine ursprüngliche Lektorin Karen diese Idee aufgebracht hatte, waren wir beide völlig begeistert gewesen. Es gab ein sehr fruchtbares Brainstorming mit der Grafikabteilung, gefolgt von einem weinseligen Essen, und ich war absolut beflügelt wieder nach Hause gefahren. Diese Geschichte würde mein bisher größter Bucherfolg werden – das wusste ich ganz einfach.

Zuerst lief auch alles wie am Schnürchen. Ich legte einen groben Entwurf vor, der Karen sehr gefiel, und die ersten Bilder für Bologna im letzten Jahr zeichneten sich fast von selbst. Die nächsten gestalteten sich ein bisschen schwieriger, und dann war plötzlich Ende im Gelände. Ich kam keinen Schritt weiter, und für die Frankfurter Buchmesse im Oktober hatte ich nichts Neues vorzuweisen. Inzwischen war Karen in Mutterschaftsurlaub gegangen, und ihre Vertretung Vanessa erstickte auch so schon fast unter der Flut ihrer Aufgaben. Ich wollte ihr nicht auch noch meine Probleme aufbürden, und außerdem glaubte ich, mein Mangel an Begeisterung sei nur vorübergehend. Aber die Wochen vergingen, meine selbst gesetzten Fristen verstrichen eine nach der anderen, und ich begriff, dass ich etwas unternehmen musste. Also biss ich Ende November in den sauren Apfel und rief sie an.

Während Karen gelacht, mich geneckt und etwas Tröstliches gesagt hätte, saß Vanessa nur schweigend am anderen Ende der Leitung.

„Also, wie viel haben Sie schon?“, fragte sie schließlich. Sie konnte höchstens Mitte zwanzig sein, aber ihr Tonfall war unglaublich ernst. Ich fühlte mich, als wäre ich vor meinen Klassenlehrer zitiert worden, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

„Ich habe ein paar Grobentwürfe“, sagte ich in dem Bewusstsein, wie lahm das klang.

„Grobentwürfe?“ Sie klang so missbilligend, dass mir das Herz in die Hose rutschte. „Ich bin davon ausgegangen, dass inzwischen ein paar fertige Skizzen vorliegen. Wir wollen das Buch rechtzeitig vor Weihnachten im nächsten Jahr auf den Markt bringen.“

Ich auch, dachte ich, ich auch. Das lief gar nicht gut. Ich hätte jetzt wirklich ein bisschen Aufmunterung gebrauchen können. Karen hätte genau gewusst, was sie sagen musste, aber Vanessa fiel nichts weiter ein als: „Glauben Sie, dass Sie bis nach Neujahr ausgefeilte Skizzen erarbeiten können?“

Sie klang gereizt und verärgert, wodurch ich mich noch elender fühlte. Dabei war mir meine Verspätung schon peinlich genug, da konnte ich nicht auch noch eine Standpauke gebrauchen.

„Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Ich werde mein Bestes tun.“

Karen hätte ich einfach die Wahrheit gesagt. Hätte ihr gesagt, dass nichts funktionierte und dass ich in einer so tiefen kreativen Flaute steckte, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Aber Vanessa war für mich noch eine unbekannte Größe. Ich war mir nicht sicher, wie sie reagieren würde, also wagte ich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Schon gar nicht, wenn ich mir damit einen Rüffel einhandelte.

Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann ein verärgerter Seufzer.

„Na schön, ich schätze, wir können nur hoffen, dass Ihr Bestes gut genug sein wird.“

„Das schätze ich auch“, sagte ich. Vanessa zog mich nur noch weiter herunter, und das war überhaupt keine Hilfe für mich. „Mehr kann ich nicht tun.“

„Gut“, erklärte sie knapp. „Ich freue mich darauf, im Januar zu sehen, was Sie geschafft haben. Ich hoffe doch, dass Sie dann etwas haben, was Sie mir zeigen können.“

„In Ordnung“, sagte ich und legte auf. Am liebsten hätte ich mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen.

Seit jenem Telefonat habe ich mir alle Mühe gegeben, aber irgendetwas fehlt. Der besondere Funke von was auch immer, das ein Beth-King-Bilderbuch zu etwas Besonderem macht (Sunday Times Bestseller!). Und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Ich habe bewusst über die Weihnachtstage eine Arbeitspause eingelegt, in der Hoffnung, das werde mir guttun. Doch dann passierte die Sache mit Mum und Dad. Von dieser Überraschung habe ich mich immer noch nicht erholt. Ja, ich weiß, dass meine Eltern nie wie die Turteltäubchen waren, aber sie schienen sich doch gut zu verstehen, und ich bin davon ausgegangen, dass es immer so bleiben würde. Und so traf mich diese Neuigkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Trotz aller Differenzen ist unsere Familie doch eine glückliche Familie. Jedenfalls habe ich das gedacht. Als Teenager habe ich mir Sorgen gemacht, meine Eltern könnten sich trennen – ich erinnere mich daran, dass sie damals viel gestritten haben. Aber heute? Ich werde demnächst vierzig, meine Mum geht auf die siebzig zu. Dieses Jahr hätte ein Jahr glücklicher Familienfeste werden sollen, zumal Sam achtzehn wird und demnächst ein Baby die Familie bereichert. Aber nein, Mum und Dad reden kaum noch miteinander. Mum hängt fast die ganze Zeit im Haus herum und lässt sich nicht überreden, mal rauszugehen, während Dad in mürrisches Schweigen verfallen ist. Und das bringt mich fast um. Ich habe meinen Vater immer angebetet. Um ehrlich zu sein, komme ich mit ihm besser zurecht als mit Mum. Als ich noch klein war, war er derjenige, mit dem ich kuscheln konnte. Derjenige, zu dem ich ging, wenn ich traurig oder ratlos war. Mum war schon immer eher der Reiß-dich-zusammen-Typ. Dad hingegen richtete mich jedes Mal auf, wenn ich das Gefühl hatte, einer Sache nicht gewachsen zu sein. Der Gedanke daran, dass er eine Affäre hat, macht mich krank. Obendrein mache ich mir Vorwürfe. Wenn ich ihn nicht dazu ermuntert hätte, den Kunstkurs zu besuchen, hätte er diese verdammte Lilian nie kennengelernt.

Andererseits – wie hätte ich vorhersehen sollen, dass so etwas passiert? Ich kann es nach wie vor kaum glauben, dass mein wunderbarer, lustiger, lieber Vater zu so etwas fähig ist. Ich bin wütend auf ihn, und ich mag dieses Gefühl ganz und gar nicht, aber er hat eine Wut in mir entfacht, wie ich sie so noch nie in meinem Leben empfunden habe. Ich weiß nicht, wohin das alles noch führen wird, aber ich schätze, dass ich letztlich die Scherben werde aufsammeln müssen. Diese Aufgabe kommt in unserer Familie eigentlich immer mir zu.

Und dazu kommt noch der Druck wegen meines Buches. Der Abgabetermin hängt wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf, und ich bin so abgelenkt, dass der kreative Schub, den ich dringend brauche, sich einfach nicht einstellt.

Normalerweise würde ich versuchen, mit Daniel darüber zu reden. Er neigt zwar nicht dazu, sehr kritisch zu sein, aber seine aufmunternden Kommentare tun mir immer gut. Im Augenblick jedoch steht er selbst beruflich sehr unter Druck. Er ist noch dabei, sich an der neuen Schule einzuarbeiten, und an manchen Tagen kann ich sehen, dass er zu kämpfen hat. Im ersten Schulhalbjahr wird eine Prüfung der Schulaufsicht Ofsted erwartet, und er macht sich jetzt schon Sorgen deswegen. Als erster farbiger Schuldirektor in einer Schule der weißen Mittelschicht hängt schrecklich viel vom Ausgang dieser Prüfung ab. Und das, obwohl die Schule beklagenswert schlecht geleitet worden ist, bevor er diese Aufgabe übernommen hat.

Ich weiß, dass er unter enormem Druck steht, und ich will ihm nicht auch noch meine Sorgen aufbürden. Außerdem glaube ich, dass ihm das Zerwürfnis zwischen Mum und Dad ebenfalls sehr zu schaffen macht. Er hat meine Eltern immer gemocht, vor allem wegen seiner eigenen Situation, und jetzt das.

Das ist nicht gut. Ich schließe fest die Augen und versuche, mich auf die Arbeit vor mir zu konzentrieren.

Also – das Engelchen – wo ist es, und wohin geht es als Nächstes?

Autor

Julia Williams
Julia Williams wuchs mit sieben Geschwistern im Norden Londons auf und studierte in Liverpool. Nach einigen Berufsjahren im Verlagswesen widmet sie sich inzwischen ganz dem Schreiben. Während des Studiums lernte sie ihren Mann David kennen. Mit ihm und den vier gemeinsamen Kindern lebt sie mittlerweile in Surrey
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