Eine fast perfekte Familie

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Verflixte kleine Lügen! Ganz Heron Point glaubt, dass die hochschwangere Nancy verheiratet ist. Nur der Radiologe Jave weiß, dass sie ebenso geschieden ist wie er. Zu gern möchte er mit ihr und seinen beiden Söhnen eine neue Familie gründen. Aber zuvor muss Nancy ihm endlich gestehen, dass sie ihn liebt!


  • Erscheinungstag 02.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757427
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Alles in Ordnung, junge Frau?“

Nancy Malone konzentrierte sich noch einen Augenblick auf den Schmerz in ihrem Unterleib, der ihr für einen Moment den Atem geraubt hatte. Der Krampf ließ allmählich nach, trotzdem machte sie sich Sorgen. Beunruhigt strich sie über den Bauch, ehe sie sich wieder dem stämmigen Mann zuwandte, der einen alten gepolsterten Drehstuhl auf die Ladefläche ihres Kleintransporters hievte.

„Geht schon, danke.“ Mit einem tapferen Lächeln schloss sie die Klappe des Wagens.

Offenbar glaubte er ihr nicht. Er warf einen Blick auf die kleine, aber unübersehbare Wölbung ihres Bauches und mahnte: „Wirklich? In Ihrem Zustand sollten Sie keine Möbel mehr schleppen. Beim Abladen hilft Ihnen doch sicher jemand!“

Nein, aber das muss ich Ihnen ja nicht auf die Nase binden, dachte sie, sagte aber nur: „Sicher, vielen Dank, Sam. Und wie gesagt, wenn Sie noch einen richtig großen Schreibtisch auftreiben, sagen Sie mir gleich Bescheid.“

Sam kramte in den Taschen seines Overalls nach dem Zettel mit Nancys Telefonnummer. „Ich melde mich sofort“, versprach er. „Soll ich auch nach Babymöbeln Ausschau halten?“

Oh nein! Für mein Kind kommt nur eine nagelneue Kombination ganz in Weiß infrage. Aber Nancy hatte sich erst vor Kurzem nach dem Preis für eines dieser traumhaften Babyzimmer erkundigt und wusste, dass sie sich das nicht ohne einen Gewinn im Lotto leisten konnte. Deshalb nickte sie und kletterte in ihren Transporter. Sie winkte Sam zum Abschied und ließ den Wagen an. Im selben Moment spürte sie einen neuen Krampf im Unterleib.

Sie bekam Angst und musste sich laut Mut zusprechen: „Nur keine Panik. Du hast dir in der letzten Zeit zu viel zugemutet, aber damit ist Schluss. Zu Hause legst du die Füße hoch, dann geht es dir gleich besser.“

Langsam ebbte der Schmerz ab, und Nancy atmete tief durch. Dann legte sie den Gang ein und verließ den Parkplatz von „Sams Super-Secondhand-Laden“. Der Verkehr auf der Straße, die Heron Point, eine kleine Stadt am Columbia River, mit der Küstenstraße verband, floss leicht dahin. Nancy konnte also in aller Ruhe überlegen, ob sie in ihr gemütliches Haus am Strand zurückkehren oder lieber in die Stadt fahren und ihren Arzt, Dr. McNamara, aufsuchen sollte, der im Riverview-Krankenhaus seine Praxis betrieb.

Sie fuhr nach Hause. Erst vor wenigen Wochen war sie von New York an die Westküste gezogen. Die Wehen gingen sicher auf das Konto des anstrengenden Umzugs und der Arbeiten an ihrem Haus. Zu Hause würde sie den Stuhl erst mal auf dem Wagen lassen, es sich bei einem Krimi und einer Tasse Kräutertee gemütlich machen, und alles würde wieder gut werden. Entschlossen kurbelte sie das Fenster herunter, drehte das Radio lauter und genoss die Fahrt entlang der Küstenstraße.

Die nächste Wehe traf sie völlig unvorbereitet, und sie konnte gerade noch auf dem Seitenstreifen anhalten. Nancy keuchte und betete, dass der Schmerz nachließe, aber vergebens. Mit einer Tasse Tee war es wohl doch nicht getan, sie brauchte dringend Hilfe, wenn sie ihr Baby nicht gefährden wollte. Also beschloss Nancy kleinlaut, ins Krankenhaus zu fahren.

Die Schmerzen waren vorüber. Nancy lag in dem abgedunkelten Raum und wartete auf die Ultraschalluntersuchung. Die Schwestern der Notaufnahme hatten ihren Gynäkologen verständigt und ihr nach seiner Anweisung ein Medikament verabreicht, das die Wehen gestoppt hatte. Im Stillen hatte sie sich verflucht und sich geschworen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Das hatte sie nun davon: Jetzt musste sie eine Menge Untersuchungen über sich ergehen lassen und eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus verbringen.

Die Tür ging auf, und ein großer, gut gebauter Mann im Arztkittel betrat den Raum. Er brachte einen frischen Duft von draußen mit herein.

„Guten Tag!“ Er lächelte Nancy an, und seine weißen Zähne schimmerten im Halbdunkel. „Haben die Wehen aufgehört?“

„Ja. Ich habe einen ordentlichen Schrecken bekommen.“

Der Arzt nickte. „Verständlich. Na, dann schauen wir mal, wie es dem Kleinen jetzt geht.“

„Es ist ein Mädchen“, korrigierte Nancy, während der Arzt ihren Bauch frei machte.

Neugierig blickte er auf. „Wissen Sie das, oder raten Sie nur?“

Im schwachen Licht der medizinischen Gerätschaften konnte Nancy ihn jetzt deutlicher sehen. Es war ganz unglaublich: Dieser Arzt war Harry Boeneke, dem Kommissar aus Portland, Oregon, wie aus dem Gesicht geschnitten. Diese Tatsache war umso erstaunlicher, als Boeneke eine Gestalt aus dem Kriminalroman war, an dem Nancy gerade schrieb. Er existierte also nur in ihrer Fantasie. Aber sein Haar hatte genau denselben warmen, goldbraunen Ton wie das des Mannes vor ihr, seine haselnussbraunen Augen blickten mit der gleichen Gelassenheit in die Welt. Nase und Kinn waren genauso ausgeprägt, sein Mund ebenso schön geformt. Ja nicht einmal die kleine Narbe am Kinn fehlte, die die Privatdetektivin Geneva Frisco, die Heldin des Krimis, so bewunderte.

„Äh, nein. Oder doch, ja.“ Nancy fand nur mit Mühe in die Wirklichkeit zurück. „Im vierten Monat wurde eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen, aber ich wollte damals gar keine Bestätigung. Ich weiß es einfach.“

Dr. med. J. V. Nicholas, dieser Name stand auf dem Namensschild an seinem Kittel, blickte Nancy überrascht an. „Sie wissen es zwar, aber Sie verzichten auf die Bestätigung durch einen Arzt?“, wiederholte er.

„Genau, ich liebe nämlich Überraschungen.“

Welch seltsame Auswirkungen eine Schwangerschaft haben kann, dachte Jave, wie Dr. J. V. Nicholas überall genannt wurde, belustigt und widmete sich wieder seinen Apparaten. Er vermutete, dass diese Frau nicht verheiratet war. Nach zehn Jahren als Radiologe durchschaute er seine Patienten fast ebenso gut wie seine Apparate. Ledige Mütter verrieten sich durch die Angst in ihren Augen. Auch wenn sie sich auf ihre Babys freuten, immer entdeckte er in ihren Augen Angst vor der Geburt und davor, alles allein durchstehen zu müssen.

Auch Nancy R. Malone hatte diesen Blick – nicht zu Unrecht, wie sich heute herausgestellt hatte.

„Sie haben angegeben, dass Ihre Mutter DES eingenommen hat, als sie mit Ihnen schwanger war.“ DES, Diethylstilbestrol, war ein Medikament, das man schwangeren Frauen vor vielen Jahren verschrieben hatte, um Fehlgeburten zu verhindern. Neue Studien hatten ergeben, dass die Töchter dieser Frauen häufig Schwierigkeiten hatten, Kinder zu empfangen oder sie vollständig auszutragen.

„Richtig“, antwortete Nancy ruhig. „Mein Arzt meinte aber, dass ich keine Probleme hätte, abgesehen von einer Veranlagung zu vorzeitigen Wehen.“

Jave nickte und fuhr mit seinen Vorbereitungen fort. „Dann haben Sie also gut auf sich aufgepasst, brav Ihr Mittagsschläfchen gehalten und sich nicht überanstrengt?“

„Na ja, vor dem Umzug schon!“

„Sie sind umgezogen?“

„Aus New York. Ich habe ein paar Kilometer außerhalb der Stadt ein kleines Strandhaus gekauft. Vielleicht habe ich mich ein bisschen übernommen, als ich versucht habe, es wohnlich herzurichten. Der Nesttrieb, verstehen Sie? Heute habe ich zum Beispiel einen Schreibtischstuhl gekauft“, plauderte sie weiter. „Ich werde einen Bestseller schreiben und einen Edgar gewinnen.“

„Ist das so etwas wie der Nobelpreis?“

„Eher der Oskar für Kriminalromane.“ Nancy seufzte. „So kann ich wenigstens weiterarbeiten, wenn sie auf der Welt ist.“

Jave konnte jetzt das Baby auf seinem Bildschirm erkennen, schwarz-weiße Umrisse, in deren Mitte ein kleines Herz gleichmäßig pochte. Er war erleichtert. „Da ist es ja.“

„Wo?“ Nancy richtete sich auf. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Mit sanftem Druck brachte Jave sie wieder in die richtige Position. „In der Regel kann man mehr erkennen, wenn die Patientin nicht in das Gerät klettert.“

Mit ihren großen Augen, die goldbraun waren wie ein guter Whiskey, blickte sie ihn direkt an. Ihre zierlichen Hände umklammerten seine Unterarme, als er sie behutsam auf das Untersuchungsbett zurücklegte.

„Entschuldigung“, murmelte sie. „Können Sie sie sehen?“

„Es zeigt uns gerade die kalte Schulter“, erklärte der Arzt schmunzelnd und zog die Konturen des Kindes mit einem Stift nach. „Wahrscheinlich ist es sauer auf Sie, weil Sie es heute so schlecht behandelt haben.“

Nancy lachte. „So früh schon ein angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis? Können Sie erkennen, ob ihr die Aufregungen geschadet haben?“

„Ihr Gynäkologe wird Ihnen alles erklären. Aber Herzschlag und Bewegungen sind normal. Sieht so aus, als würde es sich ganz normal entwickeln.“

Eine kleine Hand mit deutlich ausgebildeten Fingern bewegte sich auf dem Bildschirm. „Da, es winkt! Ich mache schnell ein Foto. Sie können es unter dem Titel ‚Hallo, Mama‘ in Ihr Album kleben“, sagte er und drückte den entsprechenden Knopf auf dem Gerät.

Nancy war selig. „Gott sei Dank“, stammelte sie. „Ich hatte solche Angst um sie.“

Jave stellte das Gerät neu ein. „Nicht das Baby hat ein Problem“, meinte er, während er das Bild auf dem Schirm kontrollierte. „Sie haben eines. Sie alleine können das Wohlergehen Ihres Babys beeinflussen.“

Wollte er damit andeuten, sie ginge zu sorglos mit dem Leben ihres Babys um? Nancy wurde wütend. „Ich fühlte mich bisher so gut, dass ich mich vielleicht etwas überanstrengt habe, aber das geschah ohne Absicht.“

„Ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen. Nur denken Sie immer daran, dass Arbeiten, die vor Ihrer Schwangerschaft ganz selbstverständlich für Sie waren, Ihnen beiden nun großen Schaden zufügen können.“

Jetzt hatte Nancy aber genug. Seit Monaten musste sie sich von allen Seiten anhören, was sie tun und lassen sollte. „Ihre Ratschläge können Sie sich sparen!“, verteidigte sie sich. „Schließlich sind Sie nicht mein Arzt. Ich weiß sehr genau, was ich tue.“

Jave verkniff sich ein Lächeln. Ihr Kampfgeist würde ihr in der nächsten Zeit helfen. Und sie hatte recht: Er war nicht ihr Arzt. Nur weckten alleinstehende Mütter automatisch seinen Beschützerinstinkt.

Ehe er antworten konnte, läutete das Telefon. Während Jave sprach, betrachtete Nancy den schlanken Mann in der grauen Hose. Manche Männer sehen toll aus, schoss es ihr durch den Kopf. Aber wenn es darauf ankommt, stellt sich in der Regel schnell heraus, dass man vom Aussehen nicht auf den Charakter schließen darf. Der hier wollte mir gleich Vorschriften machen, ist das zu fassen? Ob er wohl verheiratet ist?

Jetzt mach aber mal ’nen Punkt, schalt sie sich ärgerlich. Ein Ehemann ist nun wirklich das Letzte, was du brauchst. Schließlich bist du nicht deine Mutter.

Die Unart, in Männern in erster Linie Ehemänner zu sehen, hatte sie nämlich von ihrer Mutter geerbt, die gerade ihre vierte Hochzeit plante.

Jave, der den Hörer noch immer ans Ohr hielt, drehte sich zu Nancy um. „Wir sind fast fertig. Ich frag sie mal.“ Dann grinste er. „Gut, in meinem Büro. Aber bring meine heilige Ordnung nicht durcheinander.“ Danach legte er auf.

Nancy beobachtete ihn noch immer und war erleichtert, dass er nicht ihren Blutdruck maß. Dieser Arzt könnte ihr schon gefallen, so groß wie er war. Und diese breiten Schultern! Schnell schloss sie die Augen. Oh nein, nie wieder!

Bei seinen nächsten Worten sperrte sie jedoch Augen und Ohren überrascht auf. „Dieser Anruf galt Ihnen. Amaryllis Brown aus der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit würde gern kurz mit Ihnen sprechen, ehe ich Sie auf Ihr Zimmer bringe.“

„Öffentlichkeitsarbeit? Wieso?“

Jave grinste. „Keine Ahnung. Aber Amy müssen Sie kennenlernen. Sie werden sich amüsieren.“ Mit diesen Worten zog er den Rollstuhl, den alle Patienten der Klinik benutzen mussten, aus einer Ecke, und Nancy machte es sich darin bequem. „Sie hat etwas verwechselt“, mutmaßte sie.

„Amy kannte Ihren Namen und Ihren Entbindungstermin“, widersprach Jave und schob sie aus dem Raum.

Ihr Ziel war ein enges kleines Büro, das Nancy an die Küche ihrer New Yorker Wohnung erinnerte. Der Raum wurde von einem Schreibtisch und zahlreichen Aktenschränken fast völlig ausgefüllt. Überall stapelten sich Papiere und Ordner. Dieses Chaos bezeichnete er als „heilige Ordnung“?

Am Schreibtisch stand eine hochgewachsene Frau, die Nancy freundlich begrüßte. „Ich bin Amaryllis Brown. Ich betreibe die Öffentlichkeitsarbeit für das Riverview-Krankenhaus. Nennen Sie mich Amy.“ Zu Jave gewandt meinte sie: „Danke, dass wir dein Büro benutzen dürfen, Jave.“

„Keine Ursache, aber halte meine Patientin nicht zu lange auf.“

„Es dauert höchstens zehn Minuten“, versprach Amy.

Jave verließ den Raum, und Nancy wurde es mulmig. Obwohl sie sich über ihn geärgert hatte, hatte er ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Die Frau, die sich jetzt hinter dem Schreibtisch niederließ, war ihr dagegen nicht ganz geheuer. Hoffentlich würde sie diese Begegnung später nicht bereuen.

Amy Brown begann zu erzählen: Das Riverview war nur ein kleines Krankenhaus, das bestrebt war, seinen Patienten die gleichen Möglichkeiten anzubieten wie die großen Kliniken.

Nancy interessierte das nicht. Sie bewunderte lieber die äußere Erscheinung von Amy, die jeden Designer das Fürchten gelehrt hätte: Amy trug ein blassrosa Kleid mit ausgestelltem Rock, das über und über mit Rüschen und Schleifchen besetzt war. Die Taille des Kleides saß viel zu hoch an ihrem langen Oberkörper. Unter dem Rock blitzten weiße Strümpfe und flache, rosafarbene Schuhe hervor. Ihr weißblondes Haar hatte sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug eine altmodische Brille und hatte keinerlei Make-up aufgelegt.

„… Darauf sind wir sehr stolz. Die Riverview-Stiftung hat die Tapeten ausgewählt, und der Innenarchitekt will sie wie ganz normale Schlafzimmer einrichten. Trotzdem steht alles bereit, was für eine Geburt nötig ist. Sie sollten sich das unbedingt ansehen, es wird aussehen wie in ‚Schöner Wohnen‘.“

Nanu, Zimmer aus „Schöner Wohnen“ im Krankenhaus? Wovon spricht sie nur, dachte Nancy verwirrt.

Auch Amy hatte Nancys Unaufmerksamkeit bemerkt. „Geburtsräume in Heron Point. Kein Grund mehr, die Kliniken in Portland aufzusuchen. Keine schäbigen kleinen Kämmerchen, sondern genügend Platz für den Ehemann und alle Angehörigen, die die Geburt miterleben wollen“, wiederholte sie.

Jetzt verstand Nancy. Über Geburtsräume hatte sie in Frauenzeitschriften gelesen, und einige ihrer New Yorker Bekannten kannten sie aus eigener Erfahrung. Sie nickte zustimmend. „Großartig, endlich eine intelligente und nützliche Neuerung.“

Amy strahlte. „Schön, dass Sie das sagen, denn ich habe eine fantastische Nachricht für Sie!“

„So?“, fragte Nancy misstrauisch.

„Wir sind gerade dabei, diese Räume einzurichten. Raten Sie mal, wann wir fertig sind?“

Nancy schwante Böses. „Wann denn?“

„Zwei Tage vor Ihrem Entbindungstermin!“, verkündete Amy und unterstrich ihre Aussage mit einer ausladenden Handbewegung.

Vorsichtig fragte Nancy weiter: „Dann kann ich schon darin entbinden?“

Amy beugte sich vor und strahlte noch breiter. „Nicht nur das, Sie sind sogar die Erste. Und deshalb habe ich Sie dazu auserwählt, die Kampagne zu führen, mit der wir die ganze Stadt über die Geburtsräume informieren. Dazu gehören Zeitungsartikel, Fototermine, Reportagen, Werbeveranstaltungen und so weiter.“

„Augenblick mal!“ Das klang entsetzlich! Nancy war ein sehr schüchterner Mensch und verabscheute jede Art von Aufsehen um ihre Person. Nachdem Jerry sie verlassen hatte, hatte sie sich noch mehr zurückgezogen. Sie war eigens nach Oregon gezogen, um ihr Baby in völliger Abgeschiedenheit und Ruhe aufzuziehen. Ohne Amys Kampagne!

„Ihr Angebot schmeichelt mir“, sagte sie deshalb zu Amy, „aber ich lebe sehr zurückgezogen.“

Amy schien bestürzt. „Aber Sie sind genau die Richtige für uns: Sie sehen gut aus – das ist wichtig für die Fotos. Sie bekommen Ihr erstes Kind.“ Sie beugte sich vor und tätschelte Nancys Hand. „Und ich bin überzeugt, dass Sie die Geschenke gut verwenden können.“

„Nein danke, ich brauche wirklich keine Geschenke …“

„Das meiste ist sowieso für Ihr Kind“, unterbrach Amy und legte los. „Bisher wurden gespendet: Silberbesteck, Schokozigarren, ein Gutschein über Spielwaren im Wert von 200 Dollar, Kleidung und Schuhe für Sie und Ihr Baby, Freikarten fürs Kino und – Sie werden es nicht glauben – eine komplette Kinderzimmer-Ausstattung vom Feinsten: Bettchen, Wickelkommode, Schrank und sogar ein Schaukelstuhl, damit Sie das Kind in den Schlaf wiegen können.“

Bei der Aufzählung solcher Kostbarkeiten packte Nancy die Gier. Ihr Kind sollte alles bekommen, was sie sich nicht leisten konnte? Und dafür bräuchte sie sich nur für Amys Kampagne zur Verfügung stellen? Auch wenn ihr der Gedanke an den Rummel, der mit der Kampagne verbunden war, Kopfschmerzen bereitete, für ihr Baby würde sie alles ertragen.

„Fantastisch“, stammelte Nancy und versuchte, ihre Stimme begeistert klingen zu lassen. „Ich bin dabei.“

Amy traute ihren Ohren nicht. „Tatsächlich?“

„Auf jeden Fall.“

Amy jubelte und zauberte von irgendwoher zwei Tassen, um mit Tee auf ihren Erfolg anzustoßen. „Ihre Privatsphäre respektieren wir natürlich. Wir präsentieren Sie als Vorbild für die werdenden Mütter in Heron Point. Ihre Botschaft lautet, dass in Zukunft alle Frauen unserer Stadt ihre Babys in entspannter Atmosphäre und behaglicher Umgebung bekommen können und dass die ganze Familie dabei sein darf. Auf unsere Babys!“

Nancy erwiderte den Toast. Ihr Gewissen plagte sie zwar, aber sie kämpfte alle Zweifel nieder. Nancy hatte sich geschworen, ihre eigene Verbitterung nicht auf ihre Tochter abfärben zu lassen. Sie sollte zu einem optimistischen Menschen heranwachsen und erfahren, dass sich am Horizont stets ein Silberstreifen abzeichnete – wie jetzt in Form von Amys Kampagne.

„Gut!“ Amy stellte die Tasse ab und zog ein Formular hervor. „Ich brauche noch ein paar Daten, die ich nicht in Ihrer Akte gefunden habe.“

Auch Nancy schob ihre Tasse beiseite. „Schießen Sie mal los. Was wollen Sie wissen?“

Amy zückte erwartungsvoll ihren Stift und sah sie an: „Den Namen Ihres Ehemannes!“

2. KAPITEL

Nancy schluckte. Die Sache hatte also doch einen Haken. Sie hatte keinen Ehemann. Aber ohne Mann würde die Klinik sie sicher nicht als glorreiches Beispiel für alle werdenden Mütter in Heron Point aufstellen wollen.

„Ich wollte nicht in Ihren Unterlagen schnüffeln“, entschuldigte sich Amy rasch. „Aber Ihre Akte lag zufällig auf Dr. McNamaras Tisch. Ich habe darin zwar den Namen Ihres Ehemannes gelesen, nur kann ich mich nicht mehr daran erinnern.“ Über den Bogen gebeugt, fügte sie leise hinzu. „Wenn’s nach mir ginge, könnten Sie auch ledig sein. Aber die Treuhänder der Stiftung und ein paar von unseren älteren Sponsoren werden erleichtert sein, dass Sie einen ordentlich angetrauten Kindsvater vorweisen können. Außerdem deckt sich das mit unserem Anliegen. Natürlich stehen die Geburtszimmer allen zur Verfügung. Aber das Angebot richtet sich besonders an Paare, die die Geburt ihres gemeinsamen Kindes miteinander erleben möchten.“

„Jerry“, hörte sich Nancy sagen. „Gerald W.“ Nervös machte sie sich auf die nächste Frage gefasst.

„Beruf?“

Achtung, ermahnte sich Nancy. Am Ende musst du ihn noch herzaubern. Sie hatte einen Geistesblitz. „Er arbeitet für die Küstenwache, auf der ‚Courageous‘.“

Amy war entzückt über diese Information. „Auf unserer ‚Courageous‘? Prächtig!“

Am Tag zuvor hatte Nancy auf der Suche nach Adressen von Secondhandläden in der Zeitung einen Artikel über das Schiff der Küstenwache von Heron Point, die „Courageous“, entdeckt. Sie hatte den Bericht über die dreimonatige Reise des Schiffs überflogen und die Frauen der Matrosen bedauert, die so lange von ihren Männern getrennt waren. Und schon war sie selbst eine von ihnen.

Ungefragt gab sie weitere Informationen: „Sie sollen nach Drogen fahnden und Raubfischer aufspüren.“

Amy bekam riesengroße Augen. Wahrscheinlich hoffte sie, dass der Vater des ersten Kindes in ihren Geburtsräumen als Held heimkehren würde. Da kannte sie Jerry aber schlecht. „Er wird aber doch rechtzeitig zur Geburt zu Hause sein?“

Nancy wusste, dass sie das offen lassen sollte. Dann konnte sie niemand zwingen, Jerry eines Tages vorzuzeigen. Andererseits könnte Amy ihr Angebot zurücknehmen, wenn sie fürchten musste, dass der Kindsvater nicht an ihrer Kampagne teilnahm. Aber das Kinderzimmer! „Er kommt eine Woche vor dem Termin zurück“, verkündete Nancy.

„Welchen Rang bekleidet er denn?“, fragte plötzlich eine Männerstimme von der Tür her. Die Frage klang misstrauisch. Nancy drehte sich um und entdeckte, dass der Radiologe zurückgekehrt war. Dumm nur, dass sie einen Leichtmatrosen nicht von einem Admiral unterscheiden konnte. Also versuchte sie abzulenken. „Er ist schon zehn Jahre dabei.“

„Und was tut er so?“, wollte Amy wissen.

„Nun …“ Nancys kleine graue Zellen arbeiteten auf Hochtouren. „Also …, er sorgt dafür, dass alles läuft. Die Motoren und so. Sie verstehen?“

„Wie nennt man denn das?“ Amy blieb beharrlich.

Was nun? Sollte Nancy Wehen vortäuschen oder auf die Geschenke verzichten, solange das noch mit Anstand möglich war? Da meldete sich wieder die Stimme hinter ihr: „Dann ist Ihr Mann der Bordingenieur?“

Nancy schenkte dem Arzt ihr betörendstes Lächeln und bestätigte: „Sie sagen es, Bordingenieur.“

Jave verstand die Welt nicht mehr. Er hätte schwören können, dass Nancy Malone ledig war. Jetzt sprach sie von einem Ehemann. Als Vater von zwei Jungs wusste Jave genau, wann jemand log. Er wusste allerdings auch, dass man schuldig wirken konnte, auch wenn man unschuldig war. Trotzdem sollte eine Ehefrau den Rang ihres Mannes kennen und ein bisschen damit angeben wollen.

Nun gut, dann war diese hübsche junge Frau, die da ein wenig verloren vor ihm saß, eben verheiratet – wenigstens behauptete sie das. Eigentlich kein Wunder, wenn man an all die Geschenke dachte, mit denen Amy sie geködert hatte.

„Genug geredet für heute!“ Jave beugte sich über Nancys Rollstuhl und löste die Bremsen. Dabei streifte er ihr seidiges Haar und atmete den blumigen Duft ihres Shampoos ein.

Nancy warf ihm einen ärgerlichen Blick zu – und konnte sich nicht mehr abwenden. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie den Arzt zum einen unglaublich attraktiv fand. Zum anderen hatte sie den Eindruck, als würde er sie vollständig durchschauen. Das machte ihr Angst.

„Natürlich.“ Amy stand gehorsam auf und verabschiedete sich von Nancy.

Autor

Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

Mehr erfahren