Eine Frau mit Geheimnis

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Eine unmögliche Liebe? Alexandra hat unrettbar ihr Herz verloren an Dominic Aikenhead, Duke of Calder. Auch wenn sie weiß, dass er ihre Gefühle niemals erwidern wird. Denn für ihn ist sie Captain Alexej Alexandrow, ein junger Mann und tapferer russischer Husar, dem er seine Freundschaft angeboten hat. Nur reicht das Alexandra schon bald nicht mehr. Immer stärker verzehrt sie sich danach, ein einziges Mal als Frau mit dem attraktiven Duke zusammen zu sein. Doch wie, ohne dass er ihre wahre Identität erfährt? Da bietet ein Maskenball überraschend die Chance, ihm im Kostüm einer geheimnisvollen Fremden einen leidenschaftlichen Kuss zu stehlen …


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764777
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG
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St. Petersburg, 1812

Die dritte Tür führte in einen weiteren grandiosen Raum. Menschenleer. So wie die Zimmer, die der junge Kavallerist bisher durchquert hatte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzugehen.

Tapfer straffte er die Schultern. Hier würde er keine Feinde antreffen, oder? Vor der Tür am Ende des Raums zögerte er, nur sekundenlang. Dann schüttelte er den Kopf, ermahnte sich, seinen Dämonen zu begegnen, und öffnete die Tür.

„Ah, Soldat Borisow, endlich.“ Der Sprecher, ein korpulenter Mann in einer Galauniform, lächelte. Aber er salutierte nicht. „Ich bin Fürst Wolkonskij, der Hofmarschall Seiner Kaiserlichen Majestät.“

Zackig schlug der Soldat die Hacken zusammen. „Exzellenz, ich …“ Beklommen verstummte er. In jedem der menschenleeren Räume war sein Unbehagen gewachsen.

„Seine Majestät erwartet Sie, junger Mann.“ Besänftigend nickte Wolkonskij ihm zu. „Er hat schon viel von Ihren Aktivitäten gehört. Von Ihrem vorbildlichen Mut. Wenn uns nur Zehntausende solcher Soldaten dienen würden! Dann hätten wir die Welt schon längst von der französischen Geißel befreit.“

Brennend stieg das Blut in Borisows Wangen, und er verfluchte sich. Warum passierte ihm das immer wieder? Nur Mädchen erröteten, kampferprobte Kavalleriesoldaten wohl kaum …

Der Hofmarschall wartete auf eine Antwort.

„Vielen Dank, Exzellenz, Sie sind sehr großzügig. Aber im Heer Seiner Majestät gibt es viele tapfere Männer …“

„In der Tat, Borisow. Doch nur wenige sind so jung und so tüchtig wie Sie. Nehmen Sie Platz, mein Junge, ich werde Seine Majestät über Ihre Ankunft informieren. Im Augenblick ist der Zar beschäftigt. Aber er wird Sie sicher bald empfangen.“ Der Hofmarschall klopfte leise an eine Tür und betrat den angrenzenden Raum. Ebenso leise schloss er die Tür.

Da drin sitzt Zar Alexander. Bei diesem Gedanken erschauerte Borisow. Höchstpersönlich. Und ich werde ihm begegnen. Heute …

Er begann umherzuwandern. So wie vor einer Schlacht konnte er nicht still sitzen.

Erst als die Tür aufschwang, fragte er sich, was er dem Zaren sagen sollte. Wenn er gefragt wurde …

„Soldat Borisow, Seine Majestät wird Sie jetzt empfangen.“

Mühsam schluckte Borisow, zwang sich zu einer militärischen Haltung und überquerte die beängstigende Schwelle.

An den Wänden des großen Zimmers hingen mehrere Gemälde und Spiegel. Aber es gab fast keine Möbel. In einer Ecke, vor den hohen Fenstern, stand ein reich geschnitzter vergoldeter Schreibtisch, dahinter ein einziger Stuhl. Offenbar durften sich die Besucher dieses Raums nicht setzen.

Eine Gestalt erhob sich hinter dem Schreibtisch und ging in die Mitte des Zimmers. Wie angewurzelt blieb Borisow bei der Tür stehen, die sich hinter ihm schloss. Nun war er allein. Mit dem Zaren.

„Treten Sie vor, Borisow, lassen Sie sich im Licht anschauen.“

Der Soldat verneigte sich und gehorchte.

Im Gegensatz zu Borisow trug der Zar sorgsam gestutzte Bartkoteletten. Hoch aufgerichtet stand der Monarch da, eine imposante Erscheinung in seiner Uniform. Mit hellen, klugen Augen musterte er den jungen Mann.

Gewiss sieht er die geflickte Stelle an meinem Rock, wo der Säbel ein Loch gerissen hat, dachte Borisow bedrückt und wünschte, er hätte sich eine neue Jacke leisten können.

„Während des Kriegs haben wir viel von Ihren couragierten Aktionen gehört“, fuhr der Zar fort. „Wie oft nahmen Sie an diversen Kavallerie-Operationen teil? Fünf Mal?“

Borisows Kehle war so trocken, dass er nicht zu sprechen vermochte, und er nickte nur.

„Wie ich den Berichten Ihrer Kommandanten entnehme, kennen Sie keine Furcht. In jedes Scharmützel stürzen Sie sich mit wahrer Todesverachtung. Selbst wenn es nicht Ihre Schwadron ist, die mit der Attacke beauftragt wurde.“ Aufmunternd lächelte der Zar ihn an.

„Majestät, das war … eh … ein Irrtum“, stammelte Borisow.

Schweigend hob Zar Alexander die Brauen.

„Nun, es – es war meine erste Schlacht, Majestät. Niemand hatte mir mitgeteilt, nur gewisse Schwadronen würden nacheinander angreifen. Nach der ersten Attacke hielt ich es für meine Pflicht, einfach weiterzumachen …“

„Ah, ich verstehe. Und schließlich hörten Sie auf?“

„Ja, Majestät, der Oberfeldwebel befahl mir, bei meiner Schwadron zu bleiben und nur zusammen mit ihr zu attackieren.“

„Doch Sie kämpften weiterhin mit lobenswertem Feuereifer“, bemerkte der Zar amüsiert. „Und bei Borodino haben Sie einem Offizier das Leben gerettet.“

Nach einem tiefen Atemzug erläuterte der junge Mann: „Er war verwundet, Majestät. Und ich verscheuchte nur die Feinde mit meiner erhobenen Lanze.“

„Und Sie gaben dem verwundeten Offizier Ihr Pferd?“

„Eh – ja, Majestät.“ Borisow erwähnte nicht, seine Satteltaschen seien gestohlen worden, als er das Pferd zurückbekam und dass er fast erfroren sei, weil er dem Offizier auch seinen Mantel überlassen hatte.

„Das Leben eines Offiziers zu retten, ist eine sehr verdienstvolle Tat, Borisow. Deshalb wurden Sie hierher beordert, um das Georgskreuz entgegenzunehmen, und …“, der Zar kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und ergriff ein Blatt Papier, „… und aus einem anderen Grund.“

Borisow begann zu schwanken. Nein, bitte, nicht …

„Hier habe ich den Bittbrief eines unglücklichen Vaters. Graf Iwan Kuralkin ersucht mich, ihm bei der Suche nach seinem geliebten Kind zu helfen. Vor über zwei Jahren lief dieses Kind davon und schloss sich unter falschem Namen der Kavallerie an. Nun hofft der Vater, man würde das Kind, den Trost seines Alters, aufspüren und nach Hause schicken. Glauben Sie, ich kann den Wunsch des armen Mannes erfüllen, Borisow?“ Der Zar legte das Blatt Papier auf den Tisch zurück.

Der junge Mann rang nach Luft und ahnte, dass seine Miene wachsende Panik verriet.

„Haben Sie eine Meinung zu diesem Fall, Borisow?“ Der Zar schaute ihn durchdringend an.

„Das … würde ich mir nicht anmaßen, Majestät.“

Der Zar nickte, als wollte er eine vernünftige Antwort anerkennen, und schlenderte zu den hohen Fenstern, die zum Palastgarten hinausgingen. Einige Minuten lang schien er die Pflanzen zu betrachten, dann drehte er sich abrupt um. „Man hat mir erzählt, Sie seien eine Frau, Borisow“, sagte er so leise, dass seine Stimme den Soldaten kaum erreichte. „Ist es so?“

Wie gelähmt stand Borisow da. Nur seine Lippen bewegten sich. Aber er brachte keinen einzigen Laut hervor.

Langsam durchquerte der Zar den Raum und blieb dicht vor dem Soldaten stehen. Sein Blick wirkte weder ärgerlich noch abweisend – eher fasziniert. Und er wartete offensichtlich auf eine Antwort.

Es war unmöglich, den Zaren zu belügen. „Ja, Majestät, es ist wahr“, würgte Borisow hervor und machte sich auf ein Donnerwetter gefasst.

Doch der Zar klopfte lächelnd auf die Schulter des Soldaten. „Niemals hätte ich gedacht, eine Frau würde so viel Mut und Kampfgeist beweisen. Sie geben meinem Heer ein leuchtendes Beispiel. Alexandra Iwanowna Kuralkina, ich gratuliere Ihnen“, fügte er hinzu und heftete das Georgskreuz an die Uniform der jungen Frau. Dann küsste er sie auf beide Wangen, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und griff wieder nach dem Brief. „Da Sie meine Frage vorhin nicht beantworten wollten, treffe ich eine Entscheidung. Der Zar persönlich wird Sie ehrenvoll aus seinem Heer entlassen und der Obhut Ihrer Familie anvertrauen.“

Nein! O nein! Würde er sie tatsächlich zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter zurückschicken?

Sie war vor der Hochzeit mit einem Mann geflohen, den sie nie gesehen hatte. Zweifellos würde die Stiefmutter sie sofort einem anderen verkaufen. Für immer würde sie ihre Freiheit verlieren. Ein solches Schicksal wäre unerträglich. Impulsiv kniete sie vor dem Zaren nieder. „Majestät, ich flehe Sie an – zwingen Sie mich nicht zur Heimkehr! Lieber sterbe ich für Sie auf dem Schlachtfeld. Erlauben Sie mir, weiterhin in Ihrem Heer zu kämpfen.“

Die Stirn gerunzelt, schaute der Zar auf Alexandra hinab. „Wie alt sind Sie?“, fragte er und bedeutete ihr aufzustehen.

Verblüfft gehorchte sie. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. „Zweiundzwanzig, Majestät.“

„Oh, tatsächlich? Sie sehen eher wie sechzehn aus.“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Was würden Sie denn gern tun, wenn alles auf dieser Welt möglich wäre?“

„Am liebsten würde ich Ihnen weiterhin in einem Ihrer Kavallerieregimente dienen, Majestät.“

„In einem bestimmten?“

Sie zögerte. Meinte er das ernst …? „Wenn ich die Wahl hätte, Majestät – in einem Husarenregiment.“ Vor ihrem geistigen Auge erschien sie selbst, in einer Husarenuniform, mit gezücktem Säbel, während einer gewaltigen Attacke …

„Als Offizier?“, erkundigte er sich lächelnd.

Dieser ungewöhnliche Vorschlag beschleunigte Alexandras Puls. Nur Männer von aristokratischer Herkunft wurden zu Offizieren ernannt. Unter ihrem falschen Namen, Borisow, und ohne die Möglichkeit, ihren Adelsstand zu beweisen, hatte sie als einfacher Soldat in die Armee eintreten müssen. Bisher war ihre Zeit beim Militär wundervoll und aufregend gewesen. Aber den Rang eines Offiziers einzunehmen … Natürlich traute sie sich das zu. So wie ihr Vater war sie dafür geschaffen. „Ein Offiziersdienst in einem Husarenregiment – das wäre die Erfüllung eines Traums, Majestät. Bis jetzt hielt ich das für undenkbar.“ Schüchtern schaute sie zu ihm auf und wagte noch immer nicht an ihr Glück zu glauben.

„Gut, dann sollen Sie den Mariupol-Husaren angehören.“

Alexandra schnappte nach Luft. Unfassbar – die Mariupol-Husaren bildeten ein erstklassiges Regiment, für das sich zahlreiche Aristokraten bewarben.

„Allerdings nicht als Borisow“, fuhr der Zar fort. „Auch nicht unter Ihrem richtigen Namen Kuralkina, aus offensichtlichen Gründen. Von jetzt an heißen Sie Alexej Iwanowitsch Alexandrow.“

„Oh, vielen Dank, Majestät“, hauchte sie überglücklich.

„Ein gerechter Lohn, nachdem Sie das Leben eines Offiziers gerettet haben. Und da Sie Ihren Vater nicht um die erforderliche Summe für das Patent bitten können, werde ich die Kosten tragen. Wenden Sie sich direkt an mich, über Fürst Wolkonskij. Von alldem darf niemand anderer erfahren.

„Wie soll ich Ihnen nur danken, Majestät …“

„Indem Sie Ihrem neuen Status auf dem Schlachtfeld und auch außerhalb alle Ehre machen.“ Eindringlich schaute er in ihre Augen.

Und Alexej Iwanowitsch Alexandrow schwor sich, dem Zaren in unwandelbarer Treue zu dienen. Bis zum Tod.

1. KAPITEL
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Boulogne, Juni 1814

Der Geruch weckte ihn.

Drei Sekunden lang blieb Dominic reglos im besten Bett des Lion d’Or liegen und versuchte die seltsamen Botschaften zu deuten, die auf sein Gehirn einstürmten. Dunkelheit. Schweigen. Rauch? Feuer!

Er sprang aus dem Bett. Licht! Er brauchte Licht! Und wo zum Teufel lagen seine Reithosen?

Durch die Stille des Morgengrauens hallte ein angstvolles Wiehern. Dann ertönte ein gewaltiges, zischendes Geräusch, als würde ein Riese Atem holen, gefolgt von einem rötlichen Widerschein, der aus der Hölle zu stammen schien. Der Rauch hatte sich in Flammen verwandelt.

Offenbar brannte der Stall des Lion d’Or.

Dominic stieß das halb offene Fenster weiter auf, steckte den Kopf hinaus und schrie: „Au feu! Au feu!“ Die Lautstärke seiner Stimme genügte sicher, um sogar betrunkene Stallknechte zu wecken.

Hastig schlüpfte er in seine Reithosen und die Stiefel.

Im unteren Stockwerk erklang ein Ruf. Endlich! Dann ein Stimmengewirr, die gellende Klage einer Frau, vermischt mit dem grausigen Knistern des Feuers, das trockenes Stroh und altes Holz verzehrte …

Dominic stürmte die Treppe hinab. Im Hof herrschte ein heilloses Chaos. Schreiende, fluchende Männer rannten im unheimlichen roten Licht umher, niemand holte Wasser, niemand rettete die Pferde.

Entschlossen umfasste Dominic die Schulter des nächstbesten Reitknechts. „Laufen Sie zur Pumpe!“, befahl er in scharfem Ton auf Französisch. „Lassen Sie möglichst viele Eimer füllen. Und Sie …“ Er packte das flatternde Hemd eines anderen Knechts. „Scheuchen Sie alle Männer aus dem Haus, sie sollen eine Kolonne bilden und die Eimer weiterreichen. Und ihr beide! Haltet keine Maulaffen feil, holt die Pferde aus dem Stall!“

Innerhalb einer Minute brachte er Ordnung in das Chaos. Verängstigte Pferde wurden in Sicherheit gebracht, die Männer schütteten Wasser in das Feuer. Doch die Flammen nutzten ihren Vorsprung und triumphierten. Die Fassade des Stalls brannte lichterloh. In wilder Panik ließ sich ein Pferd nicht durch den brennenden Torrahmen führen, bäumte sich auf, und ein Huf traf den Knecht, der es am Zügel hielt. Schreiend brach er zusammen, das Tier riss sich los und rannte in das Inferno zurück.

Dominic hievte den Bewusstlosen auf seine Schulter und trug ihn durch den Hof zum Gasthaus. Neben der Tür stand eine Dienstmagd, vor Angst erstarrt, und er legte ihr den Knecht vor die Füße. „Machen Sie sich nützlich, sehen Sie nach seinen Verletzungen!“ Ob sie gehorchte, wartete er nicht ab. Er musste die restlichen Pferde retten. Um die kümmerte sich nur mehr ein einziger Mann, und der war den Schwierigkeiten nicht gewachsen.

Inzwischen hatte sich der Rauch verdichtet, und Dominic konnte kaum etwas sehen. Nachdem er tief Luft geholt hatte, rannte er in den brennenden Stall. Nun bereute er, dass er kein Hemd angezogen hatte, das er als schützende Maske benutzen könnte. Mindestens ein Dutzend Pferde musste noch hinausgebracht werden.

Dunkler Qualm erfüllte den Hintergrund des Raums. Aber dort loderten keine Flammen. Er hörte das Geräusch von Hufen, die gegen die Holzwände schlugen. Anscheinend waren einige Pferde festgebunden. Geduckt, um möglichst wenig Rauch einzuatmen, lief er zu ihnen und überließ dem Reitknecht die Tiere, die sich näher beim Tor befanden.

Wie eine geisterhafte Erscheinung in schmutzigem Weiß tauchte eine schmale Gestalt aus den wirbelnden Rauchschwaden auf und führte ein Pferd am Zügel. Soweit er das feststellen konnte, trug sie nur ein Nachthemd und Stiefel. Was für ein tapferer Junge, dachte er.

„Gut gemacht“, keuchte Dominic, als er an ihm vorbeieilte. Keine Antwort. Natürlich konzentrierte sich der Junge auf seine Aufgabe.

Es dauerte ziemlich lange, bis alle Pferde gerettet waren. Mittlerweile brannte fast das ganze Gebäude. Doch der Junge im Nachthemd kannte keine Furcht. Immer wieder kehrte er in den gefährlichsten Teil des Stalls zurück. Und er wusste, wie man mit scheuenden Pferden umgehen musste. Manchmal hörte Dominic eine sanfte, beschwichtigende leise Stimme. Der Bursche legte sogar seine Hand über die Nüstern, um sie vor dem beißenden Qualm zu schützen.

Wenn das Schlimmste überstanden war, würde Dominic den Jungen für seine Tapferkeit belohnen.

Wieder im Hof, fing er einen nassen Lappen auf, den ihm ein Dienstbote des Gasthauses zuwarf. Dankbar bedeckte er seinen Kopf damit und hoffte, der Junge würde diesem Beispiel folgen. Dann würden sie die übrigen Tiere ins Freie bringen können.

Er rannte in den Rauch zurück und kämpfte mit dem Halteseil eines der letzten Pferde, das wild um sich trat. Beinahe wurde er von einem Huf am Kopf getroffen. Hätte er bloß ein Messer, um den straff gespannten, an einem Eisenring befestigten Strick zu durchschneiden … Verdammt! Das Seil ließ sich nicht lösen. Wenn es ihm nicht bald gelang, würde er ebenso wie das Tier verbrennen.

Plötzlich ragte eine schmale Hand aus dem Qualm, die ein Messer umklammerte. Gott segne den Jungen! Mit einem einzigen Schnitt durchtrennte er das Seil. Keine Zeit für ein Dankeswort … Wiehernd bäumte sich das Pferd auf. Nur um Haaresbreite entging Dominic den tödlichen Hufen. Nun musste er sich beeilen, bald würde das Dach des Stalls in Flammen aufgehen, und er musste das Tier rechzeitig hinausbringen.

Er griff nach dem losen Strick, mühsam zerrte er das Pferd durch das Tor ins Freie. Dann stürmte er in die Feuerhölle zurück und ignorierte die Funken, die seine nackte Brust versengten. Seine Haut war bereits mit kleinen Brandwunden übersät. Doch er musste sich vergewissern, dass keine Pferde zurückgeblieben waren, vom Rauch verborgen.

Offenbar befürchtete das auch der Junge. Die weiße Gestalt, die das rötliche Dunkel absuchte, war kaum auszumachen.

„Sind alle draußen?“, rief Dominic und lief zu ihm.

Ehe der Bursche antworten konnte, krachte es bedrohlich über ihren Köpfen, und Dominic sah einen brennenden Balken herabstürzen. Blitzschnell schob er den Jungen beiseite.

Nur wenige Zoll entfernt landete der Balken am Boden und überschüttete beide mit einem Funkenregen. Das Nachthemd des Jungen fing Feuer, und Dominic wollte es von dem schmalen Körper reißen.

„Non!“ Ein schriller Schreckensschrei.

War der Junge verrückt? Wollte er lieber verbrennen, als sich nackt zu zeigen?

„Non!“, schrie er erneut und riss den Saum seines Nachthemds aus Dominics Hand.

Eine Diskussion würde zu viel Zeit kosten. Und so gab es nur eine einzige Lösung für das Problem. Dominic stieß den Jungen zu Boden, warf sich auf ihn und wälzte sich mit ihm umher, bis die kleinen Flammen erloschen, die das Hemd erfasst hatten.

Und da erkannte er die Wahrheit – das war kein Junge.

Was er in seinen Armen spürte, bestritt sein Verstand. Doch es gab keinen Zweifel. Weiche Rundungen. Die kleine Gestalt, die sich unter ihm anspannte, gehörte einem furchtlosen Mädchen. Unglaublich …

Nun, darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Bald würde das Dach des Stalls einstürzen, und er musste die junge Frau aus dieser Hölle bringen.

Er sprang auf, packte ihren Arm und zog sie hoch. „Venez!“, befahl er heiser und steuerte das Tor an.

Doch sie versuchte sich von seinem Griff zu befreien. Was sollte das, zum Teufel? War ihr die Gefahr nicht bewusst? Fluchend umfing er die schlanke Gestalt, warf sie sich über die Schulter und ignorierte die kleinen Fäuste, die auf seinen Rücken trommelten. Er nahm sich keine Zeit, um beruhigend auf sie einzureden. Im ätzenden Rauch hätte seine Stimme ohnehin versagt. Geduckt taumelte er in den Hof hinaus, wo keine Flammen loderten. Die Männer hatten das Feuer endlich unter Kontrolle gebracht.

Erleichtert stellte Dominic die junge Frau auf die Beine und stützte sie, bis er sicher war, dass sie aus eigener Kraft stehen konnte. Er musste ihren erstaunlichen Mut loben und sich entschuldigen, weil er so grob mir ihr umgegangen war. „Mademoiselle, vous …“, begann er krächzend. Weiter kam er nicht. Entsetzt starrte sie ihn an.

Fürchtete sie sich etwa? Nein, unmöglich – nicht diese Frau … Was immer in ihr vorgehen mochte, es blieb verborgen, denn sie schüttelte seine Hand ab und rannte zum Gasthaus. Er wollte ihr folgen, durfte ihr nicht erlauben, wie ein Geist zu verschwinden, musste herausfinden, wer sie war …

„Monsieur! Attention!“ Einer der Männer umklammerte seinen Arm und zerrte ihn vom Stall weg. Krachend stürzte das Dach ein. Nach allen Richtungen flogen Funken, das Feuer geriet erneut außer Kontrolle und drohte auf das Gasthaus überzugreifen.

Einen Eimer in der Hand, stürmte Dominic zu dem Gebäude, schüttete Wasser auf die Fassade und wies die Männer an, ihm zu helfen. Mit Gottes Hilfe würden sie das Haus retten.

Als der Brand endlich gelöscht war, jubelten die Leute trotz ihrer Erschöpfung. Dominic sah sich von grinsenden, verrußten Gesichtern umringt.

Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit entspannte er seine verkrampften Schultern. Sein Rücken schmerzte, die kleinen Brandwunden stachen wie glühende Nadeln in seine Haut.

Langsam und müde, mit schweren Schritten, stieg er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, wo er seinen Kammerdiener nicht antraf. Vermutlich half Cooper den Angestellten des Gasthauses bei den Aufräumarbeiten im Hof und war in seiner schmutzigen Kleidung, mit geschwärztem Gesicht, unkenntlich gewesen. Wie auch immer, er brauchte ihn nicht.

Als Dominic in den Spiegel blickte, erschrak er über seine derangierte Erscheinung. Dann grinste er. Kein Wunder, dass die junge Frau vor ihm davongelaufen war. Von Kopf bis Fuß mit Ruß beschmiert, glich er einem schwarzen Dämon. Nicht einmal seine Mutter hätte ihn wiedererkannt. Nun brauchte er ein heißes Bad. Doch darauf musste er verzichten, bis wieder normaler Betrieb in der Küche herrschen und das Personal für warmes Wasser sorgen konnte.

Seufzend sank er auf das Bett und zog die ruinierten Stiefel aus. Die würde nicht einmal Cooper retten können. Dominic malte sich belustigt aus, wie konsterniert der Mann die Stirn runzeln würde, wenn er sah, in welchen Zustand sein Herr geraten war. Hoffentlich verwahrte der Kammerdiener eine Brandsalbe in seinem Gepäck.

Aber das war vorerst nicht so wichtig. Dominic wollte einfach nur für ein paar Minuten die Augen schließen. Und so ließ er die versengten Stiefel zu Boden fallen und streckte sich auf dem Bett aus. Welch eine Wohltat …

Beinahe wäre er eingeschlafen, hätte seine Fantasie nicht das Bild der tapferen jungen Frau heraufbeschworen. Wer mochte sie sein? Er musste unbedingt mit ihr sprechen und ihr danken. Natürlich erst später, wenn seine äußere Erscheinung wieder präsentabel wäre. An ihr Gesicht konnte er sich nicht erinnern, auch nicht an die Farbe ihres Haars.

Im dichten Rauch hatte er sie nur verschwommen gesehen. Und irgendwann hatte sie ihren Kopf mit einem feuchten Tuch bedeckt, ebenso wie er seinen. Jedenfalls trug sie ihr Haar kurz geschnitten wie ein Junge. Das hatte er festgestellt. Sehr seltsam …

Nun, allzu schwer würde es ihm nicht fallen, im Lion d’Or eine junge Frau mit kurzem Haar ausfindig zu machen. Vielleicht sollte er ihr eine Börse mit einigen Guineen geben. Die hätte sie zweifellos verdient – falls sie einen solchen Lohn annehmen würde.

Was für eine bewundernswerte, couragierte Frau … Ja, er musste sie finden.

„Bitte, Euer Gnaden, halten Sie doch still!“

Dominic fluchte. Warum musste Cooper die Behandlung mit der Brandsalbe dermaßen übertreiben?

„Wenn ich nicht alle Wunden bestreiche, werden Sie sich infizieren, Euer Gnaden. Und dann machen Sie mir die Hölle heiß. Falls Sie mir diesen Hinweis verzeihen …“

Trotz dieser Worte klang Coopers Stimme kein bisschen unterwürfig. Schon seit vielen Jahren diente er dem Duke, und er neigte zum Aufbegehren, wenn er sich im Recht fühlte, so wie in diesem Moment.

Stöhnend hielt Dominic still, bis der Mann die Prozedur beendet hatte.

Dann streifte Cooper ein feines Leinenhemd über den geschundenen Oberkörper seines Herrn, das sich angenehm kühl auf der verletzten Haut anfühlte. „So, Euer Gnaden. Diese Salbe wirkt Wunder. Bald werden Sie keine Schmerzen mehr verspüren. Das werden Sie schon noch sehen.“

„Zweifellos, Cooper“, krächzte Dominic, die Kehle immer noch rau vom Qualm. Er griff nach einem Wasserglas und trank es leer. Doch das half ihm nur kurzfristig.

„Gleich hole ich Ihnen etwas Honig“, versprach Cooper. Er hatte im Hof geholfen, die Wassereimer weiterzureichen, aber nicht annähernd so viel Rauch eingeatmet wie sein Herr. Deshalb klang seine Stimme mehr oder weniger normal. „Lange wird es nicht mehr dauern, Euer Gnaden, dann können Sie sich wieder auf gesellschaftlichem Parkett bewegen.“

Dominic seufzte und schlang das Krawattentuch zu einem einfachen Knoten. Bedauerlicherweise hatte er zu viel Zeit verschwendet. Er hatte nicht beabsichtigt, einzuschlafen, aber letzten Endes seiner Erschöpfung nachgegeben. Jetzt musste er die junge Frau finden. Auch sie musste verletzt sein, der zarte Körper von fliegenden Funken gezeichnet, und ihre Kehle würde brennen. Spontan beschloss er ihr Coopers Salbe anzubieten.

Als er vor den Spiegel trat, nickte der Kammerdiener anerkennend. „Alles in bester Ordnung, Euer Gnaden.“

Nur Sekunden lang musterte Dominic sein Spiegelbild. Jetzt würde seine Mutter ihn wiedererkennen. Nur gut, dass Cooper die versengten Haare abgeschnitten hatte … Hätte die Herzoginwitwe das gesehen, wäre ihr gewiss ein bissiger Kommentar eingefallen.

Er verließ das Zimmer und stieg die Treppe hinab.

„Ah, Monseigneur!“ Der Wirt verneigte sich so tief, dass seine Nase die Knie zu berühren schien. Dann begann er eine überschwängliche Dankesrede, die kein Ende nahm.

„Ja, ja“, fiel Dominic ihm schließlich ins Wort. „Schon gut, das hätte jeder Mann getan.“

Da verbeugte sich der Wirt noch tiefer und setzte zu einer neuen Tirade an.

Aber Dominic unterbrach ihn hastig. „In Ihrem Gasthaus ist eine junge Frau mit kurzem Haar abgestiegen. Ich wünsche sie zu sprechen. Bitte bringen Sie die Dame zu mir.“

„Eine Frau, Monseigneur?“ Verwirrt schüttelte der Mann den Kopf. Dann erhellte sich seine Miene. „Ah, Sie meinen das Mädchen mit den kurz geschnittenen Haaren.“

Nur widerstrebend unterdrückte Dominic einen Fluch. Der Mann musste immerhin einen abgebrannten Stall verkraften. Kein Wunder, dass er ein bisschen durcheinander war. „Ja, genau. Ich möchte sie sehen. Wo ist sie? Und wer ist sie?“

„Offenbar meinen Sie die Tochter des Getreidehändlers, Monseigneur. Hier gibt’s kein anderes Mädchen mit kurzem Haar. Armes Ding. So eine Schande, das schöne Haar abzuschneiden!“

„Ja, aber wo ist sie? Ich muss mit ihr reden.“

Verlegen starrte der Wirt zu Boden. „Désolé, Monseigneur. Bedauerlicherweise ist sie nicht mehr da. Vor ein paar Stunden ist ihre Familie abgereist. Während Monseigneur geschlafen hat.“

Erbost verwünschte Dominic seine Schwäche. Er hätte ihr sofort folgen sollen. Er musterte den Wirt, der seinen Blick noch immer nicht hob. „Wie heißt sie?“

Der Mann zögerte. „Das – das weiß ich nicht, Monseigneur. Sie kam mit der Familie Durand aus Paris an. Also nahm ich an, sie wäre die Tochter. Monsieur Durand nannte keine Adresse. Und das war auch nicht nötig, verstehen Sie … Er …“

„Also können Sie die Leute nicht erreichen?“

„So sehr ich es auch bedauere, Monseigneur …“

„Lassen Sie nur“, stieß Dominic unfreundlich hervor. Er hatte keinen Grund, dem Wirt zu zürnen. Schließlich trug der Mann keine Schuld an der Abreise der jungen Dame. Unglücklicherweise hatte sie einen weitverbreiteten Namen. Und er kannte ihre Pariser Adresse nicht.

Nach einem knappen Dankeswort ging er in den Hof, um die Brandschäden zu inspizieren.

Hinter ihm schüttelte der Wirt den Kopf. Seltsame Leute, diese Engländer. Sogar die Männer, die perfekt Französisch sprachen wie der Duke of Calder. Und was zum Teufel wollte er mit einem zehnjährigen Mädchen anfangen? Nichts Gutes, das stand fest. Einem Gerücht zufolge gingen die Engländer sonderbaren, perversen Neigungen nach. Als ehrbarer, patriotischer Franzose hatte er die wahre Identität des Kindes natürlich nicht verraten. Nicht einmal diesem englischen Duke, der das Gasthaus vor dem Feuer gerettet hatte. Immerhin waren die Engländer die Feinde Frankreichs – und verantwortlich für das Exil des Kaisers.

Angewidert schnaufte der Wirt. Dann lächelte er. Sicher war es richtig gewesen, dem Duke einen falschen Namen zu nennen und zu behaupten, das Kind würde nach Paris reisen. Inzwischen fuhr das Mädchen in eine ganz andere Richtung.

Dominic ging zu den Pferden, die im Hof festgebunden waren, möglichst weit von der verkohlten Ruine des Stalls entfernt. In der Luft lag immer noch der Geruch des Rauchs, machte die Tiere nervös, und mehrere Reitknechte versuchten sie zu beruhigen.

Würde er die junge Frau auf einem schnellen Pferd einholen? Allzu weit konnten die Durands noch nicht gekommen sein. Falls sie nicht zu früher Stunde mit der Postkutsche abgereist waren – und das würde nicht zur Familie eines Kaufmanns passen.

Er beschloss ein Pferd satteln zu lassen. Aber dann entsann er sich, wo er war und welche Aufgabe er erfüllen musste.

Vorerst durfte er Boulogne nicht verlassen. Nicht einmal für eine Stunde. Er musste den Auftrag ausführen, den der Außenminister Lord Castlereagh ihm erteilt hatte. Gewiss, Seine Lordschaft war ihm mit äußerster Höflichkeit begegnet. Trotzdem hatte er mit sanfter Stimme betont, die Instruktionen müssten unter allen Umständen befolgt werden.

„Im Grunde ist es ganz einfach“, hatte Lord Castlereagh erklärt. „Während Zar Alexanders Besuch in London gehören Sie seinem Stab an. Natürlich wird am russischen Hof französisch gesprochen. Diese Sprache beherrschen Sie wie ein Einheimischer, Sir, also wird es da keine Probleme geben. Sie werden alles tun, was in Ihrer Macht steht, um den Aufenthalt des Zaren in London möglichst angenehm zu gestalten. Außerdem werden Sie darauf achten, dass kein Mitglied seiner Entourage in Schwierigkeiten gerät.“

„Im Grunde, Sir? Also steckt noch mehr dahinter?“

Lord Castlereagh hatte freudlos gelächelt. „Soeben haben Sie demonstriert, warum ich Sie für diese Aufgabe ausgewählt habe, Calder. In der Tat, da steckt mehr dahinter. Was den Zaren betrifft, ist unsere Regierung ein wenig beunruhigt. Gewiss, er ist ein fähiger Mann. Leider müssen wir befürchten, dass er mit Englands Feinden paktiert. Zum Beispiel können wir uns vorstellen, wie unglücklich er über Prinzessin Charlottes geplante Heirat mit dem Prinzen von Oranien ist. Möglicherweise sucht er diese Ehe zu verhindern, denn er weiß, welch großen Wert wir auf eine Marine-Allianz mit Holland legen. Wahrscheinlich wird er es vorziehen, wenn die Erbin des englischen Throns einen mittellosen Aristokraten heiratet. Der Prinzregent bietet ihm seine Gastfreundschaft an, damit wir alle Besucher des Zaren im Auge behalten können. Darauf werden auch Sie achten, Calder, direkt vor Ort.“

„Wenn der Zar so scharfsinnig ist, wie wir das annehmen, Sir – wird er die Dienste eines britischen Verbindungsoffiziers nicht ablehnen?“

„Das könnte er versuchen. Aber ich versichere Ihnen, Duke, es wird ihm misslingen.“

Und der Außenminister hatte recht behalten. Sonst wäre Dominic jetzt nicht in Boulogne, ein Mitglied des Stabs, der den Zaren während seiner Reise nach England betreute. Wenigstens hatte er, bevor er seine Mission antrat, genug Zeit gefunden, um heimzukehren nach Aikenhead Park. Nachdem er so viele Monate allein in Frankreich verbracht und für die britische Regierung spioniert hatte, war die erholsame Atempause hochwillkommen gewesen.

In Aikenhead Park hatte er seinen jüngsten Bruder Jack angetroffen. Trotz des Altersunterschieds von zwölf Jahren – Jack war erst vierundzwanzig – standen sie sich sehr nahe. Vor allem, seit Jack der Vierte im Bunde des kleinen Spionageteams geworden war, der Aikenhead Honours. Mit sechsunddreißig der älteste Bruder, fungierte Dominic – genannt das „Ass“ – als Anführer. Leo, zwei Jahre jünger, war der „König“. Und den „Buben“ repräsentierte Jack. Immer wieder amüsierte sich Dominic, weil dieser Name so gut zu dem Jungen passte. Jacks Busenfreund Ben Dexter war die „Zehn“. Nur die „Dame“ fehlte den Aikenhead Honours. Bisher hatte Dominic keine Frau gefunden, der sie ihre Geheimnisse anvertrauen konnten. Außerdem mussten sie sehr oft gefährlich Aktionen ausführen. Einer Frau durfte man das nicht zumuten. Und keine würde den nötigen Mut besitzen. Außer vielleicht – dieses Mädchen?

Dominic schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Hier in Boulogne, wo er relativ harmlose Pflichten erfüllte, brauchte er die Aikenhead Honours nicht. Und er musste endlich aufhören, an diese junge Frau zu denken. Viel zu oft erschien ihr undeutliches Bild in seiner Fantasie. Er hatte zu tun. Nun musste er sich auf seine erste Begegnung mit dem Zaren vorbereiten. Dabei durfte es keine Pannen geben.

Mit langen Schritten kehrte er in den Lion d’Or zurück und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Die Enttäuschung durfte ihn nicht in seiner Konzentration stören. Immerhin war sie nur die Tochter eines Kaufmanns. Zu respektabel für eine Geliebte, für eine Ehefrau von zu niedrigem Stand. Bald würde er sie vergessen. Außerdem wusste er kaum, wie sie aussah. Und sie hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Aber ihre Stimme klang sanft und melodisch. Daran erinnerte er sich, denn sie hatte so liebevoll und beruhigend auf die verängstigten Pferde eingeredet. Ihm hatte sie nur einen kurzen Schrei gegönnt. „Non!“

Kein einziges Dankeswort. Nur ein Blick aus weit aufgerissenen Augen – und dann die Flucht.

Als wäre er der Teufel persönlich …

2. KAPITEL
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Alex stand am Kai von Boulogne. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrachtete sie das Meer. So oft hatte sie sich ausgemalt, wie es aussehen würde. Vielleicht wie eine größere Version der zahlreichen Seen, die sie kannte – oder wie die Steppe, nicht von Erde, sondern von Wasser bedeckt … Aber die starken Wellen hatte sie sich nicht vorgestellt. Ja, das Meer bewegte sich, und alle Schiffe im Hafen schaukelten.

Bei diesem Anblick drehte sich ihr Magen um. Und plötzlich stieg eine unheilvolle Ahnung in ihr auf. So sehr hatte sie sich gefreut, als sie aufgefordert worden war, den Zaren nach England zu begleiten. Doch sie spürte, sie würde diesen Teil der Reise kein bisschen genießen.

Um sich von dem Grauen der wild bewegten See abzulenken, dachte sie an die erstaunliche Begegnung im brennenden Stall. Bisher hatte sie nicht gewagt, sich an den Mann zu erinnern. Da er ihr das Leben gerettet hatte, sollte sie ihm dankbar sein. Aber dann hatte er sie mit Mademoiselle angesprochen, und ihr war nichts anderes übrig geblieben, als die Flucht zu ergreifen. Ohne ein Wort des Dankes. Er kannte ihr Geheimnis. Womöglich hätte er es unwissentlich verraten. Und so war sie davongelaufen.

Noch immer entsann sie sich, wie es gewesen war, seine nackte Brust auf ihrem Körper zu fühlen. Wie er mit ihr über den Boden gerollt war, um die Flammen ihres brennenden Nachthemds zu löschen … Welch ein starker Mann! Mühelos hatte er sie über seine Schulter geworfen. Hätte sie bloß gewagt, den Gastwirt nach dem Namen ihres Retters zu fragen … Dann könnte sie ihm einen Dankesbrief schicken, natürlich anonym. Vielleicht sollte sie sogar jetzt …

Nein, auf keinen Fall! Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen, nur um einem rußgeschwärzten französischen Dienstboten zu danken. Sie wusste nicht einmal, wie er aussah. Wenn sie ihn suchte und fand, würde er sie wahrscheinlich verraten. Es wäre reiner Wahnsinn. Deshalb musste sie sich zwingen, den Mann zu vergessen.

Entschlossen konzentrierte sie sich auf ihre Mission. Sie durfte nur französisch sprechen. Und der Zar hatte ihr eingeschärft, niemandem zu erzählen, ihre schottische Mutter und das schottische Kindermädchen hätten ihr ein perfektes Englisch beigebracht. Ihre Aufgabe bestand darin, Gespräche zu belauschen und zu berichten, was sie hören würde, so unwichtig es ihr auch vorkommen mochte. Mit anderen Worten, sie sollte für den Zaren spionieren. Und Mütterchen Russland dienen.

Nun näherte sich ein Schiff der englischen Marine dem Kai und legte an. Trotz der Vertäuung schwankte es heftig. Als Alex das beobachtete, wurde ihr fast übel. Um ihren rebellischen Körper zu zügeln und das Bild ihres Retters nicht erneut heraufbeschwören zu müssen, wandte sie sich hastig ab und sprach mit einigen Fischern.

Hoffentlich würde sie ihre Schwäche unter Kontrolle haben, wenn sie an Bord ging.

An die Reling gelehnt, verfolgte Dominic die Ankunft des Kriegsschiffes im Hafen von Boulogne. Gewissenhaft hatte er dafür gesorgt, dass die Impregnable für die Ankunft des Zaren vorbereitet war. Sobald er wieder einen Fuß auf französischen Boden setzte, würde seine Mission allen Ernstes beginnen. Keine einzige Minute würde ihm für sich selber bleiben – während langer Wochen voller Bälle und Bankette, Ansprachen und des endlosen Zeremoniells, das zum Besuch eines Monarchen gehörte und für unerlässlich gehalten wurde.

Wenn es ihn auch ermüden würde, er musste die ganze Zeit hellwach bleiben, falls er einem betrunkenen Beamten geheime Informationen entlocken oder eine interessante Konversation belauschen konnte. Viel lieber würde er nach Aikenhead Park fahren, obwohl seine Mutter ihn ständig drängte, wieder zu heiraten. Sie vergötterte ihren Erstgeborenen, und sie sorgte sich um ihn – mit gutem Grund, wie er zugeben musste. Eine gescheiterte Ehe, eine längst verstorbene Gemahlin, die ihm keinen Erben geschenkt hatte … Natürlich war das kein angemessenes Schicksal für einen Duke. Aber trotz der unentwegten Anspielungen seiner Mutter fand er auf dem Familiensitz stets die friedliche Ruhe, die er benötigte, um Körper und Seele zu erfrischen.

Auf diese Atmosphäre sollte seine neue Duchess achten. Bei der ersten Heirat hatte er die falsche Wahl getroffen, verführt von Eugenias reizvoller Fassade, ihrer Schönheit und ihrem lebhaften Temperament. Als Gefährtin war sie kühl und abweisend gewesen, im Bett hatte sie die Fähigkeit besessen, die Glut ihres Ehemanns regelmäßig zu löschen. Einen solchen Fehler würde er nicht noch einmal begehen, sich nicht mehr von Äußerlichkeiten blenden lassen. Seine Frau musste sanfte Heiterkeit ausstrahlen und ihm ein erholsames Heim bieten …

Plötzlich stockte sein Atem. Vom Hafen drang eine weibliche Stimme herüber, in melodischem Französisch. Wie die Stimme der jungen Frau im brennenden Stall. War sie wirklich hier? Oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich?

Sein Blick schweifte über die Menschenmenge am Kai. Sobald das Schiff vertäut war, eilte er die Laufplanke hinab. Nun musste er die Besitzerin dieser zauberhaften Stimme finden.

„Je vous félicite“, sagte sie. „Et je vous remercie, aussi.“

Jetzt stellte er fest, wo die Stimme erklang – zwischen einigen Fischern, die sich in der Nähe der Impregnable versammelt hatten. In ihrer Mitte stand ein Offizier, der eine russische Uniform trug und Dominic den Rücken zukehrte. Versteckte sich die junge Frau hinter den breiten Rücken der Franzosen?

Der Offizier wandte sich von den Fischern ab. „Au revoir“, verabschiedete er sich und ging auf das Schiff zu.

Bestürzt zuckte Dominic zusammen. Ehe er sich zurückhalten konnte, stieß er einen wilden Fluch hervor. Offenbar waren seine romantischen Träume von einer Stimme inspiriert worden, die einem Mann gehörte!

Ein hochgewachsener dunkelhaariger Gentleman in Zivilkleidung hatte das Schiff verlassen. Anscheinend machten die Meereswellen auch ihm zu schaffen, denn er sah ziemlich blass aus. Aber er erweckte den Eindruck einer bedeutsamen Persönlichkeit. Alex salutierte. „Capitaine Alexej Iwanowitsch Alexandrow“, stellte sie sich auf Französisch vor, zu Ihren Diensten, Monsieur.“

Zunächst wirkte er etwas verwirrt, dann nickte er ihr zu. „Calder, Verbindungsoffizier zwischen der Regierung Seiner Majestät und Ihrem Zaren“, erwiderte er in untadeligem Französisch. „Meine Aufgabe besteht darin, den Besuch der Kaiserlichen Majestät in England möglichst angenehm zu gestalten. Wenn ein Angehöriger seines Gefolges Hilfe braucht, soll er sich bitte an mich wenden.“

„Vielen Dank, Monsieur.“

„Würden Sie mich an Bord begleiten, Capitaine? Sicher möchten Sie die Unterkunft Ihres Zaren inspizieren.“

Sekundenlang zögerte Alex, bevor sie die schwankende Laufplanke betrat, die der Engländer erstaunlich sicheren Fußes hinaufging. Nur Mut, ermahnte sie sich und folgte ihm. Immerhin war sie für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden. Was konnte ihr ein bisschen Wasser schon anhaben?

Calder führte Alex in eine große, helle Kabine im Heck des Schiffs. Mit vergoldeten Möbeln, kostbaren Gemälden und allem erdenklichen Komfort ausgestattet, erfüllte der Raum gewiss sämtliche Wünsche eines ranghohen Reisenden.

Als Alex sich umdrehte und die Tür schließen wollte, ging ein plötzlicher Ruck durch das Schiff. Sie griff nach der Klinke und verfehlte ihr Ziel, taumelte und stieß gegen einen kleinen Tisch.

„Bald werden Sie sich an das schwankende Schiff gewöhnen, Capitaine“, meinte Calder. „Bis dahin sollten Sie Halt suchen, wenn Sie an Bord umhergehen, insbesondere, wenn Sie die Niedergänge benutzen.“

„Die Niedergänge?“

„Die Treppen zwischen den Decks. Bei der Marine bedient man sich einer speziellen Sprache.“

„Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber es überrascht mich, einem Engländer zu begegnen, der nicht nur ausgezeichnet Französisch spricht, sondern auch noch den Marine-Jargon versteht.“

„Meine Mutter ist Französin“, betonte er hastig.

„Nun, das erklärt einiges. Aber es wäre erstaunlich, wenn sie in der Marine gedient hätte.“

Beinahe lächelte er. „Touché, Capitaine. Selbstverständlich tat sie das nicht. Aber ich fuhr oft zur See. Wir Briten lieben das Meer, es liegt uns im Blut. Vermutlich fühlen Sie sich der riesigen Steppe auf ähnliche Weise verbunden.“

Welch ein einfühlsamer Mann, diese Mr. Calder, dachte sie. „Waren Sie schon einmal in Russland, Monsieur?“

Für einen kurzen Moment wirkte er verwirrt. „Nein … Als Offizier wissen Sie zweifellos, dass solche Reisen für Zivilisten in den letzten fünfzehn Jahren etwas … eh … schwierig waren. Aber seit Bonaparte auf Elba festsitzt, dürfen die Engländer wieder ihrer Reiselust frönen. Nach Paris fahren wir besonders gern. Vielleicht werde ich irgendwann auch Russland besuchen. Sicher würde sich das lohnen.“

„Ganz bestimmt, Monsieur. Russland ist ein so großes Land, dass es alles zu bieten hat.“

„Aber es wird nicht vom Meer umgeben.“

Eine neue Woge erschütterte das Schiff, und Alex hatte das Gefühl, ihr Magen würde in der Luft hängen, während ihr restlicher Körper zu Boden sank.

„Vielleicht darf ich Ihnen vorschlagen, Platz zu nehmen, Capitaine?“, fragte Calder. „Dann wird es Ihnen nicht so schwerfallen, Ihr Gleichgewicht zu bewahren.“

Sein Rat klang fast väterlich, dachte Alex verwundert. Warum sollte sich ein Engländer mit strenger Miene um einen jungen russischen Offizier sorgen, der halb so alt aussah wie er selber? Das verstand sie nicht, aber sie setzte sich.

„Wie Ihnen zumute ist, weiß ich, Capitaine“, fuhr er fort. „Mein jüngerer Bruder wird schon grün im Gesicht, wenn er ein Schiff nur sieht.“

„Ach, tatsächlich …“, murmelte sie mechanisch und fühlte sich immer unbehaglicher.

„Falls Ihre Übelkeit während der Reise nicht nachlässt, werde ich den Schiffskoch ersuchen, ein Spezialgetränk zuzubereiten, das die Symptome garantiert lindert.“

„Danke, Monsieur, Sie sind sehr freundlich.“

„Kommen wir zur Sache …“ In knappen Worten erläuterte er, was man unternommen hatte, um den Komfort des Zaren zu gewährleisten. Alex nickte. Daran gab es nichts auszusetzen. Offenbar hatten Calder und seine Mitarbeiter von der Royal Navy an alles gedacht. „Auf Zar Alexanders Reise nach England wird Seine Königliche Hoheit, der Duke of Clarence, der Bruder des Prinzregenten, als Gastgeber fungieren. Vielleicht sollte ich Sie warnen, Capitaine. Er drückt sich manchmal etwas derb aus. Hoffentlich nimmt der Zar keinen Anstoß daran.“

Alex lächelte. Beim russischen Militär hatte sie genug unflätige Äußerungen gehört. „Seine Kaiserliche Hoheit verfügt über ausgezeichnete Manieren. Sicher wird er nichts tun oder sagen, was seinen Gastgeber in Verlegenheit bringen könnte.“

„Großartig, besten Dank.“

„Wann wird das Gefolge des Zaren an Bord erwartet?“

„Ein oder zwei Stunden vor dem Gezeitenwechsel. Der Kapitän der Impregnable wird uns bald informieren. Wird der Zar von sehr vielen Leuten begleitet?“

„Nein, auf dieser Reise nicht, denn er wollte seinem Gastgeber keine Unannehmlichkeiten bereiten.“ Alex zählte die Namen der betreffenden Personen auf.

Ohne eine Miene zu verziehen, hörte Calder zu – ein Mann, der sich seine Gedanken nicht anmerken lässt, konstatierte Alex.

„Im St. James’s Palace wurde eine opulente Suite für den Zaren hergerichtet“, erklärte er. „Dort wird er sich sicher wohlfühlen.“

„O Gott!“, platzte sie heraus.

Erstaunt hob Calder die Brauen. „Stimmt etwas nicht?“

„Wahrscheinlich wissen Sie, dass sich die Schwester Seiner Kaiserlichen Majestät, die Großherzogin Katharina von Oldenburg, schon in London aufhält – ein privater Besuch …“

Autor

Joanna Maitland
Joanna wurde in Schottland mit schottischen und irischen Wurzeln geboren. Sie studierte einschließlich eines Jahres in Frankreich als Sprachassistentin für Englisch und einem Semester auf einer Universität in Deutschland moderne Sprachen und Geschichte auf der Glasgow Universität. Während dieser Phase erhielt sie Einblicke in die Essgewohnheiten Frankreichs und die Gepflogenheiten...
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