Eine Liebe für Laura

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Was ist geschehen? Als Laura aus tiefer Ohnmacht in einer Blockhütte erwacht und in die Augen eines attraktiven Mannes blickt, kann sie sich an nichts erinnern. Offensichtlich hatte sie einen Autounfall und wurde rechtzeitig von Dr. Sean Reagan gefunden. An ihre vorherige Flucht hat sie jedoch jede Erinnerung verloren. Genauso wie den Glauben an die Liebe …


  • Erscheinungstag 12.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776749
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es schneite seit Stunden. Mit den Händen in den Taschen stand Sean Reagan am Fenster seiner Blockhütte in den Gray Mountains von Arizona und beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie der Wind den Schnee auf die Veranda wehte. Noch immer erstaunte es ihn, wie schnell das Wetter hier oben im Norden umschlagen konnte.

Aber welche Rolle spielte es schon, wie das Wetter war? Sean ging durch den großen Raum und warf noch ein Holzscheit in den flackernden Kamin. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Und er war allein, wenigstens in dieser zweiten Woche im Februar, die er seit vier Jahren immer in den Bergen verbrachte. Zum Glück verstand Dr. Jonah Evans, sein Partner in der Frauenarztpraxis, dass Sean genau diese Zeit für sich allein brauchte.

Sean gehörte nicht zu den Menschen, die sich permanent selbst bemitleideten oder in der Öffentlichkeit trauerten. Also nahm er sich jedes Jahr diese eine Woche frei, um unbeobachtet zu weinen, wenn ihm danach war, oder das Schicksal zu verfluchen, das sein Leben so radikal verändert hatte. Hier oben konnte er Holz hacken, lange Spaziergänge unternehmen, ein Buch lesen und hoffen, dass die Wunde verheilte. Danach konnte er in die Stadt zurückkehren und irgendwie weiterleben. Jedenfalls stellte er sich es so vor.

Sean hatte die Blockhütte selbst gebaut und wusste, dass sie jedem Schneesturm trotzen würde. Sie lag inmitten von Tannen und riesigen Felsbrocken, und hinter ihr verlief ein Bach, dessen Wasser so klar war, dass man die Kiesel auf dem Grund zählen konnte. Abends und am frühen Morgen saß er auf der Veranda und lauschte den Vögeln und den anderen Tieren, die durch das hohe Gras huschten.

Früher hatte das zu den schönsten Momenten in seinem Leben gehört. Inzwischen hatte er auf schmerzliche Weise lernen müssen, dass nicht jeder seine Vorstellung vom Glück teilte.

Ruckartig richtete er sich auf, klopfte sich den Schmutz von den Händen und beschloss, sich eine warme Suppe zu machen. Als von draußen ein lautes Krachen hereindrang, blieb er wie angewurzelt stehen und lauschte. War es nur der Wind? Nahm der Sturm zu? Oder war ein Ast abgebrochen und auf die Garage gefallen, in der sein Mercedes stand? Sean ging wieder ans Fenster und sah hinaus, doch durch die wirbelnden Flocken war nichts zu erkennen. Widerwillig entschied er sich, hinauszugehen und nachzuschauen.

Er zog sich die festen Stiefel und die Lammfelljacke sowie Handschuhe an und stemmte sich gegen die Tür. Der Wind heulte in seinen Ohren. Als er auf die Treppe trat, versank er bis zu den Knien in einer Schneewehe. Er kämpfte sich hindurch und starrte mit zusammengekniffenen Augen zum Dach hinauf. Soweit er erkennen konnte, war es nicht beschädigt. Trotzdem, irgendwoher musste das Krachen gekommen sein. Überall standen Bäume, aber nirgendwo lag ein herabgefallener Ast.

Obwohl es noch Nachmittag war, wurde es schnell dunkel, und es sah nicht danach aus, als würde es bald zu schneien aufhören. Schon jetzt war die Zufahrt zu der Landstraße, die in etwa zwei Meilen Entfernung zum Highway führte, unter der weißen Schicht kaum noch zu erkennen. Sean stapfte hinüber und fröstelte, als ihm ein kalter Klumpen in den Kragen rutschte. Plötzlich bemerkte er Reifenspuren. Das Fahrzeug, das sie hinterlassen hatte, musste vom Weg abgekommen sein. Seltsam.

Als er genauer hinschaute, sah er am Abhang neben der Zufahrt etwas silbrig glänzen. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg zwischen zwei Schneewehen hindurch, bis er zu den schneebedeckten Zweigen der Bäume kam, und schaute nach unten. Zwischen zwei dicken Stämmen am Grund der kleinen Schlucht steckte ein Fahrzeug fest. Die Motorhaube war zerbeult und halb aufgesprungen. Weißer Rauch stieg daraus empor. Sean machte sich an den Abstieg. Es war ein Bronco. Vermutlich war er frontal gegen einen Baum geprallt, hatte sich um die eigene Achse gedreht und war schließlich mit dem Heck zwischen zwei anderen Stämmen gelandet.

Sean eilte hinüber und schaute ins Wageninnere. Auf dem Fahrersitz war eine Frau über dem Lenkrad zusammengesunken. Ihr Gesicht war hinter dichtem Haar verborgen. Ein Ast hatte sich durch die Windschutzscheibe gebohrt und ihre Schulter nur knapp verfehlt. Sonst schien niemand in dem Geländewagen zu sitzen.

Er musste feststellen, ob sie noch am Leben und wie schwer sie verletzt war. Er versuchte, die Fahrertür zu öffnen, aber sie war durch den Baumstamm blockiert. Also kämpfte er sich durch den tiefen Schnee auf die andere Seite, wo etwas mehr Platz war. Aber die Beifahrertür war verriegelt.

Besorgt sah er sich um. Die Frau konnte verbluten, während er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er die Tür öffnen sollte. Aber nirgendwo lag ein herabgefallener Ast, der stabil genug war, um die Scheibe zu zertrümmern oder die Tür aufzuhebeln.

Fluchend stieg Sean wieder den Abhang hinauf. Er brauchte Werkzeug, wenn er die Frau befreien wollte. Aber das Garagentor lag unzugänglich hinter einer hohen Schneewehe. Er eilte ins Haus und riss die Zwischentür auf. Eine Minute später war er wieder im Freien, bewaffnet mit einem Hammer und einer Brechstange.

Als er den Bronco erreichte, sah er, dass die Frau sich nicht bewegt hatte. Er musste zweimal zuschlagen, bis das Loch in der Seitenscheibe groß genug war, um hindurchzugreifen und die Tür zu entriegeln. Sie war verzogen, und er hatte Mühe, sie weit genug zu öffnen. Er klemmte die Brechstange in den Spalt, beugte sich in den Wagen und zog einen Handschuh aus. Dann schob er der Bewusstlosen das Haar aus dem Gesicht und suchte mit zwei Fingern am Hals nach dem Puls. Er hielt den Atem an, bis er ihren Herzschlag fühlte. Nicht sehr kräftig, aber spürbar.

Er musste eine Entscheidung treffen. Wenn er die Frau aus dem Wagen barg, riskierte er, etwaige innere Verletzungen zu verschlimmern. Aber er konnte sie nicht hier lassen, inmitten eines Schneesturms mit eisigen Temperaturen. Ein Rettungsteam anzufordern wäre bei diesem Wetter sinnlos. Nein, er würde sie in die Hütte bringen und sich dort um ihre Verletzungen kümmern müssen.

Wie um ihn zur Eile aufzufordern, blies ein Windstoß ihm Schnee ins Gesicht. Der Sturm nahm zu. Sean wusste aus Erfahrung, dass es manchmal Tage dauerte, bis Eingeschneite hier oben befreit werden konnten. Er war die einzige Hoffnung dieser Frau. Und er war Arzt. Jemand, dessen Beruf es war, Leben zu retten.

Es gab nur eine Möglichkeit.

Vorsichtig beugte er sich wieder hinein und löste den Sicherheitsgurt. Dann zog er den Oberkörper der Ohnmächtigen langsam von dem Ast und dem Lenkrad weg und zu sich hin. Als ihr Kopf nach hinten fiel, sah er die blutende Wunde an ihrer Stirn. Ein Splitter der zerborstenen Windschutzscheibe musste sie getroffen hatten. Es war nicht einfach, aber er schaffte es, ihre Schultern durch die Tür zu bugsieren.

Ihre Beine bekam er nicht zu fassen, dazu war es zu eng. Inständig hoffend, dass er der Verletzten nicht schadete, zog er sie aus dem Bronco. Dann stemmte er die Füße in den Schnee, ging etwas in die Knie und hob sie auf die Arme. Zum Glück war sie klein. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter, und sie murmelte etwas, das er nicht verstand. Es klang wie Max oder Mex.

Hatte er jemanden übersehen? Ein Kind vielleicht? So gut es mit der Frau auf den Armen ging, schaute er auf den Rücksitz. Dort war nichts, nur davor lag eine lederne Handtasche auf dem Boden, neben einer zerfransten Wolldecke.

Der Weg zur Blockhütte, durch den knietiefen Schnee, den Hang hinauf und die noch nicht geräumte Zufahrt entlang, kam ihm vor wie eine Meile. Mit einsfünfundachtzig und einunddreißig war Sean in guter Form, aber es war anstrengender, als er erwartet hatte. Mit letzter Kraft kämpfte er sich auf die Veranda und öffnete die Tür.

Im Haus trug er sie zur Couch am Kamin und legte sie behutsam hin. Tief durchatmend schüttelte er sich den Schnee aus dem Haar und ging zur Tür, um sie zu schließen. Dann zog er Handschuhe und Stiefel aus. Als er sich wieder zu der Frau umdrehte, sah er, dass ihr Gesicht blutverschmiert war und der Schnee auf ihrer Kleidung schon zu schmelzen begann. Das Krachen, das er vorhin gehört hatte, musste der Aufprall des Bronco gewesen sein, also hatte sie nicht allzu lange dort draußen gelegen.

Trotzdem war Unterkühlung immer eine große Gefahr, wenn der Blutdruck eines Verletzten absank. Hastig streifte er seine Jacke ab, eilte ins Schlafzimmer und kehrte mit seiner Arzttasche und einem Handtuch zurück. Die Couch war groß genug, um es ihr darauf so bequem wie möglich zu machen, bevor er erneut nach ihrem Puls tastete. Ihr Herz schlug kräftiger als zuvor. Sean schätzte sie auf Mitte zwanzig.

Behutsam schob er erst ein Lid, dann das andere hoch. Die Pupillen waren okay, ein gutes Zeichen. Ihre Augen waren groß und tiefblau.

Er tränkte ein steriles Tuch mit Alkohol, schob das lange dunkle Haar zurück und säuberte die Wunde an der Stirn. Es war nur ein oberflächlicher Schnitt. Er gab eine antiseptische Salbe auf ein Stück Mull und befestigte es mit Pflaster darauf. Danach zog er ihr die Lederjacke aus. Als er sie anhob, stöhnte sie auf und verzog das Gesicht. Er warf die Jacke zur Seite. Darunter trug sie einen blauen Pullover. Außerdem Designerjeans und flache Schuhe ohne Strümpfe.

Ihre Kleidung war nicht von der Stange. Sie war teuer und sehr geschmackvoll. Um den Hals trug sie eine goldene Kette, die sehr schwer und echt war. Und an der rechten Hand einen Amethyst in einer schlichten Goldfassung, der auch nicht gerade billig aussah.

Mit beiden Händen tastete er über ihren Körper, vom Kopf bis zu den Zehen, und ihr leises Aufstöhnen verriet ihm ebenso viel wie das, was seine Finger fühlten. Er war jetzt mehr Arzt als Mann und suchte nach Verletzungen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren. Als er fertig war, lehnte er sich zurück und betrachtete ihr Gesicht.

Vermutlich eine Gehirnerschütterung, wenn sie sich den Kopf hart genug gestoßen hatte, um sich eine blutende Stirnwunde zuzuziehen. Unterhalb der Augen war die Haut leicht verfärbt, und morgen früh würde sie mit ein paar bunt schillernden Blutergüssen aufwachen. Die rechte Schulter war ausgerenkt, der Arm hing kraftlos herab. Das linke Fußgelenk war geschwollen, aber es schien nicht gebrochen zu sein.

Nichts Ernstes. Vorausgesetzt, die Gehirnerschütterung war nur leicht. Als Assistenzarzt hatte er in der Unfallaufnahme so manche Schulter wieder eingerenkt – eine schmerzhafte, aber harmlose Prozedur.

Als er ihren Pullover nach oben schob, sah er an ihrem Bauch mehrere dunkle Verfärbungen, die vom Lenkrad stammten. Morgen würden sie sicher blau angelaufen sein und wehtun. Trotz des Sicherheitsgurts hatte sie sich die Schulter ausgerenkt. Ohne den Gurt wäre sie mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe geprallt – oder der Ast hätte ihr das Genick gebrochen.

Alles in allem hat sie Glück gehabt, dachte Sean.

Als er ihr ein Kissen unter den Kopf schob, stöhnte sie erneut auf und murmelte etwas. Diesmal konnte er ein Wort verstehen. Max. Aber im Bronco war außer ihr niemand gewesen, da war er sicher. War Max ihr Ehemann? Sie trug keinen Ehering, doch das musste nicht bedeuten, dass sie unverheiratet war. Viele der Krankenschwestern, mit denen er zusammenarbeitete, trugen ihre Ringe nicht, aus welchen Gründen auch immer.

Er betrachtete sie jetzt mit den Augen eines Mannes, nicht eines Arztes. Sie war schön, mit schwarzem Haar, hohen Wangenknochen, dichten dunklen Wimpern und von vornehmer Blässe. Er fragte sich, wohin sie bei diesem Wetter unterwegs gewesen war, woher sie kam und ob jemand auf sie wartete. Vielleicht Max? Wenn er nicht ihr Mann war, dann vielleicht ein Liebhaber?

Das geht mich nichts an, entschied er stirnrunzelnd.

Er nahm das Handtuch und tupfte behutsam ihr Gesicht ab, bevor er das nasse Haar abtrocknete. Als er sie bewegte, fröstelte sie und begann zu zittern, vermutlich vom Schock. Er stellte seine Tasche auf den Boden und holte eine Wolldecke, zog ihr die Schuhe aus und breitete die Decke über sie.

Sie würde bald aufwachen. Es sei denn, er hatte bei seiner hastigen Untersuchung etwas übersehen.

Er legte Holz nach und stocherte im Kamin, bis das Feuer kräftig brannte. Seine Hose war fast trocken, aber die Socken waren nass, weil er in dem Schnee herumgelaufen war, den seine Stiefel auf dem Boden hinterlassen hatten.

Mit einem letzten Blick auf seinen Überraschungsgast verschwand er im Schlafzimmer, um frische Socken anzuziehen.

Der Schmerz holte sie aus der Bewusstlosigkeit. Alles tat ihr weh – Kopf, Schultern, Fußgelenke, Bauch. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber es tat zu weh.

Langsam öffnete sie die Augen und sah ihre Umgebung nur verschwommen. Sie blinzelte. Als die Konturen schärfer wurden, war alles fremd.

Sie lag in einem großen Raum auf einer Couch, unter einer blau-weißen Wolldecke. In der Nähe stand ein flacher Holztisch, auf dem Dielenboden lag ein ovaler Webteppich, und in einem riesigen Kamin tanzten Flammen. Die Wärme tat gut, denn sie fror erbärmlich.

Wo war sie?

Sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, dann Schritte. Wer war das? Obwohl der Schmerz ihr den Atem raubte, ließ sie sich auf die Couch zurücksinken. Die Angst ließ ihr Herz rasen. Dann sah sie ihn.

Groß, mindestens einsachtzig, breite Schultern, kurzes rotblondes Haar, ein schmales Gesicht mit ernstem Ausdruck. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, graue Cordjeans und Mokassins. Vor der Couch blieb er stehen und sah sie mit graublauen Augen fragend an. Ihre Hände zitterten, als sie die Decke fester um sich zog.

„Freut mich, dass Sie endlich wach sind“, sagte er, während er einen Hocker heranzog und sich setzte.

„Wer sind Sie?“ Ihr Blick zuckte umher. „Wo bin ich?“

„Sie sind in den Gray Mountains. Ich bin Sean Reagan, und dies ist meine Hütte an der Hollow Oak Road. Ihr Bronco ist von der Straße abgekommen und gegen ein paar Bäume geprallt.“ Er beobachtete sie.

„Ja, die Gray Mountains“, erwiderte sie. „Ich erinnere mich, dass ich zum Haus meiner Eltern an der Ridgeway Road wollte.“

Er nickte. „Dann sind Sie etwa eine Meile zu früh abgebogen.“

„Es schneite so heftig, dass ich nichts erkennen konnte.“ Ihre Angst hatte sich noch nicht gelegt. „Sie … Sie leben allein hier.“ Bitte, lass ihn eine Frau haben, eine Mutter, irgendjemanden, flehte sie stumm.

Sean ahnte, was sie dachte. „Eigentlich lebe ich in Scottsdale. Diese Hütte benutze ich nur, wenn ich mal aus der Stadt weg will. Ich bin Arzt, Gynäkologe.“ Er zeigte auf seine Tasche. „Meine Praxis liegt an der Scottsdale Road.“

Er ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen. „Sie können meinen Krankenhausausweis sehen, wenn Sie möchten.“ Endlich lächelte er. „Ehrlich, ich bin kein Axtmörder.“

Das Lächeln ließ ihn weniger bedrohlich wirken, aber sie erwiderte es nicht, sondern warf einen misstrauischen Blick auf seine graue Tasche. „Ich dachte, Ärzte haben immer kleine schwarze Taschen.“

„Es gibt sie in allen Farben.“ Er beugte sich vor. „Jetzt, da Sie wach sind, möchte ich Sie noch einmal untersuchen.“

„Noch einmal?“, wiederholte sie verwirrt. „Soll das heißen … Sie haben mich schon untersucht?“ Es fiel ihr schwer, in diesem sehr attraktiven, sehr maskulinen Mann den Mediziner zu sehen.

„Bitte, entspannen Sie sich“, sagte er sanft. „Ich bin Arzt. Und ich habe Sie nicht ausgezogen, falls Sie das glauben.“

Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, beugte er sich über sie und betrachtete ihre Pupillen. Dann holte er ein Stethoskop heraus und horchte Herz und Lunge ab. Sie atmete ein wenig zu schnell, vermutlich weil sie noch immer Angst vor ihm hatte.

Vorsichtig berührte er ihre Schulter, und sie schrie auf. „Das ist Ihre schlimmste Verletzung. Eine ausgerenkte Schulter. Das lässt sich beheben, aber es ist nicht sehr angenehm.“ Er strich über ihr Fußgelenk. „Nur eine Verstauchung. Trotzdem sollten Sie das Gelenk vorläufig schonen.“ Er zeigte auf ihre Stirn. „Die Schnittwunde habe ich schon gesäubert und verbunden.“ Dann tippte er behutsam auf ihren Bauch. „Dort haben Sie einige Blutergüsse. Vom Lenkrad. Nichts Ernsthaftes, aber schmerzhaft.“

Ihre Hand schob sich unter den Pullover, als ihr klar wurde, dass er sie recht gründlich untersucht haben musste.

Er ist Arzt, sagte sie sich und tastete mit der anderen Hand nach dem Verband an der Stirn. „Mein Kopf tut weh.“

Er nickte. „Eine Gehirnerschütterung, aber keine schwere. Ich gebe Ihnen etwas.“

So viele Fragen. „Wie bin ich hergekommen? Sie haben mich gefunden?“

„Ich hörte, wie Ihr Wagen gegen die Bäume krachte, und ging hinaus, um nachzusehen. Ich habe Sie herausgeholt und ins Haus getragen.“ Er sah den Schmerz und die Angst in ihren mitternachtsblauen Augen und fragte sich, ob sie strahlten, wenn sie lachte und glücklich war.

„Ich … danke Ihnen.“ Das war das Mindeste, was sie sagen konnte.

Sean musterte sie. Sie war nicht mehr so blass. „Was um alles in der Welt hatten Sie in einem solchen Schneesturm auf der Straße zu suchen? Hatten Sie es eilig, weil Sie mit jemandem verabredet waren? Ich frage das, weil hier oben das Telefon manchmal tagelang ausfällt. Wartet jemand auf Sie – Eltern, Ehemann, Freund?“

Sie legte die Stirn in Falten. Ihr Vater war meistens viel zu beschäftigt, um sich um sie Sorgen zu machen. Ihr Ehemann war inzwischen ihr Ex, und einen Freund hatte sie seit … nun ja, schon lange nicht mehr gehabt.

Sie versuchte wirklich, sich zu erinnern. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich mit niemandem treffen wollte. Ich fahre oft allein zur Hütte hinaus. Ich liebe es dort oben, es ist meine Zuflucht. Es regnete, als ich Scottsdale verließ, aber ich konnte nicht ahnen, dass ich in einen Schneesturm geraten würde.“ Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. „Ich weiß, dass ich es eilig hatte. Ich wollte unbedingt weg von … irgendetwas oder irgendjemandem. Aber ich weiß nicht, vor wem oder warum.“ Sie sah ihn an. „Es ist seltsam. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“

„Das ist keineswegs seltsam. Fällt Ihnen jemand ein, vor dem Sie sich fürchten?“

Plötzlich wirkte sie noch verwirrter. „Ich weiß nicht.“

Es hatte keinen Sinn, sie zu bedrängen. Sie würde sich schon noch erinnern. Sean schaute in ihre riesigen blauen Augen. Augen, die einen starken Mann schwachmachen konnten. Und dann das pechschwarze Haar und ein hübsches Gesicht ohne jeden Makel. Nicht einmal eine Sommersprosse. Ganz zu schweigen von den äußerst femininen Kurven unter dem dicken Pullover. Sie atmete schnell, und ihre Brust hob und senkte sich.

Er schob den Hocker etwas zurück. „Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.“ Wusste sie ihn überhaupt?

Seit frühester Kindheit hatte man ihr gute Manieren eingetrichtert, und die ließen sie jetzt ihre Angst überwinden. Schließlich war er Arzt. Es gab keinen vernünftigen Grund, sich vor ihm zu fürchten.

„Entschuldigung. Mein Name ist Laura Marshall. Ich bin Innenarchitektin in Old Scottsdale. Mein Vater ist Owen Marshall. Er ist …“

„Ich habe von ihm gehört. Er ist Makler.“ Und zwar kein gewöhnlicher Makler, sondern einer, der ein halbes Dutzend Filialen besaß und große Firmen zu seinen Kunden zählte. Er hätte es sich denken können. Ihre Kleidung. Ihre Familie war reich. Und trotzdem lief sie vor etwas weg. Oder vor jemandem.

„Ja, das stimmt. Ich richte seine Musterhäuser ein, aber ich habe auch private Auftraggeber.“

„Leben Sie bei Ihrem Vater?“ Sean war Owen Marshall nie begegnet, wusste jedoch, dass der Mann Witwer war und ein Anwesen am Camelback Mountain besaß.

In ihren Augen flackerte etwas auf. Etwas, das wie Verachtung aussah. Aber dann war es wieder fort, und er fragte sich, ob er es sich nur eingebildet hatte. „Nein, seit ich aufs College gegangen bin, nicht mehr. Ich habe ein Stadthaus im alten Viertel von Scottsdale.“

„Dann wohne ich ja ganz in Ihrer Nähe. Ich renoviere gerade ein Haus an der Mockingbird Lane. In der Nähe der Judson School in Paradise Valley.“

Endlich glaubte sie ihm. „Ich weiß genau, wo das ist.“ Erstaunt schüttelte sie den Kopf. „Warum kann ich mich an so etwas erinnern, aber nicht daran, warum ich es so eilig hatte, die Stadt zu verlassen?“

„Man nennt es traumatische Amnesie. Jemand, der etwas Schlimmes erlebt hat, erinnert sich an ganz alltägliche Dinge, aber nicht an die schrecklichen Einzelheiten. Ihr Gedächtnis wird bald wieder funktionieren, entweder nach und nach oder schlagartig. Auf diese Weise schützt ihr Unterbewusstsein Sie vor einer schmerzhaften Erinnerung. Wenn Sie so weit sind, wird irgendein Anstoß genügen, um die Blockade zu beseitigen.“

Laura starrte ihn an. Sein Blick war ernst und besorgt. „Sie sind wirklich Arzt, nicht wahr? Es tut mir leid, dass ich Ihnen misstraut habe, aber …“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie haben etwas Schlimmes erlebt und sind verletzt im Haus eines wildfremden Mannes aufgewacht. Da wäre jeder skeptisch.“

„Mein Bronco. Ist er sehr beschädigt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Er ist vom Weg abgekommen, einen Hang hinuntergerast, gegen einen Baum geprallt, herumgeschleudert worden und sitzt jetzt mit dem Heck zwischen zwei Stämmen fest. Aber ich glaube, er lässt sich reparieren. Hätten Sie einen kleineren Wagen gefahren, würden Sie jetzt wahrscheinlich nicht hier liegen und mit mir reden.“

Sie schauderte. „Ich habe den Bronco erst vor sechs Monaten gekauft. Davor hatte ich einen BMW-Zweisitzer. Aber ich muss alle diese Muster mit mir herumschleppen – Teppichboden, Tapeten, Farben, Holztäfelung. Ich schätze, es war eine gute Idee, den Wagen zu wechseln.“

„Allerdings.“

Laura wollte sich aufsetzen, doch ein stechender Schmerz schoss durch ihre Schulter. „Oh!“

„Ich denke, wir sollten Ihre Schulter wieder in Ordnung bringen“, sagte Sean und stand auf. „So eine Verletzung hatten Sie noch nie?“

„Nein. Wie genau wollen Sie sie wieder in Ordnung bringen?“ Laura hatte das ungute Gefühl, dass es ihr nicht gefallen würde.

„Sie werden mir einfach vertrauen müssen.“ Er half ihr hoch. „Legen Sie den gesunden Arm um meine Schulter und halten Sie sich fest.“ Sie gehorchte, und er nahm sie auf die Arme.

Laura biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien, so weh tat es. Ihr Arm fühlte sich schlaff und nutzlos an. Dennoch entging ihr nicht, wie stark Sean Reagan war. Er trug sie so mühelos durch die Hütte, als wäre sie ein Kind. Seine Hände waren groß und kräftig. Sie konnte kaum glauben, dass dieser Mann winzigen Babys auf die Welt half. Sie hatte sich Geburtshelfer immer als gemütliche ältere Gentlemen vorgestellt – Vertrauen erweckend, harmlos und vollkommen unerotisch.

Sean Reagan war alles andere als das. Mit seiner frischen Gesichtsfarbe, dem vom Wind zerzausten rotblonden Haar und dem athletischen Körperbau sah er eher aus wie jemand, der bei jedem Wetter im Freien war und Bäume fällte. Wie von selbst richtete sich ihr Blick auf seinen Mund. Volle Lippen, ein kleines Grübchen daneben, unglaublich verführerisch.

Du meine Güte, was war los mit ihr? Wie kam sie dazu, sich über einen Mann, den sie noch keine halbe Stunde kannte, derartige Gedanken zu machen? Vielleicht war die Gehirnerschütterung doch nicht so leicht. Aber in seiner Ausstrahlung lag etwas, das ihr selbst in diesem angeschlagenen Zustand bewusst machte, dass sie eine Frau war.

Genau daran musste sie jetzt nicht erinnert werden.

An der Wand blieb Sean stehen. „Ich werde Sie jetzt auf die Füße stellen und mit meinem Körper an der Wand festhalten, weil Ihr verstauchtes Gelenk Ihr Gewicht nicht tragen kann. Sie müssen stillhalten, obwohl es sehr wehtun wird. Aber nur für ein paar Sekunden.“

Mit großen Augen sah Laura ihn an. „Was haben Sie vor?“

„Die Kugel des Oberarmknochens ist aus der Gelenkpfanne gerutscht. Es gibt nur einen Weg, das wieder in Ordnung zu bringen. Ich werde ruckartig am Arm ziehen, damit die Kugel wieder in die Pfanne gleitet.“

„Und wenn Sie ziehen und die Kugel das nicht tut?“, fragte sie skeptisch.

Fast hätte er gelächelt. „Sie wird. Ich habe das schon oft praktiziert.“

„Haben Sie dabei schon mal einen Patienten verloren?“

Jetzt lächelte er. „Bewahren Sie sich Ihren Humor.“ Vorsichtig setzte er sie ab und stützte sie. Ihr war ein wenig schwindlig, und ihre Knie drohten nachzugeben.

„Ich halte Sie. Keine Angst.“ Er drehte sich so mit ihr, dass sie mit dem Rücken an der Wand stand, und drückte sie behutsam dagegen. Ihr Kopf befand sich genau unter seinem Kinn. Ihr warmer, femininer Duft stieg ihm in die Nase, ihr Haar kitzelte ihn. Sean schluckte schwer und nahm den Kopf zurück. Er musste sich beeilen, bevor er sich blamierte. „Sind Sie bereit?“

Ihr Herz schlug immer schneller. Ob das von dem Schmerz in ihrem Arm kam oder davon, dass ihre Brüste sich an diesem sehr männlichen Fremden rieben, hätte sie nicht sagen können. „Bringen wir es hinter uns, bitte“, flüsterte sie und konnte nur hoffen, dass sie nicht in Ohnmacht fiel.

Sean wich ein wenig zurück, legte einen Arm diagonal auf ihren Oberkörper und ergriff ihren rechten Arm mit der linken Hand. Dann zählte er bis drei, zog ruckartig daran und hörte, wie die Kugel zurück in die Pfanne glitt. Laura schrie auf.

Rasch nahm er sie auf die Arme und drückte sie tröstend an sich. Ihr Gesicht war blass, die Augen geschlossen. „Alles okay?“

Autor

Pat Warren
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